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Israel, Deutschland, Palästina - dieser Briefwechsel bilanziert die letzten 50 Jahre intensiver Auseinandersetzungen der beiden hochkarätigen Experten Moshe Zuckermann und Moshe Zimmermann. Die zwei wohlbekannten - und immerzu kritischen - Stimmen Israels begegnen den zentralen Fragen dieses Themenkomplexes mit schonungsloser Vehemenz. Ihre Gespräche eint der Versuch, die Themen auf einer gemeinsamen Basis tiefgehend zu ergründen und Nuancen zu erörtern, die im öffentlichen Diskurs oft übergangen werden. Mal zornig, mal verzweifelt, mal zärtlich fächern sie die heiklen Themen auf, legen den Finger in die Wunden, üben lautstarke Kritik an der Politik und tauschen Ideen für einen Verbesserung des Umgangs miteinander und mit der Geschichte auf - denn nur durch eine wirkliche Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart kann eine neue Zukunft ermöglicht werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Ebook Edition
Moshe Zimmermann
Moshe Zuckermann
Denk ich an Deutschland …
Ein Dialog in Israel
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ISBN: 978-3-98791-025-8
© Westend Verlag GmbH, Neu-Isenburg 2025
Übersetzung von den Autoren
Lektorat: Lea Mara Eßer
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz und E-Book: Publikations Atelier, Dreieich
Erweiterte Ausgabe. Erschien zunächst auf Hebräisch unter dem Titel Choschwim germania. Dialog israeli im Resling Verlag.
Titel
Vorbemerkungen zur deutschen Ausgabe
Die Triade: Deutschland-Israel-Palästina
Tel Aviv, 21. April 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 28. April 2021 Zimmermann an Zuckermann
Deutscher Antisemitismus
Tel Aviv, 30. April 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 8. Mai 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 9. Mai 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 22. Mai 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 29. Mai 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 9. Juni 2021 Zimmermann an Zuckermann
Hat es eine deutsch-jüdische Symbiose gegeben?
Tel Aviv, 10. Juni 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 20. Juni 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 24. Juni 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 11. Juli 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 16. Juli 2021 Zuckermann an Zimmermann
»Jüdisches Leben« in Deutschland nach der Shoah
Jerusalem, 19. Juli 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 21. Juli 2021 Zuckermann an Zimmermann
Warum unterstützt die populistische Rechte Israel?
Jerusalem, 22. Juli 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 23. Juli 2021 Zuckermann an Zimmermann
Noch immer präsent: der Mufti von Jerusalem
Jerusalem, 27. Juli 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 27. Juli 2021 Zuckermann an Zimmermann
Die Shoah als »Besitzwert«
Jerusalem, 4. August 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 5. August 2021 Zuckermann an Zimmermann
Was erwartet Israel von den Juden Deutschlands?
Jerusalem, 29. August 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 30. August 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 7. September 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 8. September 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jekkes und Ostjuden
Jerusalem, 13. September 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 13. September 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 17. September 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 18. September 2021 Zuckermann an Zimmermann
Hier und dort – wie erinnern?
Jerusalem, 27. September 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 28. September 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 9. Oktober 2021 Zimmermann an Zuckermann
Opfer und Selbstviktimisierer
Tel Aviv, 12. Oktober 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 18. Oktober 2021 Zimmermann an Zuckermann
Darf man vergleichen?
Tel Aviv, 19. Oktober 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 26. Oktober 2021 Zimmermann an Zuckermann
Zionist und Nichtzionist
Tel Aviv, 28. Oktober 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 8. November 2021 Zimmermann an Zuckermann
Wie nun weiter?
Tel Aviv, 12. November 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 20. November 2021 Zimmermann an Zuckermann
Militaristische Erbschaft
Tel Aviv, 22. November 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 25. November 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 26. November 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 2. Dezember 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 3. Dezember 2021 Zuckermann an Zimmermann
Muskeljudentum – der Sportler und der Soldat
Jerusalem, 2. Dezember 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 3. Dezember 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 11. Dezember 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 12. Dezember 2021 Zuckermann an Zimmermann
Das Spiel mit der Angst
Jerusalem, 13. Dezember 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 13. Dezember 2021 Zuckermann an Zimmermann
Glaube und »falsches Bewusstsein«
Jerusalem, 20. Dezember 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 20. Dezember 2021 Zuckermann an Zimmermann
Öffentliche Meinung: Wagner in Israel?
Jerusalem, 22. Dezember 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 25. Dezember 2021 Zuckermann an Zimmermann
Jerusalem, 26. Dezember 2021 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 27. Dezember 2021 Zuckermann an Zimmermann
Wir und die deutsche »Historikerzunft«
Jerusalem, 8. Januar 2022 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 9. Januar 2022 Zuckermann an Zimmermann
Verpasste Geschichtslektion
Jerusalem, 5. April 2022 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 6. April 2022 Zuckermann an Zimmermann
Deutsche Solidarität – mit einem demokratischen Israel
Jerusalem, 8. Mai 2023 Zimmermann an Zuckermann
Tel Aviv, 19. Mai 2023 Zuckermann an Zimmermann
Anmerkungen
Titel
Inhaltsverzeichnis
Deutschland ist in Israel ein heikles Thema. Die berufliche Beschäftigung beider Autoren des vorliegenden Bandes wendet sich (dennoch) gerade diesem Thema zu, der deutschen Geschichte und dem zeitgenössischen Diskurs über diese Geschichte. Der Band ist das Ergebnis eines Dialogs, den wir ein Dreivierteljahr, von April 2021 bis Januar 2022, miteinander geführt haben. Es handelt sich um eine fortlaufende E-Mail-Korrespondenz in wechselndem Rhythmus, der einerseits durch die Zwänge unserer anderen Aktivitäten und Verpflichtungen, andererseits aber durch das drängende Bedürfnis, uns mit dem zu befassen, was dieses Buch zu erörtern trachtet, bestimmt wurde. Der Inhalt dieses Buches mag als eine Art Bilanz (vielleicht auch nur Zwischenbilanz) dessen gewertet werden, womit wir uns als Professoren und public intellectuals seit rund fünfzig Jahren beschäftigen*: der vielschichtigen Geschichte Deutschlands, der Geschichte des Zionismus sowie der Wechselbeziehung zwischen beiden Geschichten samt der sich von ihr ableitenden Themenkomplexe – der Shoah der europäischen Juden, dem israelisch-palästinensischen Konflikt, dem Antisemitismus und seiner Vereinnahmung für fremdbestimmte Zwecke, der israelisch-zionistischen politischen Kultur und ihrer (deutschen) Wurzeln im 19. Jahrhundert und anderer Fragen, die sich aus unserem bewegten Dialog ergaben. Kurze Zeit nach Abgabe des Manuskripts zur Veröffentlichung wurden wir dann von einem neuen relevanten Ereignis, einem Krieg in Europa, überrascht, und wir hielten es für notwendig, auch dieses Ereignis im Nachtrag zu erörtern, um unseren Dialog abzuschließen.
Die Logik einer Bilanz in Dialogform liegt darin, dass wir uns in unseren historischen und politischen Anschauungen zwar nah sind, aber nicht so nah, dass die Unterschiede unserer Positionen oder die Verschiedenheit unserer Biografien einen regen Austausch verhindern würden, wobei sie zugleich einen willentlich polemischen Ton ausschließen. Den Lesern wird der ehrliche Versuch angeboten, die Dinge auf gemeinsamer Basis eingehend zu durchleuchten und Nuancen zu erörtern, die der öffentliche Diskurs zumeist in simplifizierender Eindimensionalität, zuweilen auch in selbst auferlegter Blindheit anzugehen neigt. Es ist anzunehmen, dass die Ergebnisse des von uns geführten Dialogs sich nicht in den israelischen Konsens einfügen, und manche werden in ihnen wohl eine säkulare Häresie gegen Zentralpostulate der israelischen Staatsideologie und die Hegemonie ihrer Apparate sehen wollen. Auch eine typische Reaktion, die sich des »Man kann nicht vergleichen« bedient, ist zu erwarten. Eine solche Rezeption unseres Denkens ist uns nicht neu, wir sind an sie gewöhnt, nicht nur in Israel, sondern auch in Deutschland. Man darf gleichwohl hoffen, dass die Debatte um die wie immer kontroversen Thesen und Postulate so sachlich wie möglich geführt werden wird.
Unter dem Titel Public Historians1 ist jüngst in Deutschland eine Aufsatzsammlung erschienen, die sich mit im Mittelpunkt öffentlicher historischer Debatten in Deutschland stehenden Personen und Themen befasst. In Deutschland sind solche Debatten eine geläufige Erscheinung, wovon das Feuilleton in den respektablen Zeitungen ein beredtes Zeugnis ablegt. Unser Dialog ergänzt diesen von einer Nabelschau geprägten innerdeutschen Diskurs durch eine von außen kommende Sichtweise, die sich (auch) an ein nichtdeutsches Publikum richtet.
Es mag sich die Frage stellen, ob dies die angemessene Form ist, sich mit solch gewichtigen Themen auseinanderzusetzen. Einerseits dürfte klar sein, dass ein forschungsmäßig geordneter, sich ins Detail akribisch vertiefender Schreibduktus ein systematischeres, vielleicht auch »verantwortungsvolleres« Ergebnis im Hinblick auf die Tiefendimensionen des Erörterten hätte hervorbringen können. Wir haben uns hingegen von vornherein auf je höchsten zwei bis drei Seiten zu jeder Frage im Verlauf des Dialogs beschränkt, was einem breiteren Publikum Einblick in die komplexen Bereiche eröffnen soll. Außerdem steht außer Zweifel, dass gerade die dialogische Ping-Pong-Dynamik, die keiner strikt eingehaltenen Ordnung unterliegt, Perspektiven und Debattendimensionen erzeugt hat, die keiner von uns hätte allein hervorbringen können. Wer darüber hinaus gewillt ist, die Erzeugnisse unserer Forschung zu prüfen, ist eingeladen, dies zu tun. Vielleicht wird dies auch helfen, die häufige Verwechslung zwischen den beiden sich mit Deutschland befassenden Moshes endlich zu überwinden.
Wie dem auch sei, der Dialog ist vollendet, das Urteil obliegt nun den Lesern.
Moshe Zimmermann und Moshe Zuckermann
Israel, im Mai 2023
Der Versuch, Israel, Deutschland und Palästina in einen homogenen historisch-politischen Zusammenhang zu setzen, ist so notwendig wie problematisch. Er ist notwendig, weil die Konstellation dieser Triade in der Tat prägnante, unleugbare historische Wurzeln aufweist. Deutschland hat den Holocaust des europäischen Judentums verursacht. Die Gründung des Staates Israel (jedenfalls die Beschleunigung der Gründung) war unter anderem das Ergebnis dieses welthistorischen Ereignisses im Sinne einer nationalen staatlichen Zufluchtsstätte für das jüdische Volk bei jedem künftigen es ereilenden Unglück. Aber die Staatsgründung als emanzipativer Akt für die Juden ging mit einer kollektiven Katastrophe für das palästinensische Volk einher. Die Benennung einer solchen Verbindung ist dahingehend problematisch, dass die Konstellation zugleich die ideologische Instrumentalisierung ihrer katastrophischen Aspekte samt deren Unterordnung unter heteronome Bedürfnisse und zudem unzulässige Vergleiche und widersinnige Kausalverbindungen ermöglicht. Es lohnt sich daher, die zentralen ideologischen Grundlagen der Kontext-Koordinaten dieser unheiligen Dreifaltigkeit zu untersuchen.
Man mag sich fragen, ob es selbstverständlich war, die Adresse der Sühne für die von Deutschland am jüdischen Volk begangenen Verbrechen gerade im Staat Israel zu finden. Das Grauen ereignete sich ja noch vor der Staatsgründung, und zwar an geografischen Orten, die weit entfernt waren vom Territorium, auf dem später der Staat errichtet wurde; entsprechend waren die Opfer nicht seine Bürger, und es darf bezweifelt werden, ob ein Großteil von ihnen sich selbst überhaupt als zionistisch ansah. Als aber 1952 das sogenannte Wiedergutmachungsabkommen beschlossen wurde, war allen Beteiligten klar, dass es sich um einen Deal handelte, dessen Logik auf den partikularen Interessen einer jeden der beiden Seiten basierte. Die USA reagierten gleich nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs auf die neue geopolitische Konstellation im Rahmen dessen, was sehr bald unter dem Begriff »Kalter Krieg« geführt wurde. Sie benötigten eine feste Bastion in Mitteleuropa, die sich dem sich verbreitenden Sowjetkommunismus entgegenstemmen sollte. Der westliche Teil des besiegten Deutschlands ist zu dieser Bastion erkoren worden – eine verständliche Wahl angesichts der Folgen des Krieges und der Teilung Deutschlands, durch die dessen westlicher Teil der Besatzungsautorität der Alliierten unterworfen worden ist. Um den Plan der USA zu verwirklichen, war es nötig, (West-)Deutschland wieder in die »Völkergemeinschaft« zu integrieren. Zu diesem Zweck wurden Praktiken der »Umerziehung« und Prozeduren der »Entnazifizierung« in Gang gesetzt, welche die Resteinflüsse des Nazismus auf die deutsche Bevölkerung eliminieren sollten. Westdeutschland erhielt von den USA auch massive wirtschaftliche Unterstützung, die es schnellstmöglich wiederherstellen sollte; in der Tat war der Marshall-Plan dermaßen erfolgreich, dass sich innerhalb eines Jahrzehnts das westdeutsche »Wirtschaftswunder« ereignete, welches das völlig zerstörte Deutschland in eine der stärksten und blühendsten Mächte Europas verwandelte. Die ökonomische Prosperität war es auch, die die Materialisierung der Sühne ermöglichte, für deren Verwirklichung Israel, wie gesagt, als Adresse fungierte.
Israel erfüllte seinerseits seinen Part des Deals, indem es sich bereit erklärte, ihn zu akzeptieren und das Geld anzunehmen. Das hatte seine guten Gründe: Der jüngst gegründete Staat sah sich großer wirtschaftlicher Not ausgesetzt und benötigte dringend den Kapitalimport, um die Infrastruktur für die Massen an Immigranten, die in Israel einzuströmen begannen, aufzunehmen. Der Deal hatte auch Gegner – sei es aus politischen Gründen (die Kommunisten) oder aus national-moralischen Beweggründen (Begins Cherut-Partei) –, aber Ben-Gurion, der erste, der von einem »anderen Deutschland« sprach, schaffte es, den Deal durchzubringen und ihm eine allgemeine parlamentarische Geltung zu verschaffen. Wie man die getroffene und verwirklichte Entscheidung auch betrachtet, Deutschland und Israel wollten letztlich beide den Deal, beide aus je eigenem zweckgerichtetem Kalkül: Jenes wollte zahlen und dieses wollte bezahlt werden. Die ermordeten Opfer und die Überlebenden wurden mutatis mutandis zum Schlüsselfaktor bei der Umwandlung der historischen Schuld und der Sühne in einen materiellen Tauschwert. Das Reden über das Andenken an die Opfer erwies sich denn schon in dieser frühen Phase als primär ideologisch.
Dies schlug sich auch im innerisraelisch-jüdischen Diskurs nieder – damals wie in gewissem Sinne auch noch heute: Da die zionistische Ideologie auf dem kategorischen Postulat der Diaspora-Negation basiert, konnte der als Verkörperung des diasporischen Subjekts angesehene Shoah-Überlebende in die zionistische Wirklichkeit nur negativ aufgenommen werden, genauer: als der, dem das Ablegen seiner (diasporischen) Identität kategorisch abgefordert wird. Gegenüber den Ermordeten konnte diese Forderung nicht gestellt werden – sie verwandelten sich bald zur riesigen anonymen Masse (»die sechs Millionen«), Objekte einer selbstgerechten ideologischen Bezichtigung (»wenn der Staat Israel nur rechtzeitig gegründet worden wäre«); gegenüber den in Israel ankommenden Überlebenden (»aus zionistischen Gründen«, wie man zu sagen pflegt) war die Forderung eindeutiger: »Eliminiert die von ›dort‹ mitgebrachte Identität – eignet euch die Identität des ›neuen Juden‹ an.«
Ein nicht geringer Anteil der Überlebenden kam dieser Forderung in der Tat nach. Das heißt, tagsüber Zionist sein und Überlebender »von dort« in den Nächten. Manchmal kapitulierte der Zionismus vor dem »Dort«; manchmal wurde das »Dort« zugunsten des Zionismus verdrängt; es gab auch Fälle der völligen Unfähigkeit, das Dasein hier mit der psychischen Realität der Erinnerung ans »Dort« miteinander zu vereinbaren. Das subjektive Lebensschicksal der Überlebenden war nicht einheitlich, wie denn auch die Identitäten der Gemordeten, als sie noch am Leben waren, sich voneinander unterschieden. Aber diese fundamentale Einsicht interessierte die sich im neuen Staat nach und nach bildende öffentliche Sphäre nicht – die Wirklichkeit der Opfer stand im Widerspruch zu den staatlich-ideologischen Bedürfnissen dieser Sphäre. Der Staat stellte also eine im Wesen ideologische Forderung: das Opfer nach Israel zu importieren, ohne sich aber seiner Realität als Überlebens-Subjekt, mithin seiner erlebten Wirklichkeit totaler Ohnmacht, aussetzen zu müssen (geschweige denn, sie zu akzeptieren). Im besten Fall herrschte ein Schweigen, ein bewusstes Nicht-Sprechen zwischen dem Subjekt, Träger des Unfassbaren, und dem den Unwillen zu begreifen tragenden Subjekt. Im argen – und gängigen – Fall vollzog sich die Verdinglichung des Opfers und dessen systematische Unterordnung als »Opfer« unter das Postulat der zionistischen Rechtfertigungsideologie.
Das staatsoffizielle, öffentliche Shoah-Gedenken in Israel entfaltete sich von Anbeginn als Akt der Instrumentalisierung dessen, was »dort« geschah, für fremdbestimmte Zwecke. Die Shoah mutierte zur »Shoah« und wurde als solche dem Tauschprinzip untergeordnet – je mehr sich die Ideologie ihrer Einzigartigkeit intensivierte, desto fungibler wurde sie über die Jahre: materiell fungibel auf der ökonomisch-kommerziellen Ebene, ideologisch fungibel auf der politisch-diplomatischen Ebene, mental fungibel auf der militärischen-sicherheitsmäßigen Ebene, rhetorisch fungibel im Alltagsdiskurs. In der Tat verkam die Shoah gerade in Israel zum Bestandteil der Kulturindustrie. Der archaische jüdische Imperativ des Gedenkens (»Zechor!«) gerann zur inflationären Erinnerung, zur Praxis der Nicht-Erinnerung durch fetischistische Routinisierung des Gedenkens – zur schauerlichen Verwirklichung des Nicht-Gedenkens.
Gleichwohl ist dies nur die eine Seite des israelischen Opfer-Diskurses. Der Staat Israel entstand, wie gesagt, aus und infolge der Katastrophe des jüdischen Volkes, aber er selbst viktimisierte im Prozess seiner Gründung das palästinensische Volk. Zwar sollte man die Dimensionen des Leids der Palästinenser, so schrecklich und tiefgreifend es sich manifestierte, nicht mit dem Grauen des Zivilisationsbruchs von Auschwitz vergleichen; und doch sehen sich die Palästinenser nicht von ungefähr bis zum heutigen Tag als »Opfer der Opfer«. Diese Kodierung des Nahostkonflikts enthält einen Wahrheitskern, den man auf keinen Fall ignorieren darf. Indes, angesichts der Tatsache, dass die Shoah als Katastrophe der Juden fast völlig aus dem palästinensischen Diskurs ausgeschlossen ist (Ausnahmen bilden hierin Edward Said und Azmi Bishara), mag die Apostrophierung der (jüdischen) Opfer als Viktimisierer als ideologisch erscheinen, mithin als heteronome Verwendung der Kategorie der Opfer – zumindest, was die jüdischen Opfer anbelangt. Das ist nachvollziehbar: Wie soll man auch eine empathische Identifizierung mit dem (historischen) Leid jener erwarten, die (in der Gegenwart) das eigene Leid verursachen? Das Problem beginnt mit dem Vergleich: Man muss nicht Auschwitz heranziehen, um erschüttert zu werden von dem, was die Israelis in den besetzten Gebieten anrichten, von der von ihnen praktizierten Barbarei und ihrem brutalen Verhalten als Besatzer. Sobald aber der Vergleich gezogen wird (wie es von Palästinensern zuweilen tatsächlich getan wird), verzerrt er die historischen Kontexte, innerhalb derer die Opfer als solche zu Opfern wurden. Die Verzerrung ist ihrem Wesen nach falsch. Nicht nur ist der Vergleich im Hinblick auf die historischen Ereignisse nicht triftig – so entsetzlich die Realität der israelischen Okkupation ist, vollziehen die Israelis nicht eine industriell verrichtete, administrativ geplante und bürokratisch organisierte Vernichtung des palästinensischen Volkes –, er verfehlt auch sein Ziel: Ein jeder solcher Vergleich verlegt die Erörterung von der Realität des Beklagten in den Bereich der Empörung über den schieren Vergleich und der Polemik gegen ihn; das palästinensische Leid wird nicht mehr thematisiert, während die Israelis automatisch zu »Opfern« werden (allein schon durch den Vergleich).
Aber über den rein politischen Aspekt hinaus birgt der Vergleich eine schändliche Dimension der Banalisierung des Opferbegriffs in sich: Da jeder Erinnerung an die Vergangenheit zwangsläufig ein instrumentalisierendes Element anhaftet, und zwar allein schon durch die Eingliederung der Vergangenheit in die Hierarchie der Bedürfnisse, Bestrebungen und Orientierungen der Gegenwart, macht nicht allein die zweckgerichtete Funktionalisierung der Vergangenheit das Problem aus, sondern die sie antreibende Absicht. Die »Konkurrenz« um den Status der Opfer, die sich im Vergleich der eigenen Opfer zu den Opfern der anderen manifestiert, schändet sowohl das Andenken der historischen Opfer als auch das der Opfer der Gegenwart, da sie sich nicht mit den Opfern als solchen (und den Tätern als solchen) befasst, sondern mit der widersinnigen Quantifizierung des Leids zugunsten der »Rechtfertigung des begangenen Weges« und – noch schlimmer – zur Rechtfertigung einer politischen Ideologie, die immer mehr Opfer hervorbringt. Nichts verrät die Opfer mehr als die Vereinnahmung ihres Andenkens zur Rechtfertigung einer oppressiv-viktimisierenden Wirklichkeit.
So besehen, äußert sich das Problem der Triadenkonstellation Israel-Deutschland-Palästina vor allem darin, dass trotz der Tatsache, dass sie zwar von einer pathoserfüllten Mentalität der »Erinnerung« dominiert wird, sich letztlich aber der Erinnerung der Opfer als solcher verweigert: Israelis und Palästinenser ignorieren beidseitig die historischen wie gegenwärtigen Opfer des je anderen Kollektivs, und insofern sich die deutsche Erinnerung auf beide Kollektive bezieht, erweist sie sich als Gefangene innerhalb der heteronomen Dynamik, die diese zwischen sich entfaltet haben.
Bereits in Deinem ersten Beitrag näherst Du Dich gleich zwei großen Themen an – der »Dreifaltigkeit« und der Instrumentalisierung der Shoah. Lass mich mit dem ersten Thema beginnen. Obwohl beide Themen miteinander verquickt sind, ziehe ich eine Trennung vor, um mehr Klarheit zu schaffen.
Schon dem Leser von Theodor Herzls Altneuland wurde klar, dass jenseits der Gegenüberstellung von »Wir Juden« und »Ihr Deutschen (oder Europäer)« eine dritte, das Dreieck ergänzende Seite hinzukommen muss – die arabischen Bewohner Palästinas. Der Dialog zwischen Juden und Deutschen, oder besser: zwischen Zionisten und Deutschen, durfte von Beginn an die arabische Bevölkerung im sogenannten Nahen Osten nicht einfach ausklammern. Deutschland war schließlich ein Land mit kolonialen Ambitionen, eine Weltmacht, die das Osmanische Reich, die Herrscherin des Nahen Ostens, unterstützte und daher einzig innerhalb dieses Zusammenhangs eine Haltung zur zionistischen Lösung der »Judenfrage« einnehmen konnte. Dabei ging es nicht allein um die Überlegungen innerhalb der Entourage des Kaisers bzw. in der Wilhelmstraße, sondern auch um die öffentliche Meinung. Nicht nur Herzl, der den Antisemitismus durch die Auswanderung der Juden aus Europa und ihre Ansiedlung in einem eigenen Territorium überwinden wollte, wusste, dass Palästina von Arabern besiedelt ist. Darauf hatte bereits Wilhelm Marr, der Mann, der den Begriff Antisemitismus geprägt hat, hingewiesen, als er von der Gründung der zionistischen Bewegung erfuhr. Als das Deutsche Kaiserreich um die Unterstützung der zionistischen Unternehmung gebeten wurde, wollte es nicht nur auf die Interessen des Osmanischen Reichs Rücksicht nehmen, sondern auch auf jene der dort lebenden arabischen Bevölkerung und strebte eine ausgewogene Politik an. So blieb es auch nach dem Ersten Weltkrieg, als Deutschland sein Kolonialreich aufgeben musste, und sogar in der Palästina-Politik des Dritten Reichs: Das Regime unterstützte den Zionismus, das heißt die Auswanderung der Juden nach Palästina, als »Lösung der Judenfrage« sogar noch mehr als das Kaiserreich; dies, ohne die Kooperation mit der arabischen Bevölkerung in der Region gefährden zu wollen, auf die man im Kampf gegen die Kolonialreiche der Demokratien setzte. Diese Tradition der »Triade« konnte sich auch nach der Niederlage des Dritten Reichs und der Gründung beider deutscher Staaten fortsetzen. Westdeutschland, die alte Bundesrepublik, unterstützte das zionistische Projekt, nunmehr gleichsam als Sühne der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, während es zugleich auf seine Interessen in der arabischen Welt achtete, die sich naturgemäß auf die Seite der Palästinenser stellte. Kurzum: Von Beginn an und bis heute geht es letztlich um eine Triade, die nur teilweise mit der Shoah zusammenhängt. In diesem Sinne ist Deutschland nicht mehr als ein Beispiel für eine Triade, deren eine Seite die europäische Großmacht, die zweite die zionistische Bewegung bzw. Israel, und die dritte die arabische Welt, einschließlich Palästina, verkörpert. Die arabische und palästinensische Reaktion auf die zionistische Vision war von Beginn an eindeutig, auch ohne Bezug auf die Shoah: Wieso sollen wir die Opfer einer Konfrontation zwischen Juden und Nichtjuden in Europa werden? Für den Historiker bietet sich hierin der Kontext »europäischer Kolonialismus und Post-Kolonialismus« an, noch ehe er bei der Kategorie »Katastrophe und Shoah« angelangt ist.
Auch das Opfermotiv taucht im besagten Dreiecksverhältnis bereits vor der Shoah auf. Der Kontext ist bekannt: Juden sind Opfer des Antisemitismus und sehen sich der Notwendigkeit einer Selbstbestimmung als Nation unter Nationen ausgesetzt. Dass die Juden in diesem Zusammenhang Opfer sind, erweist sich im historischen Geschehen – sowohl in der Massenauswanderung als auch in der Verfolgung und Ermordung der Juden. Gleichwohl neigten auch manche Deutsche und andere Europäer dazu, sich als Opfer zu betrachten: als Opfer einer »jüdischen Verschwörung«. Aus ihrer Perspektive waren antijüdische Maßnahmen die Reaktion des Opfers auf ein von Juden verübtes Unrecht. Bei der Suche nach einer »Lösung« haben sie es vorgezogen, das »Problem« in eine Region zu verlagern, in der die Opfer der vermeintlichen jüdischen Verschwörung keine Europäer mehr sein werden. Dieser Logik zufolge half die Unterstützung der Zionisten durch Nichtjuden bei der Verlagerung des Aufenthaltsortes der Täter (also der Juden) von Europa nach Palästina. Und dennoch fragten sich auch manche Antisemiten, ob es nicht ungerecht sei, somit den Arabern die Rolle der Opfer aufzubürden. Bereits Wilhelm Marr war der Ansicht, dass Europäer nicht das Recht haben, die Araber in Opfer zu verwandeln. Selbst das Dritte Reich hat zugegeben, dass man die falsche Gruppe trifft, wenn man die »Judenfrage« durch Auswanderung nach Palästina zu lösen trachtet.
Nach der Shoah wurde die Debatte um das Opfersein, mithin die Konkurrenz der Opfer um dieses »Privileg«, offen geführt. So ist bereits in der deutschen Gesellschaft (und das galt auch für die DDR) von den Palästinensern als »Opfer der Opfer« die Rede. Nach der Shoah galten zwar die Juden als absolute Opfer, nicht »die« Deutschen oder »die« Europäer; aber die dritte Seite des Dreiecks aus der Zeit vor der Shoah blieb erhalten – die Araber als Opfer der Juden. Antisemiten konnten (auch mit indirekter Hilfe von Zionisten) weiterhin an der Behauptung festhalten, dass sie die eigentlichen Opfer seien – eine Behauptung, die die Nazis maximal auszuschlachten verstanden. Es wurde keine antijüdische Maßnahme ergriffen, ohne von der Annahme auszugehen, dass die Deutschen, die Europäer, die Nichtjuden darin lediglich auf eine jüdische Provokation reagierten, also die eigentlichen Opfer seien. Nach der Shoah gab es für diese antisemitische Annahme wenig Verständnis, sie wurde daher durch ein anderes Argument ersetzt, das die Verlagerung der Schuld auf die Juden ermöglichte, nämlich durch die Verwandlung der Juden in Täter und der Palästinenser in deren Opfer. So entstand eine schwierige Situation für den deutsch-israelischen Dialog: Palästinenser sind ja in der Tat Opfer des Zionismus geworden, doch der neue Täter, der zionistische Judenstaat, verschaffte sich die Rechtfertigung für sein Handeln, indem er für sich die historische jüdische Rolle des Opfers in Anspruch nahm, während die eigentlichen damaligen Opfer als Asche auf europäischem Boden lagen. Somit sind wir beim Thema der Instrumentalisierung der Shoah angelangt, mit dem ich mich später auseinandersetzen möchte.
Zusammenfassend kann ich sagen: Die Debatte um die hier erörterte »Dreifaltigkeit« kann sowohl im Rahmen des postkolonialen Diskurses als auch im Rahmen der Opfer-Konkurrenz stattfinden, mit oder ohne Bezug auf die Shoah.
Die Erweiterung des Spektrums der Triadenkonstellation, mithin ihre Rückführung bis zur Zeit des Kaiserreichs, scheint mir wichtig zu sein. Nicht nur weist sie auf einen geopolitischen Zusammenhang hin, der in gewissem Sinne sogar den Aktionsbereich der zentralen Protagonisten in der Triade überschreitet (und sie dem Diskurs über Kolonialismus und Imperialismus im Allgemeinen unterwirft), sondern sie schert auch aus dem Bereich aus, der die Shoah als bestimmenden Faktor der Beziehungen zwischen den Protagonisten betrachtet. Das lässt natürlich die klassische Frage aufkommen, welchen Zeitpunkt man als Beginn der erörterten historischen Erscheinung wählt. In der Tat muss man zur Ära des Kaiserreichs zurückkehren, nicht nur, weil sich in ihr die kolonialistischen/imperialistischen Ambitionen Deutschlands herausbilden, sondern auch, weil in dieser Zeit der Antisemitismus seine moderne (noch nicht dezidiert rassistische) Form annimmt, mithin seine Etablierung in der politischen Sphäre beginnt, wie Du in Deinem Buch über Wilhelm Marr gezeigt hast. Es versteht sich von selbst, dass dabei der kausale Wirkzusammenhang in den Blick genommen werden muss: Da »das jüdische Problem« angesichts der Verbreitung des säkularen Antisemitismus in der westlichen bürgerlichen Gesellschaft zu einem realen Problem gerann und da der herzlianische Zionismus sich primär als Reaktion auf diesen Antisemitismus, der zum Schlüsselfaktor in der Beziehung von Nichtjuden zu Juden avancierte, herausbildete und begründete, war die zionistische Lösung des »Problems« zwangsläufig der Idee verschwistert, die Lösung außerhalb Europas auf einem Territorium zu verwirklichen, welches gewiss kein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land darstellte. Interessant ist in diesem Kontext das von Dir ausgemachte Muster, welches sich, bis auf wenige Änderungen, von der Ära des Kaiserreichs, über die Nazizeit hindurch bis hin zur Gründung des zionistischen Staates (und seiner Beziehung zu beiden deutschen Staaten) fortwährend reproduziert. Es sei dabei, so besehen, hervorgehoben, dass der Zionismus von Anbeginn vom Antisemitismus »abhing«, es lässt sich gar behaupten, dass er ein objektives Interesse an dessen Bestehen hatte. Ich habe mal (ich weiß nicht mehr, wo) einen Ausspruch Ben-Gurions gelesen, demzufolge der Antisemitismus dem Zionismus nütze, und wenn er sich zuweilen abschwäche, müsse er belebt werden. Es ist meines Erachtens kein Zufall, dass die Antisemitismus-Forschung in Israel nicht sonderlich weit entwickelt ist. Außer der jährlich publizierten quantitativen Berichte über den fluktuierenden Antisemitismus-Index in der Welt bekommt die israelische Bevölkerung kaum je Zugang zu Forschungen, die die soziologischen, psychologischen, politischen und ideologischen Dimensionen des Phänomens beleuchten, geschweige denn zu Untersuchungen dazu, inwiefern Israel selbst mit seiner Politik Rechtfertigungen für latente antisemitische Ressentiments produziert. Hinzu kommt, dass Israel auch im Rest der Welt keinesfalls Antisemitismus bekämpft; es bietet allenfalls den von ihm betroffenen Juden an, nach Israel zu emigrieren. Es lässt sich natürlich fragen, ob der bestehende Antisemitismus überhaupt bekämpft werden kann. In den 1880er Jahren wurde Theodor Mommsen gebeten, sich über den Antisemitismus zu äußern. Man sagte ihm, seine Worte könnten hilfreich sein bei der Bekämpfung des Phänomens. In seinem Antwortbrief schrieb Mommsen: »Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, dass ich da was richten kann. Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, dass man da überhaupt mit Vernunft etwas machen kann. Es ist alles umsonst. Was ich Ihnen sagen könnte […], das sind doch immer nur Gründe, logische und sittliche Argumente. Darauf hört doch kein Antisemit. Die hören nur auf den eigenen Hass und den eigenen Neid, auf die schändlichsten Instinkte … gegen den Pöbel gibt es keinen Schutz – ob es nun der Pöbel auf der Straße oder der Pöbel im Salon ist, das macht keinen Unterschied. Kanaille bleibt Kanaille, und der Antisemitismus ist die Gesinnung der Kanaille. Er ist wie eine schauerliche Epidemie, wie die Cholera – man kann ihn weder erklären noch heilen. Man muss geduldig warten, bis sich das Gift von selber auflöst und seine Kraft verliert.«2 Die Wirkung des Giftes hat sich bekanntlich nicht von selber aufgelöst. Im Gegenteil, es hat das Allerschlimmste bewirkt. Indes, nicht darum geht es im hier erörterten Zusammenhang, sondern um den heteronomen Gebrauch des Antisemitismus-Vorwurfs. Im Hinblick auf das Opfer-Täter-Muster, das Du angerissen hast, würde ich gern eine gewisse Differenzierung vornehmen.
Du stellst fest: »Gleichwohl neigten auch manche Deutsche und andere Europäer dazu, sich als Opfer zu betrachten: als Opfer einer ›jüdischen Verschwörung‹. Aus ihrer Perspektive waren antijüdische Maßnahmen die Reaktion des Opfers auf ein von Juden verübtes Unrecht.« Weiterhin sagst Du: »Es wurde keine antijüdische Maßnahme ergriffen, ohne von der Annahme auszugehen, dass die Deutschen, die Europäer, die Nichtjuden darin lediglich auf eine jüdische Provokation reagierten, also die eigentlichen Opfer seien.« Und fügst dem hinzu: »Nach der Shoah gab es für diese antisemitische Annahme wenig Verständnis, sie wurde daher durch ein anderes Argument ersetzt, das die Verlagerung der Schuld auf die Juden ermöglichte, nämlich durch die Verwandlung der Juden in Täter und der Palästinenser in deren Opfer.« Bevor wir uns an die Erörterung der Instrumentalisierung des Shoah-Gedenkens machen, sollten wir den wesentlichen Unterschied herausarbeiten zwischen dem Opferbewusstsein der Juden (angesichts des Antisemitismus und infolge der Shoah), der Palästinenser (infolge ihrer von den Zionisten verursachten kollektiven Katastrophe) und dem Opferbewusstsein der Deutschen (schon zur Zeit des Zweiten Reichs, wie Du darlegst). Denn »jüdische Verschwörung« und »von Juden verübtes Unrecht« waren doch verlogene Ideologeme, geboren aus den Fantasievorstellungen der antisemitischen Pathologie. Dass man an die Schuld des Verurteilten zutiefst glaubt und sich diesem Aberglauben verschreibt, lässt doch den Inhalt der Meinungen und Glaubenssätzen nicht wahrhaftig werden, sondern lediglich psychologisch effektiv – als falsches Bewusstsein, wie Mommsen sagt, welches sich nicht vernünftig eliminieren lässt; nicht von ungefähr redet er darüber in pathologischen Kategorien. Das bedeutet, dass das deutsche Opferbewusstsein ursprünglich der symbolischen Ordnung entstammt und nicht so sehr der historischen Wirklichkeit. Ironie des Schicksals ist es, dass die Zionisten die jüdische Opfererfahrung nachmalig zur puren Ideologie haben verkommen lassen – womit sie nach meiner Auffassung das Andenken an die realen historischen Opfer verraten haben.
Lass uns auch diesmal zwei Subthemen unseres Dreiecks voneinander getrennt behandeln: zum einen Israel und der Antisemitismus und zum anderen Israels Selbstwahrnehmung als Opfer.
Zunächst sei hier die Abhängigkeit des Zionismus vom Antisemitismus thematisiert. Die Erfindung der jüdischen Nation im späten 19. Jahrhundert allein auf den Antisemitismus zurückzuführen, wäre aus der Sicht des Historikers falsch: Da kollektive Identitäten in Europa seit Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend von den Begriffen Volk und Nation bestimmt wurden und da die überwiegende Mehrheit der Juden (den Begriff Weltjudentum meide ich) in Europa lebte, war die Anpassung an diese Art kollektiver Selbstbestimmung und kollektiven Bewusstseins, nämlich als Nation, selbst in ihrer völkischen Ausrichtung, eine konsequente Schlussfolgerung. Bekannt ist die von Helmuth Plessner geprägte Bezeichnung »die verspätete (deutsche) Nation«; die jüdische Nation entstand noch später als die deutsche. Paradox war der Versuch der Zionisten, die jene Mehrheit der Juden, die sich nicht für die Selbstbestimmung als Nation begeisterten, davon überzeugen wollten, die Anfänge der modernen jüdischen Nation seien schon vor Ende des 19. Jahrhunderts zu datieren. Zu diesem Zweck wurde der Begriff »Vorboten des Zionismus« erfunden: Personen, die bereits vor dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nationaljüdische Impulse gegeben hatten, wurden »entdeckt«, mithin wurde eine auf das 18. Jahrhundert zurückreichende Verbindung zwischen ihnen und dem Territorium Palästina konstruiert. Je früher die Anfänge der nationaljüdischen Renaissance, desto überzeugender ihre Legitimität, meinten sie.
Eine Legitimationsart, die sowohl bei Juden als auch bei Nichtjuden an Bedeutung gewann, bot die Verbindung zwischen der Erfindung des jüdischen Nationalismus und dem modernen Judenhass, dem Antisemitismus. Gab es für den Zionismus keine bessere innere Rechtfertigung, so sollte auf »Hilfe« von außen gesetzt werden. Wenn die Gojim uns hassen, die »Nationen der Welt« uns verabscheuen und verfolgen, ist das der klarste Beweis dafür, dass wir eine Nation sind. Es war diese Denkweise, aus der sich die Hervorhebung des Antisemitismus als Beweggrund und Katalysator der jüdischen Nationalbewegung ableitete. Ich kann mich gut an meinen aus NS-Deutschland ausgewanderten Geschichtslehrer in der religiösen Ma’ale-Schule in Jerusalem erinnern, der uns mit der Frage konfrontierte: Welcher Zar war für die Juden gefährlicher: Nikolaus I., der sie schikanierte, oder Alexander II., der ihre Emanzipation einleitete? Die von uns erwartete Antwort (und der Lehrer war sich dessen bewusst, dass es sich um ein Paradox handelte) war: selbstverständlich Alexander. Denn die große Gefahr für eine religiöse oder nationale jüdische Existenz generiert gerade derjenige, der eine nicht antisemitische Politik praktiziert. Fällt der Antisemitismus weg, ist der Weg zur Assimilation freigegeben. Ich vermute, dass es die Frage dieses Lehrers war, die mich späterhin angeregt hat, mich mit der sonderbaren Beziehung zwischen Judentum und Antisemitismus zu befassen, besonders in Israel. Heute, mehr als damals vor sechzig Jahren, ist die von meinem Lehrer erhoffte Antwort zur gängigen Antwort avanciert, weil sich der jüdische Nationalismus in Israel mit der Zeit radikalisierte und in gesteigertem Maß religiös einfärbte. Die Vertreter der Meinung, dass der Antisemitismus dem Kampf des Judentums gegen die Assimilation einen Vorteil verschaffe, hatten während dieser Zeit ein zunehmend leichtes Spiel.
Von Anbeginn hatte jeder Versuch, Juden als Nation darzustellen, um das »Judenproblem« zu lösen, bei Juden kaum Erfolgschancen, wenn nicht das Argument »die Gojim haben uns bereits als Nation definiert und wollen uns als solche loswerden« als Schützenhilfe herangezogen wurde. Spricht man vom Antisemitismus, ohne auf den Unterschied zwischen seiner religiösen und säkularen Begründung, mithin auf den Unterschied zwischen Juden als Religionsgemeinschaft oder als Nationalgemeinschaft einzugehen, öffnet sich zwangsläufig der Weg zur Verwendung des generischen Begriffs »Amalekiter«. Somit verstand sich nunmehr die Rechtfertigung des Zionismus nicht nur als Lösung für das 19. Jahrhundert, sondern als eine immer schon und ewig zeitgemäße Lösung. Kurzum: Der Antisemitismus wurde zum permanenten Angelpunkt und Grundpfeiler des Zionismus.
Es war Theodor Herzl, der diesen Geist aus der Flasche ließ: Ohne Antisemitismus keine Hoffnung für den Zionismus; ohne auf die antisemitischen Ressentiments des deutschen Kaisers oder des Zaren zu insistieren, hat der Zionismus keine echte Erfolgschance. Damit freilich war das Potenzial des aus der Flasche befreiten Geistes noch nicht ausgeschöpft: Herzls Logik zufolge müsste die Auswanderung der Juden in ein eigenes Territorium dem Antisemitismus letztlich das Ende bereiten. Diese Logik hätte vielleicht aufgehen können, wenn die Zionisten, die die Vorteile bei der taktischen Betonung der Rolle des Antisemitismus sehr wohl erkannt hatten, diesen Vorteil nicht hätten aufgeben wollen: Denn selbst nachdem Herzls Traum in Erfüllung ging und der Judenstaat errichtet wurde, hat man den Antisemitismus zum Erzfeind ebendieses Staates erklärt. Es sollte sich in der Tat herausstellen, dass, wenn Kritik am Zionismus oder an Israels Politik automatisch als antisemitisch apostrophiert wird, der Antisemitismus als Herausforderung weiterhin »gerettet« werden kann. So bleibt der Wirkzusammenhang von Antisemitismus und Zionismus auch nach der Gründung des Staates und selbst nachdem dieser Staat zur regionalen Macht herangewachsen ist erhalten.
Wir machen uns selbstverständlich nichts vor: Viele gegen Israel erhobene Vorwürfe sind antisemitischen Charakters respektive weisen einen antisemitischen Unterton auf. Entscheidend ist jedoch die Tendenz des israelischen Establishments, den Begriff »Antisemitismus«, ohne ihn je genau zu definieren, stets als Vorwand zu benutzen, um jede Kritik an der israelischen Politik abzuschmettern. Es ist meines Erachtens nicht verwunderlich, dass besonders das heutige Deutschland auf diese politische Taktik so empfindlich reagiert. Da in Deutschland der Nexus Antisemitismus-Zionismus unumstritten ist, werden dort, hauptsächlich wegen der historischen Last des NS-Antisemitismus, automatisch die Schlussfolgerungen, die die israelischen Regierungen diesbezüglich ziehen, einfach angenommen und sich zu eigen gemacht. So positioniert sich Deutschland im Namen der Abwehr des Antisemitismus als herausragender Kämpfer gegen die Kritik an Israel. Hieraus erklärt sich das Phänomen der vielen Antisemitismusbeauftragten in Deutschland, und zwar nicht nur innerhalb der staatlichen Einrichtungen. Der Begriff »israelbezogener Antisemitismus« überlagert in den letzten Jahren die Antisemitismus-Debatte in Deutschland, eine Entwicklung, die Israels Regierungen selbstverständlich begrüßen. Es ist auch kein Wunder, dass sich Rechtsradikale in diesem Kampf gegen den Antisemitismus ganz vorne einreihen; dient er ihnen doch als nützliche Waffe gegen Araber, Muslime und Asylsuchende. Zu diesem Thema kehren wir später noch zurück
Die Wurzeln dieses Paradoxes finden sich bereits in der Geschichte des Dritten Reichs: Das antisemitische NS-Regime hielt die Zionisten für praktische Partner und erkor sie zu Helfern seiner »Judenpolitik«. Von selbst versteht sich dabei, dass seit dem 30. Januar 1933 die Zionisten vom Regime zur Kooperation gezwungen wurden, einer Kooperation, die allerdings ab Beginn der »Endlösung« nicht mehr gefragt war. Dass die zionistisch motivierte Auswanderung nach Palästina im Widerspruch zu anderen Interessen des Dritten Reichs stand, nämlich zur Zusammenarbeit mit den Arabern im Kampf gegen das britische Kolonialreich, haben die Entscheidungsträger im Reich erst später begriffen. Man kann sogar sagen, dass erst, als das Dritte Reich diesen »Catch-22« verinnerlichte, es by default zu radikalen Alternativen griff– zuerst Madagaskar, dann die »Endlösung«.