Depression und Dysthymia - Gerhard Ruf - E-Book

Depression und Dysthymia E-Book

Gerhard Ruf

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Beschreibung

Depressionen gehören mittlerweile zu den häufigsten Gründen für Krankschreibungen und sind die häufigste Ursache für Frühberentung. Klassische medizinische Erklärungs- und Behandlungsmodelle scheinen daran nichts zu ändern. Der Psychiater Gerhard Dieter Ruf plädiert für ein Verständnis, das Depressionen und chronische Verstimmungen nicht nur biologisch, sondern auch unter sozialen Aspekten betrachtet. Die "Krankheit" erscheint dann nicht als unausweichliches Schicksal, sondern kann als Ausdruck nicht stimmiger Lebensumstände Sinn gewinnen. Systemische Therapie versucht, solche alternativen Sichtweisen anzubieten, sie auf Gültigkeit zu prüfen und für Klienten fruchtbar zu machen. Dieses Buch macht die psychischen und sozialen Muster bei Depression und Dysthymia deutlich und stellt die entsprechenden systemischen Therapiemethoden vor. Fallbeispiele illustrieren die ambulante Praxis, aktuelle wissenschaftliche Erklärungen vertiefen die Theorie, wo das notwendig ist. Ergänzend zum Buch stehen Therapiekarten mit konkreten Interventionen zum Download zur Verfügung.

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Störungen systemisch behandeln

Band 4

Herausgegeben von

Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Gerhard Dieter Ruf

Depression und Dysthymia

Zweite Auflage, 2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihe »Störungen systemisch behandeln«, Band 4

hrsg. von Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Satz: Heinrich Eiermann

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Zweite Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0078-2 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8384-6 (ePub)

© 2015, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Vorwort

Zu diesem Buch

1 Depression und Dysthymia

1.1 Vom Phänomen zur Diagnose

1.2 Affektive Störungen in der ICD-10

1.3 Depression in der ICD-10

1.4 Dysthymia in der ICD-10

1.5 Differenzialdiagnose

1.6 Epidemiologie und Verlauf

2 Klassische Konzepte zu Depressionen

2.1 Historische Erklärungsmodelle

2.2 Das psychiatrische Störungsmodell und klassische Therapieformen

2.3 Anthropologische Erklärungsmodelle und Interventionsansätze

2.4 Verhaltenstherapeutische Erklärungsmodelle und Interventionsansätze

2.5 Psychodynamische Erklärungsmodelle und Interventionsansätze

3 Depression und Dysthymia aus Sicht der Systemtherapie

3.1 Depressive Störungen aus Sicht der früheren Systemtherapie (Kybernetik erster Ordnung)

3.2 Depressive Störungen aus Sicht der modernen Systemtherapie (Kybernetik zweiter Ordnung)

4 Ein systemisches Störungsmodell

4.1 Eine systemtheoretische Beschreibung

4.2 Das biologische System bei depressiven Störungen

4.3 Das psychische System bei der Depression

4.4 Das soziale System bei der Depression

4.5 Das psychische System bei der Dysthymia

4.6 Das soziale System bei der Dysthymia

4.7 Wege zur Chronifizierung

5 Systemische Therapie depressiver Störungen

5.1 Prinzipien

5.2 Schwerpunkte bei der Depression

5.3 Schwerpunkte bei der Dysthymia

5.4 Kontexte

5.5 Methoden

6 Nebenwirkungen der klassischen Depressionstherapie aus systemisch-konstruktivistischer Sicht

7 Ausführliche systemische Fallbeispiele

7.1 Behandlung einer Patientin mit der Diagnose rezidivierende depressive Störung

7.2 Behandlung einer Patientin mit der Diagnose Dysthymia

8 Evaluation

Ergänzendes Online-Material

Literatur

Über den Autor

Vorwort der Herausgeber

Ursprünglich ein querdenkendes Außenseiterkonzept, hat sich der systemische Ansatz heute in vielen Bereichen der Therapie und der Beratung theoretisch wie praktisch etabliert. Auch Vertreter anderer Schulen bereichert er mittlerweile in ihrer Arbeit. Die Etablierung eines Paradigmas birgt für dieses selbst aber auch Risiken, weil sie stets mit der Verfestigung von Denk- und Handlungsgewohnheiten einhergeht. Die Reihe Störungen systemisch behandeln stellt sich vor diesem Hintergrund zwei Herausforderungen: Nichtsystemischen Behandlern und Vertretern anderer Therapierichtungen soll sie komprimiert und praxisorientiert vorstellen, was die systemische Welt im Hinblick auf bestimmte Störungsbilder zu bieten hat. Innerhalb der Systemtherapie steht sie für eine neue Phase im Umgang mit dem Konzept von »Störung« und »Krankheit«.

Historisch gesehen war einer ersten Phase mit erfolgreichen Konzepten zu Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Essstörungen, psychosomatischen Krankheiten und affektiven Störungen eine zweite Phase gefolgt, die geprägt war von einem gezielten Verzicht oder einer definitiven Ablehnung aller Formen störungsspezifischer Codierungen. In jüngerer Zeit wenden sich manche Vertreter der systemischen Welt wieder störungsspezifischen Konzepten und Fragen zu – und werden von anderen dafür deutlich attackiert. Diese neue Welle ist bedingt durch die Anerkennung der Systemtherapie als wissenschaftliches Heilverfahren, durch den Antrag auf deren sozialrechtliche Anerkennung und nicht zuletzt dadurch, dass viele im klinischen Sektor systemisch arbeitende Kollegen täglich gezwungen sind, sich zu störungsspezifischen Konzepten zu positionieren.

Die systemische Welt hat hierzu einiges anzubieten. Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann. Sie verfolgt dabei zwei Ziele: Zum einen soll systemisch arbeitenden Kollegen das große Spektrum theoretisch fundierter und praktikabler systemischer Lösungen für einzelne Störungen zugänglich gemacht werden – ohne das Risiko, die eigene systemische Identität zu verlieren, im besten Fall sogar mit dem Ergebnis einer gestärkten systemischen Identität. Gleichzeitig soll nichtsystemischen Behandlern und Vertretern anderer Schulen das umfangreiche systemische Material an Erklärungen, Behandlungskonzepten und praktischen Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt werden.

Verlag, Herausgeber und Autoren bemühen sich, einerseits eine für alle Bände gleiche Gliederung einzuhalten und andererseits kreativen systemischen Querdenkern die Freiheit des Gestaltens zu lassen.

An die Stelle der Abgrenzung und der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Therapieschulen ist heute der Austausch zwischen ihnen getreten. Die Reihe Störungen systemisch behandeln versteht sich als ein Beitrag zu diesem Dialog.

Dr. Hans Lieb, Dr. Wilhelm Rotthaus

Zu diesem Buch

Dieses Buch soll spezifische psychische und soziale Muster bei Depression und Dysthymia verdeutlichen und systemische Therapiemethoden zur Veränderung problematischer Muster zur Verfügung stellen. Der Schwerpunkt liegt auf der ambulanten Behandlung. Bei den Fallbeispielen sind die akuten, meist in der Klinik behandelten Symptome bereits abgeklungen. Die vorgestellten Methoden können jedoch auch im stationären Kontext Anwendung finden.

Systemische Therapie kann als Einzel-, Paar- oder Familientherapie durchgeführt werden. Weil die meisten Patienten eine Einzeltherapie wünschen, habe ich überwiegend solche Fallbeispiele vorgestellt. Ab und zu wird in meiner Praxis auch eine Kombination von Einzel- und Familientherapie durchgeführt. Eine Indikation zur Familientherapie besteht bei entsprechendem Wunsch des Klienten üblicherweise dann, wenn er in einer Familie lebt oder wenn die Familie sonst eine wichtige Rolle für das Problem oder die Lösung zu spielen scheint.

Theorie und Methoden der systemischen Therapie finden bei verschiedenen psychischen Störungen Anwendung. Einige Abschnitte dieses Buches wurden aus meinem Buch Schizophrenien und schizoaffektive Störungen (Ruf 2014) übernommen, weil sie auch zur Therapie depressiver Störungen passen. Detaillierte Erläuterungen, wie zum Beispiel wissenschaftliche Erklärungen oder therapeutische Interventionen, wurden im Text durch eine kursive Schreibweise gekennzeichnet. Als ergänzendes Material werden einzelne Interventionen zur jeweils gezielten Anwendung online bereitgestellt.2

Beratung und Therapie gehen fließend ineinander über; ich habe im Text nicht streng dazwischen getrennt. Das Gleiche gilt für die Begriffe Klient und Patient. Wegen der besseren Lesbarkeit habe ich auch nicht immer die männliche und weibliche Form aufgeführt; beides soll als austauschbar gelten, sofern aus dem Text nichts anderes hervorgeht. Alle Fallbeispiele sind so weit anonymisiert, dass Rückschlüsse auf die jeweiligen Patienten nicht möglich sind.

An dieser Stelle danke ich meiner Frau Ulrike Preuß-Ruf ganz herzlich für ihre Beiträge zur Familientherapie einiger Patienten, für die Durchsicht des Manuskripts und für viele wertvolle Ratschläge. Mein besonderer Dank gilt auch dem Herausgeber der Buchreihe Dr. Hans Lieb für viele hilfreiche Anregungen.

Wenn es für das Verständnis des Therapieprozesses hilfreich erschien, habe ich die Familienstruktur grafisch in einem Genogramm dargestellt.

2www.carl-auer.de/machbar/depression_und_dysthymia.

1 Depression und Dysthymia

1.1 Vom Phänomen zur Diagnose

Frau L. klagte mit monotoner Stimme und verarmter Mimik und Gestik, für sie sei alles von heute auf morgen zusammengebrochen. Sie habe keine Energie und keinen Antrieb, sitze wie im Loch und komme nicht mehr hoch, werde von Zukunftsängsten geplagt. Nachts schlafe sie nur zwei Stunden und wache dann mit Angst und nassen Händen auf. Seit einem Vierteljahr gehe es ihr so schlecht. Davor habe sie immer funktioniert und sei das Oberhaupt in der Familie gewesen.

Das ist die Beschreibung eines Phänomens. Es spielt sich vor allem in der Kommunikation ab, also im sozialen System. Die von Frau L. beklagten Beschwerden – genauer: ihre verbale und nonverbale Kommunikation darüber – sind für die Menschen ihrer Umgebung nicht nachvollziehbar und verstehbar. Nach ihren Äußerungen ist anzunehmen, dass ihre Gedanken und vor allem ihre Gefühle oder Affekte, das psychische System, wesentlich beteiligt sind. All das wäre ohne ihr Nervensystem, das Gehirn, also das biologische System, nicht möglich. In allen drei Systemen wirkt Frau L. etwas anders als andere Menschen.

Für dieses schon seit Menschengedenken existierende Phänomen nicht nachvollziehbarer Affekte wurden im Lauf der Geschichte unterschiedliche Erklärungen entwickelt (vgl. Abschnitt 2.1), bis sich die westliche Medizin dieses Phänomens annahm und es als psychische Krankheit einordnete. Auch heute noch gibt es in asiatischen Kulturen andere Beschreibungen für Niedergeschlagenheit; so manifestieren sich in Südostasien Trauer und familiäre Konflikte eher als Herzbeschwerden; in Japan konnten bis zum Jahr 2000 Antidepressiva nicht systematisch vermarktet werden; zwischenzeitlich wurden die westlichen Depressionskonzepte, von der Pharmaindustrie forciert, in die dortigen Länder eingeführt und führten zu einem florierenden Absatzmarkt für Antidepressiva (Asen 2013).

Bestrebungen zu einer internationalen Vereinheitlichung von Diagnosekriterien führten zur Entwicklung der International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation, die immer wieder überarbeitet wird und jetzt mit der ICD-10 in der 10. Version vorliegt (Dilling, Mombour u. Schmidt 1993).3 Die Veröffentlichung der 11. Version ist für 2015 geplant. In der ICD-10 wird auf den problematischen Begriff der psychischen »Krankheit« verzichtet und stattdessen von »Störung« gesprochen. Damit meint man einen »klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten […], der […] mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden« ist (a. a. O., S. 23). Affektive Störungen werden unter der Diagnosekategorie F3 eingruppiert.

Damit wird in der Psychiatrie der Beobachtungsrahmen auf das Individuum begrenzt und eine Norm von Verhalten und psychischen und biologischen Funktionen postuliert; Abweichungen von dieser Norm begründen dann die psychiatrische Diagnose. Im Begriff »Krankheit« oder »Störung« ist die Beschreibung von Phänomenen (den geäußerten Klagen und dem gezeigten Antriebsmangel, also den Symptomen) und die Erklärung über die Entstehung dieser Symptome (die angenommene Funktionsstörung) vermischt. Die Erklärungen auch für soziale Phänomene werden im psychischen und biologischen System gesucht (vgl. Lieb 2014; Simon 1995).

1.2 Affektive Störungen in der ICD-10

Die Diagnosekategorie F3 der ICD-10 beinhaltet die affektiven Störungen; Hauptsymptome dieser Störungen sind eine Veränderung der Stimmung oder der Affektivität, meist zur Depression hin, mit oder ohne begleitende Angst, oder hin zu einer gehobenen Stimmung. Die meisten dieser Störungen tendieren zu wiederholtem Auftreten. Der Beginn der einzelnen Episoden ist oft mit belastenden Ereignissen oder Situationen in Zusammenhang zu bringen.

Die affektiven Störungen werden unterteilt in F30 manische Episode, F31 bipolare affektive Störung, F32 depressive Episode, F33 rezidivierende depressive Störungen, F34 anhaltende affektive Störungen (Dysthymia u. a.) und in die Ausweichkategorien F38 sonstige affektive Störungen und F39 nicht näher bezeichnete affektive Störung. In dem vorliegenden Buch wird die systemische Therapie der häufigsten depressiven Störungen, nämlich der depressiven Episode, der rezidivierenden depressiven Störung und der Dysthymia, behandelt. Die beschriebenen Muster und Therapiemethoden sind im Wesentlichen auch auf die selteneren Variationen der Störungen übertragbar, die in den hier nicht näher beschriebenen Ausweichkategorien der ICD-10 klassifiziert werden.

1.3 Depression in der ICD-10

Nach der ICD-10 liegt eine depressive Episode vor, wenn eine Person unter gedrückter Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit und einer Verminderung des Antriebs leidet. Die Verminderung der Energie führt zu erhöhter Ermüdbarkeit und Aktivitätseinschränkung. Deutliche Müdigkeit tritt oft nach nur kleinen Anstrengungen auf.

Andere häufige Symptome sind:

Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit

Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen

Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit

Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven

Suizidgedanken, Selbstverletzung oder Suizidhandlungen

Schlafstörungen

Verminderter Appetit

Gewöhnlich wird eine Dauer der Symptome von mindestens zwei Wochen verlangt; kürzere Zeiträume können berücksichtigt werden, wenn die Symptome ungewöhnlich schwer oder schnell aufgetreten sind.

Zusätzlich kann ein somatisches Syndrom vorliegen, wenn sich folgende Symptome zeigen:

Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten

Mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren

Frühmorgendliches Erwachen zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit

Morgentief

Psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit

Deutlicher Appetitverlust

Gewichtsverlust, häufig mehr als 5 % des Körpergewichts

Deutlicher Libidoverlust

Das somatische Syndrom ist nur dann zu diagnostizieren, wenn wenigstens vier der genannten Symptome eindeutig feststellbar sind.

Wenn von den typischen Symptomen depressive Verstimmung, Verlust von Interesse oder Freude und erhöhte Ermüdbarkeit mindestens zwei vorliegen und außerdem mindestens zwei der oben genannten anderen Symptome, wird eine leichte depressive Episode diagnostiziert. Bei drei oder vier der anderen Symptome und einem besonders ausgeprägten Schweregrad ist die Diagnose einer mittelgradigen depressiven Episode zu stellen. In einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome zeigt der Patient meist erhebliche Verzweiflung und Agitiertheit oder Hemmung, außerdem Verlust des Selbstwertgefühls, Gefühle von Nutzlosigkeit oder Schuld, ein somatisches Syndrom und in schweren Fällen ein hohes Suizidrisiko; alle drei typischen und mindestens vier andere Symptome werden gefordert. Bei einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen treten zusätzlich Wahnideen, Halluzinationen oder ein depressiver Stupor (Erstarrung, Betäubung mit Fehlen jeder Reaktion auf Versuche der Kontaktaufnahme) auf; der Wahn schließt gewöhnlich Ideen der Versündigung, der Verarmung oder einer bevorstehenden Katastrophe ein; akustische Halluzinationen bestehen gewöhnlich aus diffamierenden oder anklagenden Stimmen; Geruchshalluzinationen beziehen sich auf Fäulnis oder verwesendes Fleisch. Sonstige depressiveEpisoden können in die genannten Kategorien nicht sicher eingeordnet werden, z. B. Mischbilder vor allem somatischer Art.

Eine rezidivierende depressive Störung ist durch wiederholte depressive Episoden charakterisiert. Die Episoden dauern meistens zwischen drei und zwölf Monaten, eine Minderheit von Patienten entwickelt eine anhaltende Depression vor allem im höheren Lebensalter. Für die systemische Therapie macht es keinen relevanten Unterschied, ob eine depressive Episode nur ein Mal oder rezidivierend auftritt.

1.4 Dysthymia in der ICD-10

Mit Dysthymia wird eine chronische depressive Verstimmung bezeichnet, die nach Schweregrad und Dauer der einzelnen Episoden nicht die Kriterien für eine leichte oder mittelgradige rezidivierende depressive Störung erfüllt. In der Anamnese können allerdings die Leitlinien der leichten depressiven Episode erfüllt gewesen sein. Die Patienten haben gewöhnlich zusammenhängende Perioden von Tagen oder Wochen, in denen sie ein gutes Befinden beschreiben. Meistens fühlen sie sich aber müde und depressiv; alles ist für sie eine Anstrengung und nichts wird genossen. Sie grübeln und beklagen sich, schlafen schlecht und fühlen sich unzulänglich, sind aber in der Regel fähig, mit den wesentlichen Anforderungen des täglichen Lebens fertigzuwerden. Die Dysthymia beginnt gewöhnlich früh im Erwachsenenleben; sie hat viel mit den Konzepten der depressiven Neurose oder neurotischen Depression gemeinsam. Eine Dauer von mindestens zwei Jahren wird gefordert.

Eine Dysthymia kann gelegentlich von einer depressiven Episode überlagert werden. Dann können beide Diagnosen nebeneinander verwendet werden4.

1.5 Differenzialdiagnose

Als psychiatrische Differenzialdiagnose ist vor allem an eine Anpassungsstörung zu denken; damit werden Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen wie auch schwerer körperlicher Erkrankung bezeichnet. Auch eine Trauerreaktion ist dieser Diagnose zuzuordnen. Die Depression unterscheidet sich von der Anpassungsstörung durch Gefühllosigkeit, Schuldgefühle, ausgeprägten Antriebsmangel oder auch durch einen depressiven Schuld- oder Verarmungswahn.

Bei einer bipolaren affektiven Störung treten neben den depressiven Episoden auch hypomanische oder manische Episoden auf. Diese sind gekennzeichnet durch eine meist Tage oder Wochen andauernde Antriebssteigerung, gehobene Stimmung, vermehrte Aktivität und vermindertes Schlafbedürfnis. Als Hypomanie wird eine leichte Ausprägung bezeichnet. Bei der Manie gehen auch übliche soziale Hemmungen verloren, und es kommt zu überhöhter Selbsteinschätzung und Größenideen.

Die Diagnose schizoaffektive Störung sollte gestellt werden, wenn sowohl eindeutig schizophrene (wie Wahn oder Halluzinationen) als auch eindeutig affektive Symptome (manische Symptome mit Antriebssteigerung oder depressive Symptome mit gedrückter Stimmung und Antriebsmangel) gleichzeitig oder nur wenige Tage getrennt voneinander während der gleichen Krankheitsepisode vorhanden sind.

Depressive Symptome können in allen Stadien einer Schizophrenie auftreten, häufig im Vorfeld (Prodromalstadium) oder nach Abklingen akuter schizophrener Symptome, dann als postpsychotische Depression bezeichnet.

Auch bei anderen psychiatrischen Störungen können depressive Verstimmungen in Kombination mit den jeweils spezifischen Symptomen auftreten, so bei Angst- und Panikstörungen, sogenannten Persönlichkeitsstörungen, somatoformen Störungen, Alkoholabhängigkeit oder bei einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom im Erwachsenenalter.

Die organische affektive Störung infolge einer Schädigung des Gehirns ist durch eine Veränderung der Stimmung charakterisiert. Eine zugrunde liegende zerebrale oder andere körperliche Störung muss mittels körperlicher oder Laboruntersuchungen belegt oder aufgrund einer entsprechenden Krankengeschichte vermutet werden. Infrage kommen unter anderem viele internistische Erkrankungen, wie Infektionen, Hormonstörungen, Herz- oder Leberkrankheiten.

1.6 Epidemiologie und Verlauf

Die Lebenszeitprävalenz depressiver Störungen, d. h. die Anzahl der Menschen im Verhältnis zur Bevölkerung, bei denen im Lauf ihres Lebens irgendwann diese Diagnose gestellt wird, liegt national wie international bei 13–20 %, die 12-Monats-Prävalenz bei 4–11 %. Nach dem deutschen Bundesgesundheitssurvey liegt die Lebenszeitprävalenz bei 17,1 %; Frauen sind mit 23,3 % häufiger betroffen als Männer, bei denen die Diagnose nur in 11,1 % gestellt wurde; die Nichtbehandlungsquote liegt bei 61 %. Bei schweren körperlichen Krankheiten (Diabetes mellitus, Myokardinfarkt, Morbus Parkinson, Epilepsie, Dialysepatienten, Schlaganfall, Karzinom) liegt die Lebenszeitprävalenz von Depressionen bei ca. 40 % (Laux 2011b). Die norddeutsche TACOS-Studie fand eine Lebenszeitprävalenz für Dysthymia von 3,3 % bei Frauen und 1,6 % bei Männern, insgesamt 2,5 % (Meyer et al. 2000).

Das durchschnittliche Ersterkrankungsalter depressiver Störungen wird mit ca. 30 Jahren angegeben; die Altersgruppe 35–49 Jahre überwiegt bei depressiven Störungen; Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Depressionen verlaufen typischerweise episodisch und rezidivierend. Innerhalb von fünf Jahren erleiden ca. 60 %, innerhalb von 10 Jahren ca. 80 % ein Rezidiv. Mit jeder weiteren Episode steigt das Risiko für einen weiteren Rückfall; ca. 50–60 % erleiden eine zweite Episode; nach drei Episoden besteht eine 90-prozentige Wahrscheinlichkeit für das Auftreten weiterer Episoden. Die Dauer unbehandelter depressiver Episoden beträgt durchschnittlich 3–12 Monate. Im höheren Lebensalter dauern die Episoden häufig länger und tendieren eher zur Chronifizierung. Die Zyklusdauer, d. h. die Zeitspanne zwischen dem Beginn einer Phase und dem Beginn der nächsten Phase, liegt bei unipolaren (nur depressive Phasen, keine manischen oder hypomanischen Episoden) Depressionen initial bei 4–5 Jahren und nimmt mit dem Alter ab (Laux 2011b).

Der Langzeitverlauf depressiver Störungen hängt wesentlich von der Qualität der ehelichen bzw. partnerschaftlichen Beziehung ab; bei Eheunzufriedenheit, wahrgenommener Kritik durch den Partner und bei einer Diskrepanz beider Partner hinsichtlich der Einschätzung der Ehezufriedenheit besteht ein höheres Rezidivrisiko. Bis zu 15 % der Patienten mit schweren depressiven Störungen mit mindestens einer stationären Behandlung in der Vorgeschichte sterben durch Suizid (Laux 2011b).

Eine Dysthymia beginnt meistens in der späten Adoleszenz oder mit Anfang 20. Im Vergleich zu typischen Depressionen ist der Genesungsverlauf von Dysthymien protrahiert und mit einem höheren Rückfallrisiko verbunden, der längerfristige Verlauf ungünstiger (Laux 2011b).

3 Auf die ähnliche, in Amerika favorisierte Diagnosenklassifikation DSM-V möchte ich aus Platzgründen hier nicht näher eingehen.

4 Der Begriff »Doppeldepression« wird dafür manchmal verwendet.