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Die Psychoanalyse Sigmund Freuds (1856–1939) ist mehr als ein Instrumentarium zur Erforschung der menschlichen Seele. Sie ist ein wichtiges Werkzeug, um politische und gesellschaftliche Phänomene zu analysieren. Doch die politische Weiterentwicklung von Freuds Theorien, wie sie vor allem die Frankfurter Schule um Erich Fromm, Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno betrieb, geriet zunehmend in Vergessenheit. Der israelische Soziologe, Historiker und Philosoph Moshe Zuckermann, langjähriger wissenschaftlicher Leiter der Sigmund-Freud-Privatstiftung in Wien, zeigt anhand seiner intensiven Beschäftigung mit dem Thema, wie aktuell die Anwendung der Freud'schen Erkenntnisse auf politische Ereignisse, Prozesse und Entwicklungen ist. Schon in den Grundlagen der Psychoanalyse steckt ein politischer Kern. Nach Freud steht der Mensch einerseits seit je im Konflikt mit seinem Seelenleben, andererseits im Konflikt zur ihn umgebenden Welt und Kultur. Politisch ist dieses Verhältnis insofern, "als eine Form des Machtkampfes zwischen den seelischen Bedürfnissen und den realen Möglichkeiten ihrer Befriedigung stattfindet", wie Zuckermann schreibt. Aus dieser Diskrepanz erwachsen die Neurosen der Menschen, die sie aber auch gleichzeitig dazu treiben können, für Emanzipation und damit für die Auflösung ihrer seelischen Konflikte zu kämpfen. Das Neurotische findet seine Entsprechung in Weltanschauung, Ideologie und Handlungspraktiken. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, politische Prozesse auch mit psychoanalytischen Mitteln zu durchleuchten.
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Seitenzahl: 236
Veröffentlichungsjahr: 2016
Moshe Zuckermann Freud und das Politische
© 2016 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien
ISBN: 978-3-85371-838-4
(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-411-9)
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Moshe Zuckermann, 1949 in Tel Aviv geboren, ist Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Als Sohn von Holocaust-Überlebenden entschloss er sich nach zehnjährigem Aufenthalt in Deutschland mit 20 Jahren zur Rückkehr nach Israel. Von ihm erschienen bei Promedia die Bücher »›Antisemit!‹ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument« (2010, 4. Auflage 2015) sowie »Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt« (2014, 2. Auflage 2015).
Der vorliegende Band befasst sich mit politischen Dimensionen im Denken Freuds. Das ist durchaus kein neues Thema, es wurde bereits mehrfach erforscht und erörtert, im Grunde schon zu Freuds Zeiten, gleichsam von Anbeginn der höchst kontrovers verlaufenen Rezeption seines Denkens.1
Wozu also so ein Buch schreiben? Zum einen, weil das Thema zwar über Jahrzehnte verschiedentlich behandelt worden, aber doch nach und nach verblasst ist. Themen des Denkens und der Forschung pflegen gemeinhin zu verblassen, wenn sie ihre Relevanz – sei’s als überholter Forschungsstand, sei’s infolge eines »plötzlichen« Paradigmenwechsels – eingebüßt haben. Das besagt allerdings nicht immer etwas über ihre reale Relevanz. Das Verblassen wird oft genug ideologisch lanciert bzw. durch interessensgeleitete Diskursformationen zur Randständigkeit verurteilt. In der Randständigkeit erhält sich aber ein Moment der Wahrheit, das seiner historischen Wiederkehr harrt, aber eben auch »am Leben« erhalten werden muss. Hegel wird der Spruch »Schlecht für die Tatsachen« zugeschrieben, und zwar im Hinblick auf die Wahrheit des Ganzen. In diesem Sinne darf auch die »Tatsache«, dass eine Erkenntnis als irrelevant abgeschrieben worden ist, als irrelevant im Hinblick auf die Wahrheit, die diese Tatsache aus ideologisch gestählter Emphase vermeintlich konterkariert, eingestuft werden. Nicht zuletzt davon wird am Beispiel der Psychoanalyse zu reden sein.
Zum anderen sollten bereits publizierte Erkenntnisse und Einsichten stets aufs Neue anvisiert werden, weil die Dynamik der Auslegung der doktrinären Erstarrung von bereits Festgelegtem entgegenzuwirken vermag. Es geht dabei nicht um Interpretation um der Interpretation willen, durchaus aber um (wie immer dezente) Erneuerung des zum Kanon Geronnenen. So sehr die Grundwahrheiten des Marxismus als solche im Marx’schen Denken selbst ergründ- und nachforschbar sind, sahen sie sich durch verdinglichende Fetischisierung im doktrinären orthodoxen Marxismus bedroht. Von unschätzbarem Wert war da die bereichernde Erweiterung, die das Marx’sche Paradigma durch die Synthese mit der Freud’schen Psychoanalyse erfuhr, wie sie von Denkern und Forschern der Frankfurter Schule in beeindruckender Weise vollzogen wurde. Die Relevanz der Frankfurter Schule selbst wird heutzutage freilich manchmal infrage gestellt. Die dieser Abrede entgegengesetzte Position soll in diesem Band dezidiert vertreten werden.
Hervorgehoben sei zudem, dass es sich bei der vorliegenden Schrift nicht um ein System handelt. Sie versteht sich als fragmentarisch in der Herangehensweise, befasst sich daher primär mit Aspekten des Generalthemas (und eben nicht mit seiner systematischen Begründung als Ganzes), ist mithin, wie gesagt, bestrebt, gewisse Aspekte zu beleuchten. Die Anordnung der einzelnen Kapitel mag daher eklektisch anmuten, zumal auch formal der Essaycharakter des Textes fast durchgängig gewahrt wird. Die Kapitel selbst sind nicht gleichförmig in ihrer Länge und der Anordnung des jeweiligen Materials. Vieles ließe sich hinzufügen, nicht Weniges auch anders schreiben. Und doch soll auch in dieser losen Form durchaus Zweifaches vertreten werden: das Aufweisen des Politischen im Freud’schen Denken sowie die Relevanz dieser Dimension in seinem Denken für das Erfassen und Begreifen heutiger Realitäten im Gesellschaftlichen und Politischen.
Bei den einzelnen Texten in diesem Band handelt es sich zum Teil um überarbeitete, teils erweiterte und aktualisierte Publikationen der letzten 30 Jahre. Nicht nur fügen sie sich zu dem zusammen, worum es in diesem Band gehen soll, sondern die Zusammenfügung als solche darf durchaus als das Resümee eines den Verfasser sein gesamtes akademisches wie öffentliches Leben hindurch umtreibenden Themenkomplexes angesehen werden. Es geht also nicht nur um eine ideen-, sondern gewiss auch um eine lebensgeschichtliche Rückschau, freilich mit einem emphatisch vertretenen aktuellen Bezug.
Moshe ZuckermannTel Aviv, im Juli 2016
1. Vgl. etwa das ausgezeichnete Buch von José Brunner, Psyche und Macht. Freud politisch lesen, Stuttgart 2001. Vgl. auch: Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt/Main 21973, S.72-94; Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt/Main 51980; Alfons Söllner, Angst und Politik. Zur Aktualität Adornos im Spannungsfeld von Politikwissenschaft und Sozialpsychologie, in: Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas (Hrsg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/Main 1983, S.338-349; Dietrich Haensch, Repressive Familienpolitik. Sexualunterdrückung als Mittel der Politik, Reinbek bei Hamburg 1969; sehr interessant auch aus psychoanalytischer Sicht: Thea Bauriedl, Die Wiederkehr des Verdrängten. Psychoanalyse, Politik und der Einzelne, München 1986
Das Politische – dies sei hier als Grundannahme vorausgeschickt – beruht auf der Sicht des Konflikts als transhistorische bzw. anthropologische Konstante der menschlichen Zivilisation. Zu seiner Austragung bedarf es der Generierung von Macht, welche freilich auch zu seiner Verhinderung eingesetzt werden mag – was allerdings an sich schon die Wirkmächtigkeit des Konfliktpotenzials indiziert. So auch der politische Kompromiss, welcher ja im Ausweichen vor der Verwirklichung des im Konflikt an Gewalt, Aggression und Feindseligkeit Angelegten das Moment des Konfliktuellen in sich aufhebt. Mit welchen Visionen des (ewigen) Friedens, utopischen Glücks und gemeinschaftlicher Zufriedenheit sich Mythen, Religionen, Sozialtheorien und Kunst seit jeher befasst haben, führt plastisch vor Augen, wogegen sich solche Menschheitsträume stets entgegenzustemmen versuchten. Die Friedensgöttin Eirene und der Kriegsgott Ares bzw. Mars gehörten derselben Götterwelt der Antike an. Institutionalisiert manifestiert sich die aus dem Konflikt erwachsene Macht/Gewalt als Herrschaft, wobei Herrschaft sowohl als Instanz zur politischen Beilegung von Konflikten als auch als Ursache und Anlass von Konflikten, jenen des Machtkampfs um politische Herrschaft, verstanden werden muss. Nimmt man Nietzsches »Willen zur Macht« als unhintergehbare Matrix allen menschlichen Handelns zur Voraussetzung, darf man vom Menschen als eine im Wesen politische Entität sprechen, ganz so, wie es Aristoteles’ Zoon politikon als Grunddefinition menschlichen Daseins anzeigt. Dem Politischen sind, so besehen, Koordinaten des Konflikts, der Macht/Gewalt und der Herrschaft – ausgetragen oder verhindert – stets verschwistert.
Freuds Denken basiert auf einer konfliktuell strukturierten Auffassung der conditio humana. Es geht davon aus, dass der als Lustsucher, also als triebgesteuertes Wesen, in die Welt kommende Mensch von Anbeginn mit einer Realität konfrontiert ist, die – der Befriedigung der Triebansprüche entgegenwirkend – als ihrem Wesen nach »feindlich« wahrgenommen wird. Die Realität wird früher oder später zum Prinzip erhoben, und als Realitätsprinzip wirkt sie im Menschen als polarer Gegensatz zum Lustprinzip. Bekanntlich bilden sich, Freud zufolge, in der menschlichen Psyche entsprechende Instanzen aus: Im Es sind die Lust generierenden Triebe (wie auch verdrängte Lustwünsche und -antriebe) beherbergt; im Über-Ich als verlängertem Arm der Gesellschaft, mithin der äußeren Realität, »wohnen« verinnerlichte Moral und das sich mit ihr bildende Gewissen; das Ich, gleichsam der vernunftgeleitete rationale Anteil der Psyche, dem die Aufgabe zukommt, sich auf die gesellschaftliche Realität adäquat auszurichten, sieht sich demgemäß der Wirkung zweier gegensätzlicher Kräfte ausgesetzt – lapidar gesagt: dem des ewig wollenden Es und dem des dem Gewollten Einhalt gebietenden bzw. es verbietenden Über-Ichs.
Freud war natürlich nicht der Erste, der diesen Grundumstand der menschlichen Existenz erkannt und systematisch erörtert hat. In allen Kulturen, in allen Mythologien und Religionen, aber auch schon in der Frühzeit der westlichen Philosophie wurde das Konfliktpotenzial zwischen dem triebgesteuerten Menschen und der gesellschaftlichen Zivilisierung (bzw. Dressur) der menschlichen Triebe und Leidenschaften zu einem zentralen Thema der diskursiven Erörterung menschlichen Seins erhoben. Freud selbst war sich dessen bewusst und hob es auch mehrmals hervor. Und doch darf davon ausgegangen werden, dass es besonders gewisse philosophische Entwicklungen im 19. Jahrhundert waren, die bei der Geburt des ihm eigenen Denkens Pate standen. Zum einen war da Kants Philosophie, die Wesentliches zur Klärung wie auch zur Eingrenzung der Möglichkeiten menschlicher Vernunft beigetragen hat. Kant war Aufklärer, und als solcher darf auch Freud eingestuft werden, denn nicht nur nahm er sich vor, über das Irrationale rationale Rechenschaft abzulegen, sondern sein nahezu zum geflügelten Wort geronnenes Diktum »Wo Es war, soll Ich werden« kann gewiss als ein aufklärungsbeseeltes Postulat gelten. Zwar enthält es ein repressives Element (das Es soll ja zunehmend beherrscht werden), und doch richtet es sich auf das Ich aus, »vertraut« ihm sozusagen. Nicht minder darf indes der Vermutung das Wort geredet werden, dass die Philosophie Schopenhauers (und in deren Folge das komplexe Denken Nietzsches) einen prägenden Einfluss auf die Matrix der Freud’schen Weltsicht ausgeübt hat. Der Willensbegriff Schopenhauers ist zwar metaphysisch gebildet, darf aber – wenn man sich einer gleichgestaltigen Analogie bedient – in seiner Immunität jeglicher rationalen Logik gegenüber wie auch in seiner Ahistorizität mit dem Wirken des Es verglichen werden. Was dem ewig wollenden Willen entgegensteht, ist »die Welt« (die zugleich von ihm angetrieben wird), wie dem Lustprinzip das Realitätsprinzip bzw. das Über-Ich dem Es entgegenwirkt. Was bei Schopenhauer zu einer kulturpessimistischen Konsequenz führt, findet sich durchaus auch bei Freud, wie nicht zuletzt der Titel seiner bedeutenden Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« bezeugt. In der Tat sieht sich, Freud zufolge, das Bewusstsein mit der kränkenden Erfahrung konfrontiert, »dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«. Davon wusste bereits Nietzsche, dem bis zu seiner Zeit wohl Psychologie-beflissensten aller Philosophen, ein Lied zu singen.
So betrachtet, ist das Politische in der Freud’schen Auffassung des Menschen sowohl in dessen konfliktuell beschaffener Seelenstruktur als auch in seinem von Konflikten durchwirkten Verhältnis zur Welt bzw. Kultur zu sehen. Politisch ist es insofern, als eine Form des Machtkampfes zwischen den Seeleninstanzen bzw. zwischen den seelischen Bedürfnissen und den realen Möglichkeiten ihrer Befriedigung stattfindet. Dass der Ausgang dieses fortwirkenden Machtkampfes sich selten nur eindeutig zugunsten einer der streitenden »Parteien« entscheidet, dass darüber hinaus jeder punktuelle Ausgang des Kampfes sehr schnell von der Wirkmächtigkeit verfestigter Muster des Konfliktuellen eingeholt wird, mithin die Grundlage für die erneute Erweckung des Machtkampfes bilden mag, macht – wiederum Freud zufolge – das nie ganz versiegende Neurotische des menschlichen Daseins aus. Entsprechend darf davon ausgegangen werden, dass die »Psychopathologie des Alltagslebens« nicht nur die Konventionen gängiger Lebensroutine, sondern die Grundfeste der schieren Existenz des Menschen als gesellschaftliches Wesen belangt. Das Neurotische seines Daseins ist die Herausforderung an das Emanzipationsstreben des Menschen, zugleich aber (und gerade darin) die strukturelle Matrix des Politischen an ihm.
Von nicht minderer Bedeutung ist gleichwohl der Umstand, dass sich dies Neurotische in Weltanschauung, Ideologie und Handlungspraktiken im realen Gesellschaftlichen und Politischen übersetzt. Nicht zuletzt daraus ergibt sich die Notwendigkeit, politische Erscheinungen und Prozesse mit psychoanalytischen Mitteln anzuvisieren. Dabei geht es nicht nur um eklatante Fälle des Politischen, wie etwa die Hinrichtung von Königen oder die Ermordung von bedeutenden Staatsmännern, bei denen eine Dimension des »Vatermordes« zu detektieren wäre. Vielmehr kann es sich um das fundamentale Verhältnis des Einzelnen oder von Gruppen zur Herrschaft handeln, wobei davon ausgegangen werden darf, dass vieles an diesem Verhältnis sich anhand der Verinnerlichung von Herrschaft im Ödipalkonflikt bildet und schärft. Gravierend wirkt sich das auf Ideologiebildungen aus, zumal Ideologie dann nicht mehr nur als ein kognitives Problem (ein Problem des falschen Bewusstseins) begriffen wird, sondern im Hinblick auf die der jeweiligen Bewusstseinsbildung zugrunde liegenden psychischen, mithin neurotischen Bedürfnisse zu untersuchen ist. Ohne Zweifel verkompliziert dies auch die Aufklärungsmöglichkeiten – ungleich leichter ist es, Ansichten und Meinungen zu korrigieren als neurotisch generierte psychische Fixierungen zu überwinden.
Diese Einsicht verweist auf die Notwendigkeit einer theoretischen Synthesenbildung. Denn so sehr die Psychoanalyse die Erkenntniskapazität der klassischen Sozialtheorie (nach Vermögen) zu bereichern vermochte, konnte nicht übersehen werden, wie sehr sie selbst der Sozialtheorie bedurfte, um die Erkenntnisbreite des metapsychologischen Ansatzes im Spätwerk Freuds wesentlich zu erweitern. Als bemerkenswertesten Versuch in diese Richtung darf man wohl den Freudomarxismus der Frankfurter Schule ansehen.
Was der Freudomarxismus ist, lässt sich am Begriff direkt wahrnehmen. Es handelt sich um den historischen Versuch, eine Synthese zwischen dem Marxismus und der Freud’schen Psychoanalyse herzustellen. Ansätze zu einer solchen Synthese gab es schon relativ früh. Als herausragend unter den ersten Vertretern darf wohl Wilhelm Reich1 (1897–1957) gelten. Bedeutend war auch der in Berlin wirkende Erich Fromm (1900–1980), der sich bald mit der Gruppe der frühen Kritischen Theorie verband, der späterhin sogenannten Frankfurter Schule. Deren Vertreter – allen voran Herbert Marcuse, Theodor Adorno und Max Horkheimer – entwickelten diesen Theorieansatz zur einem neuen Forschungsparadigma, das sich als Kritische Theorie von dem, was als traditionelle Theorie apostrophiert wurde, absetzte.
Die theoretische Synthese des makrosoziologischen Marxismus mit der Freud’schen Tiefenpsychologie war nicht selbstverständlich und mitnichten leicht zu erlangen. Dies hatte innertheoretische Gründe, durchaus aber auch äußere. Denn weder gestandene Marxisten noch orthodoxe Psychoanalytiker hatten ein Interesse am jeweils anderen Theoriebereich. Den Marxisten, die an der Veränderung historisch gewachsener gesellschaftlicher Strukturen interessiert waren, galt die Beschäftigung mit dem Innenleben des Individuums als bürgerliche Ideologie. Professionelle Psychoanalytiker wiederum zielten primär auf die klinische Therapie individueller Leiderfahrung, ohne sich dabei groß um gesellschaftliche Transformationen zu kümmern.
Dabei lag die Notwendigkeit einer solchen Synthese auf der Hand. Denn zum einen gab es potenzielle Ansätze psychologischer Erörterung schon beim frühen Marx, wenn man an die psychischen Auswirkungen von Entfremdung denkt (Psychologie als eigenständige Disziplin bestand aber noch nicht). Zum anderen aber begnügte sich Freud selbst nicht mit der Grundlegung therapeutischer Praxis, sondern entwickelte eine übers Individuum hinausgehende Zivilisationstheorie, in die zwangsläufig kollektive, mithin gesellschaftliche Faktoren einflossen. Alle metapsychologischen Schriften der späten Schaffensperiode Freuds sind ohne einen Gesellschaftsbegriff, mithin Kritik gesellschaftlicher Institutionen wie etwa der Religion, nicht zu denken.
Das ist es, was sich die interdisziplinär ausgerichtete klassische Frankfurter Schule zur Grundlage ihrer theoretischen Überlegungen nahm. Dabei ging es ihr nicht um die therapeutischen Angebote der Psychoanalyse, sondern um die wechselseitige Wirkmächtigkeit des Sozialen auf das Psychische und der psychischen Strukturen auf die Herausbildung von Mustern sozialen Verhaltens. Ohne diesen Denkansatz wären »Entdeckung« und Kritik des Autoritären, seiner politischen Ausformungen, seiner Ideologiebildungen und eben der psychischen Dimension gesellschaftlicher und politischer Ideologie gar nicht in die Welt gekommen. Dass sich diese brillante Synthese, mit Ausnahme einer kurzen Periode im Denken der Neuen Linken in den 1960er-Jahren, nicht durchzusetzen vermochte, besagt nichts über den Wahrheitskern ihrer Ausrichtung. Ihre Niederlage kann mit Kategorien des Freudomarxismus noch am besten erklärt werden.2
Als eine für den in diesem Band verhandelten Zusammenhang zentrale Kategorie der klassischen Kritischen Theorie darf wohl die des autoritären Charakters gelten. Die nun folgenden Darlegungen sind ihr gewidmet.
In einem 1966 abgehaltenen Rundfunkvortrag behauptete Adorno, dass jede Debatte über Erziehungsideale »nichtig und gleichgültig« jenem zentralen Erziehungsziel gegenüber sei, dass sich Auschwitz nicht wiederhole: »[Auschwitz] war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht. Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen.« Weiter heißt es dann: »Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte«.3
Es ist Mode geworden, dem Denken Adornos seine Überlebtheit vorzuhalten. Es sei ein Denken, das sich aus der Spezifität einer biografischen Erfahrung speise, die längst schon historisiert gehöre: Die dunkel-verzweifelte Weltsicht unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sei auf das eigene beschädigte Leben, auf den Einfluss des zwar lebensrettenden, doch traumatisch fortwirkenden existenziellen Erlebnisses von Emigration und durchlebter Entwurzelung zurückzuführen. Zwar verleihe diese der nachmaligen Reflexion ihre historische Authentizität, aber eben um den Preis, dass die Gesamtschau der individuellen Erfahrung die Reflexion bestimme. Die Emphase der Adorno’schen Verzweiflung nimmt sich aus solcher Sicht pathetisch aus, gar ideologisch, weil Partikulares für allgemein ausgegeben werde. Was soll man noch mit einem solchen Denken in einer Zeit, die sich alles Ideologischen enthoben zu haben wähnt?
Darüber hinaus werden der Adorno’schen Philosophie (wenn sie denn als Philosophie überhaupt akzeptiert wird) immanente Defizite vorgehalten. Indem sie die Geschichte der Zivilisation einem transhistorischen Argument unterwerfe, enthistorisiere sie historisch Spezifisches, unterschlage mithin die in der geschichtlichen Gesamttendenz sichtbar werdenden Veränderungen, die sich weitaus differenzierter ausprägen würden, als es sich in langzeitlichen Strukturformen und Mustern ausnehmen mag. Mehr noch: Da die transhistorische Gesamttendenz als eine von Urzeiten bis hin zum modernen Spätkapitalismus sich entfaltende Folge von stetig komplexer und undurchdringlicher werdenden Herrschaftsmechanismen, die in die Vorstellung einer hochentwickelten, total verwalteten Welt mündet, (nach)gezeichnet wird, komme das Gefühl historischer Ausweglosigkeit auf, womit sich Kritische Theorie selbst in die Erkenntnis-Sackgasse manövriere. Der von Peter Sloterdijk 1999 gegen Habermas pathetisch-polemisch gerichtete Ausruf, die Kritische Theorie sei tot,4 mag unterschwellig auch etwas mit dem – freilich unreflektierten – Bedürfnis zu tun gehabt haben, den vermeintlichen Gordischen Knoten dieser kritischen Denktradition ein für alle Mal durchzuhauen.
Zu fragen ist freilich, was genau – über die spezifische Intention Sloterdijks hinaus – getötet werden soll. Adorno selbst wies seinerzeit im anderen Zusammenhang darauf hin, dass ein »uralt bürgerlicher Mechanismus, den die Aufklärer des 18. Jahrhunderts gut kannten, […] erneut, doch unverändert ab[läuft]: das Leiden an einem negativen Zustand, diesmal an der blockierten Realität, wird zur Wut an den, welcher ihn ausspricht«.5 Ein Spannungsfeld tut sich auf zwischen negativer Realität, ihrem kritischen Begriff und der Bereitschaft, sich diesem aufrecht erhaltenen Begriff auszusetzen. Zweierlei mag ihn unterlaufen: zum einen das Desinteresse am kritisch stets Wiederholten, wobei sich das »Interesse« – bewusst oder unbewusst – dem real Vorwaltenden entschlägt; zum anderen die Nomenklatur – man entwindet sich dem real Vorwaltenden, indem man es umbenennt. Die vom Desinteresse herrührende Indifferenz bedarf dabei nicht der Begründung. Eher schon der wissenschaftlich sich gebende konzeptuelle Schichtwechsel.
Nicht von ungefähr meinte Adorno bei seinem Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag 1968, welcher der makrotheoretischen Erörterung des Zustands entwickelter Gesellschaftssysteme gewidmet war, der »mit dem Stand der sozialwissenschaftlichen Kontroverse nicht Vertraute könnte auf den Verdacht geraten, es handele sich um einen Nomenklaturstreit; Fachleute seien von der eitlen Sorge geplagt, ob die gegenwärtige Phase nun Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft heißen solle«.6 Ob es dabei dem mit dem Stand der sozialwissenschaftlichen Kontroverse sehr wohl Vertrauten heute anders gehen mag, darf bezweifelt werden. Aktuelle Codewörter wie Globalisierung, Zivil-, Konsum-, Medien-, gar »Spaß«-Gesellschaft indizieren ein genuines Bedürfnis, offensichtliche Transformationen, die moderne Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten weltweit durchliefen, begrifflich zu fassen, kaschieren jedoch nicht minder den Umstand, dass sich am Wesen dessen, was im Begriff als obsolet abgetan wird, nichts Grundlegendes geändert hat. Trotz aller Umbenennung ist der (Spät-)Kapitalismus samt der ihm einwohnenden Herrschafts-, Ausbeutungs- und Manipulationsmechanismen mitnichten aus der Welt geschafft, sondern wird lediglich euphemistisch abgesegnet, was sich gerade im Nomenklaturstreit (der freilich heute kaum noch »Streit« genannt werden kann; das reale Kräfteverhältnis der objektiven Weltlage hat sich auf den agonalen theoretischen Diskurs merklich ausgewirkt) als Ideologie höchster Stufe erweist.
Adorno hat hierauf im besagten, nunmehr fast fünfzig Jahre alten Vortrag prägnanten Bezug genommen. Er unterstrich durchaus den objektiv stattgefundenen Wandel im Bereich der Produktionsmittel, meinte darüber hinaus, man dürfe sich dennoch zur bündigen Disjunktion von Spätkapitalismus und Industriegesellschaft nicht nötigen lassen, bestand jedoch vor allem darauf, dass Herrschaft weiter über Menschen durch den ökonomischen Prozess hindurch ausgeübt werde, nur dass dessen Objekte »längst nicht mehr nur die Massen [sind], sondern auch die Verfügenden und ihr Anhang. Der alten Theorie gemäß wurden sie weithin zu Funktionen ihres eigenen Produktionsapparats«. Und habe sich schon die Verelendungstheorie nicht à la lettre bewahrheitet, »so doch in dem nicht weniger beängstigenden Sinn, dass Unfreiheit, Abhängigkeit von einer dem Bewusstsein derer, die sie bedienen, entlaufenen Apparatur universal über die Menschen sich ausbreitet«.7 Zwar werden nach Lebensstandard und Bewusstsein »vollends in den maßgebenden westlichen Staaten Klassendifferenzen weit weniger sichtbar als in den Dezennien während und nach der industriellen Revolution«,8 und doch sind stets noch »die Menschen, was sie nach der Marxischen Analyse um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren: Anhängsel an die Maschinerie, nicht mehr bloß buchstäblich die Arbeiter, welche nach der Beschaffenheit der Maschinen sich einzurichten haben, die sie bedienen, sondern weit darüber hinaus metaphorisch, bis in ihre intimsten Regungen hinein genötigt, dem Gesellschaftsmechanismus als Rollenträger sich einzuordnen und ohne Reservat nach ihm sich zu modeln. Produziert wird heute wie ehedem um des Profits willen«.9 Vor allem ging es aber Adorno um den von ihm so bezeichneten »Vorrang der Struktur«, darum eben, »daß Begriffe wie Tauschgesellschaft ihre Objektivität haben, einen Zwang des Allgemeinen hinter den Sachverhalten bekunden, der keineswegs stets zureichend in operationell definierte Sachverhalte sich übersetzen läßt«.10
Auf dieser Grundlage lässt sich die eingangs zitierte Aussage Adornos über die perennierende Barbarei nach Auschwitz genauer umreißen: Auschwitz begreift sich als bereits stattgefundener »Rückfall in die Barbarei«, die nun aber, da sie sich real zugetragen hat, als chronische Möglichkeit paroxystischer Wiederkehr nicht mehr wegzudenken ist. Der Grund hierfür liegt darin, dass die strukturellen Bedingungen, die Auschwitz als Kulminationspunkt einer Gesamttendenz historisch zeitigten, als solche – als strukturell bedingte Konstellationen also – mitnichten überwunden sind, sondern fortwähren. Es handelt sich dabei keineswegs um außergewöhnliche Bedingungen, sondern um solche, die in der Tendenz ihrer eigenen realen sozialen-geschichtlichen Logik angelegt sind. Dass sie sich nun nicht als katastrophenträchtige Bedrohung darstellen, gar als Not »unsichtbar« geworden sind, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im gesellschaftlichen Druck fortwirken – jenem vermeintlich normalen, gewöhnlichen, alltäglichen gesellschaftlichen Druck, der die »Menschen zu dem Unsäglichen [hintreibt], das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte«. In ihrer realen historischen Ausbildung mag sich die Monstrosität von Auschwitz als Ausnahmezustand ausnehmen, nicht jedoch als Potenzial der Realgeschichte.
Wenn aber Barbarei real fortbesteht, »solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern«, die Bedingungen jedoch in der Latenz verharren, »unsichtbar« geworden sind, mag sich die Frage nach dem Wesen des Faschistischen unter äußerlich veränderten historischen Bedingungen stellen. Gemeint ist dabei nicht der staatlich organisierte bzw. sich im Staate vollendende Faschismus, sondern die strukturellen Prädispositionen für die Zurichtung des Faschistischen am Menschen. Hierfür sei eine weitere zentrale Kategorie des Adorno’schen Denkens herangezogen: die des autoritären Charakters.
In der Einleitung zu den »Studien zum autoritären Charakter« verweist Adorno auf die Anlehnung der präsentierten Untersuchungen an der Hypothese, dass »die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ›Mentalität‹ oder einen ›Geist‹ zusammengehaltenes Denkmuster bilden, und daß dieses Denkmuster Ausdruck verborgener Züge der individuellen Charakterstruktur ist.«11 Adornos Hauptaugenmerk ist dabei auf das von ihm so benannte »potentiell faschistische Individuum« gerichtet, er geht jedoch davon aus, dass jedeUntersuchung, die dem »Problem politischer Typen« nachgeht, einer Unterscheidung zwischen der Konzeption der »Ideologie« und »der ihr zugrundeliegenden menschlichen Bedürfnisse« bedarf. Begreift man dabei Ideologie als ein »System von Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen«, mithin als »eine Denkweise über Mensch und Gesellschaft«, lässt sich Adornos Verknüpfung beider Konzeptionen nachvollziehen: »Wir können von der Gesamtideologie eines Individuums sprechen oder von seiner Ideologie in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens: Politik, Wirtschaft, Religion, Minderheiten und anderes. Ideologien bestehen, unabhängig vom Einzelnen, und die Ideologien bestimmter Epochen sind ebenso Resultat historischer Prozesse wie des sozialen Geschehens. Je nach dem individuellen Bedürfnis und dem Ausmaß, in dem dieses befriedigt wird oder unbefriedigt bleibt, haben sie für die einzelnen Individuen verschieden starke Anziehungskraft.«12
Von Bedeutung ist dabei, dass besagte Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen, die das ideologische Systems des Einzelnen bilden, sich zwar mehr oder minder offen artikulieren, psychologisch gesehen jedoch »an der Oberfläche« bleiben. Die Reaktion des Individuums auf emotional geladene Fragen hängt von seiner spezifischen Situation ab; in bestimmten Fällen können sich daher »Diskrepanzen« ergeben »zwischen dem, was er sagt, und dem, was er ›wirklich denkt‹«. Adorno hebt hervor, dass der Erfassung jener »verborgenen Tendenzen«, welche das Individuum nicht nur vor seiner Umgebung, sondern auch vor sich selbst verbirgt, besondere Bedeutung zukomme, weil angenommen werden könne, dass genau hier »das Potential für demokratische oder antidemokratische Ideen und Handlungen in entscheidenden Situationen liegt.« 13
Es versteht sich von selbst, dass sich eine solche Theorie der Charakterstruktur »eng an Freud« anlehnt. Charakterkräfte hat man daher als »Bedürfnisse«, mithin als »Triebe, Wünsche [und] emotionale Impulse« zu begreifen. So lässt sich denn der Charakter in seiner Funktion als »Organisation von Bedürfnissen«, welche auf besagte Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen des Einzelnen einwirken, als »Determinante ideologischer Präferenzen« begreifen, nicht jedoch als »endgültige Determinante«. Adorno hebt ausdrücklich hervor, dass der Charakter nie von vornherein gegeben sei, sondern sich unter dem Druck der Umweltbedingungen heranbilde, und dies umso gründlicher, »je früher sie in der Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Rolle spielten«. Wenn also die Charaktergenese vom Erziehungsprozess und der häuslichen Umgebung des Kindes entscheidend geprägt wird, muss man wirtschaftlichen und sozialen Faktoren eine tiefe Einflussnahme auf diese Entwicklung beimessen. Denn: »Nicht nur folgt jede Familie hier den Gewohnheiten der eigenen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppe, auch ökonomische Faktoren beeinflussen das Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind. Umfassende Veränderungen in sozialen Bedingungen und Einrichtungen wirken sich daher unmittelbar auf die innerhalb einer Gesellschaft entstehenden Arten von Charakterstrukturen aus.«14
Bei Erich Fromm heißt es: »Es sind die libidinösen Kräfte der Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der großen gesellschaftlichen Ideologien in allen kulturellen Sphären beitragen.«15 Wenn also die Kräfte, von denen es heißt, sie formierten den Charakter des Individuums, auch jenen »Kitt« bilden, welcher auf die interpersonellen Beziehungen, mithin aufs kollektive Leben einwirkt, diese Kräfte jedoch selbst vom Sozialen geprägt sind, so kann Adorno die Charakterstruktur als »eine Agentur« definieren, die »soziologische Einflüsse auf die Ideologie vermittelt«.16
Aus dem Begriff der Charakterstruktur entfaltet sich bei Fromm der Sekundärbegriff des »Gesellschafts-Charakters«. Es soll hier nicht näher auf ihn eingegangen werden. Im anstehenden Zusammenhang ist eher die von Fromm vorgenommene Kategorisierung verschiedener Erscheinungsformen des Gesellschafts-Charakters von Belang; als deren prägnanteste mag die des sogenannten »autoritären Charakters« erachtet werden. Die Bezeichnung steht bei Fromm (nach eigenem Bekunden) für den Begriff des »sado-masochistischen Charakters«, was damit begründet wird, dass sich der sado-masochistische Mensch durch eine besondere Beziehung zur Autorität auszeichne: »Er bewundert die Autorität und neigt dazu, sich ihr zu unterwerfen, möchte aber gleichzeitig selbst Autorität sein, der sich die anderen zu unterwerfen haben«.17 Die Kategorie der Autorität wird jedoch nicht als Eigenschaft des Einzelnen begriffen, sondern als »zwischenmenschliche Beziehung, bei der der eine den anderen als ihm überlegen betrachtet«.18 Vor allem aber gilt in diesem Zusammenhang, dass »autoritärer Charakter« die Persönlichkeitsstruktur benennt, welche »die menschliche Grundlage des Faschismus bildet«.19
Fromm hebt dabei unterschiedliche Aspekte der Autorität hervor. Die Autorität müsse z.B. »nicht unbedingt eine Person oder eine Institution sein, die sagt: ›Du mußt das tun‹ oder ›Das darfst du nicht tun‹. Man könnte diese Form als äußere Autorität bezeichnen, aber sie kann auch als innere Autorität: als Pflicht, Gewissen oder Über-Ich auftreten«.20 Das gesamte moderne Denken vom Protestantismus bis hin zu Kant lasse sich, Fromm zufolge, letztlich als die Ersetzung der äußeren durch die internalisierte Autorität denken: »Durch die politischen Siege des aufsteigenden Bürgertums verlor die äußere Autorität an Ansehen, und das eigene Gewissen nahm den Platz ein, den diese innegehabt hatte, worin viele einen Sieg der Freiheit sehen. Sich (zum mindesten in religiösen Dingen) Anordnungen von außen zu unterwerfen, schien nun eines freien Mannes unwürdig. Dagegen sah man im Sieg über seine natürlichen Neigungen und in der ›Selbstbeherrschung‹, das heißt in der Beherrschung des einen Teils des Menschen – seiner Natur – durch einen anderen Teil seines Wesens – seine Vernunft, seinen Willen oder sein Gewissen – das Wesen der Freiheit.« Die Analyse zeige freilich, dass das Gewissen ein ebenso »strenger Zwingherr« sei wie äußere Autoritäten. Zudem erweise sie, dass »die Gewissensinhalte im letzten keine Forderungen des individuellen Selbst sind, sondern gesellschaftliche Forderungen, die die Würde ethischer Normen angenommen haben. Die Herrschaft des Gewissens kann sogar noch strenger sein als die äußeren Autoritäten, weil der Betreffende die Befehle seines Gewissens als ureigenste erfährt. Wie aber kann jemand gegen sich selbst rebellieren?«21
Die pure Erscheinungsform des autoritären Charakters ist in der realen Welt selten, wenn überhaupt je, vorzufinden. Die »realen« Erscheinungsformen können darüber hinaus trügen. Fromm weist darauf ausdrücklich hin, indem er auf gewisse Neigungen des autoritären Charakters, sich der Autorität zu widersetzen und gegen Einflüsse »von oben« zu wehren, eingeht. Solcher Widerstand sei zuweilen solchermaßen dominant, dass er den äußeren Ausdruck der Unterwerfung bis zur Unkenntlichkeit verwische. Dieser Typ des autoritären Charakters widersetzt sich stets irgendeiner Autorität, ohne wahrzunehmen, wann er dabei sogar seinen eigenen Interessen zuwider handelt. Andere haben ein gespaltenes Verhältnis zur Autorität; sie lehnen sich gegen eine bestimmte Autorität auf (besonders gegen eine, die sich wider Erwarten als schwach entpuppt hat), um sich einer anderen, die ihre »masochistischen Sehnsüchte« besser zu erfüllen vermag, zu unterwerfen. Es gibt zudem jenen autoritären Charakter, der seine Auflehnungsneigungen vollkommen verdrängt, sodass diese nur a posteriori in Form von Hassgefühlen gegenüber der Autorität auszumachen sind, besonders dann, wenn deren Macht schwindet und sie zu stürzen droht.