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Moshe Zuckermann untersucht die ideologischen Strukturen der deutschen Geschichtsschreibung des Vormärz zur Französischen Revolution. Französische Revolution und deutscher "Sonderweg" erweisen sich als Anschauungsgegensätze: auf der einer Seite die ideologische Bejahung der revolutionären Emanzipation von der traditionellen Autorität und auf der anderen die Ideologie autoritärer Unterwerfung unter die herkömmliche Obrigkeit. Theoretisch orientiert sich dieser Ansatz an den von der "Frankfurter Schule" geprägten Begriff des "autoritären Charakters".
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Seitenzahl: 875
Veröffentlichungsjahr: 2021
Moshe Zuckermann wurde als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Israel geboren und wuchs in Tel Aviv auf. Er studierte in Frankfurt am Main, kehrte danach wieder nach Israel zurück, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas der Universität Tel Aviv lehrte. Von Februar 2000 bis 2005 leitete er das Institut für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv. 2006/2007 war er Gastprofessor am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) der Universität Luzern.
Zahlreiche Publikationen, u.a. Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit (2018); Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt (2014); „Antisemit!“ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument – Sechzig Jahre Israel (2010); Gedenken und Kulturindustrie. Ein Essay zur neuen deutschen Normalität (1999); Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands (1998); Wagner, ein deutsches Ärgernis (2020).
Moshe Zuckermann
Französische Revolutionund deutsche Geschichtsschreibungim Vormärz
E-Book (ePub)
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign, Berlin
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher «Europa» (1945)
ePub:
ISBN 978-3-86393-581-8
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
Neuausgabe © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Print: ISBN 978-3-86393-121-6
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Meiner Mutter
Vorwort
Einleitung
Teil I:
Die Rezeption der Französischen Revolution und die deutsche politische Kultur
1. Kapitel: Die Geschichtsschreibung der Französischen Revolution
2. Kapitel: Die Französische Revolution im Spiegel der Kode-Matrix
3. Kapitel: Die Modifikation der Kode-Matrix in der deutschen Rezeption der Französischen Revolution
Teil II:
Die Rezeption der Französischen Revolution in der deutschen Geschichtsschreibung des Vormärz
Vorwort
4. Kapitel: Allgemeine Beurteilung der Revolution
5. Kapitel: Prozeß und Hinrichtung Ludwigs XVI.
6. Kapitel: Schlüsselgestalten der Revolution: Mirabeau
7. Kapitel: Girondisten und Jakobiner
8. Kapitel: Schlüsselgestalten der Revolution: Marat – Danton – Robespierre
Nachwort
Anhang
Anmerkungen
Bibliographie
Was bedeutet es, wenn man beschließt, ein im Jahr 1989 erschienenes Buch über dreißig Jahre später erneut zu veröffentlichen? Mehrere Antworten sind auf diese Frage möglich. Das Buch kann zum „Klassiker“ avanciert sein, zum unübergehbaren Teil eines kulturellen Kanons, dem man eine neue Auflage widmet. Es kann auch – damit möglicherweise verschwistert – ein kommerzieller „Dauerbrenner“ sein, den man zwischendurch mal „auffrischen“ muss. Es mag ein an sich wertvolles Werk sein, welches man gleichwohl überarbeiten bzw. ergänzen oder „auf den neuesten Stand“ seines Sujets bringen muss. Die ersten beiden Antworten treffen auf den vorliegenden Band nicht zu – weder „Klassiker“ noch „kommerzieller Dauerbrenner“ –, was die dritte Möglichkeit anbelangt, steht mir als Autor kein Urteil darüber zu. Stattdessen soll hier eine Rechenschaft darüber abgelegt werden, worum es in diesem Buch ging und was sich seit seiner Publikation im Bereich des in ihm erörterten Themenkreises wissenschaftlich zugetragen hat.
Das Buch erschien, wie gesagt, 1989, dem zweihundertsten Jubiläumsjahr der großen Französischen Revolution, in welchem auch die Berliner Mauer fiel; ein Jahr später erfolgte der staatsoffizielle Zusammenbruch der Sowjetunion. Das darf insofern für signifikant erachtet werden, als die gesinnungsmäßige Emphase des Buches sich am marxistischen Strang der Revolutionsgeschichtsschreibung orientierte (Mathiez, Lefebvre, Soboul), mithin die emanzipatorische Ausrichtung der Revolution als Paradigma der Moderne herauszustellen trachtete. Aber mit dem Zerfall des „real existierenden Sozialismus“ (der ja keiner gewesen war) wurde nun dieses Paradigma gleichsam durch die Realgeschichte infrage gestellt, ja von Grund auf erschüttert. Das will wohlverstanden sein: Die Ziele der bürgerlichen französischen Revolution galten mir, dem Marxisten, nur als historische Vorstufe dessen, worum es der Moderne zu gehen hatte: um die gesellschaftliche Befreiung des Menschen, wie sie sich im Marx’ schen Denken als Sozialismus/Kommunisus darstellte. Konnte dies aber zur Zeit der Niederschrift dieses Buches realiter überhaupt antizipiert werden? Natürlich nicht. Dies bedarf aber der Erläuterung.
Ernst Bloch sagte einmal in einem Vortrag: „Sowjetischen Marxisten wurde Marx zum Platoniker, lässt sich sagen, mit einer solchen Reinheit der Idee, und bloß der Idee, dass einem schlecht werden könnte vor solchem Idealismus unter der Maske von Materialismus, von Praxis.“ Eine bittere Erkenntnis des bekennenden Marxisten. Denn was könnte man Marxisten Schlimmeres nachsagen, als dass sie sich dem philosophischen Idealismus – also der Vorstellung, dass Ideen die historische Realität der Gesellschaft bestimmen und nicht die materiellen Grundlagen des jeweiligen sozialen Seins – verschrieben hätten. Zwar ist klar, dass zwischen dem materiellen Sein und dem Bewusstsein ein dialektisches Verhältnis besteht, mithin sich Sein und Bewusstsein stets wechselseitig durchwirken, aber als nachgerade axiomatisch gilt Marxisten der berühmte Satz von Karl Marx: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ Und wenn der philosophische Idealist Hegel von einer gegensätzlichen Reihenfolge von Wirkung und Ursache ausgeht, so wendet sich Marx gerade darin dezidiert dagegen.
Es musste, so besehen, den Marxisten Bloch in der Tat betroffen machen, dass im östlichen Kommunismus gerade im Namen des Marxismus der Überbau (verkürzt ausgedrückt: die Sphäre der Ideen) von der Basis (der materiellen Sphäre menschlichen Seins und Handelns) losgelöst wurde. Der Grund hierfür lag nicht in subjektiv bösartiger Intention, sondern rührte von einem objektiven Strukturproblem her. Bloch hat dies genau erkannt: „Das kann mit dem Boden zusammenhängen, einem Boden, der durch keine bürgerliche Revolution genährt war, der seit der Teilung des ost- und weströmischen Reiches im Jahre 396 immer ferner rückte, der keine Scholastik kennt, keine Renaissance, keine Probleme der Reformation, keine Aufklärung, kein 1789. Auf den Zarismus wurde unvermittelt das kühnste, modernste, zukunftshaltigste Projekt aufgesetzt: der Marxismus, die proletarische Revolution. Hier wurde ein Dach auf den Boden gesetzt, die erste Etage und die zweite fehlen völlig: wo sind da Zimmer und Räume möglich? War es da nicht ganz gesetzmäßig, um einen üblichen Ausdruck der vulgären und schematischen Orthodoxie zu gebrauchen, dass sich Theorie in dieser Praxis bis zur Unkenntlichkeit verändern musste? Wäre dasselbe in einem westeuropäischen Land eingetreten?“
Was sich viele Feinde des Sozialismus nicht klarmachen, wenn sie den Untergang des Sowjetkommunismus schadenfroh als historische Entscheidung im Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus feiern, mithin daraus auch eine historiosophische Schlussfolgerung und endgültige Entscheidung gezogen haben wollen, ist, dass dieser Einwand Blochs sich gerade auf Wesentliches in Marxens Denken berufen darf. Denn – lapidar ausgedrückt – hätte der schiere Gedanke, dass die proletarische Revolution gerade im zaristischen Russland ausbrechen werde, Marx gewiss entsetzt. Das sei kurz erörtert.
Bei Marx ist der wahre revolutionäre Umbruch stets das Ergebnis eines evolutionären Vorlaufs, der erst dann den Umschlag hervorbringt, wenn der Widerspruch zwischen dem, was sich gesellschaftlich real an der Basis entwickelt hat, und dem Bewusstsein dieser realen Entwicklung, wie es sich im Überbau niederschlägt, nicht mehr zu halten ist und eine Entscheidung erfordert. Das ist die sogenannte revolutionäre Situation – sie ist historisch entstanden und manifestiert sich als Strukturproblem. Man kann also nicht einfach mal so „eine Revolution beschließen“, gleichsam als Gedankenspiel. Die Revolution ist, Marx zufolge, den gesellschaftlichen Bedingungen, aus denen sie hervorgeht, insofern unterworfen, als es bei ihm keine künstlichen Sprünge geben kann: Eine jede historische Phase muss sich ihrem System gemäß voll verwirklicht haben, ehe sie in die nächste revolutionär übergehen kann. Wenn wir also von den drei zentralen Phasen in der Neuzeit ausgehen, die für Marx die Abfolge der aus den materiellen Bedingungen entstandenen Produktionsweisen darstellen, lässt sich sagen, dass der bürgerliche Kapitalismus erst dann die neue gesellschaftliche Formation bilden kann, wenn sich der Feudalismus voll entfaltet, quasi sich vollendet hat. Und so auch beim Sozialismus: Er kann erst dann aus dem Kapitalismus erwachsen, wenn dieser an die Grenzen seiner Entfaltung gelangt ist, sich sozusagen überlebt hat.
Wann derlei Grenzen erreicht sind, lässt sich nicht leicht bestimmen. Klar ist aber, dass es für die Heraufkunft des Kapitalismus notwendige strukturelle Bedingungen gibt: Er hat zumindest die Industrialisierung der Ökonomie zur Voraussetzeung, mithin die Herausbildung der neuen historischen Klassen des Bürgertums und des Proletariats als Träger der neuen Produktionsmittel, sei es als herrschende, sei es als beherrschte Klasse. Der Konflikt zwischen den beiden Klassen ist Marx zufolge unausweichlich, und er ist insofern von gewichtiger Bedeutung, als im Verhältnis beider Klassen sowohl die Entfaltungsmöglichkeiten des Kapitalismus als auch sein revolutionärer Untergang angelegt sind. Für Marx war also historisch ein Sprung vom Feudalismus direkt zum Sozialismus nicht denkbar, und zwar nicht nur realgeschichtlich, sondern auch im Hinblick auf die innere Logik seiner Geschichtsphilosophie – eben die der evolutionären Entwicklung auf die revolutionäre Umwälzung hin.
Und das ist es, was Ernst Bloch im eingangs zitierten Diktum moniert: Wenn er von der Platonisierung der Marx’schen Lehre spricht, von einem „Idealismus unter der Maske von Materialismus“, dann kritisiert er nicht nur den ideologischen Verrat, den sowjetische Marxisten an der Lehre selbst begehen, sondern auch die Leugnung der nachgerade unmöglichen Bedingungen für die Etablierung eines Sozialismus im zaristischen Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seine Feststellung: „Auf den Zarismus wurde unvermittelt das kühnste, modernste, zukunftshaltigste Projekt aufgesetzt: der Marxismus, die proletarische Revolution“, besagt ja nichts anderes, als dass im noch weitgehend feudalistischen Zarismus keine Strukturbedingungen für eine sozialistische, geschweige denn kommunistische Revolution bestanden haben. Russland jener Zeit war (im Vergleich zu England, Frankreich und Deutschland) weder in einem Maß industrialisiert, das die reale Etablierung eines kapitalistischen Systems ermöglicht hätte, noch waren die gesellschaftlichen Strukturen für eine damit einhergehende Herausbildung eines den Feudalismus überwindenden Bürgertums und des ihm antagonistisch verschwisterten Proletariats gegeben.
Was das zur Folge hatte, war eine Tragödie: „Hier wurde ein Dach auf den Boden gesetzt“, sagt Bloch, „die erste Etage und die zweite fehlen völlig: wo sind da Zimmer und Räume möglich?“ Und weil Zimmer und Räume nicht möglich waren, sah sich der nicht aus Wohlstand, sondern aus materiellem Mangel und im Bewusstsein dieses Mangels hervorgegangene und etablierte Sowjetkommunismus gezwungen, mit Gewalt durchzusetzen, was historisch nicht organisch gewachsen war, um den Abstand zu dem zur vollen materiellen Blüte gelangten Kapitalismus „aufzuholen“. Forciert und im Stalinismus dann mit brachialer Oppression sollte erreicht werden, wofür es nicht die historisch gewachsenen Bedingungen gab. Das „kühnste, modernste, zukunftshaltigste“ und man mag getrost hinzufügen „humanistischste“ Projekt verkam zum System teils gnadenloser Unterdrückung. Was ausgezogen war, den Menschen zu befreien, gerann zum systematisch betriebenen Verrat an seiner Freiheit.
Was nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus als Sieg der „Freiheit“ über den „Kommunismus“ gefeiert wurde, war eine ideologische Farce. Denn einen realen historischen Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus hatte es ja nicht gegeben. Der sogenannte „real existierende Sozialismus“ war eben keiner gewesen, sondern lediglich die ideologische Verhinderung dessen, was ohnehin keine historische Chance gehabt hatte, sich zu dem zu entfalten, was es verhieß. Abgeschafft war somit nur der symbolische Gegenentwurf zum Kapitalismus, der sich nun seinerseits so austoben durfte, wie er es sich zuvor aus ideologisch aufgepeitschter Angst vor dem „Kommunismus“ nicht erlauben konnte. Nun durfte er sich auch der als Schutzschild gegen die „kommunistische“ Bedrohung gehaltenen Sozialdemokratie entledigen.
Bloch fragt am Ende des angeführten Zitats, ob es nicht „gesetzmäßig“ gewesen sei, „daß sich Theorie in dieser Praxis bis zur Unkenntlichkeit verändern mußte? Wäre dasselbe in einem westeuropäischen Land eingetreten?“ Es ist lange her, seit der marxistische Philosoph diese Frage stellte. Schwer zu sagen, ob dasselbe in einem westeuropäischen Land eingetreten wäre. Der Kapitalismus erwies sich bislang als äußerst versatil in der Handhabung seiner inneren Widersprüche und Krisen. Eher lässt sich vermuten, dass sich die sozialistische Revolution in keinem westeuropäischen Land ereignet hat, gerade weil sie vorzeitig im ihr unangemessensten aller möglichen Länder ausgebrochen war. Wahrlich – eine Tragödie in welthistorischem Maßstab.
Der Zusammenbruch des Sowjetkommunismus wirkte sich unmittelbar auf die historiographische Rezeption der Französischen Revolution aus. Dies deutete sich bereits im Jubiläumsjahr 1989 an, als der „letzte“ marxistische Revolutionshistoriker Michel Vovelle und sein revisionistisch ausgerichteter Kontrahent François Furet sich gleichsam als zwei Gladiatoren im Kampf um das Gesinnungsparadigma der Revolutionsdeutung öffentlich gegenüberstanden. Den Sieg trug offenbar Furet davon, denn nach 1990 verhallte die gesamte Geschichtsschreibung der Französischen Revolution deutlich, und zwar nicht nur die marxistische. Es erschienen kaum noch nennenswerte Bücher über die Revolution selbst, sondern – wenn überhaupt – Schriften über die Geschichte der Geschichtsschreibung der Revolution. Das Geschichtsereignis der Französischen Revolution samt seiner historiographischen Rezeption war, so will es scheinen, abgehakt. Eine neue Ära war nach dem Zerfall des Sowjetkommunismus angebrochen, in der gründlich mit der bis dahin pulsierenden Emanzipationsemphase aufgeräumt wurde, nicht zuletzt mit dem monumentalen Ereignis am Beginn der Moderne – der großen Französischen Revolution. Dies ist insofern verwunderlich, als sich das bürgerliche Zeitalter samt seiner kapitalistischen Ideologie in erheblichem Maße gerade dieser Revolution verdankte. Sic transit gloria mundi.
Die andere Dimension des Buches betraf die Genese der deutschen politischen Kultur im 19. Jahrhundert bzw. den Einfluss der Französischen Revolution auf diese Kultur. Anvisiert wurde die Entwicklung im sogenannten „Vormärz“, der Zeitspanne vor der auch in Deutschland ausgebrochenen Revolution von 1848. Diese bürgerlich-politische Revolution stand noch bevor, insofern als die Verschärfung der sozialen Gegensätze den Konflikt zwischen dem Bürgertum und den niederen, allmählich aufbegehrenden Volksschichten offen zutage legte. Von einem gereiften Klassenbewusstsein des Proletariats konnte damals noch nicht die Rede sein. Träger der Hoffnungen auf die Errichtung eines auf Volkssouveränität beruhenden Einheitsstaates und auf den damit verbundenen Sturz des auf Geburt und Herkunft beruhenden Privilegiensystems waren die deutschen Demokraten und Liberalen. Der Widerspruch zwischen der abstrakten politischen Zielsetzung und der objektiven gesellschaftlichen Entwicklung musste denn auch zu einem Scheitern der Revolution führen: Die sozialen Forderungen der Massen waren mit den politischen und konstitutionellen Postulaten des Bürgertums schlechterdings nicht vereinbar.
War die 1848er Revolution der gleichsam verspätete Versuch eines Nachvollzugs der großen Französischen Revolution, so war ihr Scheitern mit einer umso größeren Ernüchterung und einer sowohl politischen als auch geistigen Wende verbunden: Das Vordringen der Reaktion im ganzen Reich kulminierte in den bis- marckschen Siegen der 1860-er Jahre bis hin zur undemokratischen Reichseinigung „von oben“. Man darf von einer verpassten Chance reden. Denn die 1848er Revolutionäre hatten zunächst durchaus Teilsiege errungen. Was aber das Paulskirchenparlament, das die klein- bzw. großdeutsche Reichseinigung debattierte, dann zustande brachte, war eine an den preußischen König entsandte Delegation mit dem Antrag, gesamtdeutscher Kaiser werden zu wollen. Er lehnt „dankend“ ab. Nicht von ungefähr sollte später Friedrich Meinecke von deutscher „Obödienzgesinnung“ reden. Im kulturell-geistigen Leben bewirkte die misslungene Revolution eine Flucht in die subjektive Innerlichkeit einerseits und in die ideologische „Abwendung von der Welt“ andererseits. Das Scheitern der Revolution war insofern eine Tragödie, als behauptet werden darf, dass ein Erfolg der Revolution die Geschicke Deutschlands im weiteren Verlauf des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz anders geprägt, mithin die „deutsche Katastrophe“ (Meinecke) wahrscheinlich verhindert hätte.
Im August 1960 wurde Karl Jaspers vom Publizisten Thilo Koch für eine Sendung des Nord-Westdeutschen Fernsehens interviewt. Im Laufe des Interviews nannte Jaspers die Forderung der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten „politisch und philosophisch in der Selbstbesinnung irreal“, da der Gedanke der Wiedervereinigung darauf beruhe, „daß man den Bismarck-Staat für den Maßstab nimmt“: Der Bismarck-Staat solle wiederhergestellt werden, wo er doch „durch die Ereignisse unwiderruflich Vergangenheit“ sei. Die Forderung der Wiedervereinigung, sagte der Philosoph, sei eine Folge der Weigerung, anzuerkennen, was geschehen ist. Man gründe eine Rechtsforderung auf etwas, das durch Handlungen verschwunden sei, „die dieses ungeheure Weltschicksal heraufbeschworen haben und die Schuld des deutschen Staates sind“. Gerade diese Handlungen nun wolle man nicht anerkennen. Es habe also keinen Sinn mehr, die deutsche Einheit zu propagieren, „sondern es hat nur einen Sinn, daß man für unsere Landsleute wünscht, sie sollen frei sein!“
Wie erwartet, riefen seinerzeit Jaspers’ Worte, besonders der offen artikulierte Primat der Freiheit vor der Einheit, ungestüme Reaktionen hervor. Vertreter aller Parteien in der westdeutschen Hauptstadt widersetzten sich nahezu einhellig den aufgestellten Behauptungen, während in der Presse und in den elektronischen Massenmedien eine breite öffentliche Debatte entbrannte. Thilo Koch selbst moderierte wieder, etwa zehn Tage nach dem Jaspers-Interview, eine Fernseh-Gesprächsrunde über die vermeintlich provokanten Feststellungen des Philosophen. „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein trat in dieser Sendung als ausgesprochener Befürworter der Einheitsidee auf. Er behauptete wiederholt, in der gegebenen Situation sei eine „philosophische Warte“, die die Notwendigkeit zweier deutscher Staaten dekretiere, „verderblich“, zumal Jaspers es nirgendwo sichtbar gemacht habe, wieso eine moralische Verpflichtung bestehen soll, auf die Wiedervereinigung zu verzichten. Es handle sich nicht um eine philosophische Haltung, behauptete Augstein resolut, sondern um eine „pseudophilosophische Begründung“ für eine letztlich „politische Frage“, ein Argument, das von Jaspers’ „Ressentiment gegen das Bismarck-Reich“ herrühre. Augstein hob gleichwohl hervor, dass er mit Jaspers darin übereinstimme, „daß wir tatsächlich die Konsequenzen unseres Tuns, und es war unser Tun, zu tragen haben, daß wir mithaften“.
Dreißig Jahre später, im Februar 1990, drei Monate nach dem Fall der Mauer in Berlin und rund sieben Monate vor dem offiziellen Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten, wurde Augstein zu einem weiteren Fernseh-Gespräch zum Thema der Wiedervereinigung eingeladen, diesmal gemeinsam mit Günter Grass. Im Verlauf der Debatte erwies sich Grass als Befürworter von Jaspers’ alter These. Unter anderem erklärte er, Auschwitz sei für ihn „die große Schwelle, die Schamschwelle“, die mitbedacht werden müsse bei jedem politischen Versuch, in Deutschland etwas neu zu gestalten. Aus einer Konföderation der beiden Staaten, meinte er, ließe sich etwas schaffen, das sowohl „dem ersten Gebot der Freiheit Genüge tut“, als auch „eine Form von Einheit gewährleistet, die für uns erträglich ist, die mehr ist als eine bloße Wiedervereinigung und die gleichzeitig von unseren Nachbarn akzeptiert werden kann“. Demgegenüber trat Augstein als konsequenter Vertreter seiner alten Forderungen von vor dreißig Jahren auf, diesmal freilich von einer realpolitisch-nüchternen Warte argumentierend: „Der Zug“ sei ohnehin schon „abgefahren“; angesichts des DDR-Bankrotts sei die Wiedervereinigung eine zwangsläufige Notwendigkeit geworden, mag man sie nun wollen oder nicht. Auf Grass’ moralische Einwände bezugnehmend, beteuerte er, dass wohl niemand, der nicht direkt betroffen sei, Auschwitz fürchterlicher finden könne als er, dass er gleichwohl meine, man dürfe es nicht in der praktischen Politik perpetuieren; darüber hinaus sei es ohnehin nicht konstituierend „für den künftigen Lauf der Welt“.
Augsteins und Grass’ Positionen sind paradigmatisch: Man mag sie als getreue Widerspiegelung der beiden parallelen Grundpositonen ansehen, die die Wiedervereinigungspolitik der deutschen Sozialdemokratie seit Ende des Zweiten Weltkrieges prägten. Im Wiedervereinigungsjahr selbst wurden diese Positionen von Ex-Kanzler Willy Brandt einerseits und vom SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine andererseits getragen. Im Grunde aber verkörperte Willy Brandt die Synthese beider Positionen in seiner eigenen Person: Brandt, Träger des ihm in internationaler Anerkennung seiner Entspannungspolitik gegenüber dem kommunistischen Osten verliehenen Friedensnobelpreises, Brandt, der die Beziehung des „anderen Deutschland“ zu Auschwitz mit seinem berühmt gewordenen Kniefall in Warschau persönlich symbolisierte, ist derselbe in der Nacht des Mauerfalls zu Tränen gerührte Brandt, der schon im Februar 1990 die deutsche Einheit für „im Prinzip gelaufen“ erklärte, was sowohl in der Begegnung der Menschen „von unten“ als auch in der konkreten Gestalt, die die Einheit „von oben“ anzunehmen beginne, zu erkennen sei. Freilich sprach er auch eine deutliche Warnung aus: Das vereinte Deutschland werde „föderalistisch und europäisch eingebunden sein, oder es wird nicht sein“.
Es handelte sich hierbei nicht um das von vornherein gewusste Ende eines einfachen linearen Ablaufs. Willy Brandts Gestalt ist in der Tat insofern paradigmatisch, als er mehr als die meisten Politiker der bundesrepublikanischen Nachkriegsära jene „Dialektik der Normalisierung“, von der Habermas sprach, repräsentierte; er war es auch vornehmlich, der die deutsche Friedenspolitik initiierte, sie erstmals nach Osten richtete und somit zur graduellen Schlichtung der traditionellen Spannung zwischen der westlichen Sozialdemokratie und dem osteuropäischen Kommunismus beitrug. Man darf freilich nicht vergessen, dass die vierzigjährige Existenz der Bundesrepublik nicht im Zeichen der durch den Sozialdemokraten Willy Brandt vertretenen politischweltanschaulichen Tradition begann und auch nicht endete. Es war Konrad Adenauer, Haupt der konservativen Christlich-Demokratischen Union, aktiver Gestalter und herausragender Repräsentant jenes „restaurativen Klimas“ der fünfziger Jahre, der die neugegründete Republik anführte. Und es wird kein anderer sein als Helmut Kohl, der Führer derselben Partei zur Zeit des Mauerfalls und Urheber des Slogans von der „Gnade der späten Geburt“, nämlicher Kohl, der Michail Gorbatschow im Jahre 1985, auf dessen erste Versöhnungserklärungen hin, mit Joseph Goebbels verglich und den offiziellen Besuch mit Ronald Reagan auf dem Bitburger Friedhof der SS-Soldaten veranstaltete, der als „Einheitskanzler“ in die Geschichte eingehen wird.
Insofern man die Vereinigung der beiden deutschen Staaten als eine Art historischen „Schlussstrich“ des sogenannten „deutschen Sonderwegs“ auslegt, erweist sie ihre Relevanz auch für das hier erörterte Thema. In seinem 1990 veröffentlichten Buch „Volk ohne Zeit“ stellte Lothar Baier folgende Behauptung auf: „Die Berliner Mauer, obgleich ein Erzeugnis des Kalten Krieges, wurde von vielen, bewußt oder unbewußt, als ein Bauwerk wahrgenommen, das in einem unbestimmten Zusammenhang mit Auschwitz stand, jedenfalls ein Symbol der fortdauernden und im Hinblick auf die Schwere des Verbrechens nicht übertriebenen Bestrafung akzeptiert werden konnte“. Seit der Nacht der Maueröffnung und angesichts der „bevorstehenden Lösung“ der historischen „deutschen Frage“ erübrige sich jedoch die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit: „Keine Klage mehr über verpaßte historische Chancen und verhängnisvolle Sonderwege“. Das, so will es scheinen, war des Pudels Kern: In der Tat stellte sich die DDR den deutschen Linken seit jeher vornehmlich als eine opportune Fläche für die Projektion der aus der deutschen Vergangenheit zu ziehenden historischen Lehren dar. Als nun aber diese Lehren gleichsam objektiv „revidiert“ wurden, als sich unzweideutig herausstellte, wer als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen war, kurz, als sich der ostdeutsche Staat (aus „eigenem Willen“) in vermeintliches Wohlgefallen auflöste, wurde der politischen Linken das Wenige, das sie noch hatte, weggenommen: die Projektionsfläche, deren sie sich bei ihrer zukunftslosen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bedient hatte. Dies verwundert keineswegs, denn nachdem sich die ehemalige Neue Linke (die in ihren außerparlamentarischen Glanzzeiten noch sehr wohl zu begründen wusste, warum man vom Faschismus zu schweigen habe, wenn man nicht vom Kapitalismus reden will) etabliert und in ein rosa-grün linkelndes Konglomerat verwandelt hatte, gliederte sie sich nicht nur alsbald ins Lager der deutschen Sozialdemokratie ein, sondern richtete sich insgesamt recht komfortabel im kapitalistischen Establishment der Berliner Republik ein. Nicht von ungefähr meinte denn der Publizist Ulrich Greiner, etwa zwei Jahre nach der Vereinigung, lakonisch, die deutsche Linke gäbe es nicht mehr.
Somit war auch die weitere Beschäftigung mit dem, was den anderen Aspekt des vorliegenden Buches ausmacht (die historische Genese der politischen Kultur der Deutschen in der Moderne) insofern obsolet geworden, als man sich nicht mehr mit „verhängnisvollen Sonderwegen“ zu befassen hatte. Die Auseinandersetzung mit dem autoritären Charakter, ein zentrales Moment der in diesem Buch offerierten Diagnose dieser politischen Kultur und des sich von ihr ableitenden antirevolutionären Sonderwegs, war schon in der Nachkriegszeit – im Wirken der Frankfurter Schule, der Politpraxis der Neuen Linken und durch den kritischen Impakt, den sie auf die öffentliche Sphäre der alten BRD ausgeübt hatten – sozusagen abgehandelt worden, konnte mithin abgehakt werden.
Stimmt das so? Können die im vorliegenden Band herausgearbeiteten und erörterten historischen Strukturmomente ad acta gelegt werden? Das kann und soll hier nicht beantwortet werden. Denn die Beantwortung der Frage nach Kontinuitäten der modernen deutschen Geschichte, nach subkutanen Erbschaften, nach überwunden Geglaubtem und tatsächlich Aufgehobenem bedürfte einer eigenen komplex-diffizilen Forschung, eines eigenen Buches.
Moshe Zuckermann
Mai 2021
»[…] Franzosen und Briten sind von Natur
Ganz ohne Gemüt; Gemüt hat nur
Der Deutsche, er wird gemütlich bleiben
Sogar im terroristischen Treiben.
Der Deutsche wird die Majestät
Behandeln stets mit Pietät.
In einer sechsspännigen Hofkarosse,
Schwarz panaschiert und beflort die Rosse,
Hoch auf dem Bock mit der Trauerpeitsche
Der weinende Kutscher - so wird der deutsche
Monarch einst nach dem Richtplatz kutschiert
Und unterthänigst guillotiniert.«
Heinrich Heine
Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der historiographischen Rezeption der Französischen Revolution im deutschen Vormärz. Sie berührt somit einen bestimmten Aspekt jenes umfassenderen Themas, das die Beziehung der Deutschen im 19. Jahrhundert zur Revolution als einer Möglichkeit wirklicher politischer und sozialer Veränderung zum Inhalt hat. In diesem Sinne wird Frankreich und Deutschland eine paradigmatische Bedeutung zugeschrieben, derzufolge Frankreich als Archetyp eines Revolutionslandes aufgefaßt wird, wohingegen Deutschland ein durch den sogenannten »Sonderweg«1 gekennzeichnetes Staatswesen symbolisiert, ein Land also, in dem sich keine erfolgreich abgeschlossene politische Revolution ereignet hat.
Dieser Gesichtspunkt, das Spezifische am Verlauf der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert, ist an sich in großem Maße umstritten, da dem »Endpunkt« jenes »Weges«, dem nationalsozialistischen Regime im 20. Jahrhundert, die Funktion eines Kriteriums beigemessen werden muß, das bei keinem Versuch, diesen Weg erklären zu wollen, ignoriert werden kann2. Es läßt sich behaupten, daß sich das Forschungsfeld der modernen deutschen Geschichte seit 1945 im Zeichen der Debatte über die Frage bewegt, welche politische und soziale Bedeutung der Tatsache zuzuschreiben sei, daß Deutschland, im Gegensatz zu den meisten westlichen Ländern, ein Land ohne erfolgreiche bürgerliche Revolution geblieben ist, und ob zwischen diesem Sachverhalt und dem, was Meinecke als »die deutsche Katastrophe« bezeichnet, eine Verbindung herzustellen sei3.
Man kann die in dieser Hinsicht vertretenen Positionen in zwei historiographische Hauptlager unterteilen und ein drittes, das sich in den letzten Jahren herangebildet hat, hinzufügen:
1. Das erste Lager vertritt die Anschauung, Deutschlands »revolutionsloser« Weg sei gerechtfertigt gewesen – habe er doch bewiesen, daß sich sowohl der graduelle Übergang von einer feudalistisch strukturierten in eine industrialisierte bürgerliche Gesellschaft als auch der Eintritt in die nationalstaatliche Phase ohne eine gewaltsame Revolution vollziehen ließ. Das Dritte Reich wird aus dieser Sicht nicht als Resultat der vorangehenden Entwicklung aufgefaßt, sondern vielmehr als eine Art »Betriebsunfall«.
2. Das zweite Lager erblickt gerade im deutschen Faschismus ein gültiges historisches Kriterium für die Fehlentwicklung der deutschen Gesellschaft und erkennt in der von Plessner4 so genannten »Verspätung« der deutschen Nation auf wirtschaftlicher und politischer Ebene sowie in ihrer »Revolutionslosigkeit« unheilvolle Determinanten der Folgen dieser Fehlentwicklung im 20. Jahrhundert5.
3. Das dritte historiographische Lager ist bestrebt, die den obigen Positionen eigenen ideologischen Spitzen abzubiegen, um »Mythen deutscher Geschichte« sozusagen »wissenschaftlich« zu widerlegen. Zwar ignoriert diese Richtung den Nationalsozialismus nicht unbedingt, sie konzentriert sich indes vorwiegend auf die Darstellung der doch auch im monarchistischen Deutschland des 19. Jahrhunderts herangereiften bürgerlichen Gesellschaft sowie auf die Untersuchung der historischen Zulänglichkeit des Begriffs vom »a-politischen Deutschen«6.
Dem ist nicht zu entnehmen, daß die hier gerafft umrissenen historiographischen Bezüge offen als politisch-ideologische Bekenntnisse ausgegeben würden; fast keiner der sich mit der Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert beschäftigenden Historiker nimmt auf den Nationalsozialismus ausdrücklichen Bezug. Und dennoch: Da man nicht annehmen kann, daß auch nur einer von ihnen die späteren Fakten als Gegebenheit der Chronik aus seinem Bewußtsein auszumerzen vermag (und es ist hierbei von geringer Bedeutung, ob diese Fakten als integraler Bestandteil der Gesamtentwicklung aufgefaßt werden oder nicht), erzwingt das Wissen a posteriori die Konfrontation der vorausgegangenen Ereignisse und Entwicklungsstrukturen aus irgendeiner Position – mit anderen Worten: Der sich seit 1945 mit der modernen deutschen Geschichte auseinandersetzende Historiker kann sich nicht einer Position entziehen, die ihrer Tendenz nach eine Bezugnahme zum Nationalsozialismus als gegebener Tatsache in der Gesamtchronik seines Forschungsobjektes inkorporieren muß. Die ideologische Komponente dieser immanenten Position ist im Modus der inhaltlichen Verknüpfung enthalten, welche der Historiker zwischen dem Ereignis selbst und der ihm vorausgehenden Entwicklung schafft bzw. in der Bedeutung, die er dieser früheren Entwicklung beimißt, selbst dann, wenn er den Nationalsozialismus nicht explizit erwähnt7. In diesem Sinne besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Historiker, der am Ende des 19. Jahrhunderts über die Einigung Deutschlands schreibt, und dem Historiker, der sich mit diesem Thema heute beschäftigt. Der heutige Historiker, der sich des Entwicklungsganges seit der von Bismarck oktroyierten Einigung bewußt ist, wird sich (und sei es indirekt) mit der Problemstellung auseinandersetzen müssen, ob es eine wie auch immer geartete Verbindung gibt zwischen dieser autoritären politischen Lösung der »deutschen Frage«, dem autoritären Regime der wilhelminischen Zeit8, den imperialistischen Bestrebungen, die – unter anderem – zum Ersten Weltkrieg führten9, dem zögernden Eintritt in die Weimarer Republik10 und eben der Etablierung der hitlerischen Terrorherrschaft.
Es sei schon an dieser Stelle angemerkt, daß wir eine solche Verbindung für unsere weiteren Überlegungen voraussetzen. Unserer Auffassung nach läßt sich kein historisches Ereignis von seinen historischen Prädispositionen trennen, auch dann nicht, wenn diesem Ereignis im nachhinein das Attribut eines »Wendepunktes« zugeschrieben wird. Dieser Sichtweise gemäß muß also die »Revolution von oben« der Jahre 1870/71 vor allem mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 oder auch, allgemeiner ausgedrückt, mit dem sogenannten »gestörten Verhältnis der Deutschen zur Revolution« in Verbindung gebracht werden11. So besehen beschäftigt sich die vorliegende Untersuchung mit dem Symptom einer sowohl strukturellen als auch mentalen Entwicklung, die wir als determinant für die gesellschaftliche und politische Kristallisierung Deutschlands im Verlauf des 19. Jahrhunderts bis hin zur nationalsozialistischen Herrschaft erachten.
Dies will wohlverstanden sein: Unsere Auffassung des Nationalsozialismus als Kriterium für die Wesenserfassung der Entwicklung Deutschlands in der modernen Zeit postuliert nicht eine deterministisch vorgegebene, quasi unumgängliche »historische Notwendigkeit«. Die von uns anvisierte historische Epoche weist mehr als genug alternative Optionen12 auf; dennoch läßt sich der Tatbestand nicht ignorieren, daß die republikanischen und demokratischen Möglichkeiten, welche in verschiedenen Phasen die Matrix für eine sozio-politische Selbstbestimmung hätten abgeben können, nicht wahrgenommen worden sind. Man kann dies natürlich mit der Konstellation der »partikularen Umständen« einer jeden Phase erklären wollen; wir hingegen meinen, daß wenn sich eine lange Reihe solcher »Konstellationsumstände« nachweisen läßt, die sich jedesmal durch die Nichtwahrnehmung der emanzipatorischen Möglichkeit auszeichnen, man eher von einem Verhaltensmuster (Pattern) reden sollte. Gemeint ist nicht ein Pattern, das wir (als die nachkommenden Betrachter) den Entwicklungsstrukturen deutscher Geschichte in den letzten 200 Jahren im nachhinein zuschreiben, sondern jene Pattern, welche der politischen Handlungsweise des Kollektivsubjekts »Deutschland« als Grundlage dienten, und jene Entwicklungsabläufe (unter anderem) selbst in Gang setzten.
Der Begriff »Kollektivsubjekt« erfordert eine nähere Erörterung. Selbstverständlich handelt es sich bei Begriffsverwendungen wie »Deutschland« oder »die Deutschen« um Verallgemeinerungen, die spezifische Unterschiede in einem solchen Maße verwischen können, daß man ihre Tauglichkeit als analytisches Instrumentarium nachgerade bezweifeln möchte. So ließe sich z.B. in dem von uns behandelten Zusammenhang behaupten, daß die in Deutschland damals existierenden Klassen- und ideologischen Unterschiede, die man im Rahmen einer Rezeptionsanalyse der Revolution wohl nicht außeracht lassen sollte, mit einer solchen Verallgemeinerung übergangen würden. Diesem Einwand ist folgendes entgegenzusetzen:
Erstens: Wir verwenden Begriffe wie »Deutschland« oder »die Deutschen« als Kategorien zur Unterscheidung der von uns untersuchten Gruppe von anderen Kollektivwesen, wie »Frankreich« oder »die Franzosen«. Die Validität eines solchen verallgemeinernden Vergleichs ergibt sich vorrangig aus dem historischen Kriterium, das wir in Beziehung auf beide Nationen applizieren: In der einen hat die Revolution stattgefunden, und es entstand in ihr gar eine politische Revolutionstradition, wohingegen die andere in ihrer modernen Geschichte keine erfolgreich abgeschlossene Revolution zu verzeichnen hat, und es etablierte sich in ihr eher eine »politische Kultur«, die von je darauf aus war, die Revolution zu umgehen.
Zweitens: Was die innerdeutsche soziale Schichtung anbelangt, so gilt unser Hauptinteresse dem von der Aristokratie allgemein und vom Hofadel besonders abgegerenzten »Bildungsbürgertum«. Diese Kategorie (und speziell die ihr angehörende Intelligenzschicht) wird von uns als eine Art pars pro toto des gesamten Bürgertums aufgefaßt13, und zwar vor allem deshalb, weil in der hier zur Deabatte stehenden Epoche noch keinerlei scharfe ideologische Trennung zwischen den unterschiedlichen Teilen dieser gesellschaftlichen Klasse auszumachen ist. Dies soll keineswegs besagen, es habe damals nicht schon klare sozio-ökonomische Unterschiede gegeben; da sich aber der Industrialisierungsprozeß noch in den Anfängen befand, kann man gewiß nicht von einer bewußten Polarisierung der Klassenideologien sprechen, und in jedem Fall haben besagte Unterschiede keinen Niederschlag in konträr entgegengesetzten, fest umrissenen politischen Programmen gefunden.
Andererseits bildete die Intelligenz als wohl prägnanteste Gruppe innerhalb des Bildungsbürgertums, ähnlich wie in anderen Ländern des 19. Jahrhunderts, auch in Deutschland die Speerspitze der politischen und sozialen Kämpfe. In dieser Hinsicht kommt ihrer politischen Aktivität gerade in Deutschland eine doppelte Funktion zu: Ihr politischer Kampf hat objektiv einen Klassencharakter14, und sei es wegen ihrer sozialen Zugehörigkeit zur Kategorie »Bürgertum«; aber es ist auch der klassenlose Kampf der, von Karl Mannheim so genannten, »freischwebenden Intelligenz«, d.h. also in unserem Fall jener Gebildetenschicht, die in besagter Epoche aus dem Glauben an Ideale und Grundsätze der Aufklärung gegen die politische Realität räsoniert. Wir werden die spezifische Situation dieser Schicht in Deutschland noch genauer zu betrachten haben, es läßt sich indes jetzt schon behaupten, daß der Charakter ihrer politischen Aktivität sowohl von der immanenten Marginalität einer »auf dem Zaun sitzenden« Intellektuellengruppe als auch von der bürgerlich sozialen Herkunft dieser Schicht, welche sich in ihrer Selbstbestimmung sowohl vom Adel als auch von den »unteren Schichten« unterschieden wissen wollte, stark beeinflußt war.
Mehr noch: Die Verwendung verallgemeinernder Begriffe ist gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften höchst verbreitet, denn sie ist letztlich unumgänglich. Denkt man sich nämlich die soziale Realität atomistisch, d.h. als umfassende Zusammensetzung einer Vielzahl von Individuen, so ist jeder Versuch, auch nur einen Teil dieser Realität vernünftig erfassen zu wollen, von vornherein und unweigerlich an einer begrifflichen Verallgemeinerung bzw. an eine Unterteilung in Kategorien gekettet, deren Erklärungsvalidität von der Definition abhängt, die man dem zu erforschenden Objekt nach logischen Erwägungen und methodologischen Zwängen zukommen läßt, Erwägungen, die im Grunde aber nichts anderes sind als das Erzeugnis eines wertbeladenen (sehr oft ideologischen) Ausgangspunktes in der Auffassung des Forschers. Der Grad der Annehmbarkeit besagter Definition und der von ihr abgeleiteten begrifflichen Verallgemeinerung innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde ist Funktion eines konjunkturbedingten Konsenses, welcher selber jederzeit angesichts eines bevorstehenden Paradigmenwechsels zersetzt werden kann, oder er existiert von vornherein erst gar nicht infolge der die Wissenschaftsgemeinde selbst beherrschenden ideologischen Differenzen. So z.B. unterscheidet sich der »Klassen«-Begriff der marxistischen Theorie von der der struktur-funktionalen Schule; beiden Strömungen gemeinsam ist jedoch der unumgängliche Gebrauch einer verallgemeinernden Abstraktion des Begriffes selbst zwecks Formulierung einer Theorie über das Wesen sozialer Prozesse. Die diesbezüglich mögliche Einwendung, eine Theorie sei nicht gültig, wenn sie nicht empirisch überprüfbar sei, verliert zumindest einiges von ihrer Eindeutigkeit, sobald man sich gezwungen sieht, den Bereich sogenannter »harter Variablen« zu verlassen, um sich mit Parametern wie »Image«, »Ansehen« u.s.w. auseinanderzusetzen; es stellt sich dann nämlich heraus, daß auch der zur Überprüfung der Abstraktion und ihrer Gültigkeit bestimmte Apparat mit Begriffen angefüllt ist, die in nichts anderem als den (wertbeladenen) Erwägungen des Forschers wurzeln.
Wir betonen all dies, um herauszustreichen, daß es vor der Verallgemeinerung und der auf ihr gegründeten Abstraktion praktisch kein Entrinnen gibt15. Gleiches trifft auch für die Geschichtswissenschaft zu16, obwohl deren Selbstbestimmung als idiographische Wissenschaft die Vorstellung erwecken könnte, daß dem nicht so sei. Letztlich besitzt diese Wissenschaft kein wirklich eigenständiges Erkenntnis- und Erklärungsvermögen17; sie kann sich lediglich auf das Grundpostulat berufen, daß die von ihr angegangenen Phänomene sich genetisch aus den ihnen chronologisch vorangegangenen Faktoren entwickelt hätten, d.h. also, daß alle menschlichen Erscheinungen aus ihren historischen Prädispositionen heraus zu verstehen seien. Dieses (an sich richtige und nicht unwichtige) Postulat läßt sich indes nur dann umsetzen, wenn man sich in der Analyse besagter Erscheinungen und deren Prädispositionen auf theoretische Erwägungen stützt. Akzeptiert man aber diese Voraussetzung, so wird es leicht verständlich, wieso sich »das deutsche Bürgertum« als »Kollektivsubjekt« begreifen läßt, ohne daß man deshalb den Nachweis gleichen Verhaltens, identischen Handelns oder gar Denkens aller ihm zugeordneten Individuen erbringen müßte – genauso wie es müßig, ja überflüssig erscheinen muß, beweisen zu wollen, daß jeder der Jakobiner oder der Aristokraten in der Französischen Revolution sich in Übereinstimmung mit der Tendenz verhielt, die man diesen Gruppen in den unterschiedlichen historischen Situationen gemeinhin zuzuschreiben pflegt. Für gewöhnlich sehen wir die häufig auftretende und herausragende Neigung im Verhalten einer Gruppe als deren Charakteristikum an, und die Abweichungen von ihr werden als negative Bestätigung der allgemeinen Tendenz verstanden, als eine Art kontrapunktische Affirmation des Charakteristischen18. Es läßt sich natürlich einwenden, daß es gerade die dieser allgemeinen Tendenz innewohnenden partikularen Unterschiede seien, welche die historische Aussage beleben, sie interessant machen. So wahr dies an sich sein mag, meinen wir demgegenüber, daß das zur Debatte stehende Erklärungsvermögen historischer Aussagen primär in jenen Strukturen, Tendenzen und Mustern, die wir in dem erforschten Phänomen auszumachen vermögen, zu suchen sei, ohne daß dabei der Individualität des Phänomens Abbruch getan werden muß.
Eines der in der Historiographie moderner deutscher Geschichte und im Rahmen der Debatte um das sogenannte »gestörte Verhältnis der Deutschen zur Revolution« am häufigsten erwähnten sozialpsychologischen Verhaltensmuster (wir verwenden künftig den treffenderen englischen Begriff »Pattern«) ist die von Meinecke als »Obödienzgesinnung«19 umschriebene Beziehung deutscher »Untertanen« zur »Obrigkeit«, oder breiter formuliert: das autoritäre Verhältnis der Deutschen zur Autorität. Bereits im Jahre 1918 hat Heinrich Mann diesem autoritären Verhalten in der exemplarischen Gestalt des Diederich Heßling ein eindrucksvolles literarisches Denkmal gesetzt20. Einen besonderen Impetus erhielt die Auseinandersetzung mit diesem Thema aber erst nach 1945, als das akute Bedürfnis aufkam, die Entwicklung, welche zum Dritten Reich, zur Unterwerfung des deutschen Volkes unter das autoritäre Nazi-Regime, geführt hatte, »erklären« zu wollen. Aber die in diesem Zusammenhang etablierte Charakteristik des Autoritären implizierte oft nicht viel mehr als schnöde Stigmatisierung, sodaß sie letzten Endes als leicht abgegriffene Phrase in den gängigen strukturorientierten Faschismustheorien absorbiert wurde und unterging. Die in dieser Charakteristik enthaltene mentale Grundlage verlor somit vollends ihre Gültigkeit und verkümmerte zugunsten einer sich zunehmend ausbreitenden, nach rein politisch-ideologischen Gesichspunkten klassifizierenden und wertenden Ausrichtung. Die Frage, wie es passiert war, daß sich das deutsche Volk dem autoritären Nazi-Regime unterworfen hatte, wurde (unter Heranziehung der Beschaffenheit von Umständen, der Analyse von Machttrukturen und der Darstellung von Repressionsmechanismen) vor allem als eine Frage des Systems thematisiert; so bedeutend die in diesem Zusammenhang gemachten Aussagen gewesen sein mögen, führten sie doch zu einer um sich greifenden Vernachlässigung der sozialpsychologischen Dimension dieser Fragestellung; man meinte, das zur Debatte stehende Phänomen könne durch sie nicht erklärt werden, befürchtete aber auch darüberhinaus die pauschalisierend stigmatisierende Gefahr eines irrationalen Determinismus, der sich in eine solche Erklärung einschleichen könnte.
Eine Sonderstellung nahm in dieser allgemeinen Entwicklung die Frankfurter Schule21 ein. Ihre Gründer, die die multidimensionalen Grundlagen der Faschismus-Erscheinung im 20. Jahrhundert analytisch anzugehen versuchten, schufen eine theoretische Synthese zwischen der marxistischen Gesellschaftslehre und der Psychoanalyse mit der Zielsetzung, die Verknüpfung der sozialen und mentalen Faktoren des Phänomens systematisch zu untersuchen. Nicht von ungefähr wurde hierbei besondere Aufmerksamkeit dem Wesen des Autoritären und den autoritären Charakterstrukturen der faschistischen Persönlichkeit geschenkt.
In der vorliegenden Untersuchung stützen wir uns weitgehend auf das grundlegende Paradigma dieser Schule. Bevor wir jedoch die ihm unterlegten theoretischen Erwägungen vorstellen, müssen wir kurz bei einem Schlüsselproblem verweilen, das sich schon aus der Verbindung zweier vermeintlich so extrem konträrer Lehren stellt22. Es erhebt sich nämlich in diesem Zusammenhang die Frage, ob es überhaupt möglich sei, ein Begriffssystem, das das Verhalten des Individuums zu erklären vorgibt, auf die Analyse der Verhaltensmuster sozialer Kollektive anzuwenden; oder anders ausgedrückt: Mit welchem Gültigkeitsanspruch kann man vom Verhalten einzelner Individuen auf das Wesen gesellschaftlicher Prozesse schließen?
Soweit bekannt, gibt es kein einziges, allgemein akzeptiertes theoretisches Modell, das dieses mit einer sehr langen Diskurstradition befrachtete Problem, philosophisch gesehen, umfassend angegangen wäre oder gar endgültig gelöst hätte. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist die sich um diese Fragestellung zuspitzende soziologische Debatte zu einer Art Höhepunkt in der Form einer Polarisierung der in Emile Durkheims und Max Webers Lehren verkörperten Paradigmen gelangt. Der um die Erfassung des Wesens des gesellschaftlichen Gebildes und der sich aus ihm ableitenden Prozesse bemühte Franzose ging von der Annahme eines a priori existierenden, das Verhalten des Individuums determinierenden sozialen Körpers aus. Der Wille, die Wünsche und somit auch das Verhalten des Individuums sind (dieser Auffassung zufolge) als Ableitungen jenes vom Einzelnen introjizierten und zu einer Art »höheren Natur« seiner selbst gewordenen sozialen Wesens zu verstehen. Aus dieser Sicht wird also das als Teil des sozialen Kollektivs gedachte Individuum von dessen Institutionen beherrscht und überwacht. Demgegenüber ging Weber davon aus, daß das Wesen sozialer Prozesse gar nicht zu begreifen sei, wenn man nicht das Handeln des »Einzelmenschen«, die diesem Handeln zugrunde liegende Entscheidung und die sich in ihr widerspiegelnden Werturteile zum Ausgangspunkt wählt. Der soziale Körper verändert sich unentwegt im Verlauf historischer Prozesse, welche aber widerum letztlich als unzählige Handlungen von Einzelmenschen zu begreifen seien. Die in diesen Prozessen auszumachenden Strukturen und Pattern sind zunächst vor allem Konzeptionen im Bewußtsein dessen, der sie betrachtet und zu verstehen beansprucht: Sie beschreiben nicht die in unzählig vielen Schichten gestaffelte soziale Realität, sondern repräsentieren vielmehr lediglich einen Teil dieser, einen Teil freilich, der das theoretische Verstehen der Strukturen ermöglichen soll. Die soziale Wirklichkeit läßt sich nicht voll erfassen, und in keinem Fall darf ihr eine a priori wirkende, determinierende Kraft zugeschrieben werden; da sie als ein Resultat menschlichen Handelns zu verstehen sei, ist sie auch gewissermaßen kontingent.
Diese im Rahmen der soziologischen Disziplin etablierten, konträr entgegengesetzten Auffassungen verzweigten sich im 20. Jahrhundert in zunehmenderem Maße selbst, sodaß ein Konsens hinsichtlich des Wesens der Soziologie oder gar des sozialen Körpers in immer weitere Ferne zu rücken scheint, zumal die allumfassenden Gesellschaftstheorien der »klassischen« Periode einiges von ihrer Anziehungskraft eingebüßt haben. Ähnliches läßt sich von den Entwicklungen im Bereich der Psychologie behaupten, und es sei hier lediglich auf die paradigmatische Diskrepanz zwischen den Anhängern der Freudschen Tiefenpsychologie und denen des positivistisch ausgerichteten behavioristischen Ansatzes hingewiesen. Obwohl sich jedoch die innerdisziplinären Divergenzen nicht überbrücken ließen, entstand eine Art stillschweigende Übereinstimmung, was die Aufteilung des Forschungsfeldes unter den Disziplinen anbetrifft: Die Psychologie – so das Klischee – untersucht das Individuum und die Soziologie das gesellschaftliche Kollektiv. Dem ungelösten theoretischen Problem der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft wurde somit eine quasi institutionelle Lösung zugetragen, indem sich eine künstliche Teilung zwischen den verschiedenen Bereichen offizell etablierte.
Es stellte sich indessen heraus, daß eine solche »Lösung« dem Bedürfnis nach konzeptueller Synthese nicht nachkommen konnte. In den letzten Jahrzehneten begannen sich denn auch interdisziplinäre Fachbereiche heranzubilden; so z.B. die Sozialpsychologie, welche sich ihrerseits sowohl an den mikrosoziologischen Studien eines Georg Simmel oder George H. Mead als auch auf den Grundannahmen und Erkenntnissen der rein psychologisch ausgerichteten Forschung orientiert. Indem er sich auf die enge Verknüpfung der individuellen psychischen Welt (samt der ihr entspringenden Verhaltensmuster) mit der objektiven sozialen Realität (samt den in ihr auszumachenden strukturellen Prozesse) konzentriert, überbrückt dieser Forschungsansatz zwar die künstliche Teilung zwischen den pseudoautonomen Entitäten »Individuum« und »Gesellschaft«, er beschränkt sich jedoch gemeinhin auf die Sphäre sichtbarer Erscheinungen und auf rein kognitive Aspekte. Er kettet sich also an eine positivistische Sicht des Problems »Mensch und Gesellschaft« und vermeidet es, sich mit den »irrationalen«, d.h. unbewußten, Dimensionen sozialen Verhaltens und dessen psychisch-individuellen Quellen auseinanderzusetzen.
Es ist nun dieser Aspekt, auf den sich die »Kritische Theorie« der Frankfurter Schule23 (und besonders jener sich mit dem »autoritären Charakter«24 beschäftigenden Teil in ihr) bezieht. In der Einleitung zur deutschen Ausgabe der »Authoritarian Personality« vermerkt Adorno in diesem Zusammenhang die Anlehnung der in diesem Buch präsentierten Untersuchungen an der Hypothese, daß »die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ›Mentalität‹ oder einen ›Geist‹ zusammengehaltenes Denkmuster bilden, und daß dieses Denkmuster Ausdruck verborgener Züge der individuellen Charakterstruktur ist.«25 Zwar ist Adornos Hauptaugenmerk auf das von ihm sobenannte »potentiell faschistische Individuum« gerichtet, wir meinen jedoch, daß die der forschungsmäßigen Auseinandersetzung mit dem Phänomen unterlegten theoretischen Erwägungen ihre Gültigkeit auch auf einer umfassenderen Ebene bewahren. So läßt es sich grundsätzlich behaupten, daß jede Untersuchung, die dem »Problem politischer Typen« nachgeht, einer Unterscheidung zwischen der Konzeption der »Ideologie« und der »der ihr zugrundeliegenden menschlichen Bedürfnisse« bedarf.26 Akzeptiert man die Definition der Ideologie als ein »System von Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen«, als »eine Denkweise über Mensch und Gesellschaft«, so ist es ein leichtes, Adornos Verknüpfung beider Konzeptionen beizupflichten:
»Wir können von der Gesamtideologie eines Individuums sprechen oder von seiner Ideologie in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens: Politik, Wirtschaft, Religion, Minderheiten und anderes. Ideologien bestehen, unabhängig vom Einzelnen, und die Ideologien bestimmter Epochen sind ebenso Resultat historischer Prozesse wie des sozialen Geschehens. Je nach dem individuellen Bedürfnis und dem Ausmaß, in dem dieses befriedigt wird oder unbefriedigt bleibt, haben sie für die einzelnen Individuen verschieden starke Anziehungskraft.«27
Die Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen, welche Bestandteile des ideologischen Systems des Einzelnen sind, artikulieren sich zwar mehr oder weniger offen, psychologisch gesehen bleiben sie indes »an der Oberfläche«. Die Reaktion des Individuums auf emotional geladene Fragen hängt von dessen spezifischer Situation ab; in bestimmten Fällen können sich daher »Diskrepanzen« ergeben »zwischen dem, was er sagt und dem, was er ›wirklich denkt‹«. Adorno betont, daß besondere Wichtigkeit der Erfassung jener »verborgenen Tendenzen« zukomme, welche das Individuum nicht nur vor seiner Umgebung, sondern auch vor sich selbst verbirgt, weil angenommen werden könne, daß genau hier »das Potential für demokratische oder antidemokratische Ideen und Handlungen in entscheidenden Situationen liegen.«28 In diesem Zusammenhang stellt sich denn auch die Frage hinsichtlich einer Unterscheidung zwischen der verbalen und der praktischen Dimension der Ideologie. Zwar ist es klar, daß sie beide von der jeweiligen spezifischen sozio-ökonomischen und politischen Situation des Einzelnen abhängen; dies reicht jedoch nicht zur Erklärung hin, da sich offenbar die einzelnen Individuen wesentlich in ihrer Bereitschaft zur Tathandlung unterscheiden. Das Problem der »Potentialität« muß also näher beleuchtet werden.
Es wird von der Annahme ausgegangen, daß »ideologische Aufnahmebereitschaft, Verbalideologie und Ideologie in Aktion«, trotz der zwischen ihnen möglichen Unterschieden, Elemente einer einzigen gesamten Struktur seien – und zwar hauptsächlich deshalb, weil diese Elemente, vom psychologischen Standpunkt aus gesehen, logisch miteinander verbunden sind. Jeder Versuch, einer solchen Struktur beizukommen, ist daher unweigerlich gekettet an die Analyse des von Adorno sobenannten »Gesamtcharakters«, welchen er als »eine mehr oder weniger beständige Organisation von Kräften im Individuum, die in den verschiedenen Situationen dessen Reaktionen und damit weitgehend das konsistente Verhalten – ob verbal oder physisch – bestimmen« definiert; er fügt hinzu:
»So konsistent das Verhalten jedoch sein mag, es ist nicht gleich Charakterstruktur; der Charakter liegt hinter dem Verhalten und im Individuum. Die Kräfte im Charakter sind nicht Reaktionen, sondern Reaktionspotential […]. Gehemmte Charakterkräfte gehören tieferen Schichten an als jene, die sich unmittelbar und konsistent im Verhalten manifestieren.«29
Adorno bemerkt, daß sich diese Theorie zur Charakterstruktur »eng an Freud«30 anlehne; die Charakterkräfte hat man daher als »Bedürfnisse«, d.h. also als »Triebe, Wünsche [und] emotionale Impulse« zu begreifen. In diesem Sinne läßt sich der Charakter in seiner Funktion als »Organisation von Bedürfnissen«, welche auf die Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen des Einzelnen einwirken, als »Determinante ideologischer Präferenzen« betrachten, jedoch nicht als »endgültige Determinante«.31 Adorno hebt ausdrücklich hervor, daß der Charakter nie von vornherein gegeben sei, sondern sich unter dem Druck der Umweltbedingungen heranbilde, und dies um so gründlicher, »je früher sie in der Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Rolle spielten«; da also die Genese des Charakters in entscheidendem Maß vom Erziehungsprozeß und der häuslichen Umgebung des Kindes geprägt wird, muß man wirtschaftlichen und sozialen Faktoren eine tiefe Einflußnahme auf diese Entwicklung beimessen32; denn:
»Nicht nur folgt jede Familie hier den Gewohnheiten der eigenen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppe, auch ökonomische Faktoren beeinflussen das Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind. Umfassende Veränderungen in sozialen Bedingungen und Einrichtungenwirken sich daher unmittelbar auf die innerhalb einer Gesellschaft entstehenden Arten von Charakterstrukturen aus.«33
In theoretischer Hinsicht hat man die hier beschriebene Wechselwirkung zwischen individuell-psychischen Prädispositionen und historisch-sozialen Bedingungen als Schlüsselpunkt zu begreifen. Die Annahme einer solchen Wechselwirkung ermöglicht nicht nur die anlogisierende Parallelisierung individuellen und kollektiven Verhaltens34, sondern überbrückt auch darüberhinaus die Diskrepanz zwischen den ontologischen Konzeptionen vom Individuum und von der Gesellschaft, indem sie erklärt, durch welches Element die Individuen im kollektiven Rahmen aneinandergebunden werden und somit die Erhaltung des Kollektivs erst möglich machen. Erich Fromm drückt dies wie folgt aus: »Es sind die libidinösen Kräfte der Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der großen gesellschaftlichen Ideologien in allen kulturellen Sphären beitragen.«35 D.h. also, dieselben Kräfte, von denen wir behaupteten, sie formierten den Charakter in der individuellpsychischen Sphäre, sind es auch, die jenen »Kitt« bilden, welcher auf die interpersonellen Beziehungen, auf das kollektive Leben also, einwirkt; diese Kräfte sind jedoch selbst von der sozialen Realität beeinflußt, in deren Rahmen sie sich zur Charakterstruktur entfalten. In diesem Sinne kann Adorno die Charakterstruktur als »eine Agentur« definieren, welche »soziologische Einflüsse auf die Ideologie vermittelt«.36
Diese Konzeption schreibt demnach der »Charakterstruktur« eine duale Natur zu. Sie enthält eine passive Seite, welche die Erscheinungen der objektiven Realität aufnimmt und auf sie reagiert, aber es gibt in ihr auch jene aktive Dimension, die (unter gewissen Bedingungen) fähig ist, sich einer »realistischen« Bezugnahme auf eben diese Erscheinungen zu entziehen. Obgleich er sie als vermittelnde »Agentur« definiert hat, betont daher Adorno:
»Die Charakterstruktur, obwohl Produkt der frühen Lebensbedingungen, ist, nachdem sie sich einmal entfaltet hat, dennoch kein bloßes Objekt der gegenwärtigen. Was sich entfaltet hat, ist eine Struktur im Individuum, etwas, das selbst zum Handeln gegenüber der sozialen Umwelt und zur Auswahl unter den mannigfaltigen von ihr ausgehenden Stimuli fähig ist; das, wenn es auch modifizierbar bleibt, gegen tiefgreifende Veränderungen häufig sehr resistent ist.«
Diese Konzeption erklärt auch das konsistent gleiche Verhalten in gegensätzlichen Situationen und die »Hartnäckigkeit ideologischer Trends angesichts ihnen widersprechender Fakten und radikal veränderter sozialer Bedingungen«. So kann denn Adorno postulieren: »Charakterstruktur ist ein Begriff, der für etwas relativ Dauerhaftes einsteht.«37
Begreift man das Individuum als Archetypen, welchem zwar eine historische Wirklichkeit eigen ist, jedoch nicht im Sinne eines »persönlichen Lebensschicksals«, sondern als »idealtypischem« Vertreter des kollektiven Rahmens, dem er angehört38, so kann man sich auf den Begriff des »Gesellschafts-Charakters« (social character) berufen, den Fromm als »den Teil der Charakterstruktur, welcher den meisten Mitgliedern der Gruppe gemeinsam ist«, definiert, und zu dem er bemerkt:
»Der Gesellschafts-Charakter […] umfaßt nur eine Auswahl aus diesen Wesenszügen [des Individual-Charakters], und zwar den wesentlichen Kern der Charakterstruktur der meisten Mitglieder der Gruppe, wie er sich als Ergebnis der grundlegenden Erfahrungen und Lebensweise dieser Gruppe entwickelt hat. Wenngleich es immer ›Abweichler‹ mit einer völlig anderen Charakterstruktur geben wird, stellen doch die Charakterstruktur der meisten Mitglieder der Gruppe Variationen dieses Kerns dar, wie sie durch die zufälligen Faktoren von Geburt und Lebenserfahrung zustande kamen, die ja von Mensch zu Mensch verschieden sind.«39
Fromm sieht in der Konzeption des »Gesellschafts-Charakters« einen der Schlüsselbegriffe für die Erfassung sozialer Prozesse. Seiner Auffassung nach sind einerseits die Anpassungsformen menschlicher Bedürfnisse an die Seinsbedingungen einer bestimmten Gesellschaft im Charakter verkörpert, andererseits werden aber Denken, Fühlen und Handeln des Individuums von eben diesem Charakter geformt. Dies ist ein für unser Anliegen besonders wichtiger Punkt, da Fromm auch die intellektuelle Welt des Menschen nicht von dieser Auffassung ausgrenzt; mit Beziehung auf »Begriffe«, »Ideen« und »Doktrinen« als Elemente dieser intellektuellen Welt, behauptet er:
»Ein jeder derartiger Begriff und eine jede Doktrin besitzt eine emotionale Matrix, und diese Matrix ist in der Charakterstruktur des einzelnen verwurzelt. […] Die Tatsache, daß Ideen eine emotionale Matrix besitzen, ist von größter Bedeutung, denn sie ist der Schlüssel zum Verständnis des Geistes einer Kultur. Verschiedene Gesellschaften oder Klassen innerhalb einer Gesellschaft besitzen einen spezifischen Gesellschafts-Charakter, und auf dieser Basis entwickeln sich unterschiedliche Ideen, die zu mächtigen Triebkräften werden.«40
Er geht gar einen Schritt weiter und postuliert, die Triebkräfte der Ideen könnten sich erst dann voll entfalten, wenn sie eine Antwort auf die besonderen menschlichen Bedürfnisse eines spezifischen Gesellschafts-Charakters ermöglichten. Freilich ist auch in diesem Zusammenhang der Prozeß wechselseitig. Der Gesellschafts-Charakter entsteht natürlich nicht im leeren Raum; trotz des gestaltenden Einflusses, den er auf soziale Prozesse ausübt, ist er in nicht geringem Maße selber eine Funktion der aus dem gesellschaftlichen System resultierenden Zwänge und introjiziert äußere Bedürfnisse, um die menschliche Energie in die Aufgaben des wirtschaftlichen und sozialen Systems, in dessen Rahmen er sich verwirklicht, sozusagen einzubinden. Daher insistiert auch Fromm darauf, daß man die Gesellschaftsstruktur (oder die Persönlichkeitsstruktur der in ihr lebenden Individuen) nicht als Ergebnis des Erziehungsprozesses erklären könne, sondern, umgekehrt, »das Erziehungssystem mit den Erfordernissen erklären [müsse], die sich aus der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der jeweiligen Gesellschaft ergeben.« Andererseits liegt die Wichtigkeit der Erziehungsmethoden darin, daß sie Mechanismen darstellen, mittels derer das Individuum »in die gewünschte Form gebracht wird«. Wenn wir also oben behauptet haben, der familiäre Rahmen spiele eine entscheidende Rolle in der Gestaltung der individuellen Charakterstruktur, so kann man mit Fromm »die Familie als die psychologische Agentur der Gesellschaft ansehen.«41
Auf diesen theoretischen Erwägungen stützt sich Fromm bei der Kategorisierung verschiedener Erscheinungsformen des Gesellschafts-Charakters, als deren für unser Anliegen wichtigste die des sogenannten »autoritären Charakters« erachtet werden muß. Er verwendet diese Benennung stellvertretend für die des »sado-masochistischen Charakters« und begründet dies damit, daß sich der sado-masochistische Mensch deutlich durch eine besondere Beziehung zur Autorität auszeichne42: »Er bewundert die Autorität und neigt dazu, sich ihr zu unterwerfen, möchte aber gleichzeitig selbst Autorität sein, der sich die anderen zu unterwerfen haben.«43 Es sei hervorgehoben, daß die Autorität nicht als Eigenschaft des Einzelnen, sondern als »zwischenmenschliche Beziehung« begriffen wird, »bei der der eine den anderen als ihm überlegen betrachtet.« Fromm unterscheidet in dieser Hinsicht zwischen zwei Idealtypen solcher Beziehungen, von denen er den ersten als »rationale Autoritätsbeziehung« (z.B. die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler) und den zweiten als »hemmende Autoritätsbeziehung« (z.B. die zwischen dem Sklavenhalter und dem Sklaven) bezeichnet. Die elementaren Unterschiede zwischen beiden Beziehungsformen sieht er in der Interessengemeinschaft, welche die erste Beziehung im Gegensatz zur zweiten kennzeichnet, und in der grundlegend verschiedenen psychologischen Situation: In der ersten Beziehung herrschen vorwiegend positive Gefühle, wohingegen in der zweiten Ressentiment und Feindseligkeit vorherrschend sind. Natürlich vermischen sich in der Realität beide Arten der Autoritätsbeziehung, und jede Analyse einer konkreten Beziehung erfordert daher die spezifische Gewichtung der jeweils in ihr auftretenden Art.44 Obgleich wir hier also vorzüglich mit dem Begriff der zweiten Beziehungsart operieren werden, betonen wir ausdrücklich, daß die Unterschiede in der Realität, auch in der von uns anvisierten historischen Situation, keineswegs polarisiert sind, schon gar nicht dem Augenschein nach. Wir werden also bemüht sein zu zeigen, mit welchen Schwierigkeit die Auflehnung gegen die Autorität verbunden ist, und zwar gerade wegen der aus der psychologischen Verschmelzung beider Beziehungsarten resultierenden Ambivalenz.
Fromm spricht von einem weiteren Aspekt der Autorität: »Die Autorität muß nicht unbedingt eine Person oder eine Institution sein, die sagt: ›Du mußt das tun‹ oder ›Das darfst du nicht tun‹. Man könnte diese Form als äußere Autorität bezeichnen, aber sie kann auch als innere Autorität: als Pflicht, Gewissen oder Über-Ich auftreten.«45 Im Grunde – so Fromm – läßt sich das ganze moderne Denken vom Protestantismus bis hin zu Kant als die Ersetzung der äußeren Autorität durch die internalisierte denken46:
»Durch die politischen Siege des aufsteigenden Bürgertums verlor die äußere Autorität an Ansehen, und das eigene Gewissen nahm den Platz ein, den diese innegehabt hatte, worin viele einen Sieg der Freiheit sehen. Sich (zum mindesten in religiösen Dingen) Anordnungen von außen zu unterwerfen, schien nun eines freien Mannes unwürdig. Dagegen sah man im Sieg über seine natürlichen Neigungen und in der ›Selbstbeherrschung‹, das heißt in der Beherrschung des einen Teils des Menschen – seiner Natur – durch einen anderen Teil seines Wesens – seine Vernunft, seinen Willen oder sein Gewissen – das Wesen der Freiheit. Die Analyse zeigt, daß das Gewissen ein ebenso strenger Zwingherr ist wie äußere Autoritäten. Außerdem zeigt sie, daß die Gewissensinhalte im letzten keine Forderungen des individuellen Selbst sind, sondern gesellschaftliche Forderungen, die die Würde ethischer Normen angenommen haben. Die Herrschaft des Gewissens kann sogar noch strenger sein als die äußeren Autoritäten, weil der Betreffende die Befehle seines Gewissens als ureigenste erfährt. Wie aber kann jemand gegen sich selbst rebellieren?«47
Fromms rhetorische Frage verdeutlicht die besondere Bedeutung, die dem Begriff »Auflehnung« (und dessen komplementäre Ergänzung »Gehorsam«) im anstehenden Zusammenhang zukommt; nicht von ungefähr bezeichnet er »die Einstellung zur Macht« als das wichtigste Merkmal des autoritären Charakters.48 Wie wir oben darlegten, bewundert der autoritäre Charakter die Macht, welche seine Liebe und seine Bereitschaft zur Unterwerfung entfacht, während Schwäche und Ohnmacht (seien es die eines Menschen oder einer Institution) in ihm Verachtung und die Angriffslust gegen sie erwecken. Es muß jedoch auch hier darauf hingewiesen werden, daß (ähnlich wie die oben beschriebenen Autoritätsbeziehungen) auch der autoritäre Charakter in seiner puren Form selten in der realen Welt vorzufinden ist. Mehr noch: Seine »realen« Erscheinungsformen können trügen; Fromm hebt dies ausdrücklich hervor, indem er auf die Neigung des autoritären Charakters, sich der Autorität zu widersetzen und gegen Einflüsse »von oben« zu wehren, eingeht. Er bemerkt, daß diese Widersetzung zuweilen dermaßen dominant sei, daß sie den äußeren Ausdruck der Unterwerfung bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Dieser Typ des autoritären Charakters widersetzt sich immer gegen irgendeine Autorität, ohne dabei wahrzunehmen, wann er sogar seinen eigenen Interessen zuwider handelt. Andere haben ein gespaltenes Verhältnis zur Autorität; sie können sich gegen eine bestimmte Autorität auflehnen (besonders gegen eine, die sich wider Erwarten als schwach entpuppt hat), um sich einer anderen Autorität zu unterwerfen, welche ihre »masochistischen Sehnsüchte« besser zu erfüllen vermag. Es gibt auch den autoritären Charakter, der seine Auflehnungsneigungen vollkommen verdrängt, so daß diese nur a posteriori in Form von Haßgefühlen gegenüber der Autorität auszumachen sind, besonders dann, wenn deren Macht schwindet und sie zu stürzen droht.
Wenigstens bei der ersten Kategorie – so Fromm – handelt es sich vermeintlich um Menschen mit einem stark ausgeprägten Unabhängigkeitsbedürfnis, die mutig gegen jene Machthaber und Autoritäten ankämpfen, welche der Erfüllung dieses Bedürfnisses im Wege zu sein scheinen. Dieser Schein trügt jedoch, denn der Kampf des autoritären Charakters gegen die Autorität ist seinem Wesen nach im »Trotz« verankert49; es handelt sich um den Versuch, das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, ohne daß dabei das (bewußte oder unbewußte) Bedürfnis, sich der Autorität zu unterwerfen, tatsächlich bewältigt würde: »Ein autoritärer Mensch ist niemals ein ›Revolutionär‹, lieber würde ich ihn einen ›Rebellen‹ nennen. Viele Menschen und viele politische Bewegungen sind dem oberflächlichen Beobachter ein Rätsel, weil sie anscheinend unerklärlicherweise vom ›Radikalismus‹ zu einem äußerst autoritären Gehabe hinüberwechseln. Psychologisch handelt es sich bei solchen Menschen um typische ›Rebellen‹«. Fromm geht gar in seiner Behauptung einen Schritt weiter:
»Die Einstellung des autoritären Charakters zum Leben, seine gesamte Weltanschauung wird von seinen emotionalen Strebungen bestimmt. Der autoritäre Charakter hat eine Vorliebe für Lebensbedingungen, welche die menschliche Freiheit einschränken, er liebt es, sich dem Schicksal zu unterwerfen. Was er unter ›Schicksal‹ versteht, hängt von seiner gesellschaftlichen Stellung ab. […] Man kann Schicksal philosophisch als ›Naturgesetz‹ oder als ›Los des Menschen‹, religiös als ›Willen des Herrn‹ oder moralisch als ›Pflicht‹ rationalisieren – für den autoritären Charakter ist es stets eine höhere Macht außerhalb des einzelnen Menschen, der sich jeder nur unterwerfen kann. Der autoritäre Charakter verehrt die Vergangenheit. Was einmal war, wird in alle Ewigkeit so bleiben. Sich etwas noch nie Dagewesenes zu wünschen oder darauf hinzuarbeiten, ist Verbrechen oder Wahnsinn. […] Der Mut des autoritären Charakters ist im wesentlichen ein Mut, das zu ertragen, was das Schicksal oder ein persönlicher Repräsentant oder ›Führer‹ für ihn bestimmt hat. […] Nicht das Schicksal zu ändern, sondern sich ihm zu unterwerfen, macht den Heroismus des autoritären Charakters aus.«50
Es sei wiederum betont: Völlige Unterwerfung, vorübergehende Rebellion gegen die Autorität, ohne sie tatsächlich gänzlich stürzen zu wollen, oder Auflehnung gegen eine Autorität aus Sehnsucht nach einer anderen, gar stärkeren, sind graduell unterschiedliche Erscheinungsformen desselben autoritären Patterns: die Abhängigkeit von der Autorität ist in allen Formen als konstante Determinante erkennbar; in dieser Abhängigkeit ist die emotionale Matrix des autoritären Charakters verkörpert, durch sie wird seinVerhalten und seine Handlungsweise, auch wenn dies zunächst nicht klar ersichtlich zu sein scheint, bestimmt. Mehr noch: Diese Abhängigkeit »neigt« dazu, sich selbst zu erhalten, denn gerade weil sie die »psychologische Sicherheit« des Bekannten und des Gewissen sowie die Abwehr gegenüber der Bedrohung durch das Unbekannte und das ungewisse Neue verkörpert, bedarf es für gewöhnlich mächtiger Anstrengungen, um sich von ihr loszulösen. Die Angst des autoritären Charakters vor der Loslösung von der Autorität ist daher mit seiner Angst vor der Verantwortung, welche es bei der Gestaltung der neuen Lage ohne Schirmherrschaft der Autorität zu übernehmen gilt, aufs engste verbunden. Die Verehrung der Vergangenheit, von der Fromm spricht, ist in diesem Sinne nichts anderes als die Angst vor der Zukunft.
Auf der Grundlage dieses Begriffssystems können wir nun zur Darlegung der Hauptthese dieser Untersuchung übergehen. Wir behaupten, daß die historiographische Rezeption der Französischen Revolution im vormärzlichen Deutschland von dem in breiten Schichten des deutschen Bürgertums und der ihm angehörenden Intelligenz vorwaltenden autoritären Pattern entscheidend geprägt, wenn nicht gar gänzlich bestimmt wurde. Da man den Ablauf der Revolution (zumal in ihren Anfangsphasen) sowohl politisch als auch kollektiv-psychisch als eine Auflehnung gegen die Autorität begreifen kann, meinen wir in diesem Aspekt einen besonders abschreckenden Faktor einer Rezeption der Revolution als Modell einer möglichen Nachahmung in Deutschland erkennen zu dürfen. Unter diesem Gesichtspunkt erhält denn auch die Hinrichtung des französischen Königs eine ganz besondere Bedeutung; sie symbolisiert die gewaltsame Auflehnung gegen die Autorität im allerarchaischsten Sinne: der »Königsmord«, wie ihn viele jener Epoche zu nennen pflegen, wird mit der psychischen Folie des »Urvatermords«51rezipiert, wenn man will: Der Landesvater wird von den Landeskindern ermordet.