Der 2. Weltkrieg - Wendepunkt der deutschen Geschichte -  - E-Book

Der 2. Weltkrieg - Wendepunkt der deutschen Geschichte E-Book

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Beschreibung

Kein anderes Ereignis des 20. Jahrhunderts hat so viel Leid über die Menschheit gebracht wie der im Namen Deutschlands von Adolf Hitler entfesselte Zweite Weltkrieg. Rund 60 Millionen Menschen kamen ums Leben, unzählige in Europa und Asien verloren ihre Heimat durch Flucht und Vertreibung. Der materielle Schaden war unermesslich. Der Niederlage Deutschlands folgte die Befreiung von der Diktatur, von Militarismus und Obrigkeitsstaat. Für die deutsche Geschichte, so der Historiker Heinrich August Winkler, bedeute das Kriegsende "den Wendepunkt schlechthin“. Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 ging das von Bismarck 1871 gegründete Deutsche Reich unter. Namhafte Historiker und SPIEGEL-Redakteure beschreiben, wie es zum Zweiten Weltkrieg kam, wie er verlief, wie er endete und welche tiefgreifenden Folgen die Niederlage hatte. Die Autoren begaben sich auch auf Spurensuche vor Ort - von Pearl Harbor bis al-Alamein, von den Seelower Höhen bis zur Brücke von Remagen. Der "Klassiker" aus dem SPIEGEL-Buchverlag nun erstmals als E-Book.

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Inhaltsverzeichnis

DER ZWEITE WELTKRIEG

Editorische Notiz
Vorwort

SCHICKSALSJAHR 1945

Die Heimkehr des Krieges
Die letzten Kriegsmonate in Deutschland. Von Norbert F. Pötzl und Klaus Wiegrefe
Umkehr nach dem Untergang
1945 – der entscheidende Wendepunkt in der deutschen Geschichte. Von Heinrich August Winkler
Little Bastogne
Wie Crailsheim von der US-Armee besetzt, von Deutschen zurückerobert und schließlich zerstört wurde. Von Nils Klawitter
„Wild gezackte Fieberkurve“
Der Streit um die Zahl der Bombenopfer in Dresden. Von Steffen Winter

GRIFF NACH DER WELTMACHT

Hitlers Blitzkriege
In siebeneinhalb Jahren machte Hitler Deutschland zur Hegemonialmacht Europas. Von Michael Sontheimer
Die Kinder-Krieger
Am Warschauer Aufstand im Sommer 1944 waren Tausende Jungen und Mädchen beteiligt. Von Karen Andresen
Braunes Netzwerk im Norden
Das Ende vom Mythos der Neutralität Schwedens. Von Manfred Ertel
Blutbad auf dem Balkan
Der brutale Kampf gegen aufständische Partisanen. Von Olaf Ihlau

DIE GEGENSPIELER

Die Tage des Löwen
Winston Churchill – der Mann, der sich Hitler in den Weg stellte. Von Matthias Matussek
Killer contra Wüstenfuchs
Entscheidungsschlacht in der Wüste. Von Klaus Brinkbäumer
„Absolutes Schweigen“
Deutsche Oppositionelle suchen verzweifelt Unterstützung bei den Westmächten. Von Norbert F. Pötzl

TÖDLICHE RIVALEN

Duell im Schnee
Im Juni 1941 begann mit dem „Unternehmen Barbarossa“ der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Von Rolf-Dieter Müller
Schlacht am Thron der Götter
Der freundliche Empfang der Wehrmacht im Kaukasus. Von Uwe Klußmann
Gegenwelt im Wald
Das Wüten der deutschen Truppen ließ in Weißrussland eine gewaltige Partisanenbewegung entstehen. Von Uwe Klußmann
Brutale Praxis
Die Beteiligung der deutschen Armee am Massenmord in Osteuropa. Von Dieter Pohl
Die Multi-Kulti-Truppe
Russen, Turkmenen, Inder – fast jeder zehnte Soldat in Hitlers Armeen war kein Deutscher. Von Jan Puhl

DER VÖLKERMORD

Ort des Unfassbaren
Fast sechs Millionen Juden kamen in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern um. Von Georg Bönisch
„Wenn das der Führer erfährt“
Ein Abgesandter des Jüdischen Weltkongresses verhandelte mit Himmler über die Freilassung von KZ-Häftlingen. Von Karen Andresen
Versklavt und vernichtet
Mehr als drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene starben während des Krieges. Von Rainer Traub
Operation Anthropoid
Als Vergeltung für das Attentat auf Reinhard Heydrich wurde das tschechische Dorf Lidice im Sommer 1942 zerstört, seine Bewohner verschleppt und ermordet. Von Hans-Ulrich Stoldt

DIE RAUBGEMEINSCHAFT

Die Wohlfühl-Diktatur
Wie die Nazis mit niedrigen Steuern und Sozialreformen das Volk bei Laune hielten. Von Götz Aly
In stolzer Trauer
Die ambivalente Rolle der deutschen Frauen während des Zweiten Weltkriegs. Von Susanne Beyer

DEBAKEL IM PAZIFIK

Atombomben gegen Kamikaze
Der japanische Angriff auf Pearl Harbour führte zum Kriegseintritt der USA. Von Wieland Wagner
Geheimes Netz
Deutsche Spionagetätigkeit in Südamerika. Von Jens Glüsing
Der große Basar
Das Gipfeltreffen der Anti-Hitler-Koalition in Teheran. Von Dieter Bednarz

DER ALLIIERTE VORMARSCH

Berauscht in die Schlacht
Die Wehrmacht versorgte ihre Soldaten mit Drogen. Von Andreas Ulrich
Sieg um jeden Preis
Die Landung der Alliierten in der Normandie. Von Klaus Wiegrefe
Die Bestie von Omaha Beach
Ein deutscher Soldat hielt einen Tag lang mit dem Maschinengewehr auf amerikanische Soldaten, die aus ihren Landungsbooten sprangen. Von Klaus Brinkbäumer
„Verlasst die Abtei“
Der Angriff der Alliierten auf Montecassino. Von Fiona Ehlers
Operation Gomorrha
Der Bombenkrieg gegen deutsche Städte. Von Jochen Bölsche
Der allergrößte Bluff
Das Versagen der deutschen Nachrichtendienste während des Krieges. Von Heiko Buschke

DER ENDKAMPF

„Hitler kaputt, alles kaputt“
Der Vormarsch der Roten Armee auf Berlin. Von Jörg R. Mettke
Tod im Kessel
Stalingrad steht für eine der blutigsten Schlachten der Weltgeschichte. Von Klaus Wiegrefe
„Heller Wahnsinn“
Einige Dutzend deutsche Piloten ließen bei Kamikaze-Kommandos ihr Leben. Von Per Hinrichs
Besichtigungstour in die Hölle
Am Schauplatz der Schlacht um die Seelower Höhen schulen heute Offiziere aller Länder ihr Strategieverständnis. Von Jürgen Dahlkamp
Der unwahrscheinliche Coup
Die Brücke von Remagen öffnete der Anti-Hitler- Koalition den Weg ins Zentrum Deutschlands. Von Georg Bönisch
Das letzte Aufgebot
Für den Endsieg mussten selbst Magenkranke und Kriegsneurotiker an die Front. Von Wolfgang Bayer und Hans Halter
Perfide Rechnung
Wie erklärt sich die enorme Durchhaltekraft der deutschen Soldaten im Angesicht der Niederlage? Von Stefan Storz
Mord im Lager
In den alliierten Kriegsgefangenenlagern wurden deutsche Nazi-Gegner von Mitgefangenen terrorisiert. Von Per Hinrichs

DIE ABRECHNUNG

Stalins Heimspiel
Die Konferenz von Jalta steht am Anfang der Sowjetherrschaft in Osteuropa. Von Walter Mayr
Tief vergraben, nicht dran rühren
In den letzten Wochen des Krieges nahmen sich Zehntausende Deutsche das Leben. Von Beate Lakotta
Schrecklicher Exodus
Millionen von Menschen wurden während und in Folge des Zweiten Weltkriegs umgesiedelt und aus ihrer Heimat vertrieben. Von Christian Habbe
Ein Glücksfall der Geschichte
Bei den Nürnberger Prozessen saßen die siegreichen Alliierten über die Hauptverbrecher des Nazi-Regimes zu Gericht. Von Thomas Darnstädt

ANHANG

Impressum
DER ZWEITE WELTKRIEG • Editorische Notiz

Editorische Notiz

Vor siebzig Jahren endete der Zweite Weltkrieg mit der deutschen Kapitulation. Aus diesem Anlass legen wir einen „Klassiker“ aus dem SPIEGEL-Buchverlag endlich auch als E-Book vor. Das Buch erschien in erster Auflage 2005 bei DVA, dann als Taschenbuchausgabe beim Goldmann-Verlag (2007) und ist seit kurzem nur noch antiquarisch erhältlich.
DER ZWEITE WELTKRIEG • Vorwort

Vorwort

Kein anderes Ereignis des 20. Jahrhunderts hat so viel Leid über die Menschheit gebracht wie der Zweite Weltkrieg. Rund 60 Millionen Menschen kamen ums Leben – in den Kampfhandlungen zu Lande, auf dem Wasser oder in der Luft, als Opfer des von den Deutschen entfachten Genozids, durch Kriegsverbrechen, in Gefangenenlagern, oder schlicht durch Krankheit und Hunger. Unzählige Menschen in Europa und Asien verloren ihre Heimat durch Flucht und Vertreibung. Der materielle Schaden war unermesslich. Hunderte Städte und Zigtausende Dörfer wurden zerstört, 1,63 Millionen Gebäude allein in Deutschland. Mit der Teilung und dem Verlust fast eines Viertels ihres Landes zahlte die Nation, in deren Namen der Diktator Adolf Hitler den mörderischsten aller Kriege entfesselt hatte, auch unter ökonomischen Gesichtspunkten einen hohen Preis. 
Allerdings: Der totalen Niederlage folgte die Befreiung von der Diktatur, von Militarismus und Obrigkeitsstaat. „Für die deutsche Geschichte“, schreibt der Historiker Heinrich August Winkler, bedeute das Kriegsende 1945 „den Wendepunkt schlechthin“. Denn im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg, der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“(so auch der Titel des bei DVA erschienenen SPIEGEL-Buches), war nach dem Zweiten Weltkrieg fast alles anders als vorher. Das Deutsche Reich verlor zwar 1919 durch den Friedensvertrag von Versailles fast ein Siebtel seines Gebiets, aber es blieb erhalten. „Ein gesellschaftlicher und moralischer Bruch mit dem Kaiserreich“, so Winkler, „fand nicht statt“. Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 hingegen ging auch das von Bismarck 1871 gegründete Deutsche Reich unter – und damit einher ein politischer und gesellschaftlicher Umbruch, wie ihn die Deutschen nie zuvor erlebt hatten. 
In dem vorliegenden Buch, das auf einer Serie im SPIEGEL aufbaut, beschreiben namhafte Historiker und SPIEGEL-Redakteure, wie es zum Zweiten Weltkrieg kam, wie er verlief, wie er endete und welche Folgen die Niederlage hatte. Die Autoren verließen sich dabei nicht nur auf amtliche Quellen, sondern begaben sich auch auf Spurensuche vor Ort – von Pearl Harbor bis al-Alamein, von den Seelower Höhen bis zur Brücke von Remagen. Und sie beleuchten auch bisher wenig bekannte Aspekte, etwa wie die Nazi-Führung das deutsche Volk bei Laune hielt, wie Bomberpiloten sich mit Drogen aufputschten oder wie kritische Landser in Gefangenenlagern von ihren Nazi-Kameraden schikaniert wurden. 
Der Dank der Herausgeber gilt neben den Autoren den Grafikern, die informative Karten und Schaubilder anfertigten, den Dokumentaren, die sämtliche Fakten überprüften, den Schlussredakteuren, die alle Texte sorgfältig korrigierten, und – last but not least – den Sekretärinnen, die Ordnung ins kreative Chaos brachten.
Stephan Burgdorff und Klaus Wiegrefe
(in Hamburg 2005)
SCHICKSALSJAHR 1945 • Die Heimkehr des Krieges

Die Heimkehr des Krieges

Der von Hitler entfesselte blutigste Waffengang der Geschichte mit rund 60 Millionen Toten ging vor 60 Jahren zu Ende. In den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges erfuhren auch die Deutschen im Reich, was es bedeutet, wenn ein Land besiegt und besetzt wird. Von Norbert F. Pötzl und Klaus Wiegrefe
Am Morgen des 21. Oktober 1944, über der ostpreußischen Moränenlandschaft lag noch der Frühnebel, rasselten Tanks des 2. Bataillons der 25. sowjetischen Panzerbrigade die Chaussee von Gumbinnen herunter. Sie walzten die Pferdefuhrwerke der Bauernfamilien platt, die sich auf der Flucht vor der Roten Armee auf einem Damm vor der Brücke über den Fluss Angerapp stauten.
Dann rückten die Russen, jenseits des Wasserlaufs, in Nemmersdorf ein. Die meisten der 637 Einwohner hatten den Ort schon verlassen. Unter denen, die geblieben waren, richteten die Rotarmisten ein Blutbad an. 26 Menschen wurden erschossen oder erschlagen.
„Hier ist es nun, das verfluchte Deutschland“, malte ein russischer Soldat auf ein Schild und stellte es neben einem niedergebrannten Wohngebäude auf. Der Krieg, der von Deutschland ausgegangen war, kehrte nach Hause zurück.
Fünf Jahre lang hatten deutsche Soldaten auf polnischem und russischem, ukrainischem und lettischem Boden den von Adolf Hitler angezettelten Vernichtungskrieg einer selbsternannten „Herrenrasse“ gegen die slawischen „Untermenschen“ geführt - jetzt waren sie auf dem Rückzug.
Am 16. Oktober hatten sowjetische Soldaten die Reichsgrenze überschritten, erstmals waren Josef Stalins Truppen in Ostpreußen auf deutsches Siedlungsgebiet vorgedrungen. Nemmersdorf lag schon etwa 50 Kilometer im Land.
Das dort angerichtete Massaker war der Anfang eines sich zäh hinziehenden Endes. Zwar gelang es der Wehrmacht noch einmal, die Rotarmisten aus Ostpreußen herauszudrängen - vorübergehend. So wurden auch die Toten in Nemmersdorf gefunden. Propagandaminister Joseph Goebbels schwor in den gleichgeschalteten deutschen Zeitungen, „die bestialische Bluttat“ werde „die Bolschewisten teuer zu stehen kommen“, und ließ die Leichen für die Wochenschau extra schauerlich herrichten, die Frauen mit entblößtem Unterleib, obschon hier wohl noch keine Vergewaltigungen stattgefunden hatten.
Bald darauf, im Januar 1945, rückte die Rote Armee wieder vor und war nun nicht mehr aufzuhalten. In den folgenden Monaten wurden vor allem Ostpreußen, Pommern und Schlesier Zielscheibe eines Hasses, den die Deutschen gesät hatten. Brandschatzend und plündernd, vergewaltigend und mordend rächten sich Stalins Kämpfer für die Greuel, die im deutschen Namen in ihrer Heimat begangen worden waren.
Nun erfuhren auch die Deutschen im Reich, was es bedeutet, wenn Soldaten ein Land besetzen und dabei das Kriegsrecht brechen - so wie es zuvor die Wehrmacht und die SS getan hatten.
Und auch im Westen stand der Kriegsgegner bereits im eigenen Land. Kurz bevor die Russen nach Ostpreußen kamen, hatten die Amerikaner, im September 1944, die Westgrenze des Deutschen Reiches überquert. Monschau in der Eifel war die erste besetzte Stadt, Mitte Oktober eroberten amerikanische Truppen Aachen.
1945 wurde zum Schicksalsjahr der deutschen Geschichte. „Wir können untergehen“, hatte Hitler zu Beginn dieses entscheidenden Jahres verkündet, „aber wir werden eine Welt mitnehmen.“
Und so geschah es. Von Januar bis Mai 1945 starben mehr Deutsche als in den fünf Kriegsjahren zuvor; allein 300 000 Kinder verloren ihre Eltern. Wehrmachtrekruten, die in der Endphase noch an die Front mussten, hatten im Durchschnitt eine Lebenserwartung von vier Wochen.
Millionen Menschen ergriffen die Flucht vor den Rotarmisten. Fast jede fünfte Frau im Osten wurde geschändet. Und mindestens 100 000 Deutsche brachten sich um - sie fürchteten die Rache der Sieger, schämten sich nach erlittener Vergewaltigung oder verzweifelten am Untergang Deutschlands, der unausweichlich schien.
Rund 500 000 Tonnen Bomben wurden 1945 noch über Deutschland abgeworfen, allein in Dresden starben in der Feuersbrunst vom 13. bis 15. Februar etwa 25 000 Menschen.
Während Hitler und seine Paladine noch immer vom „Endsieg“ phantasierten, vollzog sich der Untergang eines auf nationalistische Hybris gegründeten Reiches, das tausend Jahre währen sollte, aber schon nach zwölf kläglich zusammenbrach.
Das „Großdeutsche Reich“, das der „Führer und Reichskanzler“ ausgerufen hatte, als es von der Maas bis an die Memel reichte, war schon beinahe wieder auf Vorkriegsformat geschrumpft. Die Wehrmacht, die mal fast ganz Europa vom Nordkap bis Nordafrika unterjocht hatte, kannte nur noch eine Richtung: zurück.
Der deutsche Luftraum wurde längst von den alliierten Bomberflotten beherrscht. Hermann Göring hatte einst getönt, er wolle „Meier heißen, wenn je ein feindliches Flugzeug deutsches Territorium erreicht“.
Unterdessen sanken immer mehr deutsche Städte in Schutt und Asche, viele waren nur noch schwelende Trümmerfelder. Ein britischer Bomberpilot sah beim Flug über Hamburg unter sich „eine Art 'Dantes Inferno', eine Fläche voller Weißglut“ - „genau so muss die Hölle aussehen“. Einen dänischen Reporter erinnerten die Bilder ausgebrannter Ruhrstädte an „Luftaufnahmen von Pompeji“.
Im Sommer 1944 hatten die Westalliierten mit ihrer Operation „Overlord“ begonnen, der größten kombinierten See-, Luft- und Landoperation aller Zeiten. Mehr als drei Millionen Soldaten, größtenteils Amerikaner und Briten, aber auch Kanadier, Franzosen, Polen, Tschechen, Belgier, Niederländer und sogar einige Exildeutsche in britischer Uniform hatten von Südengland aus den Kanal überquert.
Mitte Juli erwies sich die in der Normandie gelandete Übermacht als so erdrückend, dass der legendäre Generalfeldmarschall Erwin Rommel dem Führer die Kapitulation nahe legte.
Die westlichen Verbündeten sahen sich deshalb im Herbst 1944 fast am Ziel, als das Reichsgebiet offen vor ihnen lag. Hitler aber glaubte, einmal müsse doch „an der Westfront dem Gegner die Puste ausgehen“. In völliger Verkennung der Lage des Dritten Reiches befahl der Diktator einen Angriff in den Ardennen, der die Kriegswende erzwingen sollte.
Bedenken der Militärs wischte Hitler beiseite. Der von der Wehrmachtführung erwartete Großangriff der Roten Armee sei doch „der größte Bluff seit Dschingis Khan“, höhnte er und ordnete an: „Keine Verstärkung der Truppen im Osten - dort kann ich noch Boden verlieren, im Westen nicht. Der Osten muss sich allein helfen!“
Zwei Panzerarmeen mit 600 schweren Tanks stießen am 16. Dezember 1944 aus den Wäldern vor und trieben die überrumpelten Amerikaner vor sich her. Schlechtes Wetter hinderte die Alliierten, ihre Flugzeuge aufsteigen zu lassen.
Doch Hitlers Rechnung ging nicht auf. Die deutschen Panzer erreichten die riesigen amerikanischen Treibstofflager bei Stavelot nicht, sie blieben liegen. Als nach Weihnachten der Himmel aufklarte, zerstörte die alliierte Luftwaffe die deutschen Nachschubwege. Hitlers letzte Großoffensive brach zusammen.
Durch das von Anfang an aussichtslose Unternehmen wurde lediglich eine Verlängerung des Krieges erkauft. „Nüchtern bilanziert“, meint der an der Offizierschule der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck lehrende Militärhistoriker John Zimmermann, „bezahlte die Wehrmacht die Ardennenoffensive mit schweren, mit entscheidenden Verlusten. Sie hatte nun endgültig die Kraft verloren, die Initiative noch einmal an sich zu reißen.“
Doch anders als 1918, als einsichtige Generäle Wege zu einem Waffenstillstand suchten, kam für Hitler eine Kapitulation auch nach diesem Fehlschlag nicht in Frage. Der „größte Feldherr aller Zeiten“ ließ seine Männer lieber bis zum bitteren Ende im Mai 1945 weitersterben - entschlossener denn je, alles mit sich in den Untergang zu reißen.
Von Oktober 1944 bis Januar 1945 verharrte die Rote Armee an der ostpreußischen Grenze. Doch es war nur die Ruhe vor dem Sturm, um die Kräfte zu sammeln: 2,2 Millionen Soldaten, 33 500 Geschütze und 7000 Panzer standen kurz nach Neujahr bereit für den entscheidenden Vorstoß nach Berlin.
Am 11. Januar hielt Generaloberst Heinz Guderian einen entschlüsselten Funkspruch der Sowjets in Händen: „Es bleibt bei alter Einladung. Festbeginn 13. früh. Musik komplett, Tänzer ausgeruht und unternehmungsfreudig.“
Das Konzert der „Stalinorgeln“ und Geschütze - bis zu 200 nebeneinander pro Kilometer - begann dann schon am 12. Januar, mit einem stundenlangen Trommelfeuer. Die Wehrmacht konnte der bis zu 20-fachen Überlegenheit der Rotarmisten nicht lange standhalten, die schon fünf Tage später in der Nähe von Königsberg standen.
In Panik floh die deutsche Bevölkerung, die bis dahin unter Strafandrohung daran gehindert worden war, Vorbereitungen für eine geordnete Evakuierung zu treffen. Mit Pferdewagen, Schlitten oder zu Fuß versuchten Frauen, Kinder und Alte - die 16- bis 60-jährigen Männer waren, sofern sie nicht ohnehin in der Wehrmacht dienen mussten, seit September 1944 zum Volkssturm eingezogen - bei eisiger Kälte über die verschneite Ebene im Nordosten Deutschlands zu entkommen. Hunderttausende verloren dabei ihr Leben.
Als die Rote Armee nahe dem im westlichen Ostpreußen gelegenen Elbing die Ostsee erreichte, war ein Großteil der Provinz vom Reichsgebiet abgeschnitten. Als letzter Fluchtweg blieb das Frische Haff, das in jenem Winter von einer dicken Eisschicht bedeckt war.
Endlose Trecks zogen zur Nehrung, einer langgestreckten Landzunge. Die Flüchtlinge hofften, mit Schiffen über die Ostsee gebracht zu werden. Für Tausende wurde die Schiffspassage aber zur tödlichen Falle. Am 30. Januar versenkten sowjetische Torpedos den ehemaligen „Kraft durch Freude“-Dampfer „Wilhelm Gustloff“, später wurden auch die „Steuben“, die „Goya“ und die „Karlsruhe“ auf Grund gesetzt. Mindestens 33 000 Menschen ertranken oder erfroren in der Ostsee.
Als die Front von Osten her immer näher kam, wurden auch die Konzentrationslager geräumt. Der zügige Vormarsch der Roten Armee stoppte zwar die Mordmaschinerie in Auschwitz, doch befreien konnten die Soldaten nur noch wenig mehr als 8000 Menschen. Die meisten der bis dahin Überlebenden waren kurz zuvor auf Transporte und Todesmärsche gen Westen geschickt worden.
Überall in Ostdeutschland wurden die hungernden Häftlinge in klirrender Kälte in dünner Sträflingskleidung über die Straßen getrieben. Die Bewacher schlugen mit ihren Peitschen zu, wenn einer nicht mehr weiter konnte; sie ließen die Entkräfteten im Straßengraben krepieren oder erschossen sie kurzerhand.
Viele Deutsche, durch deren Dörfer die ausgemergelten Gestalten zogen, wurden in der letzten Kriegsphase erstmals direkt mit den Verbrechen konfrontiert, die sie bis dahin nicht hatten wahrhaben wollen.
Hitler hatte sein Hauptquartier „Wolfschanze“ nahe dem ostpreußischen Rastenburg schon Ende November 1944 verlassen und ein neues, „Adlerhorst“ bei Bad Nauheim in Hessen, bezogen. Von dort kehrte er nach der gescheiterten Ardennenoffensive am 16. Januar 1945 mit dem Zug nach Berlin zurück. Bald könne man mit der Straßenbahn von der West- an die Ostfront fahren, soll ein Adjutant Hitlers unterwegs gescherzt haben.
Seine Amtsräume waren schon von Bombentreffern gezeichnet, und die vielen Luftangriffe zwangen Hitler immer häufiger in den Bunker unter der Reichskanzlei, weshalb er bald ganz dorthin umzog.
Anfang Januar 1945, die Ardennenoffensive stockte bereits, bestärkte Rüstungsminister Albert Speer Hitler in dessen Wahn, den Krieg doch noch gewinnen zu können. Man habe, sagte Speer zu Goebbels, genug „nationale Kraft“, um mit den zu erwartenden „Schwierigkeiten“ im sechsten Kriegsjahr fertig zu werden. Er sehe „vertrauensvoll in die Zukunft“.
Das musste er wohl auch. Denn Speer, der einst für Hitler die „Welthauptstadt Germania“ erbauen sollte, hatte viele Bauvorhaben in den Konzentrationslagern genehmigt. Dass es ihm nach dem Krieg gelingen würde, sich als halber Hitler-Gegner darzustellen, der im Frühjahr 1945 das Schlimmste verhindert habe, konnte Speer damals noch nicht ahnen.
„Die ungeheure Dimension der Verbrechen erklärt“ für den Freiburger Historiker Heinrich Schwendemann, „warum Speer und Goebbels, beide die Intelligentesten innerhalb der NS-Führung, seit Stalingrad so vehement auf die Totalisierung des Krieges drangen, auf das 'unbedingt gewinnen Müssen'.“
Deshalb setzte Speer auch in den letzten Kriegsmonaten alles daran, den Nachschub an die Fronten zu sichern. Er ordnete an, dass die Rüstungsindustrie bis zum letzten Moment arbeiten müsse, erst unmittelbar vor dem Eintreffen des Feindes sollten die Produktionsanlagen „gelähmt“ werden.
Noch Mitte März, als der Beginn der alliierten Offensive aus den Brückenköpfen am Rhein bevorstand und die Rote Armee sich an der Oder zum Sturm auf Berlin anschickte, schlug Speer dem Diktator in einer Denkschrift vor, alle Wehrmachtverbände samt Volkssturm an Rhein und Oder zu konzentrieren: „Ein zähes Durchhalten an der jetzigen Front für einige Wochen kann dem Gegner Achtung abgewinnen und vielleicht doch noch das Ende des Krieges günstig bestimmen.“
Hitler reagierte auf Speers illusorische Hoffnung mit dem berüchtigten „Nero-Befehl“ vom 19. März 1945, bei weiteren Rückzügen verbrannte Erde zu hinterlassen. Er sagte zu Speer: „Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil, es ist besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das deutsche Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft. Was nach diesem Kampf übrig bleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten sind gefallen.“
Am Tag vor dem Nero-Befehl war das pommersche Kolberg, wie viele andere Städte im Osten zur „Festung“ erklärt, von den Russen eingenommen worden. Hier hatten preußische Truppen einst Napoleon lange erfolgreich Widerstand geleistet. Das historische Geschehen hatte der Regisseur und Goebbels-Günstling Veit Harlan zu einem Durchhaltefilm verzerrt, der nun, termingerecht, in den letzten Kriegsmonaten den Soldaten vorgeführt wurde.
Den realen Fall Kolbergs ließ Goebbels im Wehrmachtbericht allerdings vertuschen: „Wir können das“, begründete er die Zensur, „angesichts der starken psychologischen Folgen für den Kolberg-Film augenblicklich nicht gebrauchen.“
Nur wenig später stürmte die britische Armee durch die norddeutsche Tiefebene, nachdem ihr bei Wesel die zügige Überquerung des Rheins gelungen war. US-Truppen drangen tief nach Süddeutschland ein. Fast ungehindert, oft als Befreier begrüßt, marschierten sie rasch vorwärts. Viele Soldaten ließen sich einfach überrollen und gefangen nehmen. Großdeutschland wurde von Tag zu Tag kleiner.
In den frühen Morgenstunden des 16. April - die Westalliierten hatten zu diesem Zeitpunkt schon die Elbe überschritten - setzte die Rote Armee zum Sturm auf die Seelower Höhen an der Oder an. Die Erde bebte unter den Artillerieschlägen, und noch in den östlichen Vororten Berlins zitterten die Fensterscheiben.
„Mit unseren Siegen, aber auch mit unserem Blut haben wir das Recht erkämpft, Berlin zu stürmen und als Erste die Stadt zu betreten“, hatte Marschall Georgij Schukow seine Männer vor dem Angriff motiviert.
Im Raum Halbe, südöstlich von Berlin, kesselten die Sowjets die deutsche 9. Armee ein. Bei den Versuchen, aus dem Kessel auszubrechen, starben schätzungsweise 60 000 Mann. Es war die letzte große Schlacht des Zweiten Weltkrieges in Europa.
Der russische Schriftsteller Konstantin Simonow sah später, als er durch jene Gegend fuhr, „Fahrzeuge aller Art ineinander verkeilt, übereinander geschoben, auf dem Rücken liegend, in die umstehenden Bäume geschoben. In all diesem Gewirr von Metall und Holz eine schreckliche Masse verstümmelter menschlicher Körper. Und dieses Bild längs der Schneise bis in die ferne Unendlichkeit“.
Am 28. April kämpften sich Schukows Rotarmisten schließlich zum Reichstag vor. In seinem Bunker hoffte Hitler derweil immer noch auf - nicht mehr existente - deutsche Armeen, die das Blatt wenden würden.
Auch die Wehrmachtberichte blendeten, allerdings bewusst, die Realität aus. „In dem heroischen Kampf der Stadt Berlin kommt noch einmal vor der Welt der Schicksalskampf des deutschen Volkes gegen den Bolschewismus zum Ausdruck“, meldete das Militär an jenem 28. April. „Während in einem, in der neuen Geschichte einmaligen grandiosen Ringen die Hauptstadt verteidigt wird, haben unsere Truppen an der Elbe den Amerikanern den Rücken gekehrt, um von außen her im Angriff die Verteidiger von Berlin zu entlasten.“
Den Selbstmord Hitlers am 30. April verklärte der Wehrmachtbericht zwei Tage später zur Heldentat: „Von dem Willen beseelt, sein Volk und Europa vor der Vernichtung durch den Bolschewismus zu erretten, hat er sein Leben geopfert.“
Am selben Tag erließ der letzte Kampfkommandant von Berlin, General Helmuth Weidling, den Kapitulationsbefehl: „Am 30.4.45 hat sich der Führer selbst entleibt und damit uns, die wir ihm die Treue geschworen hatten, im Stich gelassen ... Jeder, der jetzt noch im Kampf um Berlin fällt, bringt seine Opfer umsonst.“
Deutschlands Reichskanzler Adolf Hitler hatte den totalen Krieg gewollt - und das von ihm entfesselte Inferno kam dem so nahe wie kein anderer Waffengang in der Geschichte der Menschheit. 110 Millionen Soldaten - darunter auch Hunderttausende Frauen in Uniform - waren zwischen Shanghai und San Francisco, Melbourne und Leningrad, zwischen dem Río de la Plata und der Wolga mobilisiert worden; zwei Drittel aller Staaten, in denen drei Viertel der Weltbevölkerung lebten, beteiligten sich an dem Schlachten. Am Schluss befand sich das Dritte Reich mit 54 Staaten im Kriegszustand, nicht alle haben allerdings auch wirklich gegen Hitler gekämpft.
Wenn in Konflikte involvierte Parteien Kriegsrecht und Kriegsbrauch missachten, sprechen Wissenschaftler von einer Entgrenzung der Gewalt - die des Zweiten Weltkriegs war schon bald ohne Beispiel.
Durch die eskalierenden Kampfhandlungen starben in den knapp sechs Jahren mehr Zivilisten als Soldaten - unter den rund 60 Millionen Europäern, Asiaten, Amerikanern und Australiern, die den Tod fanden, überwiegen Frauen, Alte und Kinder. Allein der Holocaust kostete rund sechs Millionen Menschen das Leben.
Zurück blieb eine Spur der Verwüstung, die in Europa vom Atlantik fast bis an den Ural reichte. Nie zuvor wurden in einem vergleichbaren Ausmaß Werte zerstört: moderne Fabriken und Industrieanlagen, unersetzliche historische Stadtkerne, kostbare Gemäldesammlungen - und Millionen Häuser und Wohnungen.
Experten schätzten den Gesamtschaden auf umgerechnet 15 Billionen Dollar; das entspricht dem 2003 erwirtschafteten gemeinsamen Bruttoinlandsprodukt der USA, der Bundesrepublik und Großbritanniens.
Der lange Weg in die Katastrophe hatte im Januar 1933 begonnen. Schon wenige Tage nach seiner Machtübernahme verkündete Hitler der Reichswehrspitze, dass er eine „Frist von sechs bis acht Jahren“ brauche, um in Deutschland „den Marxismus vollständig auszurotten“. Danach werde er „mit bewaffneter Hand“ den „Lebensraum des deutschen Volkes“ ausweiten.
Alles, was der Diktator von Stund an unternahm, war auf die Vorbereitung eines Krieges ausgerichtet. Er ordnete 1935 die Wehrpflicht an und rüstete massiv auf. Er besetzte das entmilitarisierte Rheinland und marschierte 1938 in Österreich ein, wo ihn die Menschen begeistert begrüßten. Obwohl er mit jedem dieser Schritte den Friedensvertrag von Versailles brach, gaben die späteren Siegermächte klein bei.
Die USA hatten sich nach dem Ersten Weltkrieg aus den europäischen Verstrickungen zurückgezogen. In London und Paris forderten nur Einzelne wie der damalige Oppositionelle Winston Churchill die nötige und kostspielige Aufrüstung, mit der Hitler in Schach zu halten gewesen wäre. Die Westmächte erlaubten ihm sogar, 1938 das Sudetenland zu annektieren, das zur Tschechoslowakei gehörte.
Auch Stalin kooperierte zunächst mit dem Nazi-Kanzler - der Kreml-Chef fürchtete, der entfesselte Machtmensch könne sich andernfalls mit den westlichen Demokratien zu einem antikommunistischen Kreuzzug verbünden. 1939 schlossen die Diktatoren einen Nichtangriffspakt. In einem streng geheimen Zusatzprotokoll vereinbarten sie, Polen unter sich aufzuteilen; Stalin erhielt zudem die baltischen Staaten.
Obwohl die Deutschen Hitler umjubelten, stellten ihn seine ohne Blutvergießen organisierten Landnahmen keineswegs zufrieden. Noch im Frühjahr 1945 bereute er, nicht eher losgeschlagen zu haben: „Ich konnte ja nichts machen, da die Engländer und Franzosen alle meine Forderungen akzeptierten.“
Erst als die Wehrmacht im Morgengrauen des 1. September 1939 in Polen einfiel, erklärten London und Paris dem Dritten Reich den Krieg. Doch die Polen waren damit nicht mehr zu retten. In weniger als sechs Wochen überrollte die hochgerüstete Wehrmacht den technologisch rückständigen Nachbarn, dem auch noch die Rote Armee in den Rücken fiel, wie es Hitler und Stalin vereinbart hatten.
Es war der erste sogenannte Blitzkrieg der Geschichte. Von Kampffliegern unterstützte Panzerkeile durchstießen die polnischen Linien und zerstörten die Kommunikationsmöglichkeiten. Die nachfolgenden Divisionen nutzten das Chaos, um den überraschten Gegner einzukesseln.
Schon kurz nach dem Angriff auf den östlichen Anrainer wurde deutlich, dass dieser Krieg ein besonderer sein würde. Die Luftwaffe warf Brandbomben über Warschau ab, denen Tausende Zivilisten zum Opfer fielen. Zugleich begann das Morden am Boden. Deutsche Einheiten exekutierten - nach polnischen Angaben - allein im ersten Kriegsmonat 16 000 Menschen.
Nazi-Funktionär Hans Frank prahlte im „Völkischen Beobachter“, dass die Wälder des überrannten Landes für die Papierproduktion „nicht ausreichen würden“, wenn man auch nur jede siebente Hinrichtung auf Plakaten bekannt geben wolle. Die Empörung über solche Äußerungen hielt sich in Grenzen. William Shirer, amerikanischer Korrespondent in Berlin, notierte: „Ich muss den Deutschen erst noch finden - selbst unter denen, die das Regime nicht mögen -, der irgendetwas schlecht findet an der Zerstörung Polens.“
Hitler annektierte Teile des Staates und befahl, die polnische Intelligenz auszurotten. Allein bis Ende 1939 wurden 67 000 Zivilisten ermordet. Und das war nur der Anfang.
Mit den frühen Verbrechen verstellte sich das NS-Regime von Beginn an den Weg zurück an den Verhandlungstisch. „Wir dürfen einfach den Krieg nicht verlieren“, notierte Goebbels bereits am 16. Januar 1940 weitsichtig.
Doch noch stand dem deutschen Diktator das Glück zur Seite. Obschon er während des Polenfeldzugs den Westen Deutschlands von Truppen entblößt hatte, traute sich Paris einen Angriff nicht zu. Eine solche Attacke hätte dem braunen Expansionsdrang womöglich ein frühes Ende bereitet.
Erstaunlicherweise überschätzten auch die deutschen Militärs ihre Gegner. Als Hitler nach dem Sieg über Polen befahl, Frankreich anzugreifen, erhob die Berliner Generalität immer wieder Einwände.
Der Führer indes gab sich zuversichtlich, den großen Nachbarn im Westen in sechs Wochen unterwerfen zu können. Im Mai 1940 marschierte die Wehrmacht in den Niederlanden und Belgien ein und verleitete Briten und Franzosen dazu, einen Großteil ihrer Streitmacht nach Belgien zu verlegen.
Danach rollten die Deutschen mit Panzern durch die Ardennen, in denen die Strategen in Paris einen natürlichen Schutzwall gesehen hatten. Sie stießen im Rücken der überraschten Briten und Franzosen bis zum Ärmelkanal vor und schnitten die Truppen der westlichen Demokratien von ihrer Ausgangsbasis ab. Es war, so Hitler-Biograf Ian Kershaw, ein „Projekt von genialer Kühnheit“, das tatsächlich wie prophezeit funktionierte.
Wohl kein Erfolg stärkte Adolf Hitlers Popularität in einem solchen Maße wie der Feldzug gegen den vermeintlichen Erbfeind, den die Deutschen im Ersten Weltkrieg vier Jahre lang vergebens zu besiegen versucht hatten.
Der Publizist Sebastian Haffner hat darauf verwiesen, dass das Geheimnis der frühen Triumphe Hitlers in der Schwäche seiner Gegner zu suchen sei. 1940 traf der Diktator erstmals auf einen mindestens ebenbürtigen Widersacher - den inzwischen zum Premierminister aufgestiegenen konservativen Briten Winston Churchill.
Dabei war die Lage Großbritanniens fast schon aussichtslos: Frankreich besiegt und die Sowjetunion mit Hitler verbündet, während sich die USA neutral verhielten und Japan in Asien auf dem Vormarsch war. Der 65-jährige Premier ahnte zudem, dass sein Empire einen Waffengang gegen Berlin nicht überstehen würde. Und doch wollte Churchill lieber auf den Stufen seines Amtssitzes in der Downing Street „im eigenen Blut ersticken“, als vor dem Reich des Bösen zu kapitulieren.
Hitler blieb bis zu seinem Freitod unbegreiflich, warum die Briten sich nicht mit ihm arrangieren mochten - obwohl er ihnen praktisch eine Teilung der Welt angeboten hatte. Dabei verkannte er Churchills Entschlossenheit und Realitätssinn und blieb in seinem krankhaften Wahn von Größe und Bedeutung befangen. Als er Stalins Sowjetunion bereits überfallen hatte, gestand der Krieger Hitler einmal seinem Außenminister Joachim von Ribbentrop: „Wissen Sie, Ribbentrop, wenn ich mich heute mit Russland einige, packe ich es morgen wieder an - ich kann halt nicht anders.“
Neben seiner Kriegslüsternheit bestimmte die Vorstellung vom Lebensraum im Osten das Denken Hitlers. Dass er sich 1941 - und nicht später - gegen seinen Komplizen Stalin wandte, hatte strategische Gründe. Ein Sieg über die Sowjetunion, so glaubte Hitler, werde die Briten zum Frieden zwingen: „Englands Hoffnung ist Russland und Amerika. Ist aber Russland zerschlagen, dann ist Englands letzte Hoffnung getilgt. Der Herr Europas ist dann Deutschland.“
Im Morgengrauen des 22. Juni 1941 flogen seine Sturzkampfbomber unter nervenzerfetzendem Geheul Angriffe auf die sowjetischen Stellungen. Der Boden erbebte vom Dröhnen der Geschütze, tauchfähige Panzer durchpflügten das vier Meter tiefe Wasser des Bug. Drei Millionen deutsche Soldaten, dazu 600 000 Kroaten, Finnen, Rumänen, Italiener, Ungarn, Slowaken und Spanier brachen Richtung Osten auf.
Zunächst lief alles so, wie im Plan für den „Fall Barbarossa“ vorgesehen - eine Anspielung auf Kaiser Friedrich I., der im 12. Jahrhundert einen Kreuzzug gegen die „Ungläubigen“ angeführt hatte. Lange Zeit fand der völlig überrumpelte Stalin gegen die Blitzkriegsstrategie kein Mittel, obwohl er über ausreichend Truppen und Gerät verfügte.
Die Wehrmacht machte in der Ukraine, in Weißrussland und im Baltikum riesige Geländegewinne. Millionen sowjetische Soldaten starben oder wurden in gigantischen Kesselschlachten gefangen genommen und verhungerten dann in deutschen Lagern.
Panik machte sich breit - selbst Moskau schien in Gefahr. In der Nacht zum 17. Oktober 1941 stürmten 150 000 Menschen die Züge in Richtung Osten, während der sowjetische Diktator vor einem Nervenzusammenbruch stand. Er fürchtete eine Verhaftung und versicherte treuherzig einem Mitarbeiter, dass „der Genosse Stalin kein Verräter“ sei.
Hitler plante für den 7. November bereits eine Siegesfeier in der Hauptstadt der UdSSR. Doch nicht der deutsche Kriegsherr, sondern sein Rivale nahm an jenem Tag dort eine Parade ab. Denn die Soldaten - darunter der Fähnrich Richard von Weizsäcker und der Reserveleutnant Helmut Schmidt - kamen nur bis zu den Moskauer Außenbezirken.
Entgegen allen deutschen Annahmen vom tönernen Koloss Sowjetunion war es Stalin nämlich gelungen, allein bis November über 1500 wichtige Industrieanlagen vor den anstürmenden Truppen der Wehrmacht aus dem Westen seines Reiches in den Ural und darüber hinaus zu verlagern - eine „kriegsentscheidende Leistung“, wie der Historiker Manfred Hildermeier analysiert hat. Mehr als 100 Flugzeugfabriken ließ der Kreml-Chef abbauen, auf 10 000 Eisenbahnwaggons verladen und in sicheren Regionen neu errichten.
Und während in Russland selbst Halbwüchsige jeden Tag bis zu zwölf Stunden in den Rüstungsfabriken schuften mussten, zögerte Hitler, alle Reserven im Reich zu mobilisieren. Er fürchtete, die Deutschen würden dann rebellieren.
Mit den neuen Waffen rüstete die Rote Armee ihre in Sibirien stationierten Divisionen aus und schickte sie Anfang Dezember 1941 gegen die deutschen Einheiten, die bei minus 40 Grad in Sommeruniformen zu überleben versuchten. Die Wehrmacht musste erstmals zurückweichen - womit sich Hitlers Hoffnung zerschlug, auch die Sowjetunion in einem Blitzkrieg zu bezwingen.
Bis heute streiten Historiker, ob der gigantische Waffengang für ihn überhaupt zu gewinnen war. Immerhin scheint Stalin zeitweise erwogen zu haben, für einen Friedensschluss Teile der westlichen Sowjetunion anzubieten. Andererseits brachte Hitlers perverser Traum von einem reinrassigen Imperium selbst jene Kräfte in der Ukraine und anderswo gegen ihn auf, die die Wehrmacht zunächst als Befreier vom Stalinschen Joch begrüßt hatten.
Schon kurz nach dem Überfall hatten SS-Einsatzgruppen zunächst jüdische Männer und später auch Frauen und Kinder erschossen. Viele Osteuropäer verhungerten, weil sich die Wehrmacht aus den besetzten Gebieten ernährte. Da werden, hatte Hitler vorab prognostiziert, eben „Millionen sterben“.
Auf der Jagd nach Partisanen, die immer größeren Zulauf hatten, brannten Einheiten der SS, aber auch der Wehrmacht, Dörfer nieder, liquidierten die Einwohner oder verschleppten sie zur Zwangsarbeit ins Reich. In Weißrussland etwa überlebte jeder sechste die Besatzung nicht.
Der wachsende Hass auf die Deutschen ließ die Rotarmisten ihre Heimat mit ungeahnter Selbstaufopferung verteidigen.
Beide Seiten kämpften nun mit einer seit Jahrhunderten nicht mehr erlebten Brutalität. Die deutsche Wehrmacht belagerte Großstädte wie Leningrad - über eine Million Menschen kamen dort um - und brannte Tausende Dörfer in Osteuropa nieder. Russen, Ukrainer, Polen und viele andere mussten Zwangsarbeit leisten. Etwa zehn Millionen Menschen starben allein in der Sowjetunion an Hunger, Krankheit und Erschöpfung.
Ähnlich brutal gingen die Japaner vor. In Südostasien, vor allem in China, verwüsteten sie ganze Landstriche und massakrierten die Bauern.
Gegen das moderne Barbarentum setzten sich die Alliierten mit Flächenbombardements deutscher und japanischer Städte zur Wehr und nahmen dabei ihrerseits den massenhaften Tod Unschuldiger in Kauf.
Nach wie vor rätselhaft bleibt, was Hitler dazu trieb, den Vereinigten Staaten den Krieg zu erklären. Die Deklaration erfolgte wenige Tage nachdem sein japanischer Verbündeter am 7. Dezember 1941 die amerikanische Pazifikflotte in Pearl Harbor, Hawaii, bombardiert und damit den Weltkrieg auf den Pazifik ausgedehnt hatte.
Das deutsche Ostheer kam nicht voran - und dennoch forderte Hitler die weltweit führende Wirtschaftsmacht heraus. War der Diktator zum Untergang entschlossen? Oder hielt er nur einen Zusammenstoß mit den USA für unausweichlich und wollte den Amerikanern aus psychologischen Gründen zuvorkommen?
Präsident Franklin D. Roosevelt hatte zu diesem Zeitpunkt bereits angeordnet, den Bau einer Atombombe zu beschleunigen; Hitlers Kriegserklärung entband ihn nun von der Notwendigkeit, die eher unwilligen Amerikaner für einen Waffengang gegen „Transsylvanien“ zu gewinnen - wie US-Offiziere das feindliche Nazi-Deutschland in Anspielung auf Graf Draculas Heimat intern verspotteten.
Die Vereinigten Staaten produzierten bald mehr Waffen und Material als Japan, das Dritte Reich und Italien zusammen. Gut 70 000 Schiffe und Boote liefen vom Stapel amerikanischer Werften (zum Vergleich: Nippons Marine verfügte 1941 über nicht einmal 300 Kriegsschiffe). Die USA lieferten beinahe alle Lokomotiven und Güterwaggons, die die Rote Armee einsetzte, und Stalin bezog über die Hälfte seines Bedarfs an Flugbenzin, Kupfer und Sprengstoff aus dem Westen.
Dennoch vermochten die deutschen Truppen im Frühjahr 1942 abermals vorzustoßen. Im August wehte die Reichskriegsflagge sogar auf dem Elbrus, dem höchsten Berg im Kaukasus. Doch der Marsch zu den Ölfeldern im Süden überforderte das bereits um eine Million tote, verwundete oder vermisste Soldaten dezimierte Ostheer. Das besetzte Territorium allein in der Sowjetunion war nun mehr als dreimal so groß wie Frankreich.
Am 19. November 1942 geschah, was einige hochrangige deutsche Militärs vorausgesehen hatten. Sowjetische Einheiten durchstießen die ausgedünnten Linien und begannen mit der Einkesselung der 6. Armee, die in Stalingrad einen erbitterten Häuserkampf führte. Hitlers starrsinnige Durchhaltebefehle verhinderten einen Ausbruch der größten Formation der Wehrmacht; viele Soldaten starben. Von 250 000 Mann gingen rund 90 000 in Gefangenschaft, die nur wenige überlebten.
Der symbolträchtige Triumph im Februar 1943 markierte den psychologischen Wendepunkt des Krieges. Die Wehrmacht verlor ihren Nimbus der Unbesiegbarkeit, der bis dahin eine kaum einzuschätzende magische Wirkung entfaltet hatte.
Dass im gleichen Monat Kaiser Hirohito seine Truppen von Guadalcanal nordöstlich Australiens evakuierte, hob die Stimmung der Alliierten zusätzlich.
An allen Fronten mussten die Achsenmächte nun weichen. Dem rohstoffarmen Japan mangelte es bald an Rohöl und Metallen. Alliierte Bomber zerstörten Tokio, Osaka und Yokohama.
Auch die Innenstädte von Hamburg, Köln, Darmstadt oder München fielen dem Bombenhagel zum Opfer. Die mit den Terrorangriffen verbundenen Hoffnungen Londons auf eine Rebellion der Deutschen erfüllten sich zwar nicht - aber dass der Führer sie vor den Sprengsätzen und Phosphorkaskaden nicht zu schützen vermochte, raubte dem Gros der Volksgenossen die letzten Illusionen. Der Krieg war entschieden und offen nur noch die Frage, wie lange er dauern würde.
Die vorrückenden amerikanischen Soldaten empfanden es oft als widerwärtig, wenn Deutsche behaupteten, die GIs herbeigesehnt zu haben. Sie hielten dies für reinen Opportunismus. Doch die Menschen in Köln, Aachen oder Frankfurt am Main hatten genug vom Krieg - und von den US-Boys erwarteten sie mehrheitlich Gutes.
Die Rote Armee dagegen musste mühsam beinahe Stadt für Stadt erobern. Die sinnlose Gegenwehr der Wehrmacht kostete Stalins Truppen noch einmal über eine Million Tote und fast vier Millionen Verwundete.
Und doch ersparten ausgerechnet die Sowjets den Deutschen den Einsatz der schrecklichsten Waffe der Menschheit. Immer wieder trieb Stalin seine Generäle an, ohne Rücksicht auf Verluste nach Berlin vorzustoßen, weil er sich seinen Teil der Beute sichern wollte.
Als die USA im Mai 1945 die Ziele für einen Atombombeneinsatz berieten, hatte die Rote Armee Hitlers Metropole bereits erobert. Der Diktator war tot und die „geschäftsführende Reichsregierung“ am Ende. Statt für Frankfurt oder München entschieden sich die US-Planer für Hiroschima und Nagasaki, wo dann im August 1945 mehr als 200 000 Menschen unter den Atompilzen umkamen.
Am Himmel über Brandenburg aber herrschte am 8. Mai große Freude. Als sich die Maschinen mit der britischen und der amerikanischen Delegation Berlin näherten, drehten sowjetische Jagdflugzeuge Loopings und donnerten in wenigen Meter Entfernung an den Flügeln der Douglas vorbei. Über den Außenbezirken der Reichshauptstadt bildete das Jagdgeschwader eine Formation, während die alliierten Gäste zur Landung ansetzten.
Unten, auf dem Vorfeld des Tempelhofer Flughafens, hatte den ganzen Vormittag ein kleiner dicker sowjetischer Oberst mit der Ehrenkompanie die Begrüßung geübt. Als die Verbündeten den Boden betraten, nahmen die Rotarmisten Haltung an.
Bald darauf rollte auch die Maschine mit Abgesandten der „geschäftsführenden Reichsregierung“ aus, welche - mit Sitz in Flensburg - noch von Hitler testamentarisch ernannt worden war. Russische Soldaten brachten die Deutschen auf einem Umweg zu den bereitgestellten Wagen - des Führers Generäle durften nicht die Ehrenformation abschreiten. Schließlich sollte der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, die Kapitulation „ratifizieren“, die in leicht abgewandelter Form bereits am Tag zuvor rangniedrigere Offiziere in Reims unterzeichnet hatten.
Es war später Vormittag, als sich Sieger und Besiegte ihren Weg durch die Ruinen zum Kasino der Festungspionierschule in Karlshorst bahnten, in der heute das Deutsch-Russische Museum residiert. Es stank nach verwesendem Fleisch, zerschossene Panzer säumten den Weg. Die Szenerie erinnerte einen amerikanischen Journalisten an einen Science-Fiction-Roman von H. G. Wells: Über viele Meilen standen da die hageren, abgedeckten, ausgehöhlten Häusergerippe, schweigend und wie Skelette. Es gab keinen Verkehr in den Straßen außer russischen Militärfahrzeugen. Über der ganzen toten Hauptstadt war die Luft dick mit Rauch gemischt, und man konnte Rauchsäulen erkennen, die sich aus brennenden Gebäuden träge in den stillen Himmel über der Stadt hinaufschraubten.
Keitel und Begleitung mussten in einer Villa warten. Die Zeremonie sollte am Nachmittag erfolgen, doch in der sowjetischen Ausfertigung der Kapitulationsurkunde fehlten die letzten vier Zeilen. Die Moskauer Zentrale hatte es versäumt, den Text vollständig zu übermitteln. Es dauerte Stunden, bis die Panne behoben war. Erst gegen Mitternacht rief Marschall Schukow, der Eroberer Berlins, die Deutschen in den weißgetünchten Saal, in dem sich alliierte Offiziere, Diplomaten und Journalisten versammelt hatten.
Keitel hatte seinen Untergebenen befohlen, militärisch zu grüßen, also nicht die Hand zum deutschen Gruß zu heben. Er selbst schob den Marschallstab zackig nach vorn. Einer der Russen erzählte später, die Geste habe ihn an Hanteltraining erinnert.
Schukow beorderte den Generalfeldmarschall und die beiden Vertreter von Marine und Luftwaffe an den breiten Tisch, an dem die Repräsentanten der Siegermächte saßen. Keitel zog den Lederhandschuh von der rechten Hand und setzte das Monokel auf. Nachdem die Adlaten Hitlers ihren Namen unter die drei englischen, die russische und die deutsche Ausfertigung der Kapitulationsurkunde gesetzt hatten, verwies Schukow sie des Raumes: „Die deutsche Delegation kann den Saal verlassen.“
Ungefähr 15 Minuten hatte der Akt gedauert. Er beendete in Europa den schrecklichsten Krieg der Geschichte. In Südostasien ging das Töten noch einige Monate weiter, bis sich am 2. September auch Japan ergab. 
SCHICKSALSJAHR 1945 • Umkehr nach dem Untergang

Umkehr nach dem Untergang

Das Jahr 1945 war der entscheidende Wendepunkt in der deutschen Geschichte. Von Heinrich August Winkler
Einmal zumindest hatte Adolf Hitler richtig prophezeit. Am 1. September 1939, dem ersten Tag des von ihm entfesselten Krieges, verkündete der „Führer und Reichskanzler“ vor dem Reichstag: „Ein November 1918 wird sich niemals mehr in der deutschen Geschichte wiederholen.“
Tatsächlich verlief der Zweite Weltkrieg an der deutschen „Heimatfront“ ganz anders als der Erste. Es gab keine Streiks, keine Meutereien und erst recht keine Revolution. Das hatte seinen Grund nicht nur in der Allgegenwart des Terrors. Es lag vor allem auch an der rücksichtslosen Ausbeutung der besetzten Gebiete, die Deutschland eine Hungersnot wie den „Steckrübenwinter“ von 1916/17 ersparte. Es lag an der ebenso rücksichtslosen Ausbeutung von Millionen von zwangsverpflichteten ausländischen Zivilarbeitern, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen. Die Zwangs- und Sklavenarbeit von Ausländern erlaubte es, dass die deutschen Arbeiter zwischen 1939 und 1945 weniger ausgebeutet wurden als zwischen 1914 und 1918. Sie konnten und sollten sich privilegiert fühlen, und das taten die meisten von ihnen auch. Zu keiner Zeit musste das „Dritte Reich“ fürchten, dasselbe Schicksal zu erleiden wie das Kaiserreich, das im letzten Kriegsjahr von einer revolutionären Erhebung der Arbeiter und Soldaten hinweggefegt worden war.
Im November 1918 erlebte Deutschland einen Regimewechsel, die Ablösung der Monarchie durch eine Republik. Das Deutsche Reich verlor zwar 1919 durch den Friedensvertrag von Versailles ein Siebtel seines Gebiets, aber es blieb erhalten. Ein gesellschaftlicher und moralischer Bruch mit dem Kaiserreich fand nicht statt. Die militärische Führung und das hohe Beamtentum, die Großunternehmer und die ostelbischen Großgrundbesitzer bildeten weiterhin die „Stützen der Gesellschaft“. Die parlamentarische Demokratie, die Deutschland erst im Oktober 1918 eingeführt hatte, galt weiten Kreisen als die Staatsform der Sieger und damit als undeutsch. Die militärische Niederlage wurde von der Rechten auf heimtückischen Verrat der Linken, einen „Dolchstoß“ in den Rücken des „im Felde unbesiegten“ Heeres, zurückgeführt. Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Anteil an der Kriegsschuld von 1914 unterblieb. Das erleichterte den Kampf gegen das „Diktat von Versailles“: Wenn sich die Deutschen der Weimarer Republik in einem Punkt grundsätzlich einig waren, dann war es die Überzeugung, dass es kein wichtigeres außenpolitisches Ziel gab als die Überwindung der Friedensordnung von 1919.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war fast alles anders. Die Siegermächte übernahmen die oberste Gewalt in dem okkupierten und in vier Besatzungszonen aufgeteilten Land. Der nationalsozialistischen Führung wurde, soweit sie den „Zusammenbruch“ überlebt hatte, von den Alliierten der Prozess gemacht, ebenso den am stärksten belasteten Spitzen von Wehrmacht, Diplomatie und Wirtschaft. Es gab auf Jahre hinaus kein deutsches Militär. Anders als nach 1918 konnten sich nach 1945 weder Kriegsunschuld- noch Dolchstoßlegenden durchsetzen. Den Zweiten Weltkrieg hatte das nationalsozialistische Deutschland zu verantworten: Nur eine Minderheit von Unbelehrbaren stellte das in Frage.
Für die deutsche Geschichte bedeutet das Jahr 1945 nicht nur einen Wendepunkt unter anderen, sondern den Wendepunkt schlechthin. Zeitweilig schien es sogar, als markiere es den Endpunkt der deutschen Nationalgeschichte. Ende Mai 1945, wenige Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches, hielt Thomas Mann, eine der großen Gestalten des deutschen Exils, in der Library of Congress zu Washington eine Rede über „Deutschland und die Deutschen“, in der er den tieferen Gründen der deutschen Katastrophe nachging. Einen davon sah er darin, „dass Deutschland nie eine Revolution gehabt und gelernt hat, den Begriff der Nation mit dem der Freiheit zu vereinigen“.
Selbst „die vielleicht berühmteste Eigenschaft der Deutschen“, die „Innerlichkeit“, hatte ihnen nach Meinung des Dichters mehr Unglück als Glück gebracht. Ein Ausdruck dieser Innerlichkeit war aus seiner Sicht die deutsche Romantik. Europa verdanke ihr tiefe und belebende Impulse. Die Deutschen aber seien durch sie das „Volk der romantischen Gegenrevolution gegen den philosophischen Intellektualismus und Rationalismus der Aufklärung“ geworden. Mann folgerte daraus, „dass es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang“.
Nicht alles, was Thomas Mann seinem Auditorium zu bedenken gab, hielt wissenschaftlicher Kritik stand; nicht alles war originell. Und doch traf er in seinem „Stück deutscher Selbstkritik“, wie er es nannte, etwas Wesentliches: einen Grundwiderspruch der deutschen Geschichte. Kulturell und gesellschaftlich ein Teil des alten Okzidents, hatte Deutschland sich politisch ganz anders entwickelt als seine westlichen Nachbarn. Es war sehr viel später als Frankreich und England ein Nationalstaat geworden und noch später eine Demokratie.
Ein Nationalstaat wurde Deutschland erst 1871 durch Bismarcks Reichsgründung, die schon von Zeitgenossen als Ergebnis einer „Revolution von oben“ gekennzeichnet wurde. 1871 war Preußens Antwort auf die gescheiterte Revolution von 1848. Bismarck, der Preuße aus märkischem Uradel, löste eine der beiden Fragen, um die es in jener Revolution gegangen war: die Einheitsfrage. Die andere Frage, die Freiheitsfrage, löste er nicht und konnte er nicht lösen. Die Einführung einer parlamentarisch verantwortlichen Reichsregierung hätte den Interessen des alten Preußens, seiner Dynastie, seines grundbesitzenden Adels, seines Militärs und seines Beamtentums fundamental widersprochen - den Interessen der anderen Bundesstaaten wie Bayern, Württemberg oder Sachsen freilich auch.
Noch 1918, kurz bevor das Reich in der Hoffnung auf einen milden Frieden dann doch zum westlichen System der parlamentarischen Mehrheitsregierung überging, hatte Thomas Mann in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ den deutschen Macht- und Obrigkeitsstaat gegen die politischen Ideen der westlichen Demokratien verteidigt: Alles, was die deutsche „Kultur“ auszeichnete und der westlichen „Zivilisation“ überlegen machte, hatte sich nach seiner Überzeugung nur dank des fürsorglichen Schutzes eines starken, vom Mehrheitswillen unabhängigen Staates entwickeln können.
Nach der Gründung der Weimarer Republik revidierte sich der Autor gründlich: Er wurde zum beredten Fürsprecher der parlamentarischen Demokratie. Im gebildeten Deutschland aber überwogen jene, die die neue Ordnung ablehnten und an ihren Vorbehalten gegenüber „dem Westen“ festhielten. Die erste deutsche Demokratie war ein Produkt der Niederlage: Diese Vorbelastung war einer der wichtigsten Gründe des Scheiterns von Weimar.
Ein Produkt der Niederlage war auch der Mann, der als Sieger aus der Staatskrise der Weimarer Republik hervorging: Adolf Hitler. Das Trauma des verlorenen Krieges war die Bedingung seiner politischen Karriere. An die verbreiteten Ressentiments gegenüber dem „System“ von 1918 appellierten viele, aber niemand so virtuos wie er. Anders als die Honoratioren an der Spitze der bürgerlichen Rechten vermochte es der Führer der Nationalsozialisten, die Massen anzusprechen. Als die parlamentarische Demokratie von Weimar 1930 zusammenbrach und ein halbautoritäres Präsidialregime an ihre Stelle trat, schnellten die Stimmenzahlen für die NSDAP nach oben.
Die Deutschen hatten zwar erst sehr spät eine parlamentarische Demokratie erhalten, die in Weimar von Anfang an mehr schlecht als recht funktionierte. Aber schon unter Bismarck waren sie in den Genuss des allgemeinen gleichen Reichstagswahlrechts gekommen. Unter den Präsidialregierungen der späten Republik hatte der Reichstag als Gesetzgebungsorgan weniger zu sagen als im Kaiserreich; das allgemeine Wahlrecht wurde damit weitgehend um seine politische Wirkung gebracht. Ebendarin lag Hitlers Chance: Er konnte sich nun als Anwalt des entrechteten Volkes ausgeben und fand Glauben für sein Versprechen, das Dritte Reich werde dem Volke näher sein als alle politischen Ordnungen, die Deutschland bisher erlebt hatte.
Ihren größten Wahlerfolg erzielten die Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 mit einem Stimmenanteil von 37,4 Prozent. Doch dann kam ein jäher Absturz: Bei der zweiten Reichstagswahl des Jahres 1932, am 6. November, erhielt die NSDAP nur noch 33,1 Prozent. Das waren über zwei Millionen Stimmen weniger als im Juli. Viele Beobachter im In- und Ausland hielten Hitler bereits für politisch erledigt. Sie unterschätzten jedoch seine mächtigste Verbündete: die Angst vor dem Bürgerkrieg und der roten Revolution. Die Kommunisten hatten nämlich am 6. November über 600 000 Stimmen hinzugewonnen; sie erreichten die magische Zahl von 100 Mandaten und lagen mit 16,9 Prozent nur noch um 3,5 Prozentpunkte hinter der SPD.
Der Schock des Wahlausgangs trug wesentlich dazu bei, dass seit November 1932 konservative Politiker, Schwerindustrielle und preußische Rittergutsbesitzer, die über enge Verbindungen zum greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg verfügten, verstärkt auf eine Machtbeteiligung Hitlers drängten. Wenn er von einer konservativen Kabinettsmehrheit eingerahmt werde, könne er als Reichskanzler keinen Schaden anrichten, sondern eine Brücke zwischen den „nationalen“ Eliten und den „nationalen“ Massen schlagen: So dachten sie, und diesem Kalkül fügte sich am Ende auch der widerstrebende Hindenburg. Am 30. Januar 1933 berief er Hitler an die Spitze einer Regierung der „nationalen Erhebung“, in der es sehr viel mehr konservative als nationalsozialistische Minister gab.
Die Machtübertragung an Hitler war nicht das zwangsläufige Ergebnis der Geschichte der Weimarer Republik. Der Reichspräsident war durchaus nicht dazu gezwungen gewesen, Anfang Juni 1932 den im September 1930 gewählten Reichstag aufzulösen und damit die Staatskrise dramatisch zuzuspitzen. Hätte es erst im September 1934 - zum regulären Zeitpunkt - Neuwahlen gegeben, wären sie wahrscheinlich in eine Zeit der wirtschaftlichen Erholung und der politischen Entradikalisierung gefallen.
Hindenburg hätte sogar noch nach der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932, bei der erwartungsgemäß Nationalsozialisten und Kommunisten zusammen die Mehrheit der Sitze erreichten, die Möglichkeit gehabt, ohne Verfassungsbruch eine Kanzlerschaft Hitlers zu verhindern: Er konnte einen Reichskanzler, dem der Reichstag mit „negativer“, nicht regierungsfähiger Mehrheit das Misstrauen aussprach, geschäftsführend im Amt belassen.
Ein „Betriebsunfall“ aber war der 30. Januar 1933 auch nicht. Dass hochkonservative Kreise aus dem ostelbischen Großgrundbesitz und dem Militär den größten Einfluss auf den Reichspräsidenten ausübten und dadurch das eigentliche Machtzentrum der späten Weimarer Republik bildeten, hatte Gründe, die weit in die deutsche Geschichte zurückreichten. Es war der alte, preußisch geprägte Obrigkeitsstaat, der in Hindenburg und seiner Umgebung fortlebte. In diesem Kreis wurden 1932/33 die Weichen für den Weg in die Katastrophe gestellt.
Hitler habe in freien Wahlen nie eine Mehrheit des deutschen Volkes hinter sich gebracht: So lautet eine alte und beliebte Schutzbehauptung, die man auch heute noch hört und liest. Tatsache ist, dass es bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 noch gefahrlos möglich war, gegen ihn zu stimmen. Die NSDAP kam damals auf 43,9 Prozent, die mit ihr verbündete „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“, ein Bündnis Deutschnationaler und anderer Konservativer, auf 8 Prozent. Das ergab eine Mehrheit von 51,9 Prozent für die Regierung Hitler.
Die persönliche Popularität Adolf Hitlers stieg in den folgenden Jahren ins Unermessliche; sie war ungleich höher als die seiner Partei. Die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit innerhalb weniger Jahre, zu erheblichen Teilen eine Folge der Rüstungskonjunktur, trug zu diesem Triumph ebenso bei wie die beiden größten außenpolitischen Erfolge der Vorkriegszeit: die kampflose Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands 1936 und der „Anschluss“ Österreichs 1938.
Die Judenfeindlichkeitt der Nationalsozialisten erschien den meisten Deutschen übertrieben, aber im Kern nicht unberechtigt. Verpönt war rohe Gewalt gegenüber Juden. Über ihre „gesetzliche“ Entrechtung aber empörten sich die wenigsten, und kaum jemand trug Bedenken, aus der Enteignung jüdischen Besitzes Nutzen zu ziehen. Nie zuvor hatte es eine derart radikale Umverteilung in Deutschland gegeben wie die „Arisierung“ in den Jahren 1933 bis 1939, eine gigantische, erzwungene Vermögensübertragung von jüdischen an nichtjüdische Deutsche, die bis heute nachwirkt. Über die physische Vernichtung der europäischen Juden seit 1941 wurde mehr bekannt, als das Regime wünschte. Aber zum Wissen gehört immer auch das Wissenwollen, und daran fehlte es, was den Holocaust angeht, im Deutschland des Dritten Reiches.
Hitlers Krieg, der am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen begann, war bei den Deutschen zunächst durchaus nicht populär, wohl aber die frühen Siege, an erster Stelle der über Frankreich im Sommer 1940. Nach dem Fall von Paris schien Deutschland den Ersten Weltkrieg mit 22 Jahren Verspätung doch noch gewonnen zu haben. „Die übermenschliche Größe des Führers und seines Werkes erkennen heute alle gutgesinnten Volksgenossen restlos, freudig und dankbar an“, berichtete am 9. Juli 1940 der Regierungspräsident von Schwaben.
Das akademische Deutschland war nicht weniger begeistert als die vielen namenlosen „Volksgenossen“. Der Historiker Friedrich Meinecke, geboren 1862, stand Hitler und dem Nationalsozialismus kühl, ja ablehnend gegenüber. Am 4. Juli 1940 aber schrieb er einem Kollegen: „Freude, Bewunderung und Stolz auf dieses Heer müssen zunächst auch für mich dominieren. Und Straßburgs Wiedergewinnung! Wie sollte einem da das Herz nicht schlagen.“
Ohne starken Rückhalt bei den akademischen Eliten hätte Hitler sich schwerlich zwölf Jahre lang an der Macht behaupten können. Die tragfähigste Brücke zwischen dem „Führer“ und den „Gebildeten“ war wohl der Mythos vom „Reich“. Keiner benutzte ihn so gekonnt wie Hitler; nirgendwo hatte dieser Mythos so tiefe Wurzeln geschlagen wie bei denen, die in den Genuss höherer Bildung gelangt waren.
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das sich 1806 unter dem Druck Napoleons auflösen musste, war nie ein Nationalstaat gewesen. Es hatte sich lange als Schutzmacht der abendländischen Christenheit verstanden und damit einen übernationalen Anspruch verbunden.
Die Reichsidee war „großdeutsch“; sie umfasste immer auch Österreich, das der Preuße Bismarck aus seinem „kleindeutschen“ Reich von 1871 ausgeschlossen hatte. Darum war der großdeutsche Gedanke nie so lebendig wie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg: Mit dem Untergang des habsburgischen Vielvölkerreichs im Jahre 1918 war das stärkste Hindernis entfallen, das einer Vereinigung von Österreichern und „Reichsdeutschen“ im Weg gestanden hatte.
Doch für seine Ideologen bedeutete das Reich noch sehr viel mehr: Es hatte die Bestimmung, die „europäische Ordnungsmacht“ zu sein. Das war der Titel einer nationalsozialistischen Programmschrift aus dem Jahr 1941, und es war zugleich das Credo der Intellektuellen, die an Hitler glaubten. Manche knüpften sogar an die mittelalterliche Vorstellung an, dass das Reich der Deutschen dazu berufen sei, die Herrschaft des Antichrist aufzuhalten, womit sie dem Antibolschewismus der Nationalsozialisten eine Art heilsgeschichtlicher Rechtfertigung verschafften. In dem verballhornten deutschen Bildungsgut, aus dem Hitler lebte und das er in Politik umsetzte, konnten sich viele Vertreter des gebildeten Deutschland wiedererkennen - die jüngeren mehr als die älteren, die in der Zeit vor 1914 aufgewachsen waren und ihre Vorbehalte gegenüber der Vulgarität des „Emporkömmlings“ nie ganz überwanden.
Es gab eine Wahlverwandtschaft zwischen Hitler und den jüngeren Deutschen, die den deutschen Geist zu verkörpern meinten. Diese Wahlverwandtschaft überdauerte nicht nur den Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941, sondern sie war wohl nie so stark wie in der Zeit, da Hitler im Begriff schien, den Endkampf gegen den „jüdischen Bolschewismus“ zu gewinnen.
Die Niederlage von Stalingrad im Januar 1943 versetzte der Suggestion, die von dem Diktator ausging, einen schweren Stoß. An einen „Endsieg“ zu glauben fiel vielen Deutschen zunehmend schwer. Die Nachricht vom Abend des 20. Juli 1944, Hitler habe ein Attentat nur leicht verletzt überlebt, ließ die Sympathien für den Mann an der Spitze des Großdeutschen Reiches nochmals ansteigen. Nach den Beobachtungen des Präsidenten des Oberlandesgerichts Nürnberg glaubten selbst Deutsche, die keine ausgesprochenen Nationalsozialisten waren, „dass nur der Führer die Lage meistern kann und sein Tod das Chaos und den Bürgerkrieg zur Folge gehabt hätte“.
Ein Dreivierteljahr später, im Frühjahr 1945, dachten nicht mehr viele so. Die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, des SD, hielten fest, was offenbar eine weitverbreitete Meinung war: „Der Führer wurde uns von Gott gesandt, aber nicht um Deutschland zu retten, sondern um Deutschland zu verderben. Die Vorsehung hat beschlossen, das deutsche Volk zu vernichten, und Hitler ist der Vollstrecker dieses Willens.“
Mit dem Dritten Reich ging am 8. Mai 1945 auch das von Bismarck 1871 gegründete Deutsche Reich unter, das Thomas Mann das „unheilige Deutsche Reich preußischer Nation“ nannte, das immer nur ein „Kriegsreich“ habe sein können. Den Untergang Preußens, das unter Hitler nur noch ein Schattendasein geführt hatte, vollendete der Alliierte Kontrollrat durch das Gesetz Nummer 46 vom 25. Februar 1947. Es verfügte die Auflösung des Staates Preußen mit der Begründung, dieser sei „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“ gewesen und habe in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört.
Das war eine einseitige Schuldzuweisung, denn es hatte stets auch ein „anderes“ Preußen gegeben: das Preußen der Aufklärung, der Stein-Hardenbergschen Reformen, der Weimarer Republik und des 20. Juli 1944. Doch es ist auch wahr, dass der Österreicher Adolf Hitler den Mythos Preußen, den Kult um Friedrich den Großen und den Appell an die preußischen Tugenden des Gehorsams und der Pflichterfüllung benötigte, um Deutschland beherrschen und die Deutschen in den Krieg führen zu können. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war der preußische Mythos so verbraucht wie der sehr viel ältere Reichsmythos, der den Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahre 1806 um 139 Jahre überlebt hatte.
Von dem Territorium des Reiches, so wie Hitler es 1933 vorgefunden hatte, blieb den Deutschen 1945 nur, was westlich von Oder und Neiße lag. Die Abtrennung Ostpreußens, Hinterpommerns, Ostbrandenburgs und Schlesiens, die unter polnische beziehungsweise, im Fall des Gebiets um Königsberg, unter sowjetische Verwaltung kamen, bedeutete nicht nur den Verlust eines Viertels des Reichsgebiets in den Grenzen von 1937 und einen erzwungenen Bevölkerungstransfer, von dem über sieben Millionen Deutsche betroffen waren. Der Verlust der Ostgebiete bildete zusammen mit der „Bodenreform“ in der Sowjetischen Besatzungszone auch eine tiefe sozialgeschichtliche Zäsur: Es gab fortan keinen ostelbischen Rittergutsbesitz mehr. Einer ehedem einflussreichen Machtelite, die wie keine zweite das alte, obrigkeitsstaatliche Deutschland verkörpert hatte, war im Wortsinn der Boden entzogen worden.
Auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen hatte es, sieht man von Ostholstein und dem Wendland ab, die Klasse der Rittergutsbesitzer ohnehin nie gegeben. Dass die Bundesrepublik, anders als Weimar, zu einem bürgerlichen, demokratischen, dem Westen zugewandten Staat werden konnte, lag auch an diesem oft übersehenen Teil des Kontinuitätsbruchs von 1945.
Eine „Stunde null“ hat es nach dem Untergang des Dritten Reiches nicht gegeben, und doch trifft dieser Begriff das Empfinden der Zeitgenossen ziemlich genau. Nie war die Zukunft in Deutschland so wenig vorhersehbar, nie das Chaos so allgegenwärtig wie im Frühjahr 1945. In der Sowjetischen Besatzungszone erlebten die Deutschen, und vor allem die Frauen, die Willkür der Sieger auf ungleich brutalere Weise als in den Westzonen; Rechtlosigkeit aber war in den ersten Wochen nach der Kapitulation eine gesamtdeutsche Erfahrung.
Die „Zusammenbruchsgesellschaft“ war in allen Besatzungszonen hochmobil: Millionen von Heimatvertriebenen und Ausgebombten, aber auch ehemaligen Zwangsarbeitern und Überlebenden des Holocaust waren auf der Suche nach einer Bleibe; hungrige Stadtbewohner unternahmen Hamsterfahrten aufs Land, wo sie sich, auf dem Weg des Gütertausches, mit den notwendigsten Lebensmitteln versorgten; viele ehedem Bessergestellte, die nun ohne Gehälter, Pensionen und sonstige regelmäßige Einkünfte waren, mussten zeitweilig primitive Arbeiten verrichten; die Trümmerfrauen wurden zur Verkörperung eines radikalen Tausches der Geschlechterrollen.
Im Zuge von Bombenkrieg, Vertreibung und Zusammenbruch veränderte sich die deutsche Gesellschaft wesentlich stärker als in den ersten zehn Jahren von Hitlers Herrschaft. Mit dem sozialen Wandel ging ein Umbruch der Werte einher: Hunger und Obdachlosigkeit, der tägliche Kampf ums Überleben erschütterten die hergebrachten Moralvorstellungen. Selbst Kirchenfürsten wie der Kölner Kardinal Joseph Frings äußerten Verständnis dafür, wenn manche Gläubige den Unterschied zwischen „mein“ und „dein“ nicht mehr so ernst nahmen wie ehedem. („Fringsen“ nannte der Volksmund diese geläufige Art der Aneignung von fremdem Besitz.)
Das Ende aller Sicherheit prägte sich tief in das Gedächtnis derer ein, die es erlebten. Aber Dauer war den meisten Veränderungen von 1945 nicht beschieden. Die Zusammenbruchsgesellschaft war eine Gesellschaft im Ausnahmezustand. Sie brachte keine neue Ordnung hervor, sondern die tiefe Sehnsucht, so rasch wie möglich zu irgendeiner Form von Normalität zurückzukehren. Die setzte dann, in den westlichen Besatzungszonen, im Juni 1948 mit der Währungsreform ein.
Die Art und Weise, wie die Deutschen nach 1945 mit ihrer jüngsten Vergangenheit umgingen, war zutiefst widersprüchlich. Die meisten hielten den Mann, den sie zuvor wie einen Gott verehrt hatten, nun für Deutschlands Unglück. Aber die Schuld an der „deutschen Katastrophe“, von der Friedrich Meinecke 1946 im Titel einer vielgelesenen Schrift sprach, gaben sie nicht sich, sondern der obersten Führung des Dritten Reiches, namentlich Adolf Hitler, der sie verführt habe.
Über die Rolle, die sie zwischen 1933 und 1945 gespielt hatten, schwiegen sich die Deutschen in ihrer Mehrzahl noch dann lieber aus, wenn sie mehr als nur Mitläufer im Sinne der Entnazifizierung gewesen waren. Sie wurden auch von keiner demokratischen Partei gedrängt, sich ehrlich zu machen. Schließlich hatte die NSDAP bei Kriegsende rund 8,5 Millionen Mitglieder gezählt. Wer die ehemaligen Parteigenossen nicht in die Arme einer radikalen Rechtspartei treiben wollte, durfte sie nicht verprellen, sondern musste um sie werben. Infolgedessen schritt die innere Umkehr nur langsam voran. Es vergingen Jahrzehnte, bis sich in der Bundesrepublik die Einsicht durchgesetzt hatte, dass der Nationalsozialismus nicht eine schlecht durchgeführte, aber ursprünglich gute Idee gewesen war, sondern von Anfang an und in seinem Wesen verbrecherisch.