Denk an die Steine unter Deinen Füssen - Antoine Wauters - E-Book

Denk an die Steine unter Deinen Füssen E-Book

Antoine Wauters

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Beschreibung

Die elfjährigen Zwillinge Leonora und Marcio leben in einer Diktatur, deren Präsident durch einen Putsch entmachtet wird. Ihre Eltern, einfache Landwirte, müssen hart ums Überleben kämpfen, sie gönnen sich nicht die Zeit, ihre Kinder zu lieben, schlagen sie stattdessen und nutzen sie als pure Arbeitskräfte aus. Die beiden suchen Zuflucht in der Schönheit der Natur und in ihrer anwachsenden leidenschaftlichen Intimität zueinander. Bis ihr Vater sie erwischt und sie voneinander trennt, indem er Leonora zu ihrem Onkel schickt. Marcio macht sich heimlich auf den beschwerlichen Weg, seiner Schwester zu folgen. Ein Weg, an dessen Ende ein ganzes Dorf zum Widerstand gegen korrupte Politik, Ausbeutung und menschliche Verödung aufsteht. Ein Roman, der den rebellischen Geist feiert und daran erinnert, dass wir düstere gesellschaftliche Verhältnisse überwinden und ein selbstbestimmtes Leben führen können.

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Seitenzahl: 202

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ANTOINE WAUTERS

DENK AN DIE STEINEUNTER DEINEN FÜSSEN

ROMAN

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde im Rahmen des Programms „NEUSTART KULTUR“ aus Mitteln der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Pense aux pierres sous tes pas.

© 2018 Éditions Verdier, Paris

Erste Auflage

© 2021 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Paul Sourzac

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Typografische Gestaltung:

Marco Stölk und Erik Spiekermann, Berlin

Satz: Marco Stölk, Berlin

Herstellung: Daniel Klotz, Berlin

Friedrich Pustet, Regensburg

Gesetzt aus FF Hertz & FF Hydra

ISBN: 978-3-907336-02-1

eISBN: 978-3-907336-03-8

Den Getrennten

INHALT

VORSPIEL

1. DIE VERKLEIDUNG

2. DIE BRÄNDE

3. DIE NACHRICHT

ZWISCHENSPIEL I: UNSERE ZEIT AUSSERHALB DER ZEIT

4. DAS VERSCHWINDEN

5. IHR FORTGANG

6. DAS LEBEN BEI ZIO

7. ZBABOU

ZWISCHENSPIEL II: DIE ZEIT DER KINDHEIT

8. DIE REGIME

9. MEINE REISE

10. DAS FIEBER

11. MAMA LUNA

12. DAS NEUE LEBEN

13. DIE ÄRA DES WANDELS

ZWISCHENSPIEL III: BRIEF VON PAPS AN SEINEN BRUDER PEPINO

14. DIE RACHEAKTE

15. ZIO

ZWISCHENSPIEL IV: LETZTER BRIEF VON PAPS AN PEPINO

16. DAS PÄCKCHEN

17. MAMA LUNAS GESEGNETE RÜCKKEHR

18A. DIE ÜBUNGEN

18B. DIE ANDERE ÜBUNG

ZWISCHENSPIEL V: DAS SCHICKSAL

19. DER FUSSMARSCH

ZWISCHENSPIEL VI: DER TRAUM

20. UNSERE WELT

ZWISCHENSPIEL VII: ZÄRTLICHKEIT UNTER VERZWEIFELTEN

21. ETWAS UNMITTELBAR GUTES

22. TOD UND WIEDERGEBURT DER HABDOURGA

VORSPIEL

Die Worte, die Ihr lesen werdet, sollen lediglich Zeugnis ablegen von unserer Geschichte, von unserer schwierigen Kindheit an bis zu den Zeiten des Friedens.

Wir wurden nicht bezahlt dafür.

Wir scheißen drauf, ob wir bezahlt werden oder nicht.

Wir wollten es aufschreiben, weil man viel zu selten betont, dass die Schatten besiegt werden können.

Und weil wir alle Klarheit brauchen.

1. DIE VERKLEIDUNG

Wir waren als Zwillinge zur Welt gekommen, doch mein Bruder war für mich stets der Ältere gewesen. Weil er der Junge war und sich mit Paps um das Vieh kümmern musste, brach er jeden Morgen in die Täler voller Nebel auf, wo kein Mensch lebte, die Flüsse aber nur so rauschten. Allein schon beim Gedanken an diese Dinge – ich hielt es nicht mehr aus, eingesperrt zu sein und Mams’ Standpauken zu hören, weil ich träumte, statt ihr zu helfen, weil ich einsam war und träumte, weil ich an ihn, an meinen Bruder, dachte – zerriss es mir den Bauch vor Lust: Ich träumte davon, mit ihnen zu fliehen und, wie sie, den Bauch der Tiere zu berühren. Die Unermesslichkeit. Den Himmel und die Erntefülle und die Gipfel der Berge.

Wir beide waren ihnen lästig, und waren es immer gewesen. So sehr, dass Paps uns lieber nicht gehabt hätte, um sein ganzes Leben schlicht mit Mams zu verbringen, die ihn ganz verrückt machte mit ihren Hüften aus Marzipanmasse und den schweren, stets glänzenden Brüsten.

Zwar glaube ich nicht, dass er uns hasste. Doch er musste bloß sehen, wie wir vor ihm umherrannten, oder uns manchmal auch nur hören, um vollkommen auszurasten: Er trat gegen die Stühle, zerbrach Vasen, brüllte und verzog sich dann für mehrere Stunden; wohin, erfuhren wir nie.

Armer Paps.

Mit jeder Faser hasste er unseren Präsidenten Desotgiu, der seit über zwanzig Jahren an der Macht war. Es ging ganz einfach: Sobald Desotgiu im Radio sprach, fuhr Paps in seinem Ecksessel auf und begann zu brüllen, erging sich in Beschimpfungen, spie seine Wut und seinen Hass aus, bevor er sich erhob, um den Apparat auszuschalten und noch einen letzten Fluch auszustoßen. Und sicher, Paps hatte recht, obwohl sich niemand, auch er nicht, offen beschwerte. Seit zwanzig Jahren nahm uns Desotgiu neunzig Prozent unserer Einnahmen weg, um sich luxuriöse Anwesen an der Küste errichten zu lassen. Seit zwanzig Jahren wurden wir von Steuern erdrückt, eine Menge Leute mussten plötzlich auf dem Boden schlafen wie räudige Hunde, doch all das erschien uns »normal« (die Dinge, die wehtun, vergisst man lieber, vergisst die Brutalität, mit der man zur Welt kommt, mit der man stirbt, mit der man sich trennt, man sagt lieber nichts, und solange einem noch ein Hauch von Atem bleibt, steckt man den Kopf in den Sand, um dann doch irgendwie zu leben). Wenn Paps diese Leute allerdings im Fernsehen sah, diese armen Schlucker, die alles verloren hatten, nannte er sie faule Säcke und Nichtsnutze, und er machte sich über sie lustig, sodass wir, um ihn nicht zu reizen, ebenfalls sagten, dass sie stanken, diese Penner, und dass wir, wenn wir ihnen nur eine reinhauen könnten, um ihnen zu zeigen, was es heißt, Schmerzen zu haben, ohne Zögern genau das tun würden.

Bam!

So waren wir damals: Wir dachten an nichts und kannten nichts. Bei uns, auf dem Land im äußersten Süden der Insel, zählte nur die Arbeit mit den Händen: Ernten, Kalbsgeburten, Milchproduktion, Tomatenpflanzungen. Keine Bücher bei uns, keine Platten, keine Gefühle. Bloß die alten Pornozeitschriften, die wir auf dem Heuboden des Vaters unseres Freundes Zbabou gefunden und aus reiner Neugier mit nach Hause genommen hatten. Nur dass uns diese Schweinereien kaltließen und es Paps war, der sie seither las.

Wie alle Leute der Habdourga (der entlegensten Region des Landes) hatten wir einen kleinen Hof mit Tieren, ein kleines schmutziges Bauernhaus, ein Elendsquartier. Aber wir beklagten uns nicht. Tag für Tag erwachten wir im Licht und stierten zu den weit fortströmenden Flüssen, zum Bordughu, zum Irrighudu, große Flüsse, in denen wir seit jeher badeten. Dann begann die Arbeit: mein Bruder die Felder, ich die Wäsche; er das Vieh, ich den Hausputz und so weiter, tagein, tagaus. Wenn wir fertig geschuftet hatten, kehrten wir Paps und Mams den Rücken und sogen die frische Luft in uns ein, banden uns an Baumstämme fest – mit geschmeidigen Lianen, die wir außerdem rauchten, sowas von gesund und sowas von krank. Quicklebendig rannten wir rastlos unentwegt durch die Gegend, doch da es weit und breit keine Stadt gab, fühlten wir uns wie festgeschraubt. Aber wir lebten, und wie: Unser Leben nannte sich Freude.

Ein-, zweimal im Jahr brachte Paps, um mit ihr allein zu sein, Mams in die nächstgelegene Ortschaft, in das gut siebzig Kilometer entfernte Santa Lucia. Was sie dort taten, habe ich nie erfahren, und eigentlich hat es mich nie beunruhigt, denn solange mein Bruder da war, war ich glücklich, ich war das glücklichste Mädchen von allen, alles andere war bedeutungslos.

Und da wir die Dinge nicht trennten – das Leben ohne die Arbeit nicht denkbar war –, konnten wir uns schlapplachen und zugleich ranklotzen. Ich litt bloß, wenn ich mir mitten beim Melken oder weiß der Henker welcher Aufgabe vorstellte, wie sie Hand in Hand gingen, weit weg von uns, Eis essend in den Gassen von Santa Lucia, weil ich mich dann dem Verhungern nah fühlte, nicht geliebt, nicht gewollt und wie an den Bettelstab gebracht. Bettelnd um Liebe!

Wenn sie tags darauf heimkamen, war alle Arbeit wie verlangt erledigt.

– Ist gut, sagte Mams.

– Ja sicher, sagte Paps.

Dann spannte Mams mich wieder in die Arbeit ein und spulte ihre Leier ab (Jungen mögen Pferde, Gespanne, Peitschen, alles, was in Bewegung ist und Lärm macht; Mädchen dagegen ruhige Spiele, die ihrer Vorliebe für Hausarbeiten entsprechen, für schickes Aussehen und Plausch), und Paps – wir nannten ihn so wegen der patschenden Ohrfeigen, die er uns verabreichte, wegen der wütenden Hiebe mit dem Livraxiu, dem Ochsenziemer, den er an großen, denkwürdigen Abenden zum Einsatz brachte –, Paps kehrte auf die Felder zurück, mit meinem Bruder und dieser Art Sense, die ich bis heute nicht vergessen habe: Mit ihr hielt er die Tiere in Schach, schlug sie.

So ging das Leben.

Und dann, kurz nach unserem elften Geburtstag, wollten wir die Rollen tauschen. Nur ein paar Stunden, aus Neugier, aus Lust am Spiel. Mein Bruder als Mädchen und ich als Kerl. Wir waren neugierig und wollten einfach mal schauen. Wahrscheinlich wegen dieser warmen Bestie, die uns schon damals den Bauch zerfraß.

Noch ganz überschwänglich, weil sie am Vortag erst aus Santa Lucia zurückgekehrt waren, war Mams an jenem Tag dabei, die Brote für Paps’ Picknick zu belegen, während Paps sich im kleinen Waschraum rasierte und wie Mams vor sich hin trällerte, trödelte, tiefenentspannt, ganz anders als an gewöhnlichen Tagen. Diesen Friedensmoment nutzten wir, um unseren Zimmerschlüssel zweimal im Schloss umzudrehen. Wir haben uns eingeschlossen. Langsam ist Marcio auf mich zugekommen, hat seine Kleider gelöst, sie zu Boden gleiten lassen, dann nach seinem Hemd gegriffen und aus der Tasche Mams’ schwarzen Stift hervorgeholt, um unter meiner Nase einen Flaum zu zeichnen, eine zarte Linie, ein kleines Schnurr-bärtchen. Ich habe sein Hemd und seine Hose angezogen, mit unbändiger Freude im Bauch.

– Küss mich wie ein Mädchen, mein Bruder, sagte ich unbedacht, so gut fühlte ich mich, so innig mit ihm verbunden. Spiel das Mädchen, das küsst!

Und er tat es. Er schob eine feine, ganz frische Zunge zwischen meine Lippen, ich schloss die Augen, weil sie auf die Suche gehen sollte nach geheimen Zeichen in meinem Mund, nach Malereien verschwundener Tiere und noch vielen anderen Dingen. Dann skalpierte ich unsere blonde Puppe Mary und klebte ihr Haar an das seine. Und nachdem er meinen Schlüpfer und meine Strümpfe, mein Kleid und den Rest angezogen hatte, stellten wir uns vor dem Spiegel auf und lachten los wie Geistesgestörte.

Wir fühlten Weite in uns. Weite und Leichtigkeit.

– Küss mich, mein Bruder. Küss mich!

Als wir die Treppe herunterkamen, machte Paps sich frisch rasiert zu den Feldern auf, während Mams ihren Beschäftigungen nachging wie im Autopiloten, die Wäsche gegen das Licht haltend, um noch die kleinsten Löcher zu entdecken und wenn nötig zu stopfen. Wir grinsten noch kurz vor uns hin, weil es schön war, die beiden hereinzulegen. Dann leerte ich ein Glas Milch mit zugesetztem Salz und lief Paps hinterher. Auf die Felder. In die Unermesslichkeit.

Natürlich merkte er nichts, als ich ankam, denn er blickte nicht einmal auf. Paps drosch auf die Erde ein, sein Körper war seine Hacke und er drosch und drosch, der Schweiß floss in Strömen und tropfte ins Korn und ins Gras, während alles in den Ebenen der Habdourga silbern zu glänzen begann. Die ganze Welt erglänzte silbern.

Da er mich nach einer Weile noch immer nicht sah, tat ich es ihm gleich, das heißt, ich verwandelte meinen Körper in ein Arbeitstier, in ein soldatisches Insekt und durchbrach die Erdschollen, grub Furchen, brachte Saat aus und bedeckte die Welt mit meinem Schweiß – bis es Mittag wurde und Paps fragte, wo das Picknick abgeblieben sei. Das scheiß Picknick. Heut noch?, hat er gesagt. Da durchzuckte es mich wie ein Blitz, mir fielen die Brote ein, die Mams belegt und die ich dummerweise vergessen hatte.

Meine Beine begannen zu zittern.

In meinem Kopf dröhnte es.

Stromausfall.

Doch ehe ich zusammenbrach, streckte ich die Brust raus und ahmte laut die Stimme meines Bruders nach:

– Ist wegen Mamsu, sie will dich sehen. Wegen gestern und Santa Lucia. Kommst du? Sie bittet dich zu ihr.

»Sie bittet dich zu ihr.« Bei diesen Worten lächelte er, und es war schön, Paps lächeln zu sehen.

Als wir heimkamen und er Mams erblickte, stürzte er sich in ihre Arme und fasste ihr an den Po, betatschte sie, drückte sie gegen die Wand, doch da ich ihnen mal wieder im Weg war, bändigte Mams sein Feuer und sagte ihren Lieblingssatz auf: »Heute Abend, Nino, heute Abend.« Und beide brachen sie in Lachen aus.

Aber mein Bruder war nicht da. Wo steckt er denn, der Blödmann?, dachte ich, während Mams schrie, ich solle her-kommen, und Paps ständig wiederholte: »Was treibt die Kuh denn bloß?«, was in meinen Ohren natürlich seltsam klang.

Für ein paar Minuten blieben Paps und ich allein vor unseren leeren Tellern sitzen. Dann ertönte ein Schrei im Innenhof, woraufhin Mams mit meinem als ich verkleideten Bruder zurückkam. Sie hielt ihn am Ohr fest. Sie warf uns vernichtende Blicke zu. Oh Mams …

– Geht’s?, fragte Paps.

Und weil sie uns vor ihm schützen wollte, vor seiner Wut, seiner Tobsucht, hat sie Ja gesagt, geht schon, aber sie wolle kurz mit uns nach oben gehen.

Auf dem Treppenabsatz teilte mir Marcio mit, dass sie alles wusste, wir seien geliefert, sie hatte ihn gegen die Wand pissen sehen, wobei er »sein« Kleid hochgehoben hatte. Scheiß Kleid, hat er gesagt.

Dann hat Mams die Tür hinter uns geschlossen, dann hat Mams uns ausgezogen – totenstill war’s –, dann hat Mams uns auf unsere Betten gelegt, flach auf den Bauch, ohne ein Wort, und hat den Livraxiu hervorgeholt. Den schon wieder …

Wie lange mag es gedauert haben? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass sie die ganze Zeit über wiederholt hat, wir seien nicht normal. Und sie hat geweint bei diesen Worten, die Mams, oh Mams. Nicht normal seien wir. Wie Monster.

2. DIE BRÄNDE

Und dann, als könnten die Dinge nicht so bleiben, als bräuchte es stets ein Unheil, hat, nicht allzu lange nach dieser Verkleidungsgeschichte, der Blitz den Baum getroffen, in dem wir uns immer mit Zbabou versteckt hatten, den Kletterbaum, den Lianenbaum.

Wenige Stunden zuvor hatten wir Paps’ Gewehr genommen und uns im hohen Geäst verschanzt, von wo aus wir in die Wolken geschossen und uns stark gefühlt hatten, zu allem fähig. Es waren schöne Zeiten – bei unserer Bestrafung war Mams nicht zimperlich gewesen, aber dass sie kein Wort zu Paps gesagt hatte, machte einen gewaltigen Unterschied. Ihr verdankten wir, dass wir weiterhin rausgehen konnten, wo wir den Horizont für uns hatten.

Es war warm draußen. Wir hatten unsere kurzen Hosen angezogen, lehnten gegen den Stamm und ballerten wie bekloppt in die Luft. Wie üblich war Zbabou dabei, aber er mochte nicht schießen, er grinste nur und nervte uns damit, dass wir einen Vogel töten sollten.

Nur einen kleinen!, sagte er. Nur einen kleinen Vogel! Kommt schon! Bitte! Nur einen ganz kleinen!

Er hätte so gern gesehen, was es ausmachen, wie es sich anfühlen würde, ein toter Vogel, aber wir würden es eh nie wagen, hat er gesagt, weil wir Schisser seien. Und er, Zbabou, musste lachen, als er sagte, dass wir Schisser seien. Indessen litt er darunter, dass er als kleiner Junge seinen Vater verloren hatte. Zack! Sein Herz war einfach stehen geblieben, sodass er mitten auf ihrem Hof tot umgefallen war, vor Zbabous Augen, der seitdem ständig Albträume hatte und den Schädel des Vaters auf den Boden aufschlagen hörte.

– Wisst ihr was?, sagte er immer zu uns. Wisst ihr, was ich gesehen habe?

Und wir, die wir so taten, als hörten wir die Geschichte nicht schon zum hunderttausendsten Mal:

– Nein, Zbabou. Was hast du gesehen?

Und Zbabou erklärte uns, dass er sich seinem Vater genähert hatte in der Annahme, dieser würde sich einen Spaß mit ihm erlauben.

– Du veräppelst mich.

Er hatte sich neben ihn hingekniet.

– Stimmt’s, Papsu, du veräppelst mich.

Er hatte seine Hände berührt, seine Stirn, und zwei perlrunde Tränen gesehen, wie sie langsam seine Wangen hinabrannen. Riesengroße Tränen, die wie in Zeitlupe flossen.

– Wach auf, Papsu! Komm, wach auf! Gib’s zu, du veräppelst mich!

Doch der Vater blieb in der Mitte des Hofes liegen, und Zbabou konnte ihn noch so sehr schütteln, kneifen, treten, beißen, ihn hin und her wenden und schließlich heulend seine Mutter rufen, es war zu spät. Die dicken Tränen verrannen und mit ihnen die Seele seines Vaters.

– Als würde sich Papsu von mir verabschieden. Als wäre er traurig, mich zu verlassen. Ich war erst sieben.

Armer Zbabou.

Wortlos habe ich das Gewehr ergriffen und mich so weit wie möglich nach oben gehievt. Dann habe ich die Landung eines Vogels abgewartet. Außer der Musik in meinem Innern – der Musik meines Herzens, das im Gleichklang mit Marcios schlug, nah bei ihm – war kein Laut zu hören. Es dauerte eine Weile, bis sich am Ende des Gewehrlaufs Federn regten. Der Vogel ließ mich nicht aus den Augen. Ich hielt die Luft an und tat für eine Sekunde so, als wollte ich den Lauf zwischen seine Halsfedern schieben, da hat es vorn geknallt. Ich hörte einen Aufprall, etwas schlug dumpf auf die Erde. Und dann nichts mehr.

Wortlos kletterte ich den Baum hinunter.

Ich blickte mich nach allen Seiten um.

Ich sah über den Boden verstreute Federn und einen kleinen roten, aufgerissenen Bauch mit einem Kranz aus Eingeweiden, der mich sogleich an Mams’ Lippenstift erinnerte, den sie auftrug, wenn sie in Santa Lucia ausging.

Zbabou kniete vor dem Tier.

– Du blöde Scheißkuh, hat er gesagt, während er das Tier berührte und mich anstarrte.

Dann erhob er sich und lief davon, seine Schluchzer verloren sich in der Ferne der Pfade. Und wir, wir gruben ein Loch in die Erde, drückten das Tier mit bloßen Händen hinein und trampelten dann, die Augen voller Tränen, wild auf dem Boden herum, weil da noch Blut klebte. Sein armes Blut, es klebte. Wir haben das Loch sorgsam verschlossen, ein Kreuz gebaut und aufgestellt, da kam plötzlich unser sechster Geburtstag hoch: Paps hatte ein Grab für Moïse, unseren Schwan, ausgehoben, der in der Nacht gestorben war. Marcio und ich sahen Paps zu, wie er den Körper ins Grab bettete, worauf wir die Totengesänge anstimmten und mit eng über den Kopf gezogenen Kapuzen vor- und zurückwippten, so wie die Witwen aus der Gegend. Wir zimmerten ein Kreuz aus Holz, ritzten mit einem Taschenmesser »Moïse« hinein, dann nahm uns Paps an die Hand, und wir gingen, nachdem wir das Loch verschlossen hatten, schweigend zu Mams. Wir hatten Sand ins Grab geworfen. Blumen. Unseren Kummer.

– Sechs Jahre!, rief Mams bei unserer Rückkehr! Stolze sechs Jahre!

Dann fuhr sie uns mit der Hand durchs Haar, wir bliesen unsere Kerzen aus und – manchmal hat das Leben auch schöne Seiten – nichts weiter geschah. Ich meine damit, dass wir alle vier im selben Moment verweilten. Vereint. Glücklich. Als hätte die Zeit keine Macht mehr über uns.

Manchmal denke ich, dass unsere Strafe von diesem Vogel kommt. Denn der Himmel hat, wenige Stunden nach dem Schuss, seinen Zorn im selben Baum entladen, hat den Blitz geschickt und diesen dann bis zum Hof klettern lassen, wo er zum Großbrand wurde.

Vielleicht müssen wir büßen?

Vielleicht sieht so das Schicksal aus?

Wir büßen für die Schuld, die wir auf uns geladen haben.

Büßen für unsere Leidenschaft. Unsere Liebe.

Vielleicht.

Als Mams in dieser Nacht Alarm schlug, war es jedenfalls zu spät. Das Feuer war über die Zäune hinweggefegt, hatte die Vogelscheuchen verschlungen, das Vieh auseinandergetrieben, und nun brannten die Ställe, die Ernten waren vernichtet, die Felder nicht wiederzuerkennen.

In den folgenden Monaten mussten wir alles geduldig wiederaufbauen. Die Ställe, die Scheunen. Alles.

Jeden Morgen, während Mams sich drinnen dem Haushalt widmete, arbeitete Paps, unterstützt von seinem Bruder Zio Pepino, im Takt seines qualvollen Gekeuches, im weißblauen Rauch seiner Meerschaumpfeife, und alles war von geschäftigem Lärm erfüllt: Sie fügten Holz zusammen, behauten Steine, pflügten Erde um. Die Welt, sagten sie, musste neu erschaffen werden, alles musste von vorn begonnen, neu aufgebaut werden. Bisweilen beschwerte sich Zio Pepino, er könne nicht mehr, da entgegnete ihm Paps, er solle zur Hölle fahren.

– Zum Teufel mit dir!, rief er und hielt ihm ein Glas Branntwein oder Mirto hin.

– Worauf Zio erwiderte, sofort hinzuwollen, das Glas in einem Zug leerte und in Gelächter ausbrach. Es konnte weitergehen!

Auch wir amüsierten uns, weil wir eng beieinander arbeiteten und uns abends trafen, wenn Paps und Zio vom Branntwein ausgeknockt waren, viel zu kaputt, um uns im Auge zu behalten, und Mams bereits schlief.

Und dann, eines Nachts, um unseren zwölften Geburtstag herum, geschah das Unvermeidliche.

Es war kühl, obwohl noch Sommer in den Ebenen der Habdourga herrschte.

In Windeseile hasteten wir über den Innenhof, ohne die Taschenlampen anzuknipsen, die wir zur Sicherheit mitgenommen hatten.

Zbabou erwartete uns auf seinem Posten hinter einem Ballen am Eingang des Heubodens.

– Gut, Zbabou, hat mein Bruder gesagt. Ich wusste, wir können auf dich zählen.

Aber Zbabou schmollte. Dass er mitten in der Nacht für zwei Durchgeknallte wie uns Wache schieben musste, wurmte ihn.

– Schwör, dass du uns warnst, wenn Paps kommt, okay?

– Okay, hat Zbabou gesagt.

– Schwör, hat mein Bruder gesagt und ihm die versprochenen Feigen hingehalten.

– Ich geb Bescheid, hat Zbabou gesagt und die erste Feige verputzt.

– Schwör!

Und dann nochmal, obwohl er ja bereits schwor:

– Du gibst Bescheid, okay? Und dann zieh Leine.

Wir ließen ihn stehen, wagten uns in den stockdunklen Heuboden hinein. Angenehm. Warm. Wir spürten die Gegenwart der Tiere und dachten, von solchen Orten müsste es mehr auf Erden geben; die Leute wären glücklicher.

Im hinteren Teil des Heubodens legten wir uns auf den Rücken, um uns durch einen Riss im Dach die Sterne anzusehen. Auch das war gut. Von Zeit zu Zeit spürte ich seine Zunge auf mir, auf meinen Wangen, meinem Mund, sie berührte meine Hände und wanderte tiefer wie eine Liebkosung, die dann und wann an Fahrt aufnahm, um mir vom Licht zu künden, von der Schönheit, und von dieser warmen Bestie, die uns den Bauch zerfraß.

Nach einer Weile begann Zbabou am Eingang zu flüstern. Er raunte irgendwas, während wir an überhaupt nichts mehr dachten, nicht mehr da waren. Unsere Münder öffneten sich wie von selbst, und wir lachten über unser Gefühl der Weite, als brächten wir uns selbst zur Welt.

– Verzieht euch!

Plötzlich sprang mein Bruder auf und leuchtete Zbabou, dessen Lippen ich heute in Zeitlupe flüstern sehe, mit seiner Taschenlampe an, legte sie wieder hin und weiter ging’s: seine Zunge in mir und seine Liebkosungen, dann seine Bisse. Wir beide im Stroh. Sowas von gut.

Irgendwann, als der Geruch der Felder zu mir drang und wir eins geworden waren, habe ich dann meine Lampe auf Zbabou gerichtet, der einfach keine Ruhe gab; sein Gesicht kam mir verzerrt vor.

– Ihr solltet jetzt wirklich abhauen!

Wir hörten seine Worte.

Wir konnten sie hören.

Aber wenn Ihr tut, was wir da taten, könnt Ihr Euch auf rein gar nichts mehr konzentrieren. Die Erde erscheint Euch ebenso fern wie der Himmel, und all die schlechten Dinge, die Euer Leben seit jeher so schwierig gestalten, existieren nicht mehr. Für ein paar Sekunden seid Ihr weder Mädchen noch Junge, Ihr seid die Leichtigkeit selbst, die Leichtigkeit der Engel und Götter. Kein Laut dringt zu Euch, nur dieser lange, langsame, alles andere verdrängende Gesang: die Stimme eines kleinen Jungen, der manchmal träumt, ein Mädchen zu sein; die Stimme eines kleinen Mädchens, das manchmal träumt, ein Junge zu sein. Für einen Augenblick glaubt Ihr, es wiedergefunden zu haben, das kleine Mädchen, das Ihr einmal wart, jenes, das das Leben liebte. Und alles kommt Euch unglaublich einfach vor.

– Haut ab! Er kommt! Haut ab, verdammt nochmal!

Ich blickte zum Eingang. Ich sagte:

– Da ist niemand. Du willst uns bloß Angst machen … Oder, Zbabou?

Er stand wie angewurzelt da, sagte nichts mehr.

Dann ist er einen Schritt zurückgetreten, und da sah ich ihn, Paps, wie er auf uns zukam, mit den weit aufgerissenen Augen eines Wahnsinnigen, die er immer hatte, bevor er zuschlug. Er lief schnell. Wie ein Irrer.

Ich riss mich los, so gut es ging, und schrie aus Leibeskräften, während mein Bruder meine Hand ergriff und uns antrieb.

– Denk an die Steine unter deinen Füßen, Schwester.

Wir rannten zu den Feldern.

– Fall nicht; wenn du fällst, sind wir dran.

Es dauerte ein paar Minuten, bis Paps mit seinem Pickup auf uns zugebrettert kam, und hinter ihm, im Schein der Rückleuchten, Calixte und Mams, die in einem fort jammerte, dass sie es geahnt, ja gewusst habe, und dass von zwei Durchgeknallten wie uns auch wirklich nichts zu erwarten sei.

Plötzlich war uns so kalt.

So bang ums Herz.

Doch schon ist Paps’ Hand niedergegangen, vom Himmel auf uns herabgestürzt, und alles hat aufgehört. Ist abgestorben. Das Beben. Die Musik, die ganz taub macht. Und diese tief in uns sitzende Freude.

3. DIE NACHRICHT

Und dann, wie eine weitere Strafe des Himmels, brach der Mont Morgiu aus. Eine nationale Tragödie, die im Südosten der Insel Tausende Tote forderte und Desotgius Sturz beschleunigen sollte.