Der Aachener Kongress 1818 - Heinz Duchhardt - E-Book

Der Aachener Kongress 1818 E-Book

Heinz Duchhardt

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Beschreibung

Nachdem die europäische Landkarte auf dem Wiener Kongress neu gezeichnet worden war, kam im Herbst 1818 die antinapoleonische Allianz zusammen, die durch sich verstärkende liberale Bewegungen in Bedrängnis geraten war, um über die politische Lage zu beraten. Das Aachener Treffen der Monarchen und ihrer Minister hatte weitreichende Folgen: Ein neuer, auf Kooperation setzender Politikstil brach sich endgültig Bahn, Frankreich wurde wieder in das »Konzert« der Großmächte aufgenommen, zugleich wurden Maßnahmen zur Bekämpfung revolutionärer Bewegungen diskutiert, die die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse vorbereiteten. Einer der renommiertesten deutschen Historiker arbeitet diesen wegweisenden Kongress erstmals ebenso fundiert wie gut lesbar auf.

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-99218-3

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Ullstein Bild

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Vorwort

Einleitung

Von Wien nach Aachen

Der Ort des Geschehens

Die Agenda und der Erwartungshorizont der Öffentlichkeit

Die Protagonisten – die Monarchen und ihre Minister – und der Arbeitsstil

Fürstlicher Tourismus und höfischer Glanz in einer alten Reichsstadt

Symbolisches Handeln: Der Aachener Kongress und die Geschichte

Der Aachener Kongress als Etappe der Kunstgeschichte

Der Kongress als musikalisches Ereignis

Die politischen Ergebnisse

Der Ort des Aachener Monarchentreffens im Vormärz

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Siglen- und Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Außerdem waren diese zwei Monate, obgleich voll Mühe und Arbeit, doch unstreitig die interessantesten, befriedigendsten und ruhmvollsten meines Lebens.

Friedrich Gentz, Tagebuch

Vorwort

Gipfeltreffen von Staatspräsidenten und Regierungschefs zählen seit den 1980er Jahren im Zuge der ungeheuren Verdichtung der Staatenbeziehungen und von Globalisierungsprozessen zu den Normalitäten einer »nachmonarchischen« Zeit, die glaubt, im persönlichen Austausch der Staatsmänner die Gebrechen eines Kontinents oder der ganzen Welt heilen und den Weg in eine bessere Zukunft planieren zu können: Die EU- und NATO-Gipfel, die EU-Afrika-Gipfel, die G7-, G8- und G20-Gipfel, die Klimagipfel und vieles andere mehr stehen für diesen Trend, dem spektakulären Zusammentreffen einer politischen Spitzenelite mehr zuzutrauen als dem stillen und beharrlichen, unprätentiösen sachorientierten Arbeiten von Diplomaten und Experten oder den UN-Resolutionen.

Unsere Gegenwart, so scheint es, bedarf des medial weltweit vermittelten Spektakels, mögen die tatsächlich auf diesen – immer massiver hinterfragten – Treffen erzielten Ergebnisse oft mit dem riesigen Aufwand auch in einem eklatanten Widerspruch und Missverhältnis stehen. Multilaterale Gipfeltreffen sind jedoch kein Phänomen der Moderne, die Traditionslinien gründen vielmehr im frühen 19. Jahrhundert. Damals wurde dieser Typus in die internationale Politik eingeführt, den es vor der Französischen Revolution so gut wie nicht gegeben hatte und der zugleich damals geradezu »explodierte«.

*

Der Kongress nach »dem« Kongress – so lautete eine erste (tentative) Titelfassung dieses Buches – verdient in mehr als einer Hinsicht stärkere Beachtung, als ihm bisher zuteilwurde: als ein politisches Ereignis, das – ein kontrovers diskutiertes Thema in der zeitgenössischen Presse [1] – sich zwar nicht als bloße »Fortsetzung« des Wiener Kongresses verstand (und auch nicht verstanden werden darf), das aber trotzdem in mehr als einer Hinsicht auf Ergebnisse der Wiener Friedensordnung – des Kongresses und der ergänzenden Dokumente des Herbstes 1815 – rekurrierte und sie teils fortschrieb, teils modifizierte, teils wieder aufhob. Er ist zu verstehen als eine Blaupause, wie solche Gipfeltreffen zukünftig abliefen, als ein Einschnitt, der die nachfolgenden Repressionen gegen oppositionelle zivilgesellschaftliche Gruppierungen wenigstens gedanklich antizipierte, aber auch als ein »Kulturfestival«, das für einige Wochen die bürgerliche Gesellschaft der ehemaligen Reichsstadt Aachen mit musikalischen und künstlerischen Höchstleistungen in unmittelbaren Kontakt brachte.

Mainz, im Januar 2018Heinz Duchhardt

Einleitung

Nachdem das Gedenkjahr des Wiener Kongresses in allen Medien – Büchern, Ausstellungen, Zeitungen, Funk und Fernsehen – 2014/15 reichen Widerhall gefunden hat, drängte es sich auf, den ersten »Folgekongress«, den Friedrich Gentz, der umtriebige Protokollführer, in seinem Tagebuch immerhin als den »interessantesten, ruhmvollsten und befriedigendsten« seines Lebens charakterisierte, unter zeitgemäßen Fragestellungen aufzuarbeiten[2]. Dass er nicht vergleichbar glamourös und zeitlich viel enger dimensioniert als »Wien« war, tat dieser Absicht keinen Abbruch, umso weniger, als sich in Aachen im Prinzip derselbe, allerdings deutlich »geschrumpfte« Kreis der »politischen Klasse« wiedertraf, der auch schon die Physiognomie des Wiener Kongresses geprägt hatte. Über den unbefriedigenden Forschungsstand wird weiter unten zu sprechen sein.

Formal führte sich der Kongress, als dessen Standort Aachen ausgewählt wurde, auf Artikel V des Zweiten Pariser Friedens vom 20. November 1815 zurück, der den vier Siegermächten (Russland, Österreich, Preußen, Vereinigtes Königreich) anheimstellte, nach Ablauf von drei Jahren (»au bout de trois ans«) darüber zu befinden, ob die gegen Frankreich verhängten Sanktionen – die Teilbesetzung des Königreichs durch eine alliierte Beobachtungsarmee und Kriegsentschädigungen in beträchtlicher Höhe – noch die festgesetzten zwei weiteren Jahre fortgeführt oder aber gelockert oder ganz aufgehoben werden sollten.

Im Text der (zur Kontrolle Frankreichs von der Siegerkoalition errichteten) Quadrupelallianz vom selben Datum, dem zweiten für »Aachen« wichtigen Referenzdokument, war eine solche präzise Terminierung unterblieben, und es war bemerkenswert, dass man sich nach anfangs sehr kontroversen Diskussionen nicht auf den Pariser Frieden, sondern auf die allgemeine Konsultationsoption der Vier Mächte gemäß Artikel III ihres Allianzvertrags bezog. Im Rückgriff auf die dortigen Formulierungen von der Aufrechterhaltung der Ruhe Europas, der »tranquillité de l’Europe«, und der Ächtung revolutionärer Grundsätze, die, von Frankreich ausgehend, die Ruhe auch dritter Staaten beeinträchtigen könnten, eröffnete das die Chance, sich auch mit anderen Themen als nur der französischen Agenda zu befassen. Der Rekurs bot zudem den Vorteil, dass er über die Konsultationsoption hinaus eine Art Konsultationsgebot beinhaltete und der Kreis der Teilnehmer, als er einmal festlag, nicht beliebig veränderbar war; angesichts der vielen Schuldner Frankreichs, die auf Zahlungen warteten, hätte bei einer Berufung nur auf den Pariser Frieden nicht ausgeschlossen werden können, dass auch weitere Staaten ihre Teilnahme reklamierten.

Ungeschrieben stand im Raum, wie Frankreich, wenn seine Regierung denn alle Auflagen erfüllt haben würde und die Sanktionen beendet würden, weiter zu behandeln sei. Der Bourbonenstaat war in Wien schon einmal wieder voll in den Kreis der Großmächte aufgenommen worden, die Neuauflage des Krieges gegen den zurückgekehrten Napoleon hatte diese Situation aber erneut völlig verändert. Wie auch immer diese Prüfung und die Entscheidung ausfielen: Es war klar, dass sie das Mächtespiel nachhaltig berühren würden.

Es sei darauf verzichtet, die zeitgenössischen, unter anderem von Friedrich Gentz angestellten begrifflichen Reflexionen hier wiederzugeben, ob der Aachener »Kongress« ob seiner Kürze, des begrenzten Kreises der Akteure und seiner weitgehenden Unspektakularität wirklich ein Kongress oder »nur« eine »Ministerialkonferenz« gewesen sei, die das Etikett »Konferenz« nahelege. Anders als im Englischen – Webster spricht immer nur von »the conference of Aix-la-Chapelle« – hat sich im Deutschen für die vier Treffen der drei »östlichen« Monarchen und ihrer Kabinette in den Jahren 1818 bis 1822 der Begriff »Kongress« eingebürgert. Es besteht, wie ich denke, trotz der Ansätze von Werner Näf und seiner »Schule«, den Rang des Aachener Gipfeltreffens durch den Rückgriff auf die Begrifflichkeit »Konferenz« abzusenken, auch kein Anlass, von diesem allgemeinen Sprachgebrauch abzuweichen.

Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die Protagonisten in einer bestimmten Phase des Vorlaufs von »Aachen« selbst den Rang des Treffens niedrig zu hängen suchten, um Empfindlichkeiten auszubalancieren und um dritte Monarchen oder Diplomaten vom »Kongress« fernzuhalten. Deswegen hatten sie in dieser Phase aus taktischen Gründen den verniedlichenden und verharmlosenden Begriff der »Konferenz« bevorzugt.

*

Ein Buch zur Dekade nach dem Wiener Kongress kann nicht eo ipso auf gespanntes Interesse hoffen, gilt dieses Jahrzehnt doch als ein Zeitfenster, in dem manche Ansätze und Ergebnisse von 1814/15 zurückgedrängt oder entleert worden seien, dem also der Geruch des Rückwärtsgewandten anhaftet: das Verdikt der finsteren »Restauration«, die bei in demokratischen und liberalen Werten sozialisierten Menschen unserer Gegenwart eher eine Antihaltung denn Begeisterung auslöst. Und da sich dieses überaus problematische Schlagwort der Restauration, der Rückschritte bis in die vorrevolutionäre Zeit, dann meist auch noch mit dem der »unverständlichen« und pejorativ besetzten Heiligen Allianz und mit dem Namen Metternich verbindet, des »Kutschers Europas«, des Mannes, der – vermeintlich – alle liberalen und demokratischen Bekundungen in Europa habe niederkartätschen lassen, der sich also gegen den »Fortschritt« gestellt habe, gilt diese Dekade gemeinhin als ein »dunkles Jahrzehnt«. Sie sei geprägt durch nicht eingelöste Verfassungsversprechen, die Karlsbader Beschlüsse und die Niederschlagung der liberalen Bewegungen in Spanien und im Mezzogiorno, durch »Demagogenverfolgung« und Zensur, durch Missernten, Hungersnot, schwärmerischen Mystizismus, Judenfeindschaft und -pogrome, um hier nur einige wenige Aspekte herauszugreifen. Indes: Diese Sicht greift zu kurz und wird der »dunklen« Dekade nicht voll gerecht. Neuere, vor allem von der Politikgeschichte ausgehende Aufhellungen des düsteren Bildes[3], die das innovative Potenzial jenes Jahrzehnts akzentuieren, haben den Weg ins allgemeine Bewusstsein allerdings noch längst nicht gefunden.

Wissenschaftler, Historiker zumal, pflegen ihre Bücher meist mit dem Hinweis auf eine eklatante Forschungslücke einzuleiten, die dringend auszufüllen wäre. Für das breitere Publikum sind solche Feststellungen in der Regel von nachgeordnetem Interesse, weil es schlicht ein unterhaltsames, gut geschriebenes und dabei zuverlässig recherchiertes Buch erwartet, das seine Neugier befriedigt und gegebenenfalls eine Wissenslücke beseitigt. Gleichwohl kann und soll aber auch hier nicht ganz auf den Topos von der Forschungslücke verzichtet werden, die im Vergleich mit dem Wiener Kongress besonders ins Auge springt.

Zunächst ein Wort zur Quellenlage. Einen zweiten Klüber, also einen Staatsrechtler oder Historiker, der es sich – zeitgenössisch – zur Aufgabe gemacht hätte, die »Akten« dieses Gipfeltreffens herauszugeben, hat der Aachener Kongress nicht »geboren«. Johann Ludwig Klüber hatte in vielen Lieferungen, die wenige Wochen nach Beginn der Wiener Verhandlungen zu erscheinen begannen und dann zu neun gewichtigen Bänden gebunden wurden, dem erwartungsvollen Publikum Protokolle, Memoranden, auch Druckschriften zur Kenntnis gebracht, die ihm von verschiedenen Gewährsleuten zugespielt worden waren. Er hatte damit für einen eher noch dem Arkanbereich zugeordneten Kongress für eine ganz ungewöhnliche Transparenz und »Öffentlichkeit« gesorgt.

Bei den vielen Fachkommissionen, die in Wien parallel tagten, war diese Kompilation eine unschätzbare Hilfe, um in dem Dschungel der Verhandlungen einigermaßen den Durchblick zu behalten. Bei allen Defiziten dieses Unternehmens ist »der Klüber« bis heute eine zentrale Quellengrundlage für Forschungen zum Wiener Kongress geblieben. Am Aachener Kongress hat Johann Ludwig Klüber, inzwischen aus badischen in preußische Dienste übergewechselt und im Departement des Auswärtigen tätig, zwar mit dem Rang eines Geheimen Legationsrats im Gefolge des Fürsten Hardenberg teilgenommen, aber zu einem ähnlichen Unternehmen wie den Acten des Wiener Congresses fühlte er sich nicht herausgefordert – und sicher wäre ein solches Vorhaben auch gar nicht mehr im Sinn Berlins und Wiens gewesen.

In Aachen ist es zu einer vergleichbaren Auffächerung der Agenda und zur Einrichtung von Spezialkommissionen wie in Wien nicht gekommen. Die Runde der Minister der »Großen Vier« beziehungsweise der Fünf kontaktierte zwar fallweise – sehr selten! – Repräsentanten dritter Gemeinwesen oder Finanzfachleute als »Experten«, diese nahmen aber in keinem Fall an den Sitzungen teil. Die Ministerrunde blieb ein geschlossener politischer Körper, der sich zudem darauf verständigt hatte, vor Abschluss bestimmter Sachthemen keine Dokumente an die Öffentlichkeit zu geben. Die Treffen der Minister stellen somit die zentrale und letztlich auch einzige Einrichtung des Kongresses dar. Protokolliert wurden sie von dem bewährten »Sekretär« des Wiener Kongresses, Friedrich Gentz, ohne dass sie, gegebenenfalls mit ihren Beilagen, jemals das Interesse eines Editors gefunden hätten.

Immerhin liegen einige Schlüsseldokumente in einer fast zeitgenössischen Edition, Meyers Corpus iuris (1822), und in späteren Editionen (Albrecht-Carrié, 1928) vor. Ein in der Presse[4] erwähntes, von dem Pariser Buchhändler Emry herausgegebenes Lieferungswerk mit dem (übersetzten) Titel Beobachter am Kongress: oder geschichtliche und anekdotische Erzählung des Aachener Kongresses im Jahre 1818 konnte in den Bibliotheken nicht ermittelt werden und ist wohl auch über die erste(n) Lieferung(en) nie hinausgekommen. Die in den deutschen und französischen Bibliotheken nicht mehr nachweisbaren Nouvelles d’Aix-la-Chapelle haben sich – notgedrungen – wohl allenfalls dem gesellschaftlichen »Begleitprogramm« des Kongresses gewidmet[5].

Aber die Quellendefizite beschränken sich nicht nur auf einen zweiten »Klüber«, sondern schließen auch die für »Wien« so ertragreiche zeitgenössische Memoirenliteratur ein. Um es nur an einem Beispiel aufzuzeigen: Der dann in der philhellenischen Bewegung eine große Rolle spielende Jean-Gabriel Eynard, ein Freund des russischen Außenministers Capodistria, hat zwar über seine Sicht des Wiener Kongresses, auf dem er die Interessen Genfs vertrat, ein gehaltvolles Tagebuch hinterlassen, nicht aber für den Aachener Kongress, obwohl er zweifelsfrei[6] daran teilgenommen hat[7]. Entsprechendes gilt für den Freiherrn vom Stein, der sich freilich nur wenige Tage (zwischen dem 31. Oktober und dem 9. November) in Aachen aufhielt.

Andere »notorische« Tagebuchschreiber wie etwa der Weimarer Verleger Carl Bertuch konnten den »Folgekongress« in Aachen gar nicht mehr aufsuchen, weil sie inzwischen – in diesem Fall im Oktober 1815 – verstorben waren. Mutmaßlich wäre für Bertuch eine Teilnahme aber auch wenig sinnvoll gewesen, weil sein Hauptanliegen, das Problem des unautorisierten Büchernachdrucks, dort keine Rolle mehr spielte. Ein »Briefeschreiber«, also ein Verfasser fiktiver, unmittelbar nach dem Ereignis in den Druck gegebener Briefe wie der rheinische Jurist und Literat Theodor von Haupt[8] blieb vom politischen Geschehen sehr weit entfernt, wiewohl seine Beobachtungen in Aachen nicht ohne kulturhistorischen Reiz sind.

Also: keine zeitgenössische Aktensammlung wie für Wien, nur wenige ins Detail gehende »Ego-Dokumente« wie knappe Tagebücher von Hauptakteuren oder Randfiguren (Hardenberg[9], Gentz[10], Capodistria[11], der westfälische Oberpräsident Vincke[12]), allerdings etliche (teil-)edierte Briefwechsel (Friedrich Wilhelm III.[13], Gentz[14], Humboldt[15], Stein[16]). Dieser Befund wird abgerundet durch eine im Vergleich mit Wien 1814/15 ernüchternd schlechte Literaturlage. Aus ihr ragt, wenn man denn so will, die ein Jahr nach dem Ereignis erschienene Darstellung Aachen: der Monarchen-Kongreß 1818 des Aachener Archivars Karl Franz Meyer heraus, der selbst an einigen Punkten im Ablauf des Kongresses Akteur gewesen war und den Majestäten und sonstigen Besuchern seine geschichtlichen und naturkundlichen Sammlungen zu zeigen die Ehre hatte.

Die politische Agenda des Kongresses ist jedoch nie zusammenfassend oder auch nur ausschnitthaft aufgearbeitet worden. Am ehesten noch angegangen haben diese Aufgabe die von August Fournier geförderte Wiener Arbeit von Ernst Molden, die freilich, mitten im Ersten Weltkrieg nicht ohne tagespolitische Reflexionen auskommend, den Fokus sehr einseitig auf die österreichisch-russischen Beziehungen legt, und die Studie von Wilhelm Schwarz über die Heilige Allianz. Die flott und für ein breites Publikum geschriebene reportageähnliche und im Inhalt sich der Regenbogenpresse annähernde Darstellung van Taacks ergeht sich oft in Spekulationen und quellenmäßig nicht belegbaren Annahmen. Sie glänzt mit chroniques scandaleuses und dem Nachzeichnen der Karrieren von Randfiguren, ermangelt aber einer konzisen politischen Fragestellung.

Der Rückgriff wenigstens auf das nur in archivalischer Überlieferung zugängliche Protokoll der Sitzungen erwies sich angesichts dieser Forschungslage, obwohl ursprünglich nicht geplant, als unabdingbar; es wurde in der Überlieferung des Berliner Geheimen Staatsarchivs herangezogen[17]. Die im Aachener Stadtarchiv erhobenen Akten werfen in erster Linie Licht auf die logistische Bewältigung der Kongressausrichtung durch die Kommune. Für die Rückwirkungen des Kongresses auf das städtische Leben erwies sich die lokale Zeitung als ergiebige Quelle, die in der Nachfolge des offiziösen Journal de la Roer stehende Stadt Aachener Zeitung.

Von Wien nach Aachen

Seit der Leipziger Völkerschlacht im Oktober 1813, die sehr rasch in den Rang und die Funktion eines gemeinsamen lieu de mémoire, eines »Erinnerungsorts« der Siegermächte aufgerückt war, waren die drei »östlichen« Monarchen – die Kaiser von Österreich und Russland sowie der preußische König – mit ihrer engeren Entourage immer mehr zu einer Art »Familie« zusammengewachsen, die den standesüblichen familiären Anreden eine neue Qualität verliehen hatte. Sie hatten – immer ohne den britischen König Georg III., der als geisteskrank galt – mehr oder weniger gemeinsam am letzten Feldzug gegen Napoleon teilgenommen, waren gemeinsam im »befreiten« Paris eingezogen, hatten in der französischen Hauptstadt gemeinsam den Rahmen des Ersten Pariser Friedens bestimmt und sich gemeinsam – wenn auch ohne den österreichischen Kaiser – einige Wochen in London beim Prinzregenten aufgehalten (und sich dort porträtieren lassen). Sie hatten all die Monate in Wien gemeinsam verbracht, hatten nach Bekanntwerden von Napoleons Rückkehr von Elba auf das Festland innerhalb weniger Stunden die Viererallianz von Chaumont erneuert und sich nach der Entscheidungsschlacht von Belle-Alliance/Waterloo erneut in Paris versammelt, um im September 1815 die Heilige Allianz und im November den Zweiten Pariser Frieden zu beraten und die Quadrupelallianz zu schließen.

Monarchentreffen, in den zurückliegenden Jahrhunderten rare Ereignisse, waren – um es ein wenig zuzuspitzen – zur Normalität geworden, und auch wenn die Herzlichkeit zwischen den drei Monarchen abgestuft war, sprach vieles dafür, auch die letzte Etappe der Rückführung Frankreichs in die Gemeinschaft der Großmächte gemeinsam zu begehen. Mit und auf dem ersten »Folgekongress« nach Wien sollte ein weiteres Mal Solidarität demonstriert und symbolhaft ein Kapitel europäischer Geschichte, nämlich das der Leitung wesentlicher Elemente der Politik durch einen exklusiven Kreis von (auf bestimmte ethische Normen festgelegten) Großmächten, begonnen werden. Dass Frankreich zu diesem Kreis wieder hinzugezogen wurde, war ein Akt politischer Klugheit, allerdings verbunden mit einem sehr deutlich erhobenen Zeigefinger – das Repressions- und Sanktionsinstrumentarium behielt man wohlweislich in der Hinterhand.

In den Tagen europäischer Krisenbewältigung waren die Monarchen gefragt gewesen, es war an ihnen, die Dinge in die Hand zu nehmen: ausnahmslos autokratische Herrscher, die nicht durch irgendwelche Verfassungen eingegrenzt waren. Und sie hatten sich seit 1813 zu politischen Grundsatzentscheidungen durchgerungen, nicht immer einvernehmlich, oft auch gegen die Ratschläge ihrer Minister: nämlich den Krieg nach Frankreich hineinzutragen, mit Napoleon nicht mehr zu verhandeln und ihn, den Ehemann einer Erzherzogin, honorig mit dem Fürstentum Elba auszustatten. Sie hatten dafür gesorgt, Frankreich zunächst sehr glimpflich zu behandeln und erst nach Waterloo unter Kuratel zu stellen, die Heilige Allianz als Ausweis einer neuen politischen Philosophie zu etablieren, die gleichwohl noch ganz auf den Grundlagen eines »vormodernen, dynastischen Staatsverständnisses«[1] ruhte, und sich Druckmittel an die Hand zu geben, damit es wenigstens in der voraussehbaren Zukunft nie mehr zu revolutionären Exzessen kommen würde.

Die drei Monarchen, die sich dann in Aachen wiedertreffen sollten, einte bei aller Unterschiedlichkeit des Temperaments und des Grades ihrer immer wieder beschworenen »Freundschaft« eine entscheidende Erfahrung: die des unendlichen Leids, das Napoleon über ihre Herrschaftsbezirke gebracht hatte; die riesigen, vor allem den männlichen Anteil betreffenden Bevölkerungsverluste durch Kriegseinwirkung; die Zerstörung der Infrastruktur; der systematische Kunstraub gewaltigen Ausmaßes; im Fall Preußens und Österreichs die finanziellen Leistungen, die die Staaten an den Rand des totalen Kollapses gebracht hatten. So unterschiedlich ihre Weltbilder im Einzelnen gewesen sein mögen: Es war ein aus der Erfahrung, aus der Zeitgenossenschaft geborener Konsens, dass sich so etwas nie wiederholen dürfe, dass eine neue Politik Platz greifen müsse. Nachkriegszeiten verbinden Menschen und vor allem Verantwortliche, schwören sie auf eine andere Zukunft ein.

Es kann inzwischen als gesichertes historisches Wissen gelten, dass die Monarchen und ihre Minister in Wien und Paris – im Prinzip schon im Frühsommer, aber auf jeden Fall im Herbst 1815 – Abschied nahmen von einem Politikstil, der die letzten drei Jahrhunderte geprägt hatte: dem der »Balance of Power«, der Gleichgewichtsdoktrin. Dahinter steckte die Vorstellung, dass eine »Supermacht« oder ein in der Regel dynastisch verbundenes Staatenkonglomerat so drückend überlegen sei, dass für die Freiheit der anderen Schlimmes befürchtet werden müsse, weswegen Koalitionsbildungen für unabdingbar gehalten wurden, die dieses vermeintliche Übergewicht austarierten – oder man entschied sich gar für die Option des Präventivkriegs. »Gleichgewichtspolitik«, so ist es formuliert worden, »bildete […] eine Selbstschutzvorrichtung der Großmächte gegen mögliche hegemoniale Ambitionen ihrer Nachbarn«[2], mehr aber auch nicht.

Dieses Wechselspiel von (tatsächlicher oder vermeintlicher) Bedrohung und Reaktion war für ein Kontinuum von Konflikten verantwortlich, die in geradezu systemischer Weise – der »bellizistischen Grunddisposition der Fürstenstaaten«[3] entsprechend – zu einer steten Abfolge von Kriegen und Friedensschlüssen geführt hatten, wobei Letztere allen Ewigkeitsformeln ungeachtet über kurz oder lang wieder in Kriege einmündeten. Dies umso eher, als sich die Bündniskonstellationen in der Zwischenzeit radikal verändert haben konnten.

Die Protagonisten von 1815 waren in vielem uneins, aber in einer Hinsicht nicht: Es musste ein neues staatliches Miteinander fernab von Ruhmsucht und Rivalitäten, fernab der Aussicht auf ein paar Quadratkilometer Land und eine »bessere« Grenze, fernab des steten Kreislaufs von tatsächlicher oder vermeintlicher Bedrohung des Friedens, Krieg und Friedensschluss gefunden werden. Das, was aus den Dokumenten des Herbstes 1815 hervorging, hatte nichts mehr mit Gleichgewicht zu tun, sondern nur noch mit Solidarität und Einvernehmen. Es war ein Strukturwandel, der das Staatensystem auf eine neue Grundlage stellte und wenigstens in Richtung eines kollektiven Sicherheitssystems zielte.

Man wird nicht umhinkönnen, die Anfänge dieser Sicherheitspolitik auf solidarischer Basis schon auf den März 1815 zu datieren, als die Vier Mächte unmittelbar nach und unter dem Eindruck von Napoleons Rückkehr ohne Wenn und Aber und in kürzester Frist die Entscheidung trafen, das gerade errichtete »System« mit allen Konsequenzen zu sichern und zu verteidigen. Seit dem großen Buch The Transformation of European Politics, 1763 – 1848 von Paul W. Schroeder besteht in der Forschung ein breiter Konsens, dass in Wien eine staatenpolitische »Revolution« stattgefunden hat, die wenigstens unter den Hauptmächten dem Ansatz zum Durchbruch verhalf, den Schlagworten Frieden, Freundschaft und Völkerrecht (droit publique de l’Europe) einen völlig neuen Bedeutungsgehalt zuzusprechen und die Solidarität der »Großen Vier« zur verbindlichen Grundlage einer auf Dauer angelegten Politik zu machen. Ihr gemeinsamer Nenner war die durch Unverständnis für einen wachsenden schwärmerischen Nationalgedanken angereicherte Angst vor einer neuerlichen Revolution oder gar einer Neuauflage der napoleonischen Diktatur.

Die genannten Schlagworte fanden ihre erste Manifestation in dem schon von den Zeitgenossen als merkwürdig eingestuften Konstrukt der Heiligen Allianz, die die drei Monarchen – Alexander I., Franz I. und Friedrich Wilhelm III.: ein Orthodoxer, ein Katholik, ein Protestant – an einem hohen orthodoxen Kirchenfest, dem Kreuzerhöhungsfest, im September 1815 miteinander schlossen. Metternich hat viele Jahrzehnte später diesen Freundschaftsbund dreier Fürsten als ein »lauttönendes Nichts« bezeichnet, aber damit wurde er der politischen Bedeutung dieser »Allianz« ebenso wenig gerecht wie Castlereagh mit seinem Dictum vom Aktenstück eines prachtvollen Mystizismus. Die Heilige Allianz, eher im Stil eines »erbaulichen Traktats« gehalten[4], war kein Mantra für eine bestimmte konkrete Politik und zielte anfangs überhaupt nicht auf die Unterdrückung liberaler Emanationen. Sie hat aber durch die in ihr genannten Prinzipien die europäische Politik der Folgezeit dennoch nachhaltig beeinflusst.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass Zar Alexander I. als spiritus rector, als Ideengeber und als Verfasser der ersten Entwürfe gelten muss: ein Mann, der sich in den zurückliegenden Jahren durch viele Kontakte mit mystisch angehauchten, auf die Vertiefung des Christentums und seine Signalwirkung auf das ganze öffentliche Leben ausgerichteten Theologen und Nicht-Theologen ein ganz spezifisches Weltbild geschaffen hatte, das von hohen Moralvorstellungen geprägt war[5]. Seine Kontaktleute und »Quellen« waren beispielsweise die Russen Koschelew und Galitzin, die Böhmischen Brüder, Quäker und Jung-Stilling. Die Genese dieses Weltbilds führte er in einem Gespräch mit dem Berliner Bischof Rulemann Friedrich Eylert im Frühherbst 1818 direkt auf das Schlüsselerlebnis des Brandes Moskaus 1812 zurück, das ihn Gott, dessen Willen und Gesetz habe erkennen lassen[6].

Nach der redaktionellen Überarbeitung von Alexanders Entwurf, der in vielem an Novalis’ Die Christenheit oder Europa (1799) zu gemahnen scheint, durch Metternich, die dem Konzept »seinen phantastisch-religiösen Charakter nahm und ihm eine konservativ-monarchische Färbung gab«[7], waren es »la religion, la paix, et la justice«, die aufrechtzuerhalten sich die drei Monarchen als »pères de famille« aus einem »esprit de fraternité« versprachen. »Les préceptes de [la] religion sainte« würden zukünftig nicht nur die innere Administration ihrer Staaten, sondern auch ihre Außenpolitik bestimmen.

Diese Bindung aller Politik der drei Vertragschließenden, die im Unterschied zur völkerrechtlichen Praxis diesen Freundschaftsbund eigenhändig unterschrieben, sollte unbefristet gelten. Zum Beitritt wurden alle europäischen Staaten eingeladen. Wie ernst es insbesondere dem Zaren, an den nicht zufällig dann auch die Beitrittserklärungen von dritten Fürsten vorrangig adressiert wurden, mit dieser Selbstverpflichtung war, erhellt unter anderem daraus, dass er die Heilige Allianz – allerdings in Form eines mit dem Vertragstext nicht kongruenten »Manifests«[8] – am Weihnachtstag 1815 in allen russischen Kirchen verlesen ließ! Auch die »westliche« Presse machte die Allianz rasch dem breiten Publikum bekannt.

Die Heilige Allianz war »nur« eine Art moralischer Appell dreier Fürsten, die nicht müde wurden, ihre Brüderlichkeit, ihre gemeinsame Zugehörigkeit zu einer christlichen Familie und ihre Funktion als Beauftragte der »Vorsehung« zu betonen. Sie beinhaltete also keine Verabredungen zum Nachteil Dritter. Gerade deshalb wurde sie von den kleinen und mittleren europäischen Staaten, die ihr so gut wie vollzählig beitraten – 46 an der Zahl mit Ausnahme des Papstes, der Hohen Pforte und, aus verfassungsrechtlichen Gründen, des englischen Prinzregenten –, als eine Art Schutzschild gegen vermutete oder tatsächliche Ansprüche von Großmächten verstanden und als eine »rechtlich-moralische Hilfe«[9]. Es ist ja, vor allem in Nachkriegszeiten, ein Wesen von eine sichere, »goldene« Zukunft verheißenden Schlagworten, dass sie eine besondere Faszination verströmen.

Insofern hat die Heilige Allianz der praktischen Politik durchaus ihren Stempel aufgedrückt, auch wenn sie vom Typus her nicht mehr als ein freier Zusammenschluss zur Einhaltung moralischer Prinzipien war, der sich zudem keinerlei organisatorischen Mechanismus und keinen »Konsultationsapparat«[10] schuf. Der Qualitätssprung hin zu einem Politiksystem, das generell auf den Verzicht auf »Machtpolitik« und auf die Friedlichkeit der Mächtebeziehungen setzte, ist und bleibt dennoch aufregend genug.

Außer über die Sprache und die dahinterliegenden Prinzipien hat die Heilige Allianz auch dadurch über den Tag hinaus gewirkt, dass die drei Erstunterzeichner – wenngleich ohne ausdrücklichen Rekurs auf die Allianz – die vier Folgekongresse nicht nur einvernehmlich initiierten, sondern auch, mit einer Ausnahme, immer gemeinsam mit ihrer Teilnahme beehrten. Sie taten das zwar eher mit Bezug auf die Quadrupelallianz und das in Aachen aus der Taufe gehobene »Konzert«, aber in den Augen der Öffentlichkeit verwob sich das unauflöslich mit der Eigenschaft der Drei als Gründerväter der Heiligen Allianz. Dieser Eindruck konnte umso eher aufkommen, als einige der zentralen Dokumente von »Aachen« ganz unverkennbar die Sprache der Heiligen Allianz atmeten. Das Gewebe der Verträge von 1815 und 1818 war in der Tat verwirrend!

Die Heilige Allianz war für einen nicht begrenzten Zeitraum abgeschlossen worden, also für »ewig«, sie wurde dann aber doch 1833 durch einen geheim ausgehandelten und geheim bleibenden trilateralen Berliner Vertrag fortgeschrieben (dem, da geheim bleibend, kein weiterer Staat beitreten sollte). Das war dann allerdings auch der Schwanengesang der Heiligen Allianz; an ihrem unbeschränkten Interventionsanspruch hatten sich inzwischen die Geister geschieden. Ob man, wie die französische Diplomatie, von den »Trümmern der Heiligen Allianz« sprach oder es etwas moderater ausdrückte: Die Reformkräfte allüberall und der wachsende, über das Schwärmerische hinausgehende Patriotismus, die Verfassungsbewegung, die niemanden mehr unbeeindruckt lassen konnte, veränderten den politischen Spielraum der Protagonisten von 1815 entscheidend.

Hinzu fiel ins Gewicht, dass der Begriff »Heilige Allianz« inzwischen zu dem negativ besetzten Schlagwort der Zeit geworden war, mit dem man sich öffentlich nicht mehr gern in Verbindung bringen lassen wollte. Und genau deswegen gerieten auch die spektakulären Monarchentreffen der Vergangenheit mehr und mehr ins politische Abseits: der Geruch des Konspirativen, die Diskussion um ihre »Souveränität«, ihre zunehmende Einbindung in die »Nation« und generell der Wind des Liberalismus standen den Majestäten nun massiv ins Gesicht. Namentlich Preußens König widersetzte sich jetzt beharrlich dem Gedanken eines neuerlichen öffentlichkeitswirksamen Zusammentreffens der drei Fürsten.

Aber der Gedanke periodischer Zusammenkünfte der Monarchen beziehungsweise ihrer leitenden Minister gründete gar nicht in der Heiligen Allianz, sondern in Artikel VI der Quadrupelallianz vom 20. November 1815[11]. Es war eine revolutionäre, im Kern auf den britischen Außenminister Castlereagh zurückgehende Idee, durch Fürsten- und Ministertreffen eine Form europäischer Zusammenarbeit zu installieren, die die Sicherung des Status quo garantierte, der Friedensordnung, wie sie im Frühsommer in Wien »erfunden« worden war. Sieht man von den letztlich gescheiterten Kongressen von Soissons und Cambrai in den 1720er Jahren ab[12], war dies ein völlig neuer Ansatz zur kontinentalen Friedenswahrung und Konfliktprophylaxe, dessen Grundgedanke – der Exklusiv- und Monopolanspruch der Vier Mächte – freilich von Anfang an nicht unumstritten war. Denn obwohl – ganz anders als hundert Jahre später beim Völkerbund – jedes schriftliche Regelwerk und jede bürokratische Verfestigung fehlte, blieb Skepsis angesagt, wie lange dieser Klub der Mächtigen bestehen bleiben oder irgendwann zum Zweck der Verfolgung separater Interessen doch wieder auseinanderfallen würde.

Aber trotz der rasch allgemeinen Zulauf findenden Heiligen Allianz und der exklusiven Quadrupelallianz war die Architektur des europäischen Hauses noch fragil. Denn Frankreich, die Supermacht kurz zurückliegender Jahre, unter Quarantäne zu stellen und einer scharfen Kontrolle zu unterwerfen rührte massiv an den Stolz und das Selbstbewusstsein dieser Nation (und wurde innenpolitisch von radikalen Gruppierungen auch weidlich ausgenutzt). Einen Staat, der noch in jüngster Vergangenheit von der absoluten Dominanz in Europa geträumt hatte, mit einem Besatzungsheer und gewaltigen Kriegsentschädigungen zu belegen, mochte sich aus der Situation des Herbstes 1815 verstehen, aber schien nicht auf länger tunlich, wollte man das Land nicht noch weiter ins radikale Lager treiben lassen.

Die Regelungen waren für fünf Jahre getroffen worden, doch ist es bezeichnend, dass man aufseiten der Siegerkoalition unter dem Eindruck nachhaltiger französischer Petitionen und der Stimmungsberichte alliierter Beobachter einsichtig genug wurde, um bereits im Frühjahr 1817 die »Beobachtungsarmee« um ein Fünftel, 30 000 Mann, zu reduzieren und sich mit einer Ermäßigung der von Frankreich zu tragenden Verpflegungskosten einverstanden zu erklären. Dass mit solchen Schritten die Regierung gegenüber der wachsenden Opposition gestärkt und ihr Prestige erhöht werden sollte, liegt auf der Hand. Schon bei Beginn des Aachener Kongresses waren die Dinge ungeachtet aller Widerstände namentlich Preußens so in Fluss gekommen, dass man in der Öffentlichkeit trotz weiter bestehender Vorbehalte gegenüber Frankreichs »Läuterung« damit rechnete, in den Ministerkonferenzen den endgültigen Durchbruch zu erzielen und Frankreich von (fast) allen Repressalien zu befreien.

Nachdem Berlin unter sanftem russischem Druck beigedreht hatte, herrschte seit dem Hochsommer 1818 zwischen den Mächten der Quadrupelallianz prinzipielle Einmütigkeit in Hinsicht einer spürbaren Entlastung Frankreichs. Dessen finanzielle Lage mit einem riesigen Defizit im Budget des Jahres 1818 ließ im Grunde auch gar keinen Spielraum, wollte man die bourbonische Herrschaft, die sich neben den 1815 vereinbarten Kriegsentschädigungen ja auch noch mit gewaltigen Entschädigungsforderungen Dritter konfrontiert sah, nicht sehenden Auges weiter destabilisieren.

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Die konkrete Agenda des Folgekongresses – deutlicher Schwerpunkt sollte das Frankreichproblem sein – lag indes Ende September mit Gewissheit noch nicht fest. Verschiedene mögliche Beratungspunkte waren aber auf den »normalen« diplomatischen Kanälen in Wien, St. Petersburg, Berlin und London vorbesprochen und zudem in den im Zweiten Pariser Frieden institutionalisierten Pariser Botschafterkonferenzen behandelt worden, die in etlichen Fällen auch Memoranden und Beschlussvorlagen lieferten. Diese »stehende« Pariser Konferenz der alliierten Botschafter mit dem Oberbefehlshaber der Besatzungstruppen, dem Waterloo-Sieger Wellington, war freilich nur eine von drei Einrichtungen, die zur Abrundung beziehungsweise Fortschreibung der Wiener und der Pariser Beschlüsse eingerichtet worden waren.

Daneben rangierten die Londoner Botschafterkonferenzen der Diplomaten der Siegermächte unter Vorsitz des britischen Außenministers[13], die allerdings einen eng umgrenzten Auftrag hatten. Sie sollten weiter über das Problem des Sklavenhandels und der Sklaverei diskutieren und das in einem Zusatzartikel des Pariser Friedens erneuerte Verbot des Sklavenhandels in die Praxis umsetzen sowie geeignete Maßnahmen gegen das Piratenunwesen im Mittelmeer vorschlagen – Übergriffe, denen im öffentlichen Diskurs wachsende Bedeutung zukam. Und in Frankfurt wurde am neu errichteten Bundestag eine dritte »stehende« Konferenz der Diplomaten der Vier Mächte installiert. Sie sollte die für die noch offenen deutschen Territorialangelegenheiten zu erarbeitenden Lösungen gemäß der Aufsichtsfunktion der Mächte prüfen und konstruktiv begleiten.