Der 21. Geburtstag - James Patterson - E-Book

Der 21. Geburtstag E-Book

James Patterson

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Beschreibung

Eine verschwundene junge Mutter. Ein verdächtiger Ehemann. Ein Geflecht aus Lügen so tief, dass Lindsay Boxer bald keinen Ausweg mehr sieht ...

Reporterin Cindy Thomas wird in ihrem Büro von einer verzweifelten Frau aufgesucht, deren Tochter und Enkeltochter spurlos verschwunden sind. Sie verdächtigt ihren Schwiegersohn, den beiden etwas angetan zu haben. Cindy kontaktiert kurzerhand ihre Freundin, Sergeant Lindsay Boxer, die sich mit Feuereifer für den Fall und dessen Priorisierung beim SFPD einsetzt. Denn die Zeit, die beiden Verschwundenen lebend zu finden, läuft langsam aber sicher ab. Doch dann taucht eine Leiche auf – und der »Women's Murder Club« muss alles daran setzen herauszufinden, was hier wirklich vor sich geht ...

Verpassen Sie auch nicht die anderen Fälle für den »Women's Murder Club«! Jeder hochspannende Band kann eigenständig gelesen werden.

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Seitenzahl: 442

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Reporterin Cindy Thomas wird in ihrem Büro von einer verzweifelten Frau aufgesucht, deren Tochter und Enkeltochter spurlos verschwunden sind. Sie verdächtigt ihren Schwiegersohn, den beiden etwas angetan zu haben. Cindy kontaktiert kurzerhand ihre Freundin, Sergeant Lindsay Boxer, die sich mit Feuereifer für den Fall und dessen Priorisierung beim SFPD einsetzt. Denn die Zeit, die beiden Verschwundenen lebend zu finden, läuft langsam aber sicher ab. Doch dann taucht eine Leiche auf – und der »Women’s Murder Club« muss alles daran setzen herauszufinden, was hier wirklich vor sich geht …

Autor

James Patterson, geboren 1947, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Auch die Romane seiner packenden Thrillerserie um Detective Lindsay Boxer und den »Women’s Murder Club« erreichen durchweg die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten. Regelmäßig tut er sich für seine Bücher mit anderen namhaften Autoren oder Stars zusammen wie mit Dolly Parton für den »New York Times«-Nr.-1-Bestseller »Run, Rose, Run«. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester County, N.Y.

Die »Women’s Murder Club«-Reihe bei Blanvalet:

Der 1. Mord · Die 2. Chance · Der 3. Grad · Die 4. Frau · Die 5. Plage · Die 6. Geisel · Die 7 Sünden · Das 8. Geständnis · Das 9. Urteil · Das 10. Gebot · Die 11. Stunde · Die Tote Nr. 12 · Die 13. Schuld · Das 14. Verbrechen · Die 15. Täuschung · Der 16. Betrug · Die 17. Informantin · Die 18. Entführung · Das 19. Weihnachtsfest · Das 20. Opfer · Der 21. Geburtstag

James Patterson

mit Maxine Paetro

Der 21. Geburtstag

Thriller

Deutsch von Leo Strohm

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The 21st Birthday« bei Little, Brown and Company, Hachette Book Group, New York.

Die Figuren und Ereignisse in diesem Buch sind fiktional.

Ähnlichkeiten zu realen Personen, lebend oder verstorben, wären rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © 2021 by James Patterson

This edition arranged with Kaplan/DeFiore Rights through Paul & Peter Fritz AG.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Gerhard Seidl, text in form

Umschlaggestaltung und -motiv: © www.buerosued.de, unter Verwendung von Motiven von Arcangel (Jarno Saren); Getty Images (Caspar Benson/fStop)

SH · Herstellung: CS

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-33528-1V001

www.blanvalet.de

Im Gedenken an Philip R. Hoffman,Ratgeber und Freund

PROLOG

Cindy Thomas ging hinter Robert Barnetts Sekretärin durch den langen Flur der Rechtsanwaltskanzlei Barnett & Partner in Washington, D.C.

Gut möglich, dass sich aus diesem Treffen etwas ganz Großes entwickelte, darum hatte sie eine entsprechende Garderobe gewählt: elegantes schwarzes Kleid, maßgeschneiderte Lederjacke, ein Hauch Lippenstift und dazu ihr Selbstbewusstsein, das auf dem Stoff beruhte, den sie mitgebracht hatte.

Als führende Polizeireporterin des San Francisco Chronicle befasste sie sich regelmäßig mit grausamen und kaltschnäuzigen Mordserien der Gegenwart.

Bob Barnett war Rechtsanwalt und Literaturagent und hatte ihren Tatsachenroman Fish und sein Mädchen: Eine wahre Geschichte über Liebe und Serienmord zu sehr anständigen Konditionen an einen angesehenen Verlag vermittelt. »Ein viel beachtetes Debüt«, so war immer wieder zu lesen gewesen, und so hatte das Buch auch der Bestsellerliste der New York Times eine kurze Stippvisite abgestattet.

Fish und sein Mädchen schilderte die wahre Geschichte eines psychopathischen Serienkillers und seiner gleichermaßen mordlüsternen und gewissenlosen Freundin. Cindy hatte mit ihren Recherchen entscheidend zur Festnahme von »Fishs Mädchen« beigetragen. Schluss- und Höhepunkt des Ganzen war – in ihrem Buch ebenso wie im wahren Leben – eine Schießerei gewesen, bei der Cindy von einem Neun-Millimeter-Geschoss gestreift worden war, bevor sie das Feuer erwidert und den Psychokiller höchstpersönlich zur Strecke gebracht hatte.

Die gesamte Erfahrung mit Fish und sein Mädchen war absolut außergewöhnlich gewesen, aber inzwischen längst Vergangenheit. Der Bücherabsatz ging ganz generell immer mehr zurück, und Cindy hatte mit ihrem zeitraubenden Zeitungsjob ohnehin alle Hände voll zu tun.

Aber in der letzten Woche hatte sie mit Bob Barnett telefoniert, und er hatte gesagt: »Ich habe Ihre Serie über den Fall Burke aufmerksam verfolgt, Cindy. Tolle Arbeit. Wenn Sie mir ein Exposé schreiben, dann sehe ich gute Chancen für eine Vermarktung.«

Das Exposé sollte eine Zusammenfassung, eine Einführung, eine Kapitelstruktur und zumindest ein vollständig ausgearbeitetes Kapitel enthalten, damit mögliche Interessenten, die nicht den Chronicle lasen, sich einen Eindruck von ihrem Schreibstil verschaffen konnten. Er hatte ihr ein Flugticket und ein Zimmer im Ritz angeboten, falls sie nach Washington kommen und sich mit ihm über das Projekt unterhalten wollte. Und Cindy hatte sich die leise Hoffnung gestattet, dass Barnett noch einmal seinen Zauber wirken lassen konnte.

»Rufen Sie mich an, wenn Sie so weit sind«, hatte er gesagt.

Es hatte nicht lange gedauert.

Jetzt begleitete Barnetts Sekretärin sie in das Eckbüro, teilte ihr mit, dass ihr Chef sich ein kleines bisschen verspäten würde, und sagte: »Machen Sie es sich bequem, Miss Thomas. Falls Sie etwas brauchen, ich bin gleich vor der Tür.«

Das Büro sah genau so aus, wie Cindy es in Erinnerung hatte. Ein grasgrüner Teppich. In die Schreibtischplatte war ein grüner Marmorblock eingearbeitet, und auf jeder waagerechten Fläche standen eingetopfte Orchideen, die meisten in voller Blüte. Das Bücherregal, das im rechten Winkel zu Barnetts Schreibtisch platziert war, enthielt sämtliche Bücher, die er vermittelt hatte. Fish und sein Mädchen befand sich auf Augenhöhe, und Cindy fiel auf, dass es ein klein wenig aus der Reihe hervorstand, als hätte Bob es am Morgen noch einmal herausgeholt, um einen Blick hineinzuwerfen.

Cindy freute sich sehr darüber, ihr Werk zwischen denen von berühmten Autorinnen und Autoren zu sehen. Sie machte schnell ein Selfie von sich und dem Bücherregel, um es Richie zu schicken, und setzte sich auf das Sofa in der Besprechungsecke.

Als Barnett mit den Worten »Tut mir leid, dass ich Sie warten lassen musste, Cindy« das Büro betrat, war sie bereit.

»Kein Problem, Bob.«

Er nahm ihre Hand in seine beiden und setzte sich auf den Sessel neben dem Sofa. Er war ein gut aussehender Mann mit Designerbrille, natürlich gebräunter Haut und dichten grauen Haaren, und außerdem ein unkomplizierter Gesprächspartner.

»So konnte ich den Blick über die Stadt genießen«, sagte Cindy. »Und die Orchideen.«

»Ich habe ein Händchen für Orchideen«, erwiderte er. »Und für Erfolgsautorinnen.«

Sie lächelte erfreut, dann beugte er sich vor und kam zur Sache.

»Ich habe Ihr Exposé in einem Zug durchgelesen. Die Geschichte steht auf einer Ebene mit Helter Skelter über Charles Manson, der Schwarzen Dahlie von James Ellroy oder Kaltblütig von Truman Capote. Ich kann es kaum erwarten, das brandaktuelle Schlusskapitel zu lesen. Wenn wir die richtigen Leute mit an Bord holen, dann kann diese Geschichte eine Sensation werden, Cindy. Eine absolute Sensation.«

ERSTER TEIL

VORFÜNFMONATEN

1

Es war Montagnachmittag, 17.30 Uhr. Cindy Thomas saß in ihrem Büro in der Redaktion des San Francisco Chronicle, als eine Frauenstimme ihren Namen rief.

Um genau zu sein, sie kreischte ihren Namen.

»Cinnnnn-dyyyyyy!«

Cindy hob den Blick von ihrem Laptop, blickte durch die Glaswand hinaus in den Redaktionssaal und sah, wie eine groß gewachsene Frau im Zickzack durch das Labyrinth aus Büroabteilen huschte. Sie legte dabei die Geschmeidigkeit eines Poloponys an den Tag, während ein Wachmann mit einem mächtigen Rettungsring um die Hüften sie verfolgte – und immer weiter zurückfiel.

Als Journalistin hatte Cindy einen scharfen Blick für Details. Die Frau, die ihren Namen kreischte, trug eine Yogahose und ein Sweatshirt mit dem Logo der Boston Bruins. Auf ihren kinnlangen braunen Haaren saß eine Strickmütze, und Mascara lief ihr über die Wangen. Sie wirkte sehr entschlossen – und verwirrt. Sie war etwa Mitte vierzig und stürmte, ohne ihre Schritte zu verlangsamen, auf Cindys geöffnete Bürotür zu. Einen Augenblick später stand sie vor ihr, legte beide Hände auf die Schreibtischplatte und starrte sie aus schwarz umrandeten, stark geröteten Augen an.

Sie brüllte: »Ich bin Kathleen Wyatt. K.Y. Erinnern Sie sich?«

»Das ist Ihr Alias, stimmt’s?«

Wyatt erwiderte: »Ich hab heute Morgen was auf Ihrem Blog gepostet. Meine Tochter und ihr kleines Mädchen sind verschwunden, und ihr Mann hat sie alle beide umgebracht.«

Jetzt stand auch der Wachmann, Sean Arsenault, in der Tür. »Tut mir leid. Ms.Thomas«, keuchte er und zeigte auf die Frau. »Und Sie kommen mit. Sofort.«

Cindy wandte sich an die Frau: »Sind Sie bewaffnet, Kathleen?«

»So ein Quatsch.«

»Warten Sie mal noch ab, Sean«, sagte Cindy. »Kathleen, setzen Sie sich.«

Der Wachmann baute sich dicht vor der Tür auf. Cindy wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Frau zu, die jetzt ihr gegenüber auf dem Stuhl saß, und ignorierte die neugierigen Blicke ihrer Kolleginnen und Kollegen draußen vor der Glaswand.

»Jetzt weiß ich wieder, Kathleen. Ich musste Ihren Beitrag aus meinem Blog löschen.«

»Er verprügelt sie ständig. Und jetzt sind sie spurlos verschwunden.«

Henry Tyler, Cindys Herausgeber und Chefredakteur, steckte den Kopf zur Tür herein. »Alles in Ordnung, Cindy?«

»Danke, Henry. Alles in Ordnung.«

Er nickte und tippte mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr.

Cindy nickte ebenfalls. In einer halben Stunde war Redaktionsschluss, das wusste sie. Der Artikel über eine Schießerei im Tenderloin District musste nur noch einmal überarbeitet werden. Henry wechselte ein paar Worte mit Sean und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Cindy wandte sich wieder an Kathleen Wyatt: »Sie haben einen Mann des Mordes bezichtigt und seinen vollen Namen genannt. Dabei stehen die Benutzerregeln doch ganz deutlich auf der Seite: keine Obszönitäten, keine Beleidigungen, keine persönlichen Angriffe. Er könnte Sie wegen Verleumdung verklagen. Er könnte den Chronicle bis zur nächsten Eiszeit mit Klagen überziehen.«

Wyatt erwiderte: »Sie wirken so nett und hilfsbereit, Cindy. Aber Ihnen geht’s auch nur ums Geld, genau wie allen anderen.«

»Sie fangen ja schon wieder damit an, Kathleen. Ich muss Sie leider bitten zu gehen.«

Die Frau stemmte die Ellbogen auf Cindys Schreibtisch, ließ den Kopf in die Hände sinken und fing an zu schluchzen. Cindy hatte das Gefühl, als würde die Angst Kathleen Wyatt in den Wahnsinn treiben.

Sie sagte: »Kathleen. Kathleen, können Sie wirklich mit absoluter Sicherheit behaupten, dass dieser Mann Ihre Tochter und Ihre Enkeltochter ermordet hat?«

Kathleen hob den Blick und schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Und haben Sie die Polizei schon verständigt?«, hakte Cindy nach.

Erneut hob Kathleen Wyatt den Kopf und sagte: »Ja. Jajaja. Aber haben die die Kleine gefunden? Nein.«

2

Während Kathleen Wyatt sich mit ihrem Sweatshirt-Ärmel die Augen trocknete, holte Cindy den Blog-Eintrag, den sie heute Morgen gelöscht hatte, aus dem Papierkorb und las ihn noch einmal durch.

In dem Text war es um Kathleens Schwiegersohn, Lucas Burke, gegangen. Sie hatte MITGROSSBUCHSTABEN behauptet, dass Burke ihre Tochter Tara misshandelt habe und auch ihrem Baby Lorrie gegenüber gewalttätig geworden sei. Sie hatte geschrieben, dass sie schreckliche Angst um die beiden hätte und ihrem Gefühl traute.

Cindy hatte den Beitrag wenige Minuten, nachdem Kathleen ihn gepostet hatte, gesehen. Die auffälligen Großbuchstaben, die vielen Rechtschreibfehler, die Aussage, alles das hatte sich nach einer Verrückten angehört. Oder nach einem Troll.

Aber jetzt, nachdem Kathleen ihr die Geschichte geschildert hatte, hatte sie an Glaubwürdigkeit gewonnen. Trotzdem, Cindy hatte keine Ahnung, ob Kathleen paranoid oder einfach nur in völlig nachvollziehbarer Sorge um das Wohl ihrer Lieben war. Ihre Panik war zumindest verständlich und die Vorstellung eines mordenden Ehemanns keineswegs unglaubwürdig. So etwas kam viel zu oft vor. Und dass es womöglich passiert war, nachdem Kathleen heute Vormittag ihren verzweifelten Aufschrei gepostet hatte, versetzte Cindy einen schmerzhaften Stich. Sie fühlte sich schuldig, aber trotzdem konnte sie im Moment nichts tun, um ihr zu helfen.

Kathleen schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, um Cindys Aufmerksamkeit zu bekommen.

Ihre Stimme war heiser vom vielen Schreien, und sie sagte: »Heute Morgen, als Tara nicht ans Telefon gegangen ist, habe ich die Polizei angerufen. Aber wenn man das früher schon ein paarmal gemacht hat, dann muss man richtig betteln, damit sie einem überhaupt noch zuhören. Also hab ich das gemacht. Meine Tochter ist zwanzig. Sie ist erwachsen. Die Polizei hat eine Hundestaffel alarmiert und eine Personenfahndung nach meiner Enkelin gestartet. Behaupten sie zumindest. Aber bis jetzt hab ich noch nichts davon mitgekriegt.«

»Das vermisste Mädchen … sie ist wie alt, sagen Sie? Ein Jahr?«, wollte Cindy wissen.

»Sie ist anderthalb.«

»Die Fahndung läuft.«

Kathleen holte ein Foto von Mutter und Kind aus ihrer Bauchtasche. Tara hatte braune Haare, so wie Kathleen auch, und Lorrie rote. Sie wirkten beide sehr jung.

»Lorrie ist gerade mal sechzehn Monate alt, und meine Tochter ist den ganzen Tag mit ihr zu Hause. Ich wollte sie besuchen, aber das Haus steht leer. Ihr Auto ist weg. Ich habe sie angerufen, immer wieder, wir telefonieren sonst immer, an jedem Morgen, wenn Lucas zur Arbeit ist. Die Kleine ist womöglich schon tot. Wenn Sie das Foto vor sechs Stunden schon veröffentlicht hätten …«

»Ich bin Journalistin, Kathleen. Ohne Überprüfung kann ich das nicht machen, und das wissen Sie auch. Aber natürlich tut es mir sehr leid …«

»Wagen Sie nicht zu behaupten, dass es Ihnen leidtut. Das nützt meiner Tochter gar nichts. Und meiner kleinen Enkeltochter auch nicht.«

»Bitte haben Sie einen Moment Geduld«, sagte Cindy. Sie las ihren Artikel über die Schießerei im Tenderloin noch einmal durch, änderte ein paar Kleinigkeiten und schrieb den Schlusssatz neu. Dann verfasste sie eine E-Mail an Tyler, hängte ihren Artikel an und schickte beides ab.

Nachdem sie nun den Redaktionsschluss eingehalten hatte, wandte sie sich wieder an Kathleen. »Ich kann Ihnen nichts versprechen, aber ich will mal sehen, was ich für Sie tun kann.«

3

Cindy wählte eine Nummer und trommelte dann mit den Fingern auf der Tischplatte, bis Lindsay den Hörer abnahm.

»Boxer.«

»Linds, ich brauche einen Rat. Es ist wichtig.«

»Was ist denn los?«

»Bei mir ist alles in Ordnung. Aber hast du ein paar Minuten für eine Frau, die ihre Tochter und ihre Enkelin vermisst?«

»Ich?«

»Danke, Linds. Ich schalte jetzt den Lautsprecher ein. Neben mir sitzt Kathleen Wyatt. Sie soll dir selbst erzählen, weshalb. Kathleen, das ist Sergeant Boxer von der Mordkommission.«

Lindsay sagte: »Kathleen. Was ist passiert?«

»Sie sind in einem schwarzen Loch verschwunden.«

»Wie bitte?«

»Meine Tochter Tara und ihre kleine Tochter sind seit heute Morgen spurlos verschwunden. Und ihr Ehemann hat gedroht, sie umzubringen.«

»Sie sagen, dass sie verschwunden sind. Gibt es irgendeinen Hinweis auf eine Straftat?«

Kathleen hielt kurz inne, bevor sie die Frage beantwortete. »Tara ist schon mal mit dem Baby weggelaufen.«

»Vor ihrem Ehemann?«

»Keine Ahnung, wie oft sie mir schon erzählt hat, dass er sie hasst und dass er ihr das gesagt hat. Er schlägt sie, aber immer so, dass man nichts sieht. Am liebsten wäre es ihm, wenn Lorrie nie geboren worden wäre. Und, ja, ich hab die Polizei darüber informiert.«

»Hat Tara ein Kontaktverbot gegen ihren Mann erwirkt?«, wollte Lindsay wissen.

»Das will sie nicht. Sie ist ja erst zwanzig. Sie ist noch zu jung. Zu dumm. Zu abhängig. Sie hat keine Arbeit. Sie hat Angst vor ihm und außerdem, Gott sei ihr gnädig, liebt sie ihn. Als sie siebzehn war, da hat sie mich angefleht, dass ich einer Heirat zustimmen soll, und, Gott sei mir gnädig, das hab ich dann auch gemacht.«

Lautes Hupen drang aus dem Lautsprecher. Lindsay saß gerade im Auto. Sie sprach lauter und fragte Kathleen: »Wie hat die Polizei auf Ihre Anrufe reagiert?«

»Heute? Sie haben behauptet, dass sie mit Lucas geredet haben, aber dass er ein Alibi hat. Wahrscheinlich eine Geliebte. Sie müssten ihn mal sehen. Aalglatt. Und natürlich streitet er ab, dass er die beiden jemals bedroht hat. Und sie sagen, dass Tara bestimmt wieder nach Hause kommt. Aber, Lindsay, wenn ich das sagen darf … Ich glaube wirklich, es könnte schon zu spät sein.«

Die Worte »zu spät sein« gingen in ein herzerweichendes Schluchzen über. Kathleen weinte sich die Seele aus dem Leib, als sei sie sicher, dass die beiden schon tot waren. Als wüsste sie es. Der Wachmann legte die Hand an die Türklinke, aber Cindy sah ihn an und schüttelte nur den Kopf.

Schließlich sagte Lindsay: »Wie heißt der Beamte, der Ihre Aussage entgegengenommen hat?«

»Bernard. Officer Bernard.«

»Okay, Kathleen«, sagte Lindsay. »Ich setze mich mit Officer Bernard in Verbindung. Geben Sie Cindy Ihre Nummer, und ich melde mich bei Ihnen. Ein Kleinkind, das seit heute Morgen um 8.00 Uhr vermisst wird, ist ein Fall für die Polizei. Rufen Sie das San Francisco Police Department an und lassen Sie sich mit Tom Murry von der Abteilung für Kapitalverbrechen verbinden. Er leitet das Dezernat für vermisste Personen. Und sehen Sie zu, dass Ihr Handy immer geladen ist.«

»Mit Lieutenant Murry hab ich schon gesprochen«, erwiderte Kathleen. »Aber er nimmt mich nicht ernst.«

»Dann rufe ich ihn noch mal an«, beruhigte Lindsay sie. »Und erkundige mich, wie die Ermittlungen …« Sie unterbrach sich. »Tut mir leid, ich muss auflegen.«

Cindy verabschiedete sich von Lindsay und sah zu, wie Kathleen mit zitternden Fingern ihre Telefonnummer aufschrieb und dazu murmelte: »Sie müssen mir helfen, Cindy. Lorrie ist tot, das spüre ich genau.«

Cindy erwiderte: »Es ist schon fast dunkel. Gehen Sie nach Hause und rufen Sie noch einmal die Polizei an. Haben Sie schon bei Taras Freundinnen nachgefragt? Und was ist mit den Nachbarn? Lassen Sie mich wissen, falls Sie etwas hören. Moment noch. Darf ich das Foto noch mal sehen?«

Kathleen gab ihr das Foto von Tara und Lorrie, und Cindy fotografierte es mit ihrem Handy ab. Damit konnte sie, so erklärte sie Kathleen, die Öffentlichkeit um Informationen über den Verbleib der beiden bitten, ohne Lucas Burke zu erwähnen.

Kathleen zupfte an ihrer Mütze und murmelte, während Cindy sie zum Fahrstuhl begleitete, ein leises Dankeschön. Anschließend setzte Cindy sich wieder an ihren Schreibtisch und fragte sich, warum Kathleen Wyatt sich an sie gewandt hatte. Hatte sie recht, was ihren Schwiegersohn anging? Oder war sie einfach nur paranoid?

4

Seit sieben Uhr an diesem Dienstagmorgen saß ich am Schreibtisch.

Jetzt war es halb neun. In einer halben Stunde begann die Abteilungssitzung, die Lieutenant Jackson Brady anberaumt hatte, und ich wollte vorher gern noch ein paar Antworten für Kathleen Wyatt beschaffen. Ich habe selbst eine kleine Tochter, darum war mir das ein besonderes Bedürfnis.

Mein Partner, Inspektor Richard Conklin, und ich sitzen uns an zwei Schreibtischen gleich beim Eingang unseres trüb-grauen Bereitschaftsraums gegenüber. Rich war gerade eingetroffen, aber als er hörte, dass ich mit Lieutenant Murry telefonierte, ging er in den Pausenraum, um Kaffee zu besorgen.

Rich wusste, dass ich damit Cindy einen Gefallen tat, meiner Freundin und seiner Lebens- und Liebespartnerin. Als er an seinen Schreibtisch zurückkehrte, bedankte ich mich bei Murry und legte auf. Conklin schob mir einen frischen Becher mit schwarzer Brühe und drei Stück Zucker entgegen. Genau so mag ich ihn.

»Boxer. Was hat Murry gesagt?«

»Dass Lucas Burke ein mieser Typ ist, aber dass er ihn nicht für einen Mörder hält.«

»Wie mies?«

Ich pustete auf meinen Kaffee und richtete den Blick auf meine Notizen.

»Im letzten Jahr hat er nach einem Unfall mit leichtem Blechschaden eine Autofahrerin bedroht, sie an den Schultern gepackt und geschüttelt. Er wurde wegen eines tätlichen Angriffs und Körperverletzung festgenommen, aber die Autofahrerin hat keine Anzeige erstattet.

Ein paar Monate später hat er mit der Kettensäge den Baum eines Nachbarn abgesägt und behauptet, der hätte auf seinem Grundstück gestanden. Hatte er aber nicht. Mit achthundert Dollar Geldstrafe war die Sache erledigt.

Dann hat Kathleen ihn wegen häuslicher Gewalt gegen ihre Tochter angezeigt, aber Tara hat das abgestritten und ihrerseits ihre Mutter für verrückt erklärt. Kathleen ist ein bisschen unbeherrscht, Richie, das macht die Sache nicht so einfach. Aber dass misshandelte Frauen den Missbrauch oft leugnen, ist ja eine bekannte Tatsache.

Na ja, das war jedenfalls Lucas Burkes Akte. Er ist zumindest ein konfliktfreudiger Zeitgenosse.«

Ich rief Cindy an und nippte an meinem Kaffee, während Rich zu Sergeant Cappy O’Neals Schreibtisch schlenderte, sich auf die Tischkante setzte und mit ihm und Sergeant Paul Chi ein paar Worte wechselte. Ich hörte sie über die bevorstehende Sitzung spekulieren, wobei es da kaum unterschiedliche Meinungen gab. Wir waren uns einig, dass Brady seine Zukunftspläne bekannt geben würde. Aber wofür hatte er sich entschieden?

Das alles ging auf den Skandal zurück, der die Wache Süd, unsere Polizeistation, vor nicht allzu langer Zeit in ihren Grundfesten erschüttert hatte. Lieutenant Ted Swanson aus dem Raubdezernat hatte zwei Teams aus korrupten Polizisten um sich versammelt, um Drogendealer aus dem Weg zu räumen und Scheckpfandhäuser zu überfallen. Bei diversen Schießereien waren achtzehn Personen ums Leben gekommen, und auch Swanson hatte genügend Blei im Körper gehabt, um zwei oder gar drei Tode zu sterben. Aber er hatte alles überlebt und verbrachte jetzt den Rest seines wertlosen Lebens im Hochsicherheitsgefängnis von Chino.

Warren Jacobi, unser Freund und mein ehemaliger Partner, war damals Polizeichef gewesen und hatte die Verantwortung für den Skandal übernommen. Er war in den Ruhestand versetzt worden, und daraufhin hatte Jackson Brady, unser allseits geschätzter Lieutenant, zusätzlich zur Leitung der Mordkommission auch noch die Funktion des Chiefs übernommen. Im Lauf der Zeit war er mehrfach gebeten worden, sich für einen der beiden Jobs zu entscheiden, hatte die Entscheidung aber immer wieder hinausgezögert. Vielleicht hatte er sich zu viel Zeit gelassen, jedenfalls gab es immer wieder Gerüchte, dass der Bürgermeister mit Stefan Rowan im Gespräch war, einem einflussreichen Polizeikommandanten aus New York, wo er sich im Kampf gegen das organisierte Verbrechen einen Namen gemacht hatte.

Ich arbeitete sehr gern für Brady. Er war klug. Er verlangte von niemandem Dinge, zu denen er nicht selbst bereit war. Er war mutig. Und er war loyal gegenüber seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Was mir am meisten Angst machte, war, dass die Gerüchte vielleicht falsch sein könnten. Dass Brady die nächste Sprosse der Karriereleiter erklimmen und Polizeichef werden könnte, während der knallharte New Yorker seinen Posten als Leiter der Mordkommission einnahm.

Eine Beförderung war vielleicht gut für Brady, aber für mich? Offen gestanden, es würde mir das Herz brechen.

5

Ich blickte an Conklin vorbei und sah, dass Brady sein Büro in der hinteren Ecke des Bereitschaftsraums verließ. Er zog seine Jacke an und kam den Mittelgang entlang zum vorderen Ende des Raums. Conklin erhob sich von Cappys Tischkante und kam zu mir.

Brady hatte die weißblonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, das Jeanshemd in die Hose gesteckt, das dunkle Jackett nicht zugeknöpft. Seine Miene war undurchschaubar.

Jetzt stellte er sich ans vordere Ende des Bereitschaftsraums, gut sichtbar für die zwölf Beamten der Tagesschicht und das Dutzend aus der Nachtschicht. Und es kamen immer noch mehr dazu. Polizisten aus anderen Abteilungen lehnten an den Wänden, saßen auf unbenutzten Stühlen oder hockten auf Schreibtischecken, und alle warteten sie schweigend darauf, dass Brady seine Bombe platzen ließ.

Als die Spannung fast nicht mehr auszuhalten war, sagte Brady: »Ich weiß, dass das lange Warten für alle hier schwer auszuhalten war. Ich habe mein Möglichstes getan, um mit eurer Hilfe die Dinge am Laufen zu halten. Meine Frau sagt, ich sehe aus, als hätte man mich hinter einem Auto hergeschleift. Um ehrlich zu sein, ein bisschen fühle ich mich auch so, aber ich wusste einfach nicht, wie ich mich entscheiden soll.

Wie ihr wisst, war ich ständig zwischen dem dritten und dem vierten Stock unterwegs. Und jedes Mal habe ich unterwegs den Hut gewechselt. Man hat mich gebeten, mich zu entscheiden, aber am liebsten hätte ich eben beide Jobs gemacht. Nur leider ist das nicht möglich. Und darum habe ich im Interesse der öffentlichen Sicherheit und des Gemeinwohls – und auch, weil ich meinen 45. Geburtstag noch erleben will –, beschlossen, hier bei der Mordkommission zu bleiben.«

Ich stieß einen kräftigen Seufzer der Erleichterung aus. Der Rest des Teams brach in donnernden Applaus und lautes Johlen aus.

Ich sagte so laut, dass Brady es hören konnte: »Ich bin so froh, Brady. Das war ein echtes Opfer.«

»War es nicht«, erwiderte er. »Das war reiner Egoismus. Ich habe es einfach nicht fertiggebracht, mich in Jacobis edlem Büro einzurichten und Aktenstapel zu wälzen. Ich gehöre auf die Straße, ich will mittendrin sein.«

Lachen breitete sich im Raum aus, und es war, als würde die Sonne eine Wolkendecke vertreiben. Erst dann wurde mir klar, dass wir den zweiten Teil der Geschichte noch nicht gehört hatten.

Wer wurde unser neuer Polizeichef?

Brady wusste natürlich, dass er auch diese Frage beantworten musste, und sagte: »Aber damit wäre ja noch ein letztes Paar Schuhe zu füllen. Ich würde sagen, sie haben Größe 45, mittlere Breite, und dürften einem ehemaligen Kriminalpolizisten in Los Angeles und Las Vegas gehören, der während der letzten zwölf Jahre mit viel Sachverstand und stets gut gelaunt unser kriminaltechnisches Labor geleitet hat. Ich will nicht überheblich klingen, aber uns allen ist bewusst, dass wir es hier mit einem hervorragenden Kriminaltechniker zu tun haben.«

Es dauerte eine Weile, bis wir die verschiedenen Teile seiner Ansprache zusammengesetzt hatten, aber dann hatte ich es begriffen. Der Gedanke, dass Charlie Clapper Polizeichef werden könnte, war mir einfach nie gekommen, aber verdammt noch mal was für eine herausragende Wahl.

Brady fuhr fort: »Jetzt müsste ich eigentlich den Vorhang beiseiteziehen und einen ehemaligen Polizisten und hoch geschätzten Forensiker folgendermaßen ankündigen: ›Ich bitte um Applaus für Charlie Clapper, den neuen Polizeichef des San Francisco Police Department.‹

Aber ich habe keinen Vorhang dabei, und Clapper ist nicht hier. Er wird allerdings gegenüber im MacBain’s anzutreffen sein, im Veranstaltungsraum im ersten Stock, der von zwölf bis zwei Uhr für uns reserviert ist. Essen und Getränke gehen aufs Haus. Falls noch Fragen sind, die Antworten folgen zu gegebener Zeit.«

Conklin stand auf und sagte: »Brady? Falls du bei der Auswahl irgendwie die Finger im Spiel gehabt hast, dann sage ich nur: Hut ab. Eine gute Wahl, dazu noch aus dem eigenen Stall. Und ich bin froh, dass du bei uns bleibst.«

6

Pünktlich zur angegebenen Zeit überquerten Conklin und ich die Straße. Wir waren immer noch ganz fassungslos angesichts der Neuigkeit. Und sehr froh.

Wir mochten Clapper. Wir mochten ihn sehr. Er war ein Profi durch und durch und absolut zuverlässig, ohne sich unnötig in den Vordergrund zu rücken. Wie oft hatte ich mit ihm den Schauplatz eines Verbrechens begutachtet – als Hamburger zu Bomben geworden waren, als wir in einem Hinterhof ein Dutzend abgetrennte Köpfe ausgegraben hatten, als er mich durch das explodierte Naturwissenschaftliche Museum geführt hatte, in dem Joe, mein Mann, beinahe den Tod gefunden hätte. Er hatte mit uns Tatorte analysiert und uns auf Dinge hingewiesen, die er für wichtig hielt.

Fazit: Charlie Clapper hatte uns nie im Stich gelassen.

Richie hielt mir die Tür des MacBain’s auf, und wir betraten die Lieblingskneipe aller Mitarbeiter der Hall of Justice, seien es Gerichtsstenografinnen oder Motorradpolizisten. Es war Mittagszeit, darum dröhnte Musik aus der steinalten Musiktruhe und der Laden war gerammelt voll, aber wir brauchten uns ja keinen freien Tisch zu suchen. Vielmehr gingen wir die Treppe hinauf in den ersten Stock, und es konnte keinen Zweifel geben, dass die Party bereits in vollem Gang war. Es gab ein warmes Büfett, Kellner servierten, und an den Tischen saßen jede Menge Polizisten aus allen Abteilungen.

Alles in allem waren es wohl an die hundert Personen, einschließlich Brady, und alle hatten ein Glas in der Hand. Ich winkte Clapper im Vorbeigehen zu, und er winkte zurück. Als alle, angefangen bei Lieutenant Tom Murry von der Abteilung für Kapitalverbrechen über Lieutenant Lena Hurvitz vom Dezernat für Sexualverbrechen bis zu Bezirksstaatsanwalt Len Parisi, einen gefüllten Teller und einen Platz gefunden hatten, klopfte Brady mit dem Löffel an sein Glas.

Damit hatte er unsere Aufmerksamkeit. »Ich muss euch Charles Clapper, den ehemaligen Leiter unserer kriminaltechnischen Abteilung, nicht erst vorstellen. Die meisten von euch haben ihn schon einmal bei einer Tatortbegehung oder einer Aussage vor Gericht erlebt. Und er hat immer die richtigen Worte gefunden, auch bei Verbrechen, die so grauenhaft waren, dass man nicht wusste, ob man sich übergeben oder sich die Augen aus dem Kopf weinen soll.

Nun, ab morgen Vormittag übernimmt Charlie offiziell das Amt des Polizeichefs von San Francisco und bezieht ein schickes Büro im vierten Stock. Und mich müsst ihr weiterhin als Leiter der Mordkommission ertragen. Charlie, du bist dran.«

Applaus ertönte, und mehrfach rief jemand: »Bravo, Charlie!« Eine Minute später hatte Clapper ein Glas in der Hand. Er war, wie immer, tadellos gekleidet, die Haare frisch geschnitten und gekämmt, die Schuhe spiegelblank poliert. Mit einer Hand in der Hosentasche stand er vor uns und sagte: »Vielen Dank Ihnen allen für dieses herzliche Willkommen. Ich übernehme ja einen Job, den sich niemand hier im Raum freiwillig antun würde.«

Nachdem sich das Gelächter gelegt hatte, fuhr Charlie fort.

»Wie Lieutenant Brady bereits gesagt hat, kenne ich etliche von Ihnen schon seit über fünfzehn Jahren, und ich bin froh darüber, dass ich über einen solch langen Zeitraum die Gelegenheit hatte, das San Francisco Police Department kennenzulernen und dazu beizutragen, Straftäter hinter Gitter zu bringen.

Jetzt übernehme ich eine andere Position. Die wichtigste Aufgabe, die mir der Bürgermeister übertragen hat, besteht darin, die gesamte Polizeistation neu aufzustellen. Die meisten von Ihnen haben hautnah miterlebt, wie unser guter Ruf durch Korruption zerstört worden ist. Das Raub- und das Rauschgiftdezernat sind momentan stark ausgedünnt. Ich werde also viele neue Leute einstellen müssen.

Ich bin Perfektionist, und ich nehme die Vorschriften ernst. So habe ich die Spurensicherung wieder auf Kurs gebracht, und genau deshalb hat man mir diesen neuen Job übertragen. Was bedeutet das für Sie? Ab sofort befolgen alle Beschäftigten des San Francisco Police Department die Vorschriften, und zwar bis auf das Komma genau – keine Ausnahmen, keine Extratouren. Halten Sie sich peinlich genau an den Dienstweg. Dokumentieren Sie jeden Schritt, lassen Sie Handys und Funkgeräte eingeschaltet, halten Sie Augen und Ohren offen. Bleiben Sie in Kontakt mit der Funkzentrale oder Ihren Vorgesetzten. Sie sind mir alle sehr ans Herz gewachsen, aber ab sofort spielt das keine Rolle mehr.

Ab sofort muss ich der Mann mit dem eisernen Besen sein.«

7

Als die Party sich allmählich auflöste, sprach ich Lieutenant Tom Murry, Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen, an.

Heiser und erschöpft teilte er mir mit, dass die Suche jetzt bereits länger als vierundzwanzig Stunden andauerte und dass er das Suchgebiet ausweiten wollte.

»Tara Burke und ihre kleine Tochter sind immer noch verschollen. Wir verfolgen jeden noch so idiotischen Hinweis. Die Hunde haben zwar angeschlagen, aber nur wegen einer toten Katze. Mehr gibt es nicht zu vermelden. Wir überprüfen die Autokennzeichen rund um das Haus der Burkes, und Lucas Burke verhält sich kooperativ. Er hat uns etliche Orte genannt, wo wir auch noch suchen könnten. Wir werden den ganzen Abend damit zu tun haben.«

Ich fühlte mit ihm und fragte ihn, ob er Hilfe gebrauchen konnte.

»Ja.«

Dann rief ich Joe an, um ihn daran zu erinnern, dass ich heute Abend mit meinen Freundinnen verabredet war, und anschließend recherchierte ich im Internet und in unseren Polizeiakten über Lucas Burke. Dabei stieß ich auf eine Ansprache, die er mal gehalten und in der er etliche biografische Daten preisgegeben hatte.

Ich erfuhr, dass er Student gewesen war, als seine Mutter und seine Schwester gestorben waren. Sein Vater, Evan Burke, lebte noch, hatte aber nicht mehr geheiratet. Lucas war als Lehrer an der Sunset Park Prep School beschäftigt, einer privaten Mädchenschule im Sunset District. Vor drei Jahren hatte er sich nach zehn Ehejahren von seiner Frau scheiden lassen und Tara Wyatt geheiratet. Lorrie war Burkes einziges Kind.

Ich markierte verschiedene Namen und Orte, speicherte meine Recherchedatei ab und machte mich auf den Weg zu Brady.

Als ich ihn in seinem Büro nicht antraf, ging ich, wie es mir inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen war, in den vierten Stock. Davor bat ich Brenda Fregosi, unsere Abteilungssekretärin, Rich Bescheid zu sagen, dass ich gleich wieder zurück wäre.

Clapper saß schon in seinem neuen Büro, dem Büro, in dem ich schon so oft gewesen war, dass ich jede Staubfluse unter der Couch mit Vornamen kannte.

»Hast du kurz Zeit für mich, Chief?«, fragte ich ihn.

Clapper winkte mich herein.

Sein Schreibtisch war voller Aktenstapeln. An der Fensterseite standen zahlreiche große Kartons, alle nach Datum sortiert.

Das waren vermutlich die Papiere, die noch abgelegt werden mussten.

Charlie wirkte gehetzt, und das war ein Kontrast zu seiner sonst so ruhigen Ausgeglichenheit. Aber ich konnte das gut verstehen. Er war ein durch und durch strukturierter Mensch. Sein Job bei der Kriminaltechnik hatte seinem Charakter voll und ganz entsprochen.

Brady aber war überlastet gewesen und von Natur aus alles andere als strukturiert.

Es würde etliche Tage dauern, bis Clapper seine Schreibtischplatte sehen konnte und alle seine Akten verstaut hatte.

Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich.

Dann berichtete ich ihm in zwei Sätzen von meinem letzten Fall, und wir bemitleideten uns gegenseitig, aber nur kurz. Dann sagte ich: »Chief, gestern ist eine Frau zu Cindy Thomas in die Redaktion gekommen und hat behauptet, dass ihre Tochter und ihre sechzehn Monate alte Enkeltochter verschwunden sind. Sie ist überzeugt, dass ihr Schwiegersohn gewalttätig ist und die beiden womöglich ermordet hat.«

»Thomas hat dich angerufen?«

»Ja. Ich habe mit der Frau gesprochen, auch mit dem zuständigen Beamten, Lieutenant Tom Murry. Bis jetzt gibt es noch keine Spur von den Vermissten. Murry hat Hunde und mittlerweile auch Drohnen im Einsatz. Die Nachbarschaft und auch die Schule, an der der Ehemann arbeitet, werden durchkämmt. Aber jetzt sind schon über vierundzwanzig Stunden vergangen.«

Clapper ließ sich an seine Stuhllehne sinken. »Das ist mir klar, Boxer. Und Lieutenant Murry ist ein gründlicher Arbeiter. Worum geht es also?«

»Ich möchte gern den Ehemann verhören. Vielleicht kann ich ihn in Widersprüche verwickeln und überführen …«

Clapper unterbrach mich.

»Aber das ist doch gar nicht dein Fall, oder täusche ich mich?«

»Äh.«

»Murry hat den Ehemann befragt?«

»Ja, aber dabei ist nichts rausgekommen.«

»Boxer, das ist Murrys Fall. Er ist dafür zuständig. Was habe ich vorhin erst gesagt?«

»Alles Mögliche.«

»Ich habe gesagt: Haltet den Dienstweg ein. Wenn du gerade nichts zu tun hast, dann ändert sich das in Kürze. Ruf mich nicht an, Boxer, sondern sag Brady, er soll mich anrufen. So läuft die Befehlskette.«

Ich war verletzt und gekränkt. Mit heißen Wangen stand ich auf und ging zur Tür. Clapper sah nicht einmal auf und gönnte mir kein Wort des Abschieds.

Als ich den Bereitschaftsraum betrat, gab Brenda mir ein Zeichen und sagte leise: »Die Frau da drüben an deinem Schreibtisch hat nach dir gefragt. Sie heißt …«

Ohne sie zu sehen, sagte ich: »Kathleen Wyatt.«

»Bingo«, erwiderte Brenda und ließ den Zeigefinger neben ihrer Schläfe kreisen. Das universale Zeichen für durchgeknallt.

Ich ballte die Hände zu Fäusten und steuerte meinen Schreibtisch an.

8

Kathleen Wyatt trug eindeutig dieselben Kleider wie am Tag zuvor.

Ich nahm an, dass sie auf der Suche nach ihrer Tochter und ihrer Enkelin ununterbrochen durch die Stadt gefahren war. Sie machte einen weggetretenen Eindruck, aber das lag vermutlich am Stress und an der Erschöpfung.

Ich brachte sie in den Pausenraum, besorgte ihr einen Kaffee und einen übrig gebliebenen Donut und wartete vor der Tür der Damentoilette auf sie, wo sie sich ein wenig frisch machen konnte.

Streng nach Clappers Anweisung sagte ich ihr, dass Lieutenant Murry den Fall bearbeitete und dass er eine vollumfängliche Suche eingeleitet hatte. Ich zitierte aus der Akte: Am Montagvormittag um 11.10 Uhr hatte Lucas Burke seine Frau von seinem Handy aus angerufen, und sie hatten miteinander gesprochen. Der Anruf hatte knapp drei Minuten gedauert. Anschließend verlegte ich mich auf Beschwichtigungen: dass Tara vermutlich einfach noch nicht gefunden werden wollte und dass sie sich bestimmt bald melden würde. Und ich hörte mich sagen, dass ich zur Sunset Park Prep School fahren und persönlich mit Lucas sprechen wollte, um mich zu versichern, dass er niemandem etwas angetan hatte.

Sie sah mich ungläubig an.

»Kathleen. Entweder Sie vertrauen mir, oder Sie lassen mich ganz aus dem Spiel.«

»Also gut. Ich vertraue Ihnen.«

»Gut. Gehen Sie nach Hause und versuchen Sie zu schlafen.«

Ich begleitete Kathleen hinunter auf die Straße und sah ihr hinterher, wie sie in ihrem uralten Fiat davonfuhr. Anschließend überquerte ich die Bryant Street und holte mein Auto aus dem Durcheinander auf dem Tagesparkplatz. Ich hatte gedacht, ich müsste eine Entscheidung treffen, dabei war sie längst gefallen. Aus irgendeinem Grund übte dieser Fall eine große Anziehungskraft auf mich aus. Ich kann es nicht erklären, aber irgendwie fühlte ich mich mit betroffen und hoffte, dass ich Tara und Lorrie Burke sicher wieder nach Hause bringen konnte.

Es war halb drei. Immer noch Unterrichtszeit.

Ich teilte der Funkzentrale mit, dass ich kurzfristig ein paar Überstunden abbummeln musste, und schrieb Rich eine Nachricht, dass es am besten war, wenn er so wenig wie möglich wusste und dass ich mich später bei ihm melden würde. Dann rief ich Cindy an.

»Das, was jetzt kommt, ist absolut gegen jede Vorschrift. So weit jenseits der Grenze, dass ich schon in einer anderen Zeitzone bin«, sagte ich zu ihr.

»Worum geht’s?«

»Ich wage mich auf ganz dünnes Eis. Ich will mit dem Ehemann reden, gegen den ausdrücklichen Befehl des neuen Chiefs. Sag’s nicht Richie.«

»Du bist die Beste, Linds.«

Die Sunset Park Prep School lag an der Ecke Thirty-Seventh Avenue und Rivera Street. Hier war Lucas Burke als Englischlehrer für die elften und zwölften Klassen tätig. Die Schule stand in dem Ruf, Schulbildung auf College-Niveau zu vermitteln.

Ich stellte mein Auto auf dem Sunset Boulevard ab, klemmte meine Dienstmarke an die Innentasche meines Jacketts und steckte die Waffe hinten in den Bund meiner Chinos.

Dann warf ich noch einmal einen Blick auf Lucas Burkes Stundenplan, und, ja, er hatte tatsächlich von drei bis vier Uhr eine Stunde lang Sprechstunde im Hauptgebäude der Schule.

Besser hätte ich meinen Besuch nicht planen können.

Ich steckte das Handy in meine Brusttasche und stieg aus.

Ob du willst oder nicht, Lucas Burke, aber ich bin unterwegs.

9

Auch wenn ich mich einem direkten Befehl widersetzte, fühlte ich mich im Recht.

Bei Mordfällen innerhalb einer Familie ist in drei von vier Fällen der Ehemann der Täter. Ich hatte schon Dutzende solcher Fälle bearbeitet – totgeprügelte Ehefrauen, erdrosselte Kinder, verscharrt in dürftigen Gräbern oder in den Häcksler geschoben, ganze Familien erschossen und anschließend ordentlich in die Betten gelegt, Männer, die abgrundtiefe Trauer spielten und den »wahren« Mörder anflehten, sich zu stellen, oder die ins Ausland flüchteten. Oftmals waren sie innerhalb eines Jahres schon wieder verheiratet.

Ich hatte Tara und Lorrie Burke nach nicht einmal anderthalb Tagen keineswegs aufgegeben. Sie wurden immer noch vermisst, auch wenn die Chance, die beiden lebend wiederzufinden, immer weiter gegen null tendierte. Ich musste mir ein Bild von Lucas Burke, dem Mann im Mittelpunkt des Ganzen, verschaffen.

Ich stellte meinen Wagen auf dem Schulparkplatz ab. Das Schulgelände war vier Hektar groß und erinnerte an einen fein säuberlich gestutzten Samtteppich. Das imposante Hauptgebäude aus weißem Stein ging auf den Anfang des 20.Jahrhunderts zurück. Dahinter waren die Sportplätze und mehrere kleinere Gebäude zu sehen.

Nachdem ich am Besucherschalter meine Dienstmarke gezeigt hatte, klingelte es, und die breiten Flure füllten sich mit Schülerinnen auf dem Weg in die nächste Unterrichtsstunde.

Ich wandte mich an eine Gruppe junger Damen und erkundigte mich nach Lucas Burkes Arbeitszimmer.

Eine sagte: »Sie sind gerade dran vorbeigekommen.«

Ich drehte mich um und sah links neben einer Bürotür ein Namensschild mit der Aufschrift »Mr.Burke«. Ich klopfte an und hörte »He-reinnn«.

Als ich das Arbeitszimmer betrat, hob Burke den Kopf.

Ein gut aussehender Mann um die vierzig saß hinter einem Schreibtisch voller sorgfältig gestapelter Papiere. Sein kastanienbraunes Haar war dick und wellig, und er trug eine Schildpattbrille, ein blaues Hemd, einen Blazer, eine diagonal gestreifte Krawatte und einen Ehering am Ringfinger.

Ich zeigte ihm die Dienstmarke, die an meiner Innentasche klemmte, und nannte ihm meinen Namen. Wir schüttelten einander die Hand, und er bot mir einen Stuhl an. Ich setzte mich und eröffnete das Gespräch.

»Sie wissen, dass Kathleen Wyatt Sie angezeigt hat«, sagte ich in neutralem Tonfall. Ich wollte ihn weder verärgern noch aufschrecken, sondern als freundliche Polizeibeamtin wahrgenommen werden, die nur ihre Pflicht tut.

Burke nahm die Brille ab, wischte sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte dabei. »Sergeant, haben Sie Kathleen kennengelernt?«

»Ja. Sie ist in Sorge. Sehr in Sorge.«

»Ich habe mich bereits gegenüber der Vermisstenstelle dazu geäußert«, fuhr Burke fort. Er nahm eine Visitenkarte von seinem Schreibtisch und las mir den Namen vor. »Lieutenant Tom Murry. Sie können ihn gern fragen, aber da Sie schon mal hier sind, kann ich es Ihnen auch direkt sagen. Kathleen Wyatt ist … wie soll ich sagen? Exzentrisch. Paranoid. Hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sie ruft mich zu jeder Tages- und Nachtzeit an, und ich will mein Handy nicht ausschalten, falls Tara versucht, mich zu erreichen.«

»Sie hat sich immer noch nicht gemeldet?«

»Nein. Gestern Vormittag habe ich sie angerufen, aber seither hatten wir keinen Kontakt mehr. Trotzdem mache ich mir keine allzu großen Sorgen. Tara steht, genau wie ihre Mutter, immer unter Strom. Wir haben uns gestritten, und ich weiß nicht mal mehr, worüber.«

»Tatsächlich nicht?«

»Na gut, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen: Sie hat unnötig viel Geld für allen möglichen Schnickschnack ausgegeben. Nach Lorries Geburt habe ich ihr einen Volvo geschenkt, aber das hat ihr nicht gereicht. Unterwäsche und Schminkzeug und dann so einen bescheuerten Sessel, der angeblich beruhigend wirken soll. Einen Sessel. Aus England! Sie hat ihn mir nicht mal gezeigt. Viertausend Dollar plus Frachtkosten. Ich schufte mir hier den Arsch ab, und sie verschafft sich einen Kaufrausch nach dem nächsten. Also habe ich ihre Kreditkarte durch meinen Schredder gejagt.«

Burke wirkte wütend. Sehr. Ich konnte ihn verstehen, aber gleichzeitig war das auch ein Motiv. Vielleicht war er unschuldig, vielleicht aber auch ein Mörder. Mein Instinkt meldete sich nicht zu Wort.

Er sagte: »Sergeant, ich gebe Ihnen gern Auskunft, aber das ist alles, was ich im Moment weiß. Gestern früh gegen halb acht habe ich Tara das letzte Mal gesehen. Das war, als wir uns gestritten haben. Aber wir haben einander nur beschimpft, mehr nicht. Ich bin dann gegangen und war pünktlich zum Unterrichtsbeginn um acht Uhr hier. Und ungefähr eine Stunde später hat Kathleen mich alle zehn Minuten angerufen.«

Ich suchte nach den typischen Anzeichen für eine Lüge, aber er schwitzte nicht und wich auch meinem Blick nicht aus. Auf seinem Schreibtisch stand ein Bilderrahmen. Ich drehte ihn um und hatte ein Foto von Tara und Lorrie an deren ersten Geburtstag vor mir. Das war also etwa vier Monate her. Auf der Innenseite von Taras Handgelenk war ein kleines, herzförmiges Tattoo mit den Buchstaben »LuLu« zu erkennen.

Er sagte: »Bedienen Sie sich ruhig. Gibt es sonst noch etwas, was Sie über mein Privatleben wissen möchten?«

»Sie interessieren mich nicht, Mr.Burke. Aber nach Ihrer Tochter wird inzwischen im ganzen Bundesstaat gefahndet. Also helfen Sie uns bitte, so gut es geht. Sie müssen doch die eine oder andere Vermutung haben, wo Tara und Lorrie stecken könnten.«

Burke winkte ab. »Sie wissen, dass Tara nicht einmal unsere Haustür abgeschlossen hat, oder? Und das war bei Weitem nicht das erste Mal, aber in diesem Fall hat sie auch noch unseren Safe geleert. Wobei, mit ein paar Zwanzigern wird sie nicht weit kommen. Die Windeltasche der Kleinen ist nicht mehr da. Hmm, mal überlegen. Vielleicht könnte ich ja sie anzeigen, wie wär’s damit? Wegen Kindesentführung, nur als Anfang.«

»Gute Idee. Kommen Sie einfach mit aufs Präsidium«, erwiderte ich. »Dort können Sie eine Aussage machen und Anzeige erstatten. Und wir können uns ein bisschen ausführlicher unterhalten. Mr.Burke, holen wir Tara und Lorrie wieder nach Hause.«

Er schnaubte erst, dann lachte er und sagte: »Tara ist einfach bloß sauer auf mich, aber sie hat einen wahnsinnigen Beschützerinstinkt. Sie wird bestimmt nicht zulassen, dass Lorrie etwas zustößt.«

Plötzlich stand eine junge Frau in der Tür. Sie hatte die blonden Haare zu einem langen Zopf geflochten und blau lackierte Fingernägel, passend zur Schuluniform.

»Mr.Burke, wann soll ich wiederkommen?«

»Gib mir zehn Minuten, Misty.«

»Okay«, sagte sie und verschwand.

»Ach ja, noch etwas, was Sie wissen sollten, Sergeant«, fuhr Burke fort. »Tara hat vom Arzt Antidepressiva verschrieben bekommen. Aber die liegen unangetastet im Arzneischränkchen.«

»Sie hat ihre Medizin nicht genommen?«

»Ja. Und nach meiner Überzeugung ist das der Grund, weshalb sie überall irgendwelche Geschichten herumerzählt, im Unverstand Geld ausgibt oder von zu Hause wegläuft. Und wollen Sie wissen, was mir wirklich Sorgen macht?«

Er hatte sich in Rage geredet, und ich hatte nicht vor, ihn aufzuhalten. Nur schade, dass ich das alles nicht auf Band hatte.

»Ja, bitte.«

»Was mir Sorgen macht, ist Folgendes: Tara hat psychische Probleme, Kathleen hat psychische Probleme und wenn das genetische Ursachen hat, dann könnte Lorrie das gleiche Schicksal drohen. Okay? Lassen Sie mir Ihre Karte da. Ich rufe Sie an, sobald ich etwas von meiner Frau gehört habe.«

10

Fünf Minuten später saß ich wieder in meinem Auto, immer noch sehr aufgewühlt.

Kathleen Wyatts Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf, und ich war felsenfest davon überzeugt, dass Tara und Lorrie in Gefahr schwebten. Ich konnte diesem Fall nicht einfach den Rücken kehren, bevor sie nicht in Sicherheit waren, ganz egal, wie Clappers Anweisungen lauteten.

Lucas Burke hatte mein Misstrauen nicht geweckt. Ich hatte nicht das Gefühl, als hätte er Tara und Lorrie ermordet, aber besonders besorgt hatte er auch nicht gewirkt. Wo steckten die beiden? War Tara weggelaufen, so wie ihr Mann es behauptete? Oder war ihnen etwas zugestoßen, so wie Kathleen es befürchtete?

Ich dachte an Tara und Lorrie Burke, und ich könnte schwören, dass ich hören konnte, wie sie nach mir riefen. Falls sie bis morgen früh nicht wieder zu Hause waren, wollte ich diesen verdammten Fall übernehmen. Durchsuchungsbeschlüsse erwirken. Burkes Kolleginnen, seine Schülerinnen, Nachbarn und Freunde befragen.

Meine Anspannung griff auch auf meinen Körper über. Mein Nacken und meine Schultern verkrampften, als würden die Fesseln, die Clapper mir angelegt hatte, immer enger werden.

Kurz nach fünf kam ich zurück in den Bereitschaftsraum. Conklin hatte mir einen Zettel unter den Locher geklemmt.

Bin bei der Suchmannschaft. Lass uns mal telefonieren. R.

Ich schluckte trocken eine Paracetamol und rief Richie an.

»Wo bist du?«, wollte er wissen.

»An meinem Schreibtisch. Wie läuft’s?«

»Ich hab so ein Gefühl wie manchmal zu Hause, als hätte ich irgendwo was hingelegt und jetzt kann ich es nicht mehr finden. Aber ich weiß genau, dass es da sein muss. Es muss irgendwo sein.«

Wir unterhielten uns noch ein bisschen. Ich erzählte ihm von meiner Begegnung mit Burke, bereitete mich schon mal auf einen unangenehmen Zusammenstoß mit Clapper vor und versprach Rich, dass ich mich bei ihm melden würde. Dann ging ich die Treppe in den vierten Stock hinauf und steuerte das Eckbüro mit Blick auf die Bryant Street an.

Ich klopfte an. Dann rüttelte ich am Türknauf. Bescheuert. Was, wenn Clapper die Tür aufmachte und sagte: »Was willst du denn, Boxer?« Aber seine Tür war abgeschlossen.

Gegen 18.00 Uhr fuhr ich bis zum Rand des Financial District, parkte in den Jackson Street und ging zu Fuß zu Susie’s Café. Ich freute mich sehr auf das Treffen mit meinen drei besten Freundinnen. Cindy hatte unsere Viererbande einmal den »Club der Ermittlerinnen« getauft, und irgendwie war der Name hängen geblieben.

Wir hatten Susie’s Café zu unserem Clubhaus erkoren. Cindy, Claire, Yuki und ich fühlten uns hier einfach rundum wohl – die entspannte, sorglose Atmosphäre, die Steel Band, die gelegentlichen Limbo-Wettbewerbe und nicht zuletzt das schmackhafte karibische Essen.

Wir versuchen, uns alle paar Wochen zu treffen, gemeinsam zu lachen und unsere Freundschaft zu genießen. Und wir unterstützen einander mit allem, was wir zu bieten haben, um Fälle zu knacken, die nicht so leicht zu knacken sind.

Heute Abend trafen wir uns, weil wir Claire seit drei Wochen nicht gesehen hatten.

Ein kühler Wind blies die menschenleere Straße entlang. Ich knöpfte meine Jacke zu, aber mir war trotzdem kalt. 

Dann sah ich das Licht hinter den Fenstern des Cafés. Wenn es irgendetwas gab, was mich jetzt wärmen konnte, dann waren es Susie’s Café und eine Runde mit meinen besten Freundinnen.

Vielleicht hatte eine von uns ja eine richtig gute Idee.

11

Ich näherte mich dem Eingang zu Susie’s Café, als eine kleinere Gruppe aus dem Laden kam. Ein Mann hielt mir die Tür auf, und wie immer umfingen mich schallendes Gelächter und Currydüfte.

Einen Augenblick lang blieb ich im Eingang stehen, suchte mir einen Weg und zwängte mich dann zwischen den dicht gedrängt am Tresen stehenden Gästen und denen, die auf einen freien Tisch warteten, hindurch. Susie und ich begrüßten uns mit einem kurzen »Hallo«, dann betrat ich einen schmalen Korridor am hinteren Ende des Raums. Er führte an der Küche vorbei in das ruhigere, kleinere und gemütlichere Hinterzimmer. Hier gab es keine Musik und keine Bar, nur jamaikanische Streetart an den Wänden sowie ein Dutzend Tische und Nischen, darunter auch die, die wir als unser ureigenes Revier betrachteten.

Cindy saß am äußeren Ende der Bank, direkt am Fenster, und Yuki ihr gegenüber. Beide ließen sie ein strahlendes Lächeln sehen, als ich an den Tisch trat. Ich setzte mich neben Claire und klatschte Yuki über den Tisch hinweg ab.

»Cindy ist unterwegs«, sagte sie.

Ich griff nach Claires Hand.

Sie hatte eine Lungenkrebs-Diagnose und eine Operation hinter sich, die sie einen halben Lungenflügel gekostet hatte. Die Operation war erfolgreich verlaufen, aber was ihre Lebenserwartung anging, hatte ihr niemand irgendwelche Versprechungen gemacht. Das jagte mir und allen anderen, die Claire kannten und liebten, eine Heidenangst ein. Sie war immer noch krankgeschrieben und noch nicht auf ihren Posten als Leiterin der Gerichtsmedizin der Stadt San Francisco zurückgekehrt. Stattdessen ging sie regelmäßig zu den Kontrolluntersuchungen bei ihrem Arzt.

Als ich neben ihr saß, merkte ich erst, wie schmal sie geworden war. Seit Jahren hatte sie davon gesprochen, dass sie ihre Kleidergröße spürbar reduzieren wollte, aber durch eine Krebserkrankung? Sicher nicht.

Yuki war direkt von ihrer Arbeit bei der Bezirksstaatsanwaltschaft gekommen. Sie trug ein schickes blaues Jackett und eine passende Hose dazu. Die Haare waren etwas mehr als kinnlang mit einer blonden Strähne vor der Stirn. Sie sah gut, aber erschöpft aus.

Jetzt beugte sie sich nach vorne: »Dr.Terk hat gesagt, dass Claire überdurchschnittliche Fortschritte macht. Mit anderen Worten: Es geht ihr richtig gut.«

Claire grinste. »Wir können offen reden, oder? Ich habe die Freigabe und darf wieder arbeiten. Allerdings musste ich auf das Stoff-Kaninchen meiner Tochter schwören, dass ich keine Nachtschichten übernehme.«

Wir brachen in schallendes Gelächter aus. Das Kaninchen von Claires Tochter Rosie heißt Hoppy, hat große Augen und Schlappohren und schläft auf Rosies Kissen. Dann erkundigte Claire sich nach dem neuen Polizeichef, und das Gelächter verstummte.

»Clapper ist doch eine fantastische Wahl, oder nicht?«

Yuki, die mit Brady verheiratet ist, machte »Hmmm«.

Claire meinte: »Das klingt aber nicht gerade begeistert, Yuki-San. Was ist denn los?«

»Na ja, Brady hat schlechte Laune. Richtig schlechte Laune. Gestern Nacht hat er kaum geschlafen, und das sieht ihm gar nicht ähnlich. Er schätzt Clapper sehr. Aber er war kurz davor, sich selbst gegen die Beförderung zum Polizeichef zu entscheiden, und jetzt ist er sauer, weil der Bürgermeister ihm die Entscheidung abgenommen hat. Das fühlt sich für ihn an wie eine Demütigung. So eine Art Misstrauensvotum.«

Bevor ich erzählen konnte, dass Clapper mich bereits heftig abgewatscht hatte, trat unsere Lieblingskellnerin Lorraine an unseren Tisch. Sie hatte die roten Haare zu einem Knoten gebunden und hielt Stift und Block in der Hand.

»Kommt Cindy auch?«, wollte sie wissen.

»Müsste gleich da sein«, erwiderte Yuki.

Und wie auf Kommando kam sie ins Hinterzimmer gerauscht.

Sie war ganz in Jeansstoff gekleidet, und ihre blonden Locken waren vom feuchten Wind ganz fest. Ihre großen blauen Augen leuchteten, und nachdem sie sich neben Yuki gesetzt hatte, sagte sie: »Tut mir leid, dass ihr warten musstet. Ich habe hinter einem Öllaster festgesteckt.«

Lorraine begrüßte sie und nannte uns die Spezialitäten des Tages.

Claire bestellte ein Steak, schwarze Bohnen und Reis, Yuki einen Krabbensalat, und Cindy sagte: »Conch-Muscheln. Frittiert.«

»Conch ist aus«, sagte Lorraine.

»Hühnerfüße mit scharfer Kruste.«

»Du meinst bestimmt schwarz gebratenen Snapper mit Pommes frites.«

»Ganz genau!«, erwiderte Cindy. »Und einen Salat.«

»Ich auch«, sagte ich.

»Eine Margarita für dich, Yuki?«

»Nur ein Bier«, entgegnete unsere liebe Freundin, die keinen Tequila verträgt.

»Das heißt also Bier für alle«, versicherte sich Lorraine.

»Hört, hört«, sagte ich.

Das Bier wurde gebracht. Wir hoben unsere kühlen Krüge und sagten wie aus einem Mund: »Auf Claire.«

»Auf uns.«

Dann stießen wir an.

Lorraine brachte unser Essen, und als alle Teller auf dem Tisch standen, fragte sie uns, ob wir noch etwas brauchten. Wir waren alle zufrieden. Nach einem großen Schluck Bier beugte Cindy sich vor und sagte mit dramatischer Stimme: »Also, meine Lieben, ich habe Neuigkeiten.«

12

»Und jetzt noch mal, mit Trommelwirbel«, fuhr Cindy fort, »Neuigkeiten von Burke. Aber zuerst muss ich was essen.«

Wir buhten und zischten, und Claire sagte: »Das wirst du büßen.«

Cindy lachte. »Im Ernst. Ich bin am Verhungern.«

Während sie ihre Pommes in scharfer Soße ertränkte, sagte ich: »Dann kann ich ja mal meine