Geschichte Frankreichs - Heinz-Gerhard Haupt - E-Book

Geschichte Frankreichs E-Book

Heinz-Gerhard Haupt

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Beschreibung

Die 6. Auflage der bewährten und laufend fortgeschriebenen "Geschichte Frankreichs" enthält ein Résümé der kompletten Präsidentschaft Nicolas Sarkozys und eine erste zeitgeschichtliche Einschätzung des jüngsten Regierungswechsels hin zu den Sozialisten und zu François Hollande. Aber auch in Frankreich machen nicht nur (kleine und große) Männer die Geschichte: Rechtspopulismus, Finanzkrise und Arbeitsmarkt, militärisches Engagement in Afrika - das sind die großen Problemfelder aktueller französischer Politik.

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Seitenzahl: 621

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Geschichte Frankreichs

Von Heinz-Gerhard Haupt, Ernst Hinrichs, Stefan Martens, Heribert Müller, Bernd Schneidmüller, Charlotte Tacke

Herausgegeben vonErnst Hinrichs

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Umschlaggestaltung: büroecco!, Augsburg

Umschlagabbildung: La rue de Saint-Denis, fête du 30 juin 1878, Gemälde von Claude Monet, Öl auf Leinwand (Rouen, Musée des Beaux-Arts)

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2014

RECLAM ist eine eingetragene Marke

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960645-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-010997-7

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort

Die Entstehung Frankreichs (9. Jahrhundert–1270)

Von Bernd Schneidmüller

Epochenüberblick

Das westfränkische Reich (843–887)

Die Formierung Frankreichs (888–987)

Gesellschaft und Verfassung im 11. Jahrhundert

Königliche Vorherrschaft und europäischer Rang im 12. und 13. Jahrhundert

Literaturhinweise

Frankreich im Spätmittelalter: Vom Königsstaat zur Königsnation (1270–1498)

Von Heribert Müller

Epochenüberblick

Der Königsstaat – Bewährung und Festigung (1270–1314)

Übergang und Krise (1314–1364)

Neue Ordnung, neue Gefährdung (1364–1422)

Das Werden der Königsnation (1422/29–1461)

An der Schwelle zur Neuzeit (1461–1498)

Literaturhinweise

Renaissance, Religionskriege und Begründung der absoluten Monarchie (1498–1661)

Von Ernst Hinrichs

Epochenüberblick

Frankreich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts

Französische Politik von Ludwig XII. bis Heinrich II.: Vom italienischen Abenteuer bis zur inneren Verfeindung (1498–1559)

Die Religionskriege (1562–1598)

Heinrich IV. und die Begründung der absoluten Monarchie (1598–1610)

Das Frankreich Richelieus und Mazarins (1624–1661)

Literaturhinweise

Absolute Monarchie und Ancien Régime (1661–1789)

Von Ernst Hinrichs

Epochenüberblick

Französischer Staat und französische Zivilisation unter Ludwig XIV. (1661–1685)

Europäische Hegemonie und innerer Wandel (1685–1715)

Die Entstehung des Ancien Régime (1715–1723)

Das Ancien Régime (1723–1763)

Die Krise des Ancien Régime (1763–1787)

Auf dem Weg in die Revolution (1787–1789)

Literaturhinweise

Von der Französischen Revolution bis zum Ende der Julimonarchie (1789–1848)

Von Heinz-Gerhard Haupt

Epochenüberblick

Die Französische Revolution (1789–1794)

Direktorium, Konsulat und Kaiserreich (1794–1814)

Die Restauration (1814–1830)

Julirevolution und Julimonarchie (1830–1848)

Literaturhinweise

Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg (1848–1914)

Von Charlotte Tacke

Epochenüberblick

Die Zweite Republik (1848–1852)

Das Zweite Kaiserreich (1852–1870)

Die Herausbildung der Dritten Republik (1871–1914)

Soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Dritten ­Republik

Literaturhinweise

Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Vichy-Regimes (1914–1944)

Von Stefan Martens

Epochenüberblick

Der Erste Weltkrieg (1914–1918)

L’Entre-deux-guerres – die Zwischenkriegszeit (1918–1929)

Der Untergang der Dritten Republik (1930–1944)

Literaturhinweise

Frankreich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs

Von Stefan Martens

Epochenüberblick

Die Vierte Republik (1944–1958)

Die Fünfte Republik in der Ära de Gaulle (1958–1969)

Republik im Wandel? – Von Pompidou über Giscard d’Estaing zu Mitterrand (1969–1995)

Ein schwieriges Erbe: Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy (1995–2012)

Literaturhinweise

Anhang

Namenregister

Hinweise zur E-Book Ausgabe

Vorwort

Seit der Auflösung der großen, nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Machtsysteme in Europa hat die Idee des Nationalstaats wieder an Bedeutung gewonnen. Europa, als politischer Begriff nicht fassbar ohne die jahrhundertelange Geschichte der europäischen Völkerfamilie, wird auch zukünftig ein Europa der Nationen bleiben. Aus diesem Grund gehört die Kenntnis der Geschichte jeder europäischen Nation, ihrer mit anderen Nationen vergleichbaren Hauptverläufe und ihrer typischen Besonderheiten, zur Aufgabe all jener, die europä­ische Geschichte kennen- und begreifen lernen wollen.

Frankreich ist eine der ältesten europäschen Nationen, und seine Geschichte zeichnet sich bei allen Verwerfungen durch eine besondere Kontinuität und Einheitlichkeit aus. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die Geschichte der französischen Monarchie; sie begann nach der Auflösung des karolingischen Reichs im 9. Jahrhundert, wurde in der Französischen Revolution durch die Hinrichtung Ludwigs XVI. gewaltsam beendet, ging aber erst mit der endgültigen Installierung der parlamentarischen Republik im späten 19. Jahrhundert wirklich zu Ende. Die Monarchie gab der französischen Nation schon frühzeitig ihr unverwechselbares Aussehen, sie sorgte dafür, dass die durch Krieg, Usurpation, Heiratspolitik, Erbschaften oder simplen Kauf hinzugewonnenen Provinzen trotz aller Regionalismen »französisch« wurden, und sie wirkte in ihrer einheitsstiftenden, kontinuitätsbildenden Kraft so machtvoll nach, dass die Rückbesinnung auf sie bei unseren Nachbarn noch heute eine wichtige politische Funktion besitzt.

Die vorliegende »Kleine Geschichte Frankreichs« versteht sich als eine politische Geschichte, die dem Entstehungs- und Reifungsprozeß der politischen Nation Frankreich nachgeht. Das heißt jedoch nicht, dass nur die Abläufe der politischen Entscheidungsvorgänge nachgezeichnet werden sollen. Vielmehr geht es immer um die Wechselbeziehungen zwischen den jeweiligen politischen Systemen Frankreichs in den verschiedenen Epochen seiner Geschichte und den in ihnen agierenden und von ihnen beherrschten Franzosen. Der Gesamtverlauf der französischen Geschichte wird dabei nicht im Sinne eines gradlinigen Verlaufsmodells, z. B. als kontinuierliche Steigerung des Zentralismus, gesehen, sondern als ein von zahlreichen kontradiktorischen Entwicklungen getragener Prozeß: Monarchische Einheit versus feudale Vielfalt, Zentrum versus Provinz, Binnenland versus Küste, Nord versus Süd, Stadt versus Land, Revolution versus »Konterrevolution« – das sind nur einige wenige Gegensätze und Verwerfungen, die im Verlauf der Geschichte Frankreichs immer wieder aufbrechen und in einer Gesamtgeschichte dieses Landes sorgfältig thematisiert werden müssen.

Das Buch wendet sich nicht in erster Linie an die Fachleute, denen umfangreichere Übersichten zur Verfügung stehen, sondern an Studenten, Oberschüler und gebildete Laien, die sich auf schnelle und anschauliche Weise über die Geschichte unseres Nachbarlandes oder über einzelne ihrer Epochen informieren wollen. Jeder der Autoren hat seinen Beitrag nach seinen eigenen Vorstellungen auf der Grundlage seines fachlichen Wissens gegliedert und gestaltet und dabei jene Ereignisse, Entwicklungen und Strukturen beschrieben, die ihm für diesen Zeitraum der Geschichte Frankreichs von besonderem Gewicht erschienen. Es entsprach den Vorstellungen des Verlags, dass dabei um so mehr Platz zur Verfügung stand, je mehr diese »Kleine Geschichte Frankreichs« sich auf die Neuzeit zubewegte. Insofern gebührt an dieser Stelle besonderer Dank den Autoren der beiden mittelalterlichen Kapitel (die Zeit von 843 bis 1498), denen die schwierige Aufgabe zufiel, ihre großen, ereignis- und entwicklungsreichen Epochen auf weniger Raum darzustellen, als allen anderen Autoren für ihre kürzeren Zeiträume zur Verfügung stand.

Ernst Hinrichs

Die Entstehung Frankreichs (9. Jahrhundert – 1270)

Von Bernd Schneidmüller

Epochenüberblick

Frankreich ist ein eher zufälliges Produkt der frühmittelalterlichen Geschichte. Aus der Aufteilung des fränkischen Großreichs im Vertrag von Verdun 843 entstand das westfränkische Reich, das unter Karl dem Kahlen und seinen Nachfolgern allmählich festere Konturen gewann, aber weder geographisch oder ethnisch noch kulturell oder sprachlich eine Einheit darstellte. Noch 885 führte ein dynastischer Zufall zur letzten Vereinigung der fränkischen Teilreiche, die 888 in der Königswahl eines nichtkarolingischen Herrschers überwunden wurde.

Die Entstehung einer »französischen Nation« im Mittelalter ist darum nicht als kontinuierlicher Vorgang zu begreifen und muss als Resultat der im 9. und 10. Jahrhundert geschaffenen politischen Rahmenbedingungen verstanden werden. Erst in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts wurde man sich im westfränkischen Reich, vor allem in beständiger Auseinandersetzung mit dem ostfränkisch-deutschen Reich und dem ottonischen Kaisertum, zunehmend der eigenen Identität bewusst, die sich im Umkreis des westfränkisch-französischen Königtums festigte. Die Anfänge der französischen Geschichte erstrecken sich also über Jahrhunderte, wenn auch mit einzelnen Kulminationspunkten. Erst unter den großen kapetingischen Herrschern seit Philipp II. Augustus, die den politischen und geistigen Vorrang Frankreichs in Europa begründeten, wird ein vorläufiger Abschluss erreicht.

Die Geschichte Frankreichs im Früh- und Hochmittelalter kann nur aus der Vielfalt zentraler und regionaler Kräfte, von Königen und Fürsten, begriffen werden, die ihrerseits in den sozialen, wirtschaftlichen und mentalen Wandel eingebunden blieben. Vorsprünge in der herrschaftlichen Durchdringung, im Bevölkerungswachstum, in der Produktion, in geistlich-geistigen Bereichen und in der Kunst ließen Frankreich zum Ursprungsland vieler Entwicklungen werden, die die gesamte europäische Gesellschaft und Kultur prägen sollten.

Nach der zögernden Konsolidierung der königlichen Einflusssphäre zunächst in der weiteren Ile-de-France gelang im Konflikt mit dem anglonormannischen Königtum seit 1204 der Ausgriff der Monarchie auf das gesamte Königreich, Voraussetzung für die Integration entfernter Regionen in eine zunehmend auf Paris konzentrierte Kronverwaltung und für die Einheit von Monarchie und Reich.

Das westfränkische Reich (843–887)

843 August: Vertrag von Verdun über die Teilung des fränkischen Großreichs unter die drei Söhne Kaiser Ludwigs des Frommen; Karl der Kahle (843–877) erhält das westfränkische Reich.November: Vertrag von Coulaines: Abmachung Karls des Kahlen mit dem westfränkischen Adel und der Kirche als innere Grundlage des westfränkischen Reichs.

870 Vertrag von Meerssen über die Teilung Lotharingiens.

875 25. Dezember: Kaiserkrönung Karls des Kahlen.

877 6. Oktober: Tod Karls des Kahlen.

877–879 König Ludwig II. (der Stammler).

879 Teilung des westfränkischen Reichs unter Ludwig III. (879–882) und Karlmann (879–884).

880 Vertrag von Ribemont über die Grenzregelung zwischen dem ost- und dem westfränkischen Reich.

885–887 Zeitweilige Vereinigung der fränkischen Reiche unter der Herrschaft Karls III. (des Dicken).

887/888 Endgültiges Ende der fränkischen Reichseinheit.

Reichsbildung als Familiensache

Im August 843 wurde in Verdun nach langen Kämpfen in der karolingischen Herrscherfamilie das fränkische Großreich in drei Teile geteilt, die an die Brüder Lothar, Ludwig (»den Deutschen«) und Karl (den Kahlen) fielen. Karl erhielt den westlichen Teil, ungefähr begrenzt von den Flüssen Schelde, Maas, Saône und Rhone, Lothar das Mittelreich von Friesland bis nach Italien und Ludwig neben dem heutigen Rheinhessen die Gebiete östlich des Rheins. Der Vertrag von Verdun stand in der Tradition fränkischer Teilungen, in denen alle legitimen Söhne eines verstorbenen Königs einen Anteil am Reich erlangten. Ihre historische Bedeutung erhält die Abmachung von 843 erst in der Rückschau als endgültiges Ende des Großreichs wie als Beginn der westfränkischen und der ostfränkischen Geschichte.

Gegenstand der Teilung war ein frühmittelalterliches Großreich, das sein Gesicht an der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert unter König Chlodwig († 511) und im späten 8. Jahrhundert unter Karl dem Großen (768–814) erhalten hatte und am Beginn des 9. Jahrhunderts von Nordspanien bis zur Elbe, vom Ärmelkanal bis nach Mittelitalien reichte. Die Franken, deren Siedlungsgebiet sich von der Loire bis zum Niederrhein und zum Main erstreckte, bildeten zwar das »Reichsvolk«, doch zeichnete sich ihr Reich durch ethnische, sprachliche und kulturelle Vielfalt aus, die den anderen Völkern Teile ihrer Identität beließ. Gerade das fränkische Reichsvolk, das in den drei Teilreichen von 843 die politische Führung behauptete, wirkte noch lange integrierend und ließ darum den Vertrag von Verdun nicht zur Zäsur werden. Zahlreiche Kontakte der Könige auf den Frankentagen des 9. Jahrhunderts, familiäre Bande des Adels und Verflechtungen der großen Politik sorgten dafür, dass die Erinnerung an die alte Einheit erst allmählich verblasste und das Bewusstsein von der Eigenständigkeit der Neubildungen von 843 langsam wuchs. Gleichwohl schuf die Grenzziehung von Verdun den Rahmen für das spätere Entstehen Frankreichs aus westfränkischen Wurzeln.

Voraussetzungen: Der Raum und die Menschen

Als man in der Neuzeit im Nationalstaat das wesentliche Ordnungsprinzip menschlichen Zusammenlebens zu erkennen meinte, versuchte man, politische Grenzen als historisch vorgeformt zu begreifen und der eigenen Nation einen gleichsam natürlichen Lebensraum zuzuweisen. In diesem Sinn musste die politisch geschaffene Rheingrenze ebenso zur »natürlichen« Grenze Frankreichs werden wie die Pyrenäen oder der Ozean. Das Sechseck, gebildet aus der Küstenlinie von Ärmelkanal und Atlantik, den Pyrenäen, der Mittelmeerküste, einer durch die Pässe der Westalpen markierten Linie bis zum Rhein und seiner Mündung, schien die räumliche Existenzgrundlage des französischen Volkes. Sie wollte man über das römische Gallien bis in die Vorgeschichte zurückverfolgen.

Das 843 geschaffene Reich Karls des Kahlen unterschied sich jedoch markant von diesem Sechseck. Es reichte über die Pyrenäen hinaus nach Nordspanien in die von den Karolingern geschaffene Spanische Mark, die freilich dem Königtum mehr und mehr entfremdet wurde. Die Ostgrenze war weit vom Rhein entfernt. Die bis ins 11. Jahrhundert formulierten Ansprüche auf das Reich Lothars, auf Lotharingien/Lothringen, zielten auch nicht auf die Schaffung einer Flussgrenze, sondern gründeten auf karolingischen Herrschaftsvorstellungen, denen es um die Vereinigung des westfränkischen Reiches mit den karolingischen Stammlanden an Maas und Mosel ging.

Das 843 entstandene Reich war gerade nicht durch die Einheitlichkeit des Raumes oder seiner Menschen geprägt. Mit den großen Flusssystemen von Seine, Loire und Garonne blieb es zum Atlantik offen. Das mächtige Zentralmassiv schob sich fast wie ein Riegel zwischen den Norden und den Süden, die schon bald für lange Zeit getrennte Wege gehen sollten: Vom Pariser Becken war der Süden noch am leichtesten über Burgund und das Rhonetal zu erreichen.

Der geographischen Vielfalt entsprach die ethnische: Die fränkische Landnahme hatte vor allem den Raum zwischen Rhein und Seine erfasst und das Gebiet zwischen Seine und Loire nur noch in geringerer Intensität erreicht. Im Süden waren die Aquitanier zwar schon unter Chlodwig dem Frankenreich einverleibt worden, doch sorgten hier gallorömische Traditionen und die geringere Durchdringung der Gesellschaft durch das Lehnswesen für erhebliche Unterschiede zum fränkischen Norden. Völker am westlichen Rand dieses Reiches wie die Bretonen und die Basken entzogen sich dem fränkischen Zugriff und bildeten stets eine auch militärische Herausforderung, der sich in einer zweiten Wanderungsphase im 9. Jahrhundert die normannische Landnahme an der Küste des Ärmelkanals und eine arabische Stützpunktbildung an der Mittelmeerküste hinzugesellten.

Konnte die starke königliche Zentralgewalt in der Zeit um 800 die zentrifugalen Kräfte noch bändigen, so trat die ethnische Vielfalt seit dem 9. Jahrhundert immer stärker als Prinzip politischen Handelns partikularer Gewalten hervor. Die lateinischen Quellen bezeichnen diese Einheiten als regna, was nur sehr vordergründig als »Königreiche« zu übersetzen ist: Neben Franzien (der Francia) begegnen Aquitanien und Burgund, schließlich die Gascogne, Gothien, die Bretagne, in einer weiteren Phase noch Neustrien (zunächst der westliche Teil des Frankenreichs, jetzt das Land zwischen Loire und Seine), Flandern, die Normandie. Auf dieser Grundlage entstanden die französischen Fürstentümer (Prinzipate).

Der ethnischen Vielfalt entsprach das Fehlen sprachlicher Einheitlichkeit. Aus dem klassischen Latein der Antike hatte sich das regional sehr unterschiedliche Vulgärlatein entwickelt, aus dem sich wiederum die sogenannten Volkssprachen entfalteten. In der Karolingerzeit machte die Rückbesinnung auf die antiken Vorbilder, die Orientierung am klassischen Latein, die Unterschiede zwischen gesprochener Volkssprache und geschriebener lateinischer Sprache bewusst. Zudem wurde die Verschiedenartigkeit der im Norden und im Süden benutzten Sprachen deutlich. In den überlieferten Sprachdenkmälern spätestens des 11./12. Jahrhunderts lassen sich die beiden nebeneinander existierenden Sprachen genauer beobachten: die langue d’oc (das Okzitanisch, Provenzalisch) des Südens und die langue d’oïl des Nordens, die jeweils wieder in landschaftlich geprägte Sprachgruppen zerfielen. Germanische Einflüsse haben trotz der Romanisierung der Franken die Sprachentwicklung im Norden stärker als im Süden bestimmt; doch die Durchsetzung eines Dialekts als Hochsprache ist nicht linguistisch, sondern politisch zu erklären: Das in der Ile-de-France, vor allem in Paris benutzte Franzische wurde zur Basis der späteren Nationalsprache, weil es am Königshof gesprochen und geschrieben wurde. Schon sehr früh (nach 1170) brachte es der aus der Gegend von Compiègne stammende Garnier de Pont-Sainte-Maxence auf den Punkt: »Meine Sprache ist gut, weil ich in der ›France‹ geboren bin.« Ein entsprechendes, nicht minder ausgeprägtes Sprachbewusstsein einer höfischen Kultur des Hochmittelalters kann man auch in der südfranzösischen Welt feststellen.

Die mangelnde Konformität von Gruppen, Sprachen und herrschaftlicher Durchdringung wirkte gewiss auch auf die Lebensformen der Menschen. Doch die Quellen geben nur ein lückenhaftes Bild von Wirtschaft und Gesellschaft des früheren Mittelalters. Während die ausgedehnten Wälder erst allmählich im Zuge des Landesausbaus erschlossen wurden, können fruchtbare Zentrallandschaften wie die Ile-de-France im mittelalterlichen Sinn als »überbevölkert« gelten: Hier lebten etwa 30 Menschen auf einem Quadratkilometer, in Flandern waren es noch mehr. Schlaglichtartig erhellen Quellen aus der Wirtschaftspraxis der geistlichen Großgrundherrschaften, vor allem der Klöster St-Germain-des-Prés, St-Bertin und St-Remi/Reims, das Dunkel und lassen das langsame Bevölkerungswachstum erahnen. Es ergab sich aus zunehmend günstiger werdenden klimatischen Bedingungen und aus der Durchsetzung der großen Grundherrschaften und ihrer Wirtschaftsform, der Dreifelderwirtschaft. Die Einführung von Langstreifenfluren, eine verbesserte Pflugtechnik, der Einsatz von Zugtieren, die Beachtung der Fruchtfolgen waren nur durch planende herrschaftliche Eingriffe zu erreichen, und das Resultat der neuen Wirtschaftsformen, die höheren Ernteerträge, stabilisierten die Grundherrschaften und vergrößerten ihren ökonomischen Vorsprung.

Die ungeheuren sozialen Konsequenzen, vor allem in Nordfrankreich, bleiben in ihrer Dramatik leider im dunkeln, doch die vergeblichen Maßnahmen Karls des Großen und Ludwigs des Frommen zum Schutz der kleinen Freien lassen den Verdrängungsprozess erahnen. Die Verpflichtung der fränkischen Bauern zur Heeresfolge in kriegerischen Zeiten setzte ihre wirtschaftliche Existenz und damit ein Gesellschaftsmodell aufs Spiel, das den König als Herrscher über das Volk der Franken, der Freien, stilisierte. In den Herausforderungen von mittelalterlicher Freiheit mit ihren politischen Verpflichtungen einerseits und Landakkumulation mit den Vorteilen der großen Grundherrschaften andererseits wurde eine nicht mehr wettbewerbsfähige Gesellschaftsschicht aufgerieben; ihr schien der Weg in die »Unfreiheit« wirtschaftlichen Vorteil zu versprechen. Der Boden für den Siegeszug geistlicher und adliger Grundherrschaften, für die vielfältigen Formen der Landleihe und für das allmähliche »Verschwinden« der Freien war bereitet. Das Königtum, das in normativen Texten der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert den »Adel« zu negieren trachtete und den Dualismus von Herrscher und Frankenvolk herausstellte, musste sich spätestens seit der Herrschaft Karls des Kahlen mit den Realitäten arrangieren. Indem die Quellen des 9. und 10. Jahrhunderts den politisch handelnden Adel neben dem Königtum hervortreten lassen, spiegeln sie zunehmend eine ständisch gegliederte Gesellschaft, in der die Herrschaftsgewalt von mehreren Kräften ausgeübt wurde und ein erheblicher sozialer und wirtschaftlicher Verdrängungsprozess stattfand. Er dürfte seinen Ausgang von den ökonomisch fortschrittlichen Landschaften des Pariser Beckens, Ostfrankreichs und des flandrischen Grenzraums genommen haben.

Auf dem Weg zum Nachfolgereich

Rückblickende Geschichtsschreiber des 12. Jahrhunderts wie Hugo von Fleury wollten im Vertrag von Verdun und in der Herrschaft Karls des Kahlen (843–877) die entscheidende Zäsur der französischen Geschichte erkennen, nämlich die Trennung von römischem Kaisertum und französischem Königtum. Konsequent wurde Karl der Kahle zum ersten französischen König stilisiert. In der Tat prägte er nicht zuletzt auf Grund seiner langen Regierungszeit sein Reich und formte Voraussetzungen für die mittelalterliche Nationsbildung. Doch das 9. Jahrhundert blieb eine Zeit des Übergangs, in dem sich das Festhalten an alten Herrschaftsvorstellungen mit langsamer Neuorientierung mischte.

Der faktischen Teilhabe des führenden Adels an der Herrschaft entsprachen zunächst die Modalitäten bei der Reichsteilung von Verdun, mehr aber noch die Sicherung des neu entstandenen westfränkischen Reichs nach innen: Im November 843 schuf Karl der Kahle im Vertrag von Coulaines (bei Le Mans) mit dem Adel, der der Monarchie korporativ zur Seite trat, die zukunftsweisende Grundlage. Freilich blieb die Stellung des Königs prekär: Er musste sich nicht allein gegen die Bretonen behaupten, die unter ihren Führern Nominoë und Erispoë faktisch Selbständigkeit erlangten, sondern seine Herrschaft in dem ihm zugewiesenen Reich gegen Ansprüche seines Neffen, Pippins II. von Aquitanien, durchsetzen. Weniger eigener Macht als der Akzeptanz durch den aquitanischen Adel verdankte Karl 848 seine Anerkennung südlich der Loire, doch erst die Einweisung Pippins in Kirchenhaft 852 und seine Beseitigung 864 sicherten die wenigstens formale Integration des Südens ins westfränkische Reich. Problematisch blieb zudem das Verhältnis Karls zu seinen Halbbrüdern Lothar und Ludwig, die auf ihren Zusammenkünften die Idee einer fränkischen Reichseinheit zu bewahren suchten. Wie konfliktträchtig das Zusammenwirken von Königen und Adel sein konnte, erwies die Einladung der westfränkischen Aristokratie an die ostfränkischen Könige zur Übernahme des Königtums im Westen (854, 858/859). Hier offenbarten sich die überaus bescheidenen Machtgrundlagen Karls: Bereits 859 vor dem in Westfranken als König amtierenden Bruder nach Burgund geflohen, vermochte sich Karl nur dank der entschlossenen Haltung der Bischöfe seines Reichs unter Führung des Reimser Erzbischofs Hinkmar zu behaupten. Ein 860 in Koblenz geschlossener Frieden ermöglichte endlich die Konsolidierung im Inneren, begünstigt durch das vorübergehende Abebben der dauernden Normanneneinfälle. Über die Flusssysteme von Maas, Seine, Loire und Garonne hatten diese skandinavischen Verbände seit 844 das westfränkische Reich wiederholt heimgesucht und damit die Schwächen der Wehrverfassung bloßgelegt: Der Erfolg der »Nordmänner« wurde als Versagen des Königtums empfunden.

Karls Versuche, im Stil seiner karolingischen Vorfahren zu regieren ­(Entsendung von Sendboten zur Durchsetzung königlicher Gewalt, Gesetzgebung) und in den geistlichen Zen­tren seines Reichs die überkommene Kultur zu befördern, ruhten auf brüchigen Grundlagen. Das Königsgut schwand, der Aktionskreis der Monarchie verengte sich auf den Raum zwischen Loire und Maas, mehr noch auf den Nordosten des Reichs, wichtige Königsrechte gelangten in die Hände adliger Amtsträger, die ihren Rang in der eigenen Familie vererben konnten. Als Reaktion darauf befestigte Karl die sakrale Stellung des Königtums im Bund mit der Kirche: 848 ließ er sich durch Erzbischof Wenilo von Sens salben und krönen, und die Formen des Herrschaftsantritts wurden in weiteren Weiheakten fortentwickelt. Die Präzisierung der theoretischen Grundlagen der königlichen Amtsgewalt im christlichen Sinn schuf das Fundament einer »Königstheologie«, die der westfränkisch-französischen Monarchie – im Bund mit geistlichen Helfern – eine einzigartige Stellung in Europa einräumte. Gleichzeitig wuchs der Kirche, vor allem den Bischöfen, ein besonderes Gewicht zu, das eine zunehmend unabhängigere Schiedsrichterrolle erlaubte.

Wie sehr Karl der Kahle freilich noch im Gefüge des einstigen Großreichs dachte und handelte, sollte sich nach dem Aussterben der lotharischen Herrschaftslinie mit dem Tod König Lothars II. (869) und Kaiser Ludwigs II. 875 und nach dem Tod des Bruders Ludwig (»des Deutschen«) 876 erweisen, jeweils Anlass für sofortige Expansionsversuche. Freilich scheiterte der schnelle Zugriff auf das Mittelreich zwischen Maas und Rhein (869: Krönung zum lotharingischen König in Metz durch Erzbischof Hinkmar von Reims, 870: Teilung des Mittelreichs zwischen dem ost- und dem westfränkischen König im Vertrag von Meerssen) ebenso wie der Ausgriff nach Ostfranken; 880 bestätigte man im Vertrag von Ribemont vielmehr die alte Grenze Westfrankens von 843, nun als politische Grenze zwischen Ost- und Westfranken. Nur Karls rascher Zug nach Italien führte zur Erlangung der Kaiserkrone in Rom (25. Dezember 875). Doch verdankte Karl das Kaisertum oder die italienische Herrschaft nicht der eigenen Macht, sondern dem Papsttum und dem italienischen Adel, und die Schwächen traten bald hervor: Ein zweiter Italienzug scheiterte. Auf der Flucht aus Italien starb der Kaiser am 6. Oktober 877. Zwar vermochte er das Königtum in Westfranken seiner Familie zu erhalten, doch endete mit Karls Tod die kurzzeitige Verknüpfung Italiens mit Westfranken. Nie mehr im Lauf des Mittelalters sollte ein westfränkisch-französischer Herrscher die Kaiserkrone erlangen.

Wie sehr Karl die Möglichkeiten seiner Familie überspannt hatte, offenbarte die Regierung seiner Nachfolger. Andererseits darf trotz vieler negativer Urteile aber nicht übersehen werden, dass das auf Kontinuität bedachte Herrschaftsverständnis wesentliche Voraussetzungen für die französische Geschichte des Mittelalters schuf, die sich erst in kommenden Generationen entfalten sollten.

Die Monarchie im Westen stürzte nach Karls Tod in eine schwere Krise, weil sein Sohn, König Ludwig II., der Stammler (877–879), auf Grund wiederholter Krankheitsschübe kaum regierungsfähig war und auf die Unterstützung führender Adelsfamilien (Rorgoniden, Welfen) angewiesen blieb. Der Adel, voran die Äbte Hugo und Gauzlin, sorgte nach Ludwigs II. Tod für eine Teilung des westfränkischen Reichs unter seine Söhne Ludwig III. (879–882) und Karlmann (879–884), während der erst nach dem Tod des Vaters geborene Karl zunächst leer ausging. Der rasche Tod der beiden Könige stellte angesichts extremer Normannengefahr die Nachfolgefrage 884/885, die scheinbar im Sinne alter fränkischer Reichseinheit gelöst wurde. Auf Einladung des westfränkischen Adels begab sich nämlich der Sohn Ludwigs des Deutschen, Karl III., der Dicke, Herrscher in Ostfranken und Italien, seit 881 auch Kaiser, in den Westen. Damit war das fränkische Reich 885 wieder unter einem Herrscher vereint.

Das Versagen des Kaisers in der Normannenabwehr, die nun von regionalen Potentaten organisiert wurde, offensichtliche Krankheit und ein Putsch von Karls Neffen Arnulf (von Kärnten) 887 beendeten die Existenz des Großreichs endgültig, das in der kaiserlichen Kanzlei ohnehin nur als Summe von Teilen begriffen worden war. Die heterogene Reichsstruktur, das Versagen der fränkischen Wehrverfassung angesichts beweglicher normannischer Verbände, die allein aussichtsreiche Abwehr in regionaler Abstimmung und die damit einhergehende Umprägung politischer Legitimation hatten die Idee des fränkischen Großreichs zu einem Anachronismus werden lassen.

An seine Stelle traten 887/888 Nachfolgereiche in Ostfranken, Westfranken, Burgund und Italien. Träger der Entscheidungen blieb der Adel, der sich seine Könige aus den eigenen Reihen wählte.

Die Formierung Frankreichs (888–987)

888 Wahl Odos, Graf von Paris, des ersten Nichtkarolingers zum westfränkischen König (888–898); Beginn der 100 Jahre währenden Auseinandersetzung zwischen Karolingern und Robertinern/Kapetingern um das königliche Amt.

893 Wahl Karls III. (des Einfältigen) zum Gegenkönig.

911 Karl III. erlangt die Herrschaft über Lotharingien.

921 Bonner Vertrag mit dem ostfränkischen König Heinrich I. zur Sicherung der Herrschaft über Lotharingien.

922 Wahl Roberts I. zum Gegenkönig (922/923).

923 Wahl Rudolfs von Burgund zum König (923–936); Gefangennahme Karls III.

929 Tod Karls III.

936–954 Restitution des karolingischen Königtums durch Ludwig IV. (den Überseeischen).

954–986 König Lothar.

965 Hoftag Kaiser Ottos I. in Köln unter Teilnahme der westfränkischen Königsfamilie.

978 Überfall Lothars auf Aachen, danach Verzicht auf Lotharingien.

986/987 Ludwig V., der letzte karolingische König.

987 Wahl Hugo Capets zum König (987–996); Sicherung der kapetingischen Thronfolge durch die Mitkönigserhebung Roberts II. (987/996–1031).

Die neue Ordnung der Fürstentümer

Die Schwächung der königlichen Zentralgewalt über einen langen Zeitraum vom 9. bis zum 11./12. Jahrhundert macht die Unterscheidung von Legitimations- und Sanktionsbereich der Monarchie nötig: Ihre Legitimation bezogen die westfränkisch-französischen Könige aus der Herrschaft über das gesamte regnum Francorum der Reichsordnung von 843, ihr Sanktionsbereich erstreckte sich auf ein zunehmend kleiner werdendes Bündel von Rechten und Besitzungen nördlich der Loire, das räumlich allenfalls noch ein Zehntel des Gesamt­reichs ausmachte. Diese Krondomäne war die Summe von direkt vom König über Vasallen, Bauern und Bürger ausgeübten Hoheitsrechten, Liegenschaften, nutzbaren Rechten und Einkünften und markiert die tatsächliche Herrschaftsgrundlage. Sie befand sich im 10. Jahrhundert vor allem im Oise-Aisne-Raum um Laon, seit dem Regierungsantritt der Kapetinger 987 im Pariser Becken bis hin nach Orléans. Hinzu trat die Verfügungsgewalt der Herrscher über Bistümer und Reichsabteien, nämlich das Recht der Bischofs- oder Abtseinsetzung und die Nutzung königlicher Rechte (Gastungs- und Spolienrecht): Ende des 10. Jahrhunderts war dies den Königen in 14, im 11. Jahrhundert in 22, in der Mitte des 12. Jahrhunderts in 25 von 77 Bistümern möglich.

Im größten Teil des Reichs wurde die königliche Oberherrschaft zwar formal akzeptiert, trat aber real nicht in Erscheinung. Die Zahl der Adligen, die am Königshof präsent waren oder regelmäßig die Huldigung leisteten, nahm rapide ab. Damit wurde zwar das Lehnswesen, das auf zweiseitigen personalen Banden beruhte, nicht aufgelöst, aber wesentlich verändert. Die Wahrung ursprünglicher Königsrechte im lokalen und regionalen Bereich stärkte nun nämlich die Position neuer adliger Herrschaftsträger: Vor Ort waren dies Herren oder Burgherren, die – ausgehend von festen Burgen mit Steintürmen – die kleinräumige Verdichtung ihrer Macht u. a. durch Markt- und Stadtgründungen betrieben. Auf regionaler Ebene rückten fürstliche Häuser seit dem 9. Jahrhundert in frühere Positionen des Königtums ein und schoben sich zunehmend zwischen den gräflichen Adel und den Herrscher. Damit löste sich die karolingische Grafschaftsverfassung auf, die den Königen den personalen Zugriff in den Regionen ermöglicht hatte; die Grafenrechte, vor allem die Gerichtsbarkeit im Auftrag des Königtums und das militärische Aufgebot im begrenzten Raum, gelangten an Adelshäuser, die ihre neu erworbene Position in der Familie zu vererben trachteten.

Die Entstehung großer Fürstentümer, deren Herren den Titel eines Herzogs, eines Markgrafen oder eines (Groß-)Grafen führten, schränkte zwar königliche Rechte ein, behauptete aber wesentliche Elemente der politischen Ordnung: Die Prinzipate müssen im früheren Hochmittelalter als stabilisierende Einheiten gesehen werden. Sie beruhten nicht zwingend auf ethnischen Gegebenheiten, konnten aber vorkarolingische Traditionen aufnehmen und fortführen. Ihre Basis war meist der Besitz einer oder mehrerer Grafschaften, in denen ein Amtsträger Herrschaftsrechte konzentrierte. Freilich blieben die französischen »Fürsten« weit von gleichmäßiger, flächendeckender Herrschaft in ihrem »Fürstentum« entfernt; doch wurde ihr Vorrang dort anerkannt, ohne dass es zu einer zusammenhängenden Territorienbildung gekommen wäre.

In den Quellen des früheren Hochmittelalters traten neben Franzien als Stammlandschaft des Königtums besonders die Herzogtümer Burgund und Aquitanien hervor, ja das gemeinsame Handeln des Adels konnte als Ausdruck der Willensbildung von Franziern, Burgundern und Aquitaniern beschrieben werden. In beiden Herzogtümern vollzog sich Herrschaft freilich in einem labilen Konglomerat herzoglicher, gräflicher und bischöflicher Macht, in deren Bann sich Großgrafschaften aufbauten: Unter ihnen ragten Flandern im Norden, Toulouse und Barcelona im Süden, die Loiregrafschaften Anjou und Blois im Zentrum hervor; durch die Vereinigung der Grafschaften Blois und Champagne erwuchs der Monarchie in kapetingischer Zeit mächtige Konkurrenz. Andere Voraussetzungen prägten die Formierung des bretonischen Herzogtums, das sich vom 9. Jahrhundert an als königsgleich verstand und selbständige Beziehungen zur römischen Kurie anstrebte. Die gewiss effektivste herzogliche Gewalt übten die Normannenherzöge aus, deren Landnahme vom Königtum anerkannt wurde und die nach 987 den Herzogstitel annahmen. Ihr Ausgriff nach England im Jahr 1066 (Schlacht bei Hastings) schuf ihnen in der Bindung von englischem Königtum und normannischem Herzogtum selbst dann eine Sonderstellung im französischen Königreich, als die Lehnsabhängigkeit des Festlandbesitzes von der französischen Krone durchgesetzt werden konnte. Im 12. Jahrhundert beherrschte der englische König / normannische Herzog selbst in Frankreich einen größeren Raum als der französische König.

Ausgehend von ihrer Funktion als Stellvertreter des Königtums in den Regionen übten diese großen Herren in ihren Fürstentümern königliche Funktionen aus, vor allem bei der Einsetzung von Bischöfen, als Träger der öffentlichen Gewalt, als Empfänger der Abgaben aus ehemaligem Königsgut, als Inhaber der Regalien (Königsrechte), als höchste gerichtliche In­stanz, als Garanten der öffentlichen Ordnung und des Friedens. In den Zentren der Prinzipate bildeten sich Fürstenhöfe aus, die in ihrer Organisation dem Königshof nachempfunden waren und zu bedeutenden Trägern öffentlichen wie kulturellen Lebens wurden; die höfische Kultur des Hochmittelalters kann nur aus dieser Vielfalt und Multizentralität erklärt werden.

Die Beschränkung faktischer Königsrechte auf einen kleinen Teil des Königreichs wird heute nicht mehr als Vorgang schleichender Usurpation des Adels gesehen, sondern als vollständige und bisweilen schlagartige Übernahme der Regalien in königsfernen Regionen. Doch selbst im unmittelbaren Aktionsbereich der Monarchie, in Franzien zwischen Orléans und Laon, mussten sich die Könige gegen den Adel behaupten und ihre Machtgrundlagen mühsam verteidigen. Bedeutende Rivalen erwuchsen den Karolingern in den großen Grafenfamilien Nordfrankreichs, unter denen die Robertiner (benannt nach dem »Stammvater«, Graf Robert dem Tapferen, † 866) und die aus einer karolingischen Seitenlinie hervorgegangenen Grafen Heribert I. († 900/906) und Heribert II. († 943) von Vermandois herausragten. Mit ihrem Besitz im Raum Paris/Orléans bzw. im Nordosten um Meaux/Vermandois/Soissons schnürten sie die Krondomäne förmlich ein und schoben sich in ihrem Machtbereich immer deutlicher zwischen adlige Herren und König. Hier fiel die Entscheidung um die Vormacht in Franzien und um das französische Königtum.

Von Westfranken zu Frankreich: Karolinger und Kapetinger

Seit dem 11. Jahrhundert stilisierte die französische Geschichtsschreibung die eigene Historie als Folge dreier großer Dynastien der fränkisch-französischen Könige in einem Reich. So entstand eine einheitliche Linie von den Merowingern (Ende 5. Jahrhundert bis 751) über die Karolinger (751–987) zu den seit 987 in ununterbrochener Folge regierenden Kapetingern. Viele Abwege waren hier ebenso wenig berücksichtigt wie die Geschichte der Großreichsbildung, der fränkischen Teilungen und vor allem des ostfränkisch-deutschen Nachfolgereichs. Auch wenn es Teile der historischen Wirklichkeit ausblendete, begründete dieses bis in die Gegenwart wirksame Geschichtsbild die Einheitlichkeit von Reich und Königtum seit frühmittelalterlichen Anfängen in der Lehre von drei Dynastien (trois races des rois de France). Ihre Abfolge bereitete allerdings erhebliche Probleme, da die Karolinger nicht ununterbrochen bis 987 regierten, sondern sich in einer ein Jahrhundert dauernden Auseinandersetzung mit ihren großen Rivalen, den Robertinern/Kapetingern, zerrieben und da schon zwei Vorfahren des »ersten« Kapetingers Hugo (987–996) als Könige herrschten (Odo 888–898; Robert I. 922/923). Die bunte Geschichte des Jahrhunderts zwischen 887 und 987 markiert nicht nur die große dynastische Weichenstellung für die Folgezeit, sondern lässt auch in einem gestreckten Prozess den Wandel vom Nachfolgereich zum eigenständigen Verband, von Westfranken zu Frankreich, deutlich werden.

Der Absetzung Kaiser Karls III. (des Dicken) 887 war die rasche Auflösung des Großreichs gefolgt. Bald wurde klar, dass dem größeren Ganzen nicht die Vielfalt kleinster Einheiten folgte, sondern dass der politisch handelnde Adel weitgehend in den Strukturen der fränkischen Reiche dachte. So ist die Nachfolge von Karls Neffen Arnulf (von Kärnten) im ostfränkischen Königtum wie im römischen Kaisertum zu verstehen, so auch die Entscheidung der westfränkischen Aristokratie für einen nichtkarolingischen König. Die Adelswahl fiel 888 auf Graf Odo, der im Bund mit Bischof Gauzlin gerade die erfolgreiche Verteidigung von Paris gegen die Normannen organisiert und damit seine politische Eignung bewiesen hatte.

Odo, der Sohn Roberts des Tapferen, verfügte über eine bedeutsame Stellung in Neustrien, dem Raum zwischen Loire und Seine, und im Pariser Becken. Doch sein Königtum wurde nicht von allen Kräften des Reichs getragen. Zwar schien man weitgehend einig, das Experiment der Großreichsbildung nicht zu wiederholen, doch betrieb eine Adelspartei unter Erzbischof Fulco von Reims 888 zunächst die Wahl des aus Italien kommenden Wido von Spoleto, nach dessen Misserfolg schließlich die Erhebung des letzten Karolingers aus der westfränkischen Linie. Karl III., erst von Späteren mit dem Beinamen »der Einfältige« versehen, war nach dem Tod des Vaters, Ludwigs II. (des Stammlers), geboren und 879, 884/885 und 888 bei den Nachfolgeregelungen übergangen worden. 893 wurde er Odo entgegengestellt, konnte sich aber zunächst nicht durchsetzen. Das Datum seiner Krönung am 28. Januar 893, dem Todestag Karls des Großen, offenbart etwas von der zeitgenössischen Begründung des karolingischen Königtums: Die Erinnerung an den großen Frankenherrscher war zum Maßstab geworden, und die karolingische Tradition wurde von den Königen der Folgezeit jeweils für die Legitimation eigener Herrschaft genutzt. Karl III. von Westfranken, der seine Herkunft von Karl dem Großen und Karl dem Kahlen betonte, vermochte sich freilich erst nach Odos Tod 898 im Reich durchzusetzen.

In den ersten Jahren noch in informeller Abhängigkeit von Kaiser Arnulf (von Kärnten), zog Karl aus dem Aussterben der ostfränkischen Karolingerlinie 911 erhebliche Vorteile: Damals wandte sich der lotharingische Adel dem westfränkischen König zu. Auch wenn sich Hoffnungen zerschlugen, die Herrschaft sogar auf die Ostfranken auszudehnen, die sich in Konrad I. den ersten nichtkarolingischen König gewählt hatten, brachte der Erwerb Lotharingiens für Karl III. erheblichen Gewinn. Er konnte nicht nur die Reichsgrenze bis an den Rhein schieben, sondern wurde auch zum Nutznießer des reichen Königsguts in diesem Stammland der karolingischen Familie. Seinem neuen Rang verlieh Karl Ausdruck, indem er auf den seit dem 8. Jahrhundert außer Gebrauch geratenen Königstitel rex Francorum, König der Franken, zurückgriff und damit seinem umfassenden Anspruch auf Führung des fränkischen Volkes Ausdruck verlieh. Die Weitergabe dieses Titels an die Nachfolger im westfränkisch-französischen Königsamt führte zwar zu einer räumlichen Verengung auf das westliche Reich. Doch die Fortführung fränkischer Herrschaft schien so allein dem französischen Königtum zugestanden, das den lateinischen Titel seit dem 13. Jahrhundert als roi de France, als König von Frankreich, übersetzte.

Auch wenn seine Nachfolger Lotharingien nicht zu behaupten vermochten, auch wenn Karl III. dem ostfränkischen König Heinrich I. im Bonner Vertrag 921 eine Teilhabe an der fränkischen Tradition einzuräumen schien, auch wenn die Zahl der Gefolgsleute und die Machtgrundlage zu zerrinnen begannen, auch wenn normannische Invasionen wie die scheinbar 911 erfolgte Akzeptanz ihrer Ansiedlung in der Normandie die Schwächen der Monarchie bloßlegten: Karls III. Königtum muss in der Bewahrung und Umformung fränkisch-karolingischer Traditionen für das westfränkische Reich als Meilenstein auf dem Weg zur Bildung der französischen Nation des Mittelalters gelten.

Faktisch auf nur noch ganz wenige Orte gestützt, von großen Teilen des Adels Franziens verlassen, erhielt Karl III. 922 in König Odos Bruder Robert I. (922/923) einen Gegenkönig. Dessen früher Schlachtentod ließ den Schwiegersohn, Rudolf von Burgund (923–936), als König nachfolgen, während Roberts I. Sohn Hugo (der Ältere, † 956) die Führung der robertinischen Sache in Westfranken übernahm. Die Adelswahl hatte über das dynastische Erbfolgeprinzip triumphiert. Karl III., 923 in Gefangenschaft geraten, starb 929 in Kerkerhaft, sein einziger Sohn Ludwig floh mit der Mutter ins englische Exil.

Der karolingischen Herrschaft war freilich eine drei Generationen währende Restitution vergönnt, von den Königen selbst erbrechtlich begriffen, den Ursprüngen nach aber eher Ausfluss politischen Kalküls als dynastischer Anhänglichkeit des Adels. Das labile Kräfteverhältnis in Franzien ließ Hugo (den Älteren) 936 nicht selbst nach der Krone greifen. Unter seiner Führung wurde der Sohn Karls III., Ludwig IV., der Überseeische (936–954), nach Westfranken zurückgeholt. Schnell musste der junge Karolinger Hugo als »zweiten nach dem König« bestätigen: Der Dualismus zwischen Karolingern und Robertinern erwuchs zum Prinzip der Reichsordnung.

Dass die Ereignisse der Folgezeit nicht allein von inneren Auseinandersetzungen bestimmt blieben, ergab sich aus dem Aufstieg des neuen ostfränkischen Herrschergeschlechts der Liudolfinger/Ottonen (919–1024). Schon Heinrich I. (919–936) hatte in vielfältigen Verflechtungen und Bündnissen mit dem Adel sein Königtum im Reich machtvoll durchgesetzt; seinem Sohn, Otto I. (936–973), unter dessen Führung das Reich zur europäischen Hegemonialmacht aufstieg, gelang die Wiederherstellung des Kaisertums, das seit 962 im Verfügungsbereich des ostfränkisch-deutschen Königtums verblieb. Der Dauerkonflikt um die Zugehörigkeit Lotharingiens und Verbindungen mit Adelsgruppen in Franzien ließen Otto allmählich in eine Schiedsrichterrolle in Westfranken hineinwachsen. Begünstigt wurde sie durch Eheschließungen seiner beiden Schwestern Gerberga und Hadwig mit den mächtigsten Herren im Westen, mit König Ludwig IV. und Hugo (dem Älteren); Mittler wurde Ottos Bruder Brun, Erzbischof von Köln (953–965). Von Osten her ordnete man Ludwigs IV. politisches Überleben ebenso wie die von Hugo akzeptierte Nachfolgeregelung nach Ludwigs IV. Tod: Erstmals wurde auch im Westen 954 das Reich nicht mehr unter die Söhne des Königs geteilt; Nachfolger wurde der Erstgeborene, König Lothar (954–986). Entscheidungen im westfränkischen Reich waren so zur ottonischen »Familienangelegenheit« geworden, ohne dass die politische Eigenständigkeit des Westens bezweifelt worden wäre.

Die engen persönlichen Bindungen wurden erschüttert durch die Kaiserkrönung Ottos I. in Rom 962, die die bisher beachtete Gleichrangigkeit der Könige in Frage und wegen des Rückgriffs auf die fränkische Kaiseridee das karolingische Familienbewusstsein Lothars auf die Probe stellte. Der König, kaum mündig geworden, reagierte darauf, und seine Selbständigkeit wuchs nach dem Tod des Onkels Brun und der Mutter Gerberga. Lothars Wendung nach Lotharingien in einer Phase des zeitweiligen Ausgleichs mit dem robertinischen Haus – seit 956 von Hugo Capet, dem »Frankenherzog« (dux Francorum), geführt – wie der Überfall auf ­Kaiser Otto II. (973–983) in Aachen 978 ließen das neue Selbstbewusstsein im Westen zutage treten. Trotz vieler Berührungen mit dem Osten formulierte man im Westen im letzten Viertel des 10. Jahrhunderts die Idee der Unabhängigkeit und der Gleichrangigkeit von Kaiser und König. Dies markiert einen Wendepunkt. Langsam war das westfränkische Reich, das sein Gesicht dynastischen Entscheidungen verdankte, zum eigenständigen Gebilde geworden, welches seine Prägung im Mit- und Gegeneinander von König und Adel erfuhr. Die Verbindungen zu den östlichen Nachbarn wurden schwächer und rissen schließlich weitgehend ab. Die innere Konsolidierung wie die Unabhängigkeit nach außen lassen uns nicht mehr von Westfranken, das seine Verhaftung in älteren Bindungen nicht leugnete, sondern von Frankreich sprechen. Der Höhepunkt dieses Wandels, der sehr umfassend aus politischen Kontakten, Veränderungen des Machtgefüges und aus Bewusstseinsentwicklungen erklärt werden muss, fiel in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts.

Dass gerade in dieser Epoche die kapetingische Königsherrschaft die karolingische ablöste, war eher Zufällen zu verdanken, nicht zuletzt dem frühen Tod des letzten Karolingers, Ludwigs V. (986–987).

Der Adel Franziens entschied sich bei der Königswahl von 987 nicht für den letzten männlichen Karolinger, für Ludwigs V. Onkel Karl, inzwischen als Lehnsmann Ottos II. und Ottos III. Herzog von Niederlothringen. Das war weniger aus der prinzipiellen Ablehnung einer alten Dynastie als aus dem politischen Kräftespiel zu erklären: Königsmacher von 987 war der wichtigste Kirchenfürst Frankreichs, Erzbischof Adalbero von Reims. Hatten die Reimser Erzbischöfe bisher treu zu den Karolingern gestanden und aktiv an der Ausgestaltung ihrer politischen Theologie Anteil genommen, so waren sie in den Jahren vor 987 dem Königsgeschlecht auf Grund seiner Besitzpolitik entfremdet und gleichsam in die Arme der früheren Gegner, der Robertiner/Kapetinger, getrieben worden. Den militärischen Konflikt um die Krone entschied König Hugo Capet (987–996), der schon im Jahr seiner Wahl die Mitkönigswürde seinem Sohn Robert II. (987/996–1031) sicherte, für sich: Durch Verrat gelangte Karl von Niederlothringen in kapetingische Kerkerhaft.

Nur der rückschauende Betrachter mag die Wahl Hugo Capets als Epochenwende erachten. Den Zeitgenossen kam es auf Kontinuität an, sowohl in der Regierungspraxis der Könige als auch in der Legitimation von Herrschaft durch die Kirche. Doch auch unter den Kapetingern setzte sich das Dilemma des schwachen Königtums fort: Aus einem großen Herzog war ein kleiner König der Franzosen geworden.

Gesellschaft und Verfassung im 11. Jahrhundert

910 Gründung des Klosters Cluny; Reform vieler Klöster.

991–997 Reimser Bistumsstreit.

11./12. Jh. Konsolidierung der kapetingischen Dynastie durch wiederholte Mitkönigserhebungen zu Lebzeiten der königlichen Väter.

987/996–1031 Robert II.

1027/1031–1060 Heinrich I.

1059/1060–1108 Philipp I.

1077/78 Verbot der Laieninvestitur.

1095 Papst Urban II. ruft auf dem Konzil von Clermont zum Kreuzzug auf.

1096–1099 1. Kreuzzug.

Die Sorge um die rechte Ordnung

Den zeitgenössischen Quellen bedeutete die Königswahl von 987 auch die Wiederherstellung der rechten Ordnung in der Welt. Nun herrschte der König mit den größten Machtmitteln, während der karolingische Prätendent, so legt es der Chronist Richer von Reims in einer fiktiven Rede seinem Erzbischof Adalbero in den Mund, sowohl Lehnsmann eines fremden Königs als auch Ehemann einer Frau minderen Standes war; beides disqualifiziere den Kandidaten.

Die Turbulenzen des 9. und 10. Jahrhunderts hatten die Reflexion über die Ordnung der Gesellschaft wie über den richtigen Weg zum Heil beflügelt. Die enge Bindung von Herrschaft und Kirche ließ Geistliche auch an neuen Formen monarchischer Legitimation arbeiten. Doch sollte der Bischof, der die sakramental verstandene Königsweihe spendete, nicht auch darüber entscheiden, ob einem unwürdigen Herrscher die Gnade Gottes entzogen werden konnte? Wie vertrug sich die adlige Kirchenherrschaft, die berühmte Abteien Laien unterstellte, mit den Grundsätzen kirchlicher Eigenständigkeit, wie sie in kanonischen Rechtssätzen zumal in Westfranken propagiert wurden?

Einen neuen Weg wies im frühen 10. Jahrhundert die Gründung des Klosters Cluny, dessen Lösung aus weltlichen und kirchlichen Bindungen in der Zuordnung zum Papst eine ungeheure Faszination auf die adlige Umgebung Burgunds ausübte. Das ernstgenommene mönchische Leben im dauernden Gottesdienst wurde zum Leitbild einer neuen Lebensform. Sie blieb erstrebenswert, gerade für den waffentragenden Adel, der die Sorge um sein Seelenheil in der Hand geachteter geistlicher Partner wusste. Man ließ Cluny Priorate errichten und bestehende Abteien im Geist der gelebten Ordnung der Benediktregel reformieren: In der Freiheit der Kirche hatte sich die aristokratische Gesellschaft zwar keine Gegenwelt geschaffen, aber der göttlichen Heilsordnung einen kleinen Platz im Diesseits zugewiesen.

Diese Ideen machten nicht an den Klostermauern halt und wirkten nicht allein im Gebet für das Seelenheil der Stifter. Ausgehend von Südfrankreich rückte der Klerus in die Pflicht des Königs zum Schutz des Friedens ein. Ganz offensichtlich waren die spätkarolingischen und frühkapetingischen Herrscher dazu nicht mehr in der Lage. Mit dem Ziel, die Adelsfehde als legitimes Rechtsmittel einer aristokratischen Gesellschaft wenigstens einzudämmen, setzten die Bischöfe unter Androhung des Interdikts zunächst den Schutz von Personengruppen (waffenlose Kleriker, Bauern) und Sachen (Kirchen, Häuser, Vieh und Feldfrüchte) durch, dann die Waffenruhe für bestimmte Tage (Treuga Dei), zunächst von Samstag abend bis Montag morgen, später von Mittwoch abend bis Montag morgen, in der Advents- und Fastenzeit und an Heiligenfesten. Durch die Einbindung des Adels in diese eidlich beschworenen Abmachungen wurde die Gottesfriedensbewegung mehr und mehr zum stabilisierenden Element.

An der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert führte die Feudalisierung der Gesellschaft auch zum Nachdenken über die soziale Ordnung. An die Stelle der einfachen Unterscheidung in Klerus und Laien setzten Kirchenmänner, voran die Bischöfe Gerhard von Cambrai und Adalbero von Laon, in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts das Modell einer dreigeteilten Gesellschaft: Sie unterschieden Beter, Kämpfer und Arbeiter und fügten diese drei Stände in funktionalen Bezügen zu einem Ganzen zusammen. Die Idee der funktionalen Dreiteilung der Gesellschaft war Reflex der Differenzierung vor allem von Kämpfern und Arbeitern, von Kriegern/Rittern und Bauern. Als Modell wirkte die ändelehre gleichzeitig auch auf das Begreifen der sozialen Ordnung: Wirklichkeit und Wahrnehmung der Wirklichkeit standen in einer gegenseitigen Beziehung.

Das feudale Frankreich

Die ersten drei Herrscher aus dem Haus Capet regierten in der Tradition ihrer karolingischen Amtsvorgänger, und doch zeichnete sich ein charakteristischer Wandel ab. Zunehmend lösten sich alte Bindungen unter den karolingischen Nachfolgereichen auf. Der Streit um die erzbischöfliche Würde in Reims in den neunziger Jahren des 10. Jahrhunderts offenbarte, dass der französische Klerus im Bund mit dem Königtum nicht mehr bereit war, Lösungen auf einem Treffen im ostfränkisch-deutschen Reich zu suchen. Zwar wurde der von Hugo Capet gegen den ungetreuen Erzbischof Arnulf erhobene Gerbert von Aurillac letztlich suspendiert, doch verraten die politische Publizistik und die Konzilsakten jener Jahre zunehmendes französisches Selbstbewusstsein. Bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts nahmen die persönlichen Kontakte zwischen den französischen Königen und den Kaisern im Osten immer mehr ab und versiegten schließlich ganz. In dieser Zeit sind auch letzte schwache Versuche zu beobachten, Lotharingien für die kapetingische Monarchie zurückzugewinnen: Die Grenze zwischen Ost und West hatte sich verfestigt. Ein später Reflex alter Zusammenhänge war das Bemühen italienischer Adliger um einen König aus Frankreich, als sich 1024 nach dem Tod des letzten ottonischen Kaisers Heinrich II. die Chance zur Neuorientierung bot. Doch die kapetingischen Könige ergriffen das Angebot in den zwanziger Jahren des 11. Jahrhunderts nicht, und auch ein entsprechender Anlauf Herzog Wilhelms V. von Aquitanien blieb eine Episode, der kein Erfolg beschieden war.

Die Politik der Monarchie sollte sich für Jahrhunderte auf das eigene Reich konzentrieren. Hier galt es zunächst, das 987 errungene Königtum der Familie Capet zu sichern und in einem langen Prozess das Prinzip adliger Königswahl durch dynastisches Erbrecht zu ersetzen. In den ersten Generationen konnte der Anteil des Adels an der Königserhebung noch nicht beseitigt werden, doch suchte der noch regierende Herrscher die Nachfolge durch die Wahl des ältesten Sohnes zum Mitkönig in seinem Sinn zu lenken: Schon 987 ließ Hugo Capet (987–996) seinen Sohn Robert II. (987/996–1031) zum König wählen, und auch dieser ordnete die Nachfolge entsprechend, als er zunächst den ältesten Sohn Hugo 1017 († 1025), dann 1027 Heinrich I. (1027/1031–1060) erheben ließ. Ihm folgte 1059 Philipp I. (1059/1060–1108), dessen Sohn Ludwig VI. (1098/1108–1137) seit 1101 Regierungsgeschäfte ausübte. Nach dem frühen Tod von Ludwigs VI. ältestem Sohn Philipp wurde der zweite, Ludwig VII. (1131/1137–1180), 1131 zum König geweiht, der 1179 einer Adelsversammlung Philipp II. (1179/ 1180 bis 1223) als Mitkönig präsentierte und nur noch die Akklamation entgegennahm. Erstmals wurde 1223 Ludwig VIII. nach dem Tod des Vaters ohne Adelswahl geweiht, Zeugnis für die Durchsetzung des Erbgedankens, der später seine Formulierung im Ausruf »Le roi est mort! Vive le roi!« (»Der König ist tot! Es lebe der König!«) fand.

Die bis ins frühe 14. Jahrhundert ununterbrochene Folge von Vätern und Söhnen im Königtum wirkte außerordentlich stabilisierend. Dies wird um so deutlicher, wenn man die Geschichte der französischen Monarchie mit der des römisch-deutschen Königtums vergleicht. Dort regierten zwischen 983 und 1257 nämlich einundzwanzig Könige, Gegenkönige oder Mitkönige aus mehreren Familien, während Frankreich zwischen 987 und 1270 – lässt man die beiden früh verstorbenen Mitkönige Hugo und Philipp beiseite – von nur neun Königen aus einer Dynastie beherrscht wurde. Bedeutsam wurde also die im europäischen Vergleich ungewöhnlich lange Lebensdauer der Kapetinger und der biologische Umstand, dass beim Tod des Vaters zwischen 996 und 1314 stets ein Sohn als Herrscher zur Verfügung stand.

Die Geschichte Frankreichs lässt sich freilich nur im Ensemble von Königtum und Adel beschreiben, und dies gilt in besonderem Maß für das 11. Jahrhundert, in dem die Bindungen der französischen Fürsten an die Herrscher lockerer wurden. Ohne den prinzipiellen Vorrang der Monarchie in Frage zu stellen, suchte das Fürstentum eigene Wege und kam immer seltener zum Königshof. Dort dominierten einzelne Familien die wichtigen Hofämter, deren Einfluss erst im 12. Jahrhundert langsam zurückgedrängt wurde. Zwar formulierte Bischof Fulbert von Chartres († 1028) prägnant die sich aus den personalen Lehnsbindungen ergebenden Pflichten (consilium et auxilium: Rat und Hilfe, Hof- und Heerfahrt), doch tatsächlich bewirkte die Vielfalt der Lehnsbande die Auflösung fester Gefolgschaften und die stärkere Orientierung am Gegenstand der personalen Bindung, am Lehen ( feudum). Diese Feudalisierung durchdrang die gesamte Gesellschaft Nordfrankreichs, wenn auch in unterschiedlicher Intensität.

In Südfrankreich, nur wenig von fränkisch-germanischen Formen des Zusammenlebens beeinflusst und in romanischen Traditionen stehend, orientierte man sich stärker am freien Grundbesitz: »Kein Land ohne Herr, lautete die Devise des Nordens, kein Herr ohne Besitzanspruch, die des Südens« (Jean Favier).

Der ständischen Abschließung des Adels, der sich aus seinen Rechten und Privilegien definierte und sie in der eigenen Familie weitergab, entsprach die Formierung einer ritterlichen Kultur. Sie fand ihren sublimen Ausdruck in der höfischen Literatur (Epik und Roman), die dem feudalen Lebensgefüge Halt verliehen und seit dem 12. Jahrhundert europäische Geltung erlangte. Von Frankreich gingen die weit beachteten und wirkenden Formen ritterlichen und höfischen Lebens aus, der Frauendienst, das Turnier, das ritterliche Erziehungsideal, die Initiationsriten wie Ritterschlag und Schwertleite.

Dass der Kampf um Teilhabe an der ritterlichen Lebenswelt im gesellschaftlichen Wandel und bei wachsender Bevölkerung auf erhebliche Probleme stieß, erwies die Geschichte des 11. Jahrhunderts. Im Kreuzzug eröffnete sich der französischen Ritterschaft dann der Ausweg, der angesichts eines gleichbleibenden Lebensraums und wachsender Bevölkerung auch nachgeborenen Söhnen kleiner Burgherren oder großer Fürsten ein standesgemäßes Dasein im Dienst an der christlichen Sache ermöglichte. Die Kreuzzugsgeschichtsschreibung stilisierte den 1. Kreuzzug (1096–1099) zum Unternehmen gallischer, französischer Ritter. Gerade in Frankreich hatte 1095 der Aufruf Papst Urbans II. zum Kreuzzug auf dem Konzil von Clermont einen ungeheuren Widerhall gefunden. Während der Auseinandersetzung mit Kaiser Heinrich IV. (1056–1105/06) sah der erste französische Papst die Gelegenheit, durch den Kreuzzug zur Befreiung der heiligen Stätten in Palästina von islamischer Herrschaft seine Vormacht in der lateinischen Christenheit zu festigen. Doch nicht nur der vom Papst gebannte Kaiser, sondern auch der französische König standen abseits: Wegen einer Eheaffäre befand sich Philipp I. im Bann – er hatte die Frau eines gräflichen Lehnsmanns entführt und geheiratet und wollte nicht von ihr ablassen. Erst ein halbes Jahrhundert später wurde der Kreuzzug zu einer Angelegenheit der europäischen Könige, und die französischen Herrscher taten sich dabei bis zum traurigen Ende König Ludwigs IX. 1270 vor Tunis besonders hervor.

Günstige Voraussetzung dafür war die enge Bindung an das römische Papsttum, nicht zuletzt wegen des eigentümlichen Verlaufs der Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Kirche und Königtum in Frankreich. Die Idee der Kirchenreform im Sinne einer Beachtung biblischer Vorbilder, von burgundischen und lothringischen Klöstern ausgehend und seit der Mitte des 11. Jahrhunderts vom Papsttum aufgegriffen, hatte die Abgrenzung von Kirche und weltlicher Gewalt dringend werden lassen. Der Konflikt entzündete sich an der Einsetzung von Bischöfen und Äbten durch die Könige, wie sie seit Jahrhunderten üblich war. Diese Investitur galt den Reformern als Ämterkäuflichkeit (Simonie) und damit als schweres Verbrechen. Doch der Streit um die Investitur, der im deutschen Reich zur tiefsten Krise des mittelalterlichen Königtums führte, nahm in Frankreich andere Bahnen, obwohl auch hier Bischofseinsetzungen durch den König (1073/74 Mâcon, 1081 Soissons, 1100–1104/05 Beauvais, 1106–1108 Reims) schwere Friktionen heraufbeschworen. Freilich vermochte Philipp I. nur in etwa 22 von 77 Bistümern Herrschaftsrechte durchzusetzen, anders als Kaiser Heinrich IV., der die Investitur in allen Bischofskirchen seines Reichs beanspruchte. Aus solchen Voraussetzungen ergaben sich unterschiedliche Verlaufsformen des Streits zwischen Päpsten und Herrschern, zumal die Päpste im Kampf mit den Saliern auf die Unterstützung der französischen Könige angewiesen blieben. Zwar verkündeten päpstliche Legaten auch in Frankreich das Verbot der Laieninvestitur (1077/78) oder des Lehnseids des Bischofs, doch ließ selbst die Bannung Philipps I. keine bleibende Entfremdung entstehen. Ohne dass es in Frankreich zu einer prinzipiellen Regelung in einem Konkordat zwischen König und Papst kam, wurde der Weg zur Lösung in der flexiblen Theorie Bischof Ivos von Chartres († 1115/16), vor allem aber im praktischen Miteinander vor Ort gefunden. Leicht konnte das Königtum deshalb auf geistliche Investitursymbole wie Ring und Stab verzichten, weil ihm die Einbindung der Bischöfe in das Lehnswesen im Sinne einer Stärkung der Krondomäne gelang. In Verhandlungen mit deutschen Amtsbrüdern erklärte der Bischof von Châlons-sur-Marne, Wilhelm von Champeaux, 1119, die französischen Bischöfe dienten auch ohne königliche Einsetzung dem Staat. Damit stützten sie aber auch die Monarchie, die ihre besondere Prägung seit dem 12. Jahrhundert dem Bündnis mit der Kirche und dem Papsttum verdankte.

Königliche Vorherrschaft und europäischer Rang im 12. und 13. Jahrhundert

1107 Begegnung Papst Paschalis’ II. mit König Philipp I. und dem Thronfolger Ludwig in Saint-Denis.

1098/1108–1137 Ludwig VI.

1111 ff. Auseinandersetzungen mit dem anglonormannischen Königtum.

1119 Niederlage Ludwigs VI. gegen König Heinrich I. von England bei Brémule.

1131/1137–1180 Ludwig VII.

1147–1149 Teilnahme des Königs am 2. Kreuzzug.

1152 Scheidung Ludwigs VII. von Eleonore von Aquita­nien, die daraufhin den späteren englischen König Heinrich II. heiratet: anglonormannische Herrschaft über den Westen und Süden Frankreichs.

1159 ff. Im Papstschisma unterstützt Frankreich den schließlich erfolgreichen Papst Alexander III. gegen Kaiser Friedrich I. Barbarossa.

1179/1180–1223 Philipp II. Augustus.

1188 Durchsetzung der (zunächst formalen) königlichen Lehnsherrschaft über den englischen Festlandbesitz.

1191 Teilnahme Philipps II. am 3. Kreuzzug.

1194 ff. Englisch-französischer Krieg.

1202 Französisches Lehnsurteil gegen König Johann (Ohneland) von England.

1204 Erfolgreicher Feldzug gegen den englischen Festlandbesitz, Eroberung der Normandie und des Poitou.

1214 27. Juli: Sieg Philipps II. über Kaiser Otto IV. bei Bouvines.

1223–1226 König Ludwig VIII.

1226 Kreuzzug Ludwigs VIII. gegen die südfranzösischen Albigenser.

1226–1270 König Ludwig IX. (der Heilige).

1229 Vertrag von Paris mit Graf Raimund VII. von Toulouse; Regelung der Herrschaftsverhältnisse in Südfrankreich.

1248–1254 Teilnahme Ludwigs IX. am 6. Kreuzzug.

1270 Tod des Königs auf dem 7. Kreuzzug vor Tunis.

Der allerchristlichste König

1107 begab sich Papst Paschalis II. zu einer folgenreichen Reise nach Frankreich, wo er im Kloster Saint-Denis bei Paris mit König Philipp I. und dessen Sohn und Mitkönig, Ludwig VI., zusammentraf. Hier schuf man nicht nur die Voraussetzungen für die Lösung des Investiturproblems in Frankreich. Im Kloster des heiligen Dionysius, der sich schon in merowingischer und karolingischer Zeit besonderer Verehrung durch die Könige erfreut hatte, erinnerte man gezielt an karolingische Traditionen. Stets, so berichtet Abt Suger von Saint-Denis in seiner später verfassten Lebensbeschreibung König Ludwigs VI., hätten die Franken/Franzosen den Päpsten in Bedrängnis beigestanden; zu erinnern war an die Reise Papst Stephans II. zu König Pippin 754 ins Frankenreich. An solche Bindungen knüpfte das Papsttum im Kampf mit den salischen und staufischen Kaisern mehrfach an, und wiederholt rettete nur die Flucht nach Frankreich die Nachfolger Petri vor kaiserlicher Bedrängnis.

Die Namengleichheit von Franci ›Kreuzfahrern‹ und Franci ›Nordfranzosen‹ räumte dem Volk zudem eine besondere Rolle in Gottes Heilswerk ein. Ihm war nämlich die Befreiung der heiligen Stätten Palästinas von islamischer Herrschaft 1099 zu verdanken. Das die abendländischen Völker verbindende Erlebnis des Kreuzzugs hatte auch ihre Identität deutlicher werden lassen, und allmählich erwuchs in Frankreich das Bewusstsein von der eigenen Nation. Den besonderen Rang garantierte der Herrscher, der seit dem 12. Jahrhundert von den Päpsten als allerchristlichster König (rex christianissimus) angesprochen wurde. Befördert von geistlichen Zentren, vor allem von den Mönchen in Saint-Denis und dem Klerus in Reims, entstand die Vorstellung eines vor der Geschichte ausgezeichneten Königtums, das die Legitimation seiner Herrschaft aus unterschiedlichen Wurzeln ableitete. Indem die französische Geschichtsschreibung im 12. und 13. Jahrhundert Karl den Großen und seine Amtsvorgänger zu französischen Königen werden ließ, traten die Kapetinger des Hochmittelalters in eine einzigartige Kontinuität ein. Ihre Mitte fand die Monarchie in Saint-Denis, der Grablege der Könige, wo seit dem 12. Jahrhundert eine offiziöse Reichsgeschichtsschreibung befördert wurde, die im 13. Jahrhundert volkssprachlich die großen Taten der Franken/Franzosen propagierte (Grandes chroniques de France). Der Patron des Klosters, der heilige Dionysius, wurde zum Reichsheiligen. Angesichts äußerer Bedrohung durch Kaiser Heinrich V. nahm König Ludwig VI. von Frankreich 1124 in einem wohlinszenierten Akt die Lehnsfahne des Vexin vom Altar von Saint-Denis, machte sich damit gleichsam zum Lehnsmann des Heiligen und einte das ganze, sonst so zersplitterte Reich gegen die Feinde; so will es jedenfalls der Bericht Sugers, des Jugendfreundes Ludwigs VI., der zum Abt des Klosters aufstieg und als Berater wie als Regent des Reiches während des königlichen Kreuzzugs seinen Herrschern beständige Dienste leistete. Aus der Lehnsfahne entwickelte sich langsam die Vorstellung von der Oriflamme, die schon Karl der Große geführt habe und die fortan vor jedem Heereszug vom König aus Saint-Denis abgeholt wurde. Im 13. Jahrhundert adaptierte die Monarchie die Reimser Legende vom heiligen Salböl, das einst eine Taube vom Himmel zur Taufe/Krönung des ersten christlichen Frankenkönigs Chlodwig gebracht habe. Eigentlich zur Durchsetzung des Krönungsanspruchs der Reimser Erzbischöfe gegen die Rivalen aus Sens entwickelt, wurde die Salbung mit dem heiligen Öl zum Glied in einer variablen und ausbaufähigen Königstheologie, die ihren Niederschlag bis weit in die Neuzeit auch in der Lehre erfuhr, der König könne an seinem Krönungstag Skrofeln, eine Hauttuberkulose, heilen.

Die Bindung an den Reichsheiligen Dionysius, dessen Kult in Konkurrenz mit anderen Königsheiligen wie dem heiligen Remigius in Reims, dem heiligen Martin in Tours und dem heiligen Benedikt in Fleury-sur-Loire vom Kloster Saint-Denis unablässig gepflegt wurde, die Salbung mit einem besonderen Öl, die treue Nähe zum heiligen Petrus und seinen Stellvertretern auf Erden, den Päpsten, die herausragende Rolle der Franzosen auf den Kreuzzügen, die Aufnahme und Weiterentwicklung der karolingischen Tradition, die Lehre von der angeblichen Abstammung der Franken/Franzosen aus trojanischem Herrengeschlecht, das Bewusstsein kulturellen Vorrangs in ritterlichen Lebensformen, Literatur, Sprache und Bildung – all dies brachte im 12. und 13. Jahrhundert die Idee einer Sonderstellung der Franzosen und ihres Königs hervor.

Im 12. Jahrhundert stand diese Königstheologie noch in einem seltsamen Missverhältnis zur politischen Wirksamkeit der Monarchie. Mühsam hatte es Ludwig VI. vermocht, den Adel Franziens, der in Fehden seine legitimen Rechte wahrnahm, zu »kriminalisieren« und nacheinander mehrere Burgen zu schleifen. In scharfen Konflikten mit dem anglonormannischen König Heinrich I. um die Grenzgrafschaft Vexin vermochte sich der französische Herrscher zwar politisch zu behaupten, erlitt aber 1119 bei Brémule (Dep. Eure) eine schwere Niederlage. Aus der Huldigung für die Normandie durch Heinrichs Sohn Wilhelm als Ergebnis der Friedensverhandlungen leitete das französische Königtum bis ins 13. Jahrhundert die lehnrechtliche Suprematie über den anglonormannischen Festlandbesitz ab. Der konkrete Erfolg in der Festigung der Krondomäne bestand darin, dass der König wenigstens ungehindert zwischen seinen nicht weit entfernten Hauptorten in Franzien (Paris, Orléans, Sens, Étampes, Melun, Senlis) umherziehen konnte. Freilich waren dem Nachfolger, Ludwig VII. (1137–1180), Wege gewiesen worden, die dieser in einem eher zähen als triumphalen Durchsetzungsprozess beschritt. Ansatzpunkte blieben immer wieder Bischofskirchen in königsfernen Regionen, denen der Herrscher seinen Schutz verlieh, um damit selbst Einfluss zu gewinnen; hinzu trat im Einzelfall königliche Förderung der bürgerlichen Bewegung gegen adlige Stadtherren. Doch der erhoffte Durchbruch zu einer neuen Qualität königlicher Reichsherrschaft blieb aus: Ludwigs VII. Heirat mit Eleonore, der Erbtochter Herzog Wilhelms X. von Aquitanien, hatte dem Königtum erstmals wieder eine feste Basis südlich der Loire beschert. Wie wichtig für Ludwig dieser Ausgriff in den Süden war, zeigte sich in der Erweiterung des seit 911 feststehenden Herrschertitels rex Francorum um die Würde eines Herzogs der Aquitanier. Diese doppelte Titelform sollte ebenso Episode bleiben wie der Vorstoß in den Süden. Offiziell wegen zu naher Verwandtschaft, tatsächlich wegen tiefer Entfremdung wurde die Ehe 1152 geschieden. Noch spektakulärer war die folgende Entscheidung Eleonores, einer außergewöhnlichen Persönlichkeit des Hochmittelalters: Bald heiratete sie Heinrich Plantagenêt, damals noch Herzog der Normandie und Graf von Anjou, seit 1154 als Heinrich II. auch König von England. Jetzt erstreckte sich der anglonormannische Festlandbesitz bis zu den Pyrenäen und drohte die kleine kapetingische Krondomäne einzuschnüren. Damit war die große Rivalität vorgezeichnet, die bis zum Ende des Mittelalters französische Politik prägte.

Ludwig VII., dem erst aus der dritten Ehe mit Adela von Champagne 1165 der ersehnte Thronfolger, Philipp II., geboren wurde, meisterte diese größte Krise seiner Herrschaft. Zunächst aus eigenem Antrieb, dann 1146 durch die Kreuzzugswerbung Bernhards von Clairvaux befördert, hatte der König 1147–1149 am 2. Kreuzzug teilgenommen. Die besondere Nähe zum Papsttum fand er in dem 1159 ausbrechenden Papstschisma: Kaiser Friedrich I. Barbarossa unterstützte seither Papst Viktor IV., die Könige von England und Frankreich Papst Alexander III., der 1162–1165 in Frankreich Zuflucht fand und sich schließlich gegen die vom Kaiser unterstützten Päpste behauptete. Diese Bindung zum »richtigen« Nachfolger Petri markierte einen unverkennbaren Erfolg Ludwigs VII. auf europäischer Ebene.

In seiner unmittelbaren Umgebung schuf sich der König eine homogene, ihm treu ergebene Helferschicht. Die großen Hofämter wurden mehr und mehr zu bloßen Ehrenämtern des Feudaladels, während das Königtum im administrativen Bereich auf kleine Dienstleute zurückgriff, die loyal dem Herrscher ergeben waren und durch Heiratsverbindungen allmählich als Gruppe Konsistenz gewannen.

Gegenüber den französischen Fürsten präzisierte Ludwig VII. den monarchischen Herrschaftsanspruch, dem er auf großen Versammlungen von geistlichen und weltlichen Herren Ausdruck verlieh. Ohne Ansehen des Rangs der einzelnen Adligen in der Lehnshierarchie bezeichnete das Königtum seit 1145 alle Vasallen als Barone und begründete damit die Idee eines einheitlichen Untertanenverbands, in den Herzöge, Grafen und andere adlige Amtsträger hineinnivelliert wurden. Noch blieb das Verfassungsmodell eines Königs über den Baronen des Reichs monarchische Idealvorstellung, doch die Grundlagen für die spätere Umsetzung in die Realität waren geschaffen, die Rechtstitel formuliert.

Sozialer, ökonomischer und kultureller Wandel

Wie im gesamten christlichen Abendland bedeutete auch in Frankreich die Zeit vom 11. bis zum 13. Jahrhundert eine Epoche sozialer, wirtschaftlicher, kultureller, geistlicher und geistiger Unruhe. Dabei gingen von Frankreich Impulse aus, die auf ganz Europa wirkten.

Die Entstehung mittelalterlicher Großstädte baute in Frankreich zwar auf Vorläufern auf, da in den nordfranzösischen Bischofsstädten seit der Spätantike besondere Formen gesellschaftlicher Verdichtung und Zentralität für das Umland bewahrt worden waren. Doch stellte die Ausformung bürgerlichen Rechts, häufig in der Verschwörung von Kaufleuten und (seltener) Handwerkern gegen die Stadtherren aus Adel und Geistlichkeit durchgesetzt, ein Novum dar. Im Sinne Max Webers wurde der Typ »Bürger« zur entscheidenden mittelalterlichen Neuerung in der alteuropäischen Sozialverfassung. Mehrere Entwicklungen kamen im 11./12. Jahrhundert zusammen. Die Durchsetzung der Dreifelderwirtschaft und neue Techniken (bessere Nutzung der Zugkraft von Pferden, neue Pflugformen) hatten seit dem 9. Jahrhundert für höhere agrarische Überschüsse gesorgt, die zu einem Bevölkerungswachstum führten. Die komplizierter werdende Gesellschaft brachte Arbeitsteilung und Spezialisierung mit sich, und der wirtschaftliche Erfolg vor allem von Kaufleuten ging mit dem Anspruch auf politische Mitbestimmung einher. Erste Schwureinungen dieser »Bürger« gegen ihre Herren – um 1070 in Le Mans, um 1080 in Saint-Quentin, 1099 in Beauvais, 1111/14 in Laon – führten zwar noch nicht zum gewünschten Erfolg, machten die Stoßrichtung des 12. Jahrhunderts aber deutlich. Privilegien erhielten die Kommunen, die den Gedanken von Recht und Frieden für den städtischen Bürgerverband und seine Herauslösung aus dem feudalen System des Umlands anstrebten, seit 1127/28 (Saint-Omer, Laon), auch wenn das Königtum in der Krondomäne eine strenge Stadtherrschaft durch Amtleute (Prévôts) auszuüben suchte. Entscheidend wurde die Ausbildung eigener Institutionen, in denen sich die Bürgerschaft formierte, Vorsteher und Geschworene in nordfranzösischen, Konsuln nach italienischem Vorbild in südfranzösischen Städten (Béziers 1131, Montpellier 1141, Toulouse 1176). Hier traten Unterschiede hervor: Während im Norden wirtschaftlich dominierende Kaufleute, selten Handwerker die Bürgervertretung wahrnahmen, spielten im Süden auch stadtsässige Adlige hierbei eine bedeutende Rolle, deren Einfluss erst im 13. Jahrhundert und auch dann nur teilweise beschränkt wurde.