Der Abgerichtete - Maxi Magga - E-Book

Der Abgerichtete E-Book

Maxi Magga

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Beschreibung

Europa in der ersten Hälfte der 2400er Jahre, vier Generationen nach den Großen Verteilungskriegen. Die Gesellschaft ist in einem Kastensystem organisiert. Einige wenige haben sich einen sagenhaften Reichtum und nahezu unbeschränkte Macht gesichert, die unterste Kaste lebt in bitterster Armut und Rechtlosigkeit. Viele sehen den einzigen Ausweg darin, sich selbst als Sklaven zu verkaufen. Sie ahnen nicht, was das für jeden Einzelnen bedeuten kann. Auch Moron will auf diese Weise seine Familie vor dem Verhungern bewahren. Allzu bald erfährt er, dass seine neuen Herren nicht an seiner Arbeitskraft interessiert sind, sondern ihn in einer noch nicht legalisierten Form als persönlichen Sklaven halten. Seine sogenannte Abrichtung zeichnet sich durch brutale Gewalt, Erniedrigung und sexuellen Missbrauch aus. Moron erträgt alles für das Ziel, seiner Familie den Aufstieg in eine höhere Kaste zu sichern. In seinem Elend verliebt er sich in die kastenhöhere Angestellte Ferine. Ein No-Go. Oder gibt es doch eine Chance für diese Liebe? Während sie zwischenzeitlich getrennt werden, erkennt Moron in einem jungen Abzurichtenden ein Mitglied seiner zurückgelassenen Familie, den Beweis für einen groß angelegten Betrug. Auf Hilfe durch die Rechtsorgane kann er nicht hoffen. Ganz auf sich allein gestellt beginnt er einen gnadenlosen Rachefeldzug. Es ist die berührende Lebensgeschichte eines Mannes in einer Gesellschaft, die die soziale Ungleichheit auf die Spitze getrieben hat. Eine mitreißende Geschichte von individuellem Mut, Opferbereitschaft und Liebe inmitten menschenunwürdiger Bedingungen. Sie handelt vom täglichen Kampf ums pure Überleben und einen Rest an Menschenwürde, aber auch von Liebe, Flucht und Racheplänen.

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Maxi Magga

Der Abgerichtete

© 2020 Maxi Magga

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-09751-3

Hardcover:

978-3-347-09752-0

e-Book:

978-3-347-09753-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Cover: Anette Weber, Krefeld

Mein spezieller Dank geht an Anette Weber, die meine vage Coveridee („Ein Mann außerhalb von Recht und Ordnung, der schwer leidet“) grandios umgesetzt hat.

Nomen est omen

Die wichtigsten Personen

Moron (Nummer Fünf) Abgerichteter

moron Trottel

FerineHausmädchen

ferineungezähmt

KovitVerwalter

to covet begehren, begierig sein, versessen sein auf etw. [Covid: mitleidlos, potentiell tödlich]

Herr

der Herr

EligaHausherrin

eligibleberechtigt

SoraMorons Ehefrau

sorrowSorge, Trauer, Schmerz

NexorKoch

inexorableunbarmherzig

AgnataHaushälterin, Putzfrau

agnatewesensverwandt

DerisHausmeister

derisiveverächtlich

1

Es ist das zweite Mal in meinem Leben, dass mich jemand mit „Sie“ anspricht. Beide Male bedeutet es für mich das Ende meiner Welt. Damals, vor ungefähr 28 Jahren, sollte die Anrede mich verwirren, mir Sand in die Augen streuen, damit ich den Abgrund vor mir nicht sah. Heute ist es umgekehrt. Heute wollen sie, dass ich das Grauen vor mir deutlich erkenne. 24 Stunden haben sie mir dazu gegeben. 24 Stunden, in denen ich meine Geschichte in dieses Gerät sprechen soll, von dem ich immer noch nicht so genau weiß, wie es funktioniert. Einen Tag und eine Nacht, in denen ich mich endgültig dem Tod ausliefere. Erwarten sie, dass ich bereue? Wahrscheinlich nicht. Es ist auch egal, ob sie das tun, ich bereue nicht, was ich getan habe. Höchstens, dass ich es so spät getan habe.

„Sora, siehst du denn immer noch nicht ein, dass ich es tun muss? Für dich und unser Kind - unsere Kinder“, verbesserte er sich sofort.

Moron versuchte seiner Stimme Stärke zu verleihen. Aber wo sollte eine solche Kraft herkommen, wenn er mit Tränen in den Augen auf seine junge Frau hinuntersah, die mit einer Hand über ihren Bauch strich, als wollte sie das ungeborene Kind darin schützen. Der andere Arm stützte ein kleines Mädchen, das verzweifelt an der leeren Brust ihrer Mutter saugte. Jeder, der das dreijährige Kind nicht kannte, würde es für ein Jahr jünger halten.

„Es ist bestimmt dein Kind, Moron“, brachte Sora stockend heraus. Sein Blick auf ihren gewölbten Bauch fiel härter aus, als er wollte und ließ sie wieder in Tränen ausbrechen.

„Ich könnte es doch nie jetzt schon so lieben, wenn es … wenn …“

„Schhh, beruhige dich. Ich glaube ja auch, dass es so ist. Wirklich. Komm jetzt, leg dich hin. Du musst dich doch ausruhen. Nach all dem ….“

„Wie soll ich mich denn beruhigen? Ich will mich gar nicht beruhigen!“

Moron hatte Sora noch nie so aufgebracht gesehen.

„Vielleicht ist ja alles gelogen, was du mir gesagt hast, und du willst nur weg von mir, weil du dich vor mir ekelst, seit dieser Mann mich …“

Was sie sonst noch sagen wollte, ging im Schluchzen unter. Moron verdrehte die Augen. Diesen Vorwurf hatte er schon zu oft gehört. Es kränkte ihn, dass sie so über ihn denken konnte.

„Sora, ich will jetzt nicht noch einmal mit dir darüber streiten. Das bringt doch nichts. Du tust mir weh, wenn du so etwas sagst.“

Der Ton seiner beleidigt klingende Stimme nervte ihn selbst. Er atmete tief durch, strich ihr zärtlich eine Strähne ihres langen, rotbraunen Haares aus dem Gesicht und bemühte sich, seinen Tonfall in den Griff zu bekommen.

„Du weißt doch, ich liebe nichts auf der Welt so sehr wie dich und da… die Kinder.“

Verflucht, konnte er denn nicht besser aufpassen? Da war er beinahe wieder mit beiden Beinen mitten in das Fettnäpfchen gesprungen. Er hoffte, dass sie nichts bemerkt hatte, und beeilte sich weiterzusprechen.

„Das weißt du doch, oder? Was gäbe ich darum, eine andere Lösung zu finden! Wenn du eine siehst, dann sag sie mir. Dann rede ich nie wieder von meiner Idee.“

Sora senkte langsam den Kopf, so dass ihr Haar fast das ganze Gesicht wie mit einem dichten Schleier verdeckte.

„Ich kenne keine“, flüsterte sie nach einer Weile stockend und fast unhörbar, „aber …“

Moron verlor die Geduld.

„Ja, willst du denn, dass wir alle verhungern? Sieh dir Calla an! Unsere Tochter wird vielleicht den nächsten Monat schon nicht mehr erleben. Unsere Felder sind unfruchtbar oder zerstört. Sora, bitte, wir werden den kommenden Winter nicht überstehen. Und selbst wenn, was wäre dann, hm? Was dann, Sora? Wir haben Schulden, daher ist es uns verboten, dieses verfluchte, tote Land zu verlassen. Obwohl die Oberen wissen, dass wir niemals werden bezahlen können, solange sie uns zwingen zu bleiben. Aber wenn es mir gelingt, mich als Sklave zu verkaufen, dann sind wir gerettet. Alle.“

Moron warf einen schnellen Blick zur Seite, aber er konnte nicht erkennen, ob sein Vater diese Worte gehört hatte. Liebevoll drückte er seiner Frau einen Kuss auf den Scheitel. Sora hob ihren Kopf nicht, sah ihren Mann nicht an.

„Wir werden uns niemals wiedersehen. Du lässt uns allein.“

Moron wollte auffahren, aber er musste eingestehen, dass sie vermutlich recht hatte. Darum fuhr er sanfter fort:

„Vielleicht, aber so muss es ja nicht unbedingt sein. Es ist nicht gut, wenn du immer nur das Allerschlimmste erwartest.“

„Ich weiß, aber meistens kommt es doch so. Außerdem wirst du dich zu Tode schinden müssen, sie werden dich bestimmt hungern lassen, vielleicht sogar schlagen. Selta, die Frau von Lanzo, hat mir erzählt, dass sie die Striemen auf dem Rücken ihres Mannes gesehen hat.“

„Na, da siehst du es, die beiden sind zum Beispiel nicht für immer voneinander getrennt“, meinte er leichthin. „Schau mich an, Sora. Ich kann sehr hart arbeiten. Solange ich denken kann, habe ich schwer geschuftet. Das kennst du doch von mir, oder? Warum sollten sie mich dann prügeln? Und selbst wenn, so ein paar Schläge haben noch keinem geschadet. Außerdem, vergiss bitte nicht, dass ich auch jetzt schon zu den beliebtesten Prügelknaben für die aus der Stadt gehöre. Angenommen ich müsste tatsächlich ab und zu mal hungern, glaubst du, das wäre schlimmer als jetzt? Sie können doch nicht wollen, dass ich zu schwach zum Arbeiten werde. Ganz sicher nicht. Na, also. Sieh nur, Calla ist an deiner Brust eingeschlafen. Leg du dich auch etwas hin. Du musst dich ausruhen. Komm ich trage dich zum Bett. So ist es gut.“

Moron hob sie auf. Wie eine Feder, dachte er, viel zu leicht.

Es stimmte ja, was er zu ihr gesagt hatte. Er hatte sich immer abgemüht, solange das Tageslicht es überhaupt zuließ, kannte nichts als endlose Plackerei. Trotzdem schaffte er es nicht, für wenigstens eine Mahlzeit am Tag zu sorgen. Was machte er denn nur falsch?

Erst als Sora haltsuchend den freien Arm fester um seinen Hals schlang und ihn stirnrunzelnd ansah, merkte er, dass er sie schon eine ganze Weile fest an sich drückte, ohne auch nur einen Schritt gemacht zu haben. Er brachte sie zum Bett und legte sie sanft darauf ab. Schweißnass setzte er sich zu ihr auf die Bettkante. Obwohl es in der armseligen Hütte dämmrig war, weil das Sonnenlicht durch ein Brett vor dem Fenster draußen gehalten wurde, war es im Inneren fast unerträglich. Moron fürchtete sich vor der gleißenden Sonne, der er gleich auf seinem Weg ausgesetzt sein würde. Eigentlich war es zu heiß, um in der Mittagszeit im Freien zu sein. Aber diese Hitze bot ihm auch Schutz vor einem Überfall, denn keiner von denen aus der Stadt würde sich ihr freiwillig aussetzen.

Moron wartete, bis er glaubte, dass Sora eingeschlafen war. Dann wandte er sich an seinen alten, abgearbeiteten Vater, der mit offenen Augen auf der anderen Seite der einfachen Schlafstelle lag. Bis vor wenigen Monaten hatten seine Frau, seine Mutter und seine kleine Tochter Calla darin geschlafen, während sein Vater und er die Nächte auf dem blanken Boden davor verbrachten. Aber jetzt war seine Mutter tot, gestorben an Hunger und einer eigentlich harmlosen Verletzung, die nicht hatte heilen wollen.

„Ich gehe jetzt zum Ältesten, Papa. Pass auf die Kleine auf, ja?“, flüsterte er. Der alte Mann starrte weiter stumm an die Decke. Moron wusste nicht, ob er ihn überhaupt gehört hatte. Aber als er sich durch die demolierten Tür zwängte, die sich schon lange nicht mehr in den Angeln drehen ließ, hörte er ihn flüstern: „Ich weiß, dass du das Richtige tun wirst, mein Junge.“

Eine halbe Stunde später saß Moron auf einer Kiste beim Dorfältesten im einzigen, uralten Steingebäude weit und breit. Weder Steinwände noch Respekt vor einem alten Mann hielten den Mob aus der Stadt davon ab, mit Gewalt einzudringen und sich an der spärlichen Einrichtung abzureagieren. Alles, was der Älteste noch besaß, hatte er in ein Zimmer gerettet, zwei Stühle, von denen einer nur noch zu benutzen war, weil er das fehlende Bein durch einen Holzblock ersetzt hatte, einen Tisch, ein Bett. Eine Kiste, in der er seine wenigen Habseligkeiten verstaut hatte, stand in einer Ecke. An der Wand Hing ein Bilderrahmen mit zerbrochenem Kunstglas, hinter dem sein ganzer Stolz zu sehen war, das Zeugnis einer Schule, das ihm bescheinigte lesen zu können. Wie immer hatte Moron es ehrfürchtig betrachtet, bevor er weiterging. Er kannte niemanden außer dem Ältesten, der lesen konnte oder jemals eine Schule besucht hatte. Genau darum war er jetzt hier.

„Du scheinst dir alles reiflich überlegt zu haben, Moron. Ich kann es dir nicht verdenken. Gut, ich werde also deinen Antrag schreiben und versenden. Vermutlich kannst du dich schon in ein paar Wochen als Sklave verkaufen. Doch danach gibt es kein Zurück mehr für dich. Bedenke das!“

„Ich weiß“, sagte Moron und nickte. „Aber mit dem Kaufpreis kann mein Vater unsere Schulden bezahlen. Die Meldung von Mutters Tod bei den Behörden und ihre Beerdigung haben uns endgültig ruiniert. Vor zwei Tagen haben uns die aus der Stadt außerdem das einzige Feld angezündet, das noch ein wenig Ertrag versprach. Es sollte uns durch den Winter bringen. Wir verhungern, wenn ich mich nicht verkaufe. Aber wenn ich genug einbringe, kann meine Familie den Wohnungsverteiler bezahlen und darf an den Stadtrand ziehen, um dort Arbeit zu suchen. Im besten Fall werden meine Frau und die Kinder sogar in die E-Kaste eingekauft. Das stimmt doch, Ältester? So hast du mir diese Sonderregelung ja erklärt. Dafür würde ich alles auf mich nehmen. Schreib das bitte auch auf. Alles. Außerdem, ich will nicht respektlos sein, Ältester, aber unser Dorf gibt es ohnehin schon lange nicht mehr.“

Das stimmte. Wer hätte das besser wissen sollen als der Älteste? Früher kamen die gelangweilten Mitglieder der höheren Kasten mit ihren Luftkissenwagen nur bis an den Rand der Stadt, weil sie auf den unebenen, steinigen Landwegen oft beschädigt wurden. Von dort aus marschierten sie den Rest der Strecke zu Fuß, um Randale zu machen. Die Dorfbewohner, allesamt Mitglieder der untersten Kaste, hatten trotzdem oft keine Chance, die Frauen und Kinder rechtzeitig im Erdbunker in Sicherheit zu bringen, bevor das Dorf erreicht und attackiert wurde. Einer nach dem anderen gaben sie ihre Hütten und Felder auf und zog sich verängstigt immer weiter in Richtung des Vulkans zurück. Aber das ohnehin karge Land wurde von Kilometer zu Kilometer unfruchtbarer, und der scharfkantige Basaltbruch, der dort fast überall den Boden bedeckte, sorgte regelmäßig für Verletzungen. Der einstige Zusammenhalt der Kaste ging verloren, das Überleben wurde von Tag zu Tag schwieriger. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die Angreifer auf die Flucht ihrer Opfer eingestellt hatten und jetzt sogar auf Pferden in die armselige Siedlung eindrangen, zerstörten, was ihnen in die Hände fiel, und die Einheimischen drangsalierten.

„Du hast recht, Moron. Seit die Generation meiner Großeltern die Großen Verteilungskriege verloren hat, ist es für Menschen wie uns immer schlimmer geworden. Vorher hatten die Reichen viel und die Armen wenig. Jetzt gehört den Reichen alles und uns gar nichts mehr. Das Kastenwesen erledigt den Rest. Sie sind dabei, uns zu isolieren und uns damit auch den einzigen Schutz zu nehmen, auf den wir uns immer verlassen konnten, unsere Gemeinschaft. Es gibt so gut wie nirgends Arbeit für uns. Dabei ist es fast unmöglich, uns von dem zu ernähren, was auf dem Land angebaut werden kann, auf das sie uns treiben. Wir sind zu viele. Mehr als sie brauchen können. Es ist ihr Ziel, uns auszuhungern, die Überzähligen auszurotten. Nicht einmal den Schutz der Gesetze besitzen wir noch. Es ist verständlich, dass du dich auf das einzige Recht berufen willst, das wir noch haben. Dich selbst zum Kauf anzubieten. Aber auch das dient letztlich nur den Zwecken der Oberen.“

Moron respektierte die kurze Stille, während der der Älteste sich sammelte.

„Verzeih mir, Moron, verzeih einem alten, einsamen Mann, dem die Bitterkeit die Luft zum Atmen nimmt. Ja, du hast recht“, wiederholte er, „bring deine Familie so schnell wie möglich in Sicherheit. Wir sind weniger wert als Tiere, seit sie nicht einmal mehr unsere Feldfrüchte brauchen. Gestern haben sie sogar die kleine Siga brutal vergewaltigt. Mehrere Männer! Dabei ist das Kind nicht einmal so alt wie eure Calla. Und die Eltern mussten alles mit ansehen. Niemand wird diese Schweine dafür jemals zur Rechenschaft ziehen.“

Moron wusste natürlich von diesem entsetzlichen Schicksal der Familie. Es hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Die Worte des Ältesten rissen in ihm eine tiefe Wunde wieder auf. Wie kochendes Pech hatte sich die Vergewaltigung Soras im Frühling in seine Seele gebrannt. Noch immer grollte er dem Kind, das sie seitdem unter ihrem Herzen trug, gegen jede Vernunft schon allein dafür, dass es womöglich damals in Gewalt und Blut gezeugt worden war. Betreten schwiegen die Männer, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.

„Und wenn ich nicht …, ich meine, wenn … Ich lasse dich im Stich, Ältester, wenn ich von hier fortgehe.“

„Nichts da“, unterbrach der Dorfvorsteher energisch. „Ich bin alt, Moron, und ich habe schon mehr als genug gesehen, was ich niemals sehen wollte. Wenn du bleibst, wird das gar nichts ändern. Hast du etwa vergessen, wie es damals lief? Glaubst du, jetzt wäre irgendetwas anders?“

Nein, er hatte kein bisschen von dem vergessen, was vor ungefähr vier Jahren passiert war. Moron hatte Sora erst wenige Tage zuvor zu seiner Frau erklärt, als fast ein Dutzend Männer aus der Stadt das Dorf überfielen und ihren Vater aus seiner Hütte zerrten. Lachend trieben sie ihn mit Steinwürfen in den kleinen Teich. Sie ließen erst dann davon ab, ihn zu steinigen, als er sich nicht mehr bewegte. Daraufhin hatte das ganze Dorf gesammelt. Jeder Einzelne von ihnen hatte Opfer gebracht und tatsächlich kam die Summe zusammen, die zur Erstattung einer Anzeige erforderlich war. Die Guardians nahmen alles Geld, aber dann weigerten sie sich zu ermitteln, weil man ihnen keine Beweise vorgelegt hätte. Die Rache der Eindringlinge an den Dörflern fiel dennoch furchtbar aus.

Oder damals, vor gut acht Jahren, Moron war gerade sechzehn Jahre alt. Sie lebten noch fast alle im Dorfverbund, als sieben Männer mitten in der Nacht erschienen, brüllten, alle sollten in ihren Hütten bleiben, nur Sander solle sich ihnen stellen. Falls nicht, drohten sie alle zwei Minuten eine Hütte abzubrennen. Aber es gab niemanden mit dem Namen Sander im Dorf, der sich den Männern hätte stellen können. Daraufhin zündeten sie die erste Hütte an und wiederholten ihre Drohung. Als er es nicht mehr aushielt, riss Moron sich von seinem Vater los, rannte auf sie zu und ließ sich widerstandslos zusammenschlagen. Keinen von ihnen hatte interessiert, wie sein Name war. Später sagte er nur, einer habe eben die Verantwortung für das Dorf übernehmen müssen.

„Geh jetzt zurück zu deiner Familie, Moron. Kümmere dich um sie, solange du noch da bist. Ich werde tun, was ich kann, damit sie dich in den Sonderverkauf nehmen. “

Wenn ich diesen Teil meines Lebens aus der heutigen Sicht betrachte, muss ich mir eingestehen, dass ich und meine Kastengenossen nicht unschuldig waren an unserer Opferrolle. Die Kastengesetze hinderten uns daran, uns zu wehren, aber hätten wir uns nicht wenigstens besser vor den Kastenhöheren schützen können? Hätten wir nicht spätestens bei dem Verbrechen an Siga aufstehen müssen ? Ich allen anderen voran ? Tatsächlich wartete ich aber geduldig auf eine Antwort auf meine Anfrage und versuchte, wie alle anderen, während dieser Zeit möglichst nicht aufzufallen.

„Hör doch auf zu weinen, Sora. Es tut dir nicht gut und dem Baby auch nicht. Und mir machst du es nur noch schwerer. Schau, vielleicht werde ich ja von einer dieser Fabriken gekauft, wie Lanzo vor zwei Jahren. Die bezahlen zwar nicht so viel, aber Lanzo darf dafür jeden Monat einen ganzen Tag nach Hause.“

Morons Vater schnaubte verächtlich im Hintergrund.

„Oder ich komme in diesen Sonderverkauf, von dem der Älteste gesprochen hat, und ihr werdet dafür in die E-Kaste aufgenommen. Überleg doch! Zusätzlich zu dem Geld, mit dem unsere Schulden bezahlt werden! Dann brauche ich mir gewiss euretwegen keine Sorgen mehr zu machen. Dann wird alles so viel besser sein als jetzt. Nie wieder hungern! Denk an die Kinder, Sora. Komm, sei friedlich, lass mich gehen. Soll es denn dein böses Gesicht sein, das ich als Letztes von hier mitnehme?“

Sora versuchte ein Lächeln, das nur umso trauriger wirkte. Ihre letzte Hoffnung war zerbrochen, als man Moron tatsächlich einen Termin für ein Verkaufsgespräch zuwies. Sollte er doch stur von einem Wiedersehen faseln, sie glaubte keinen Augenblick daran. Auch nicht an das sorgenfreie Leben, das er versprach. Wie sollte das möglich sein, da er sie doch alleinließ?

Moron riss sich mit einiger Mühe von seiner Frau los, die zusammen mit Calla auf dem Boden kauerte und kein Auge von ihm ließ. Sie bot ihre ganze Kraft auf, um sich jede Einzelheit seiner Gestalt und jedes Detail des geliebten Gesichts für alle Ewigkeit einzuprägen.

Er wirkte älter, als seine 24 Jahre angaben, müde und niedergeschlagen. Ihr konnte er doch nichts vormachen! Dennoch, für sie war er immer noch der unverschämt gut aussehende, große Mann mit den so auffallend unmännlich wirkenden langen Wimpern, in den sie sich verliebt hatte. Sie lächelte kurz, als ihr Blick auf die Stelle über dem rechten Ohr fiel, wo sie aus Versehen viel zu viel von seinem störrischen braunen Haar abgeschnitten hatte.

„Wenn du so weiter machst, werde ich aussehen wie ein geschorenes Schaf“, hatte er gesagt und beide brachen in ein herzhaftes Lachen aus. War das wirklich erst gestern gewesen? Heute schossen ihr wegen dieser kleinen Stelle an seinem Kopf erneut die Tränen in die Augen. Sora schloss die Lider. Den Rest von ihm sah sie so besser.

Moron näherte inzwischen zögernd seinem Vater. Das schlechte Gewissen würgte die Worte ab, die er ihm zum Abschied hatte sagen wollen. Aber der alte Mann verstand ihn auch so.

„Es ist schon gut, mein Junge“, sagte er leise, als er ihn ein letztes Mal umarmte. „Ich komme klar.“

Moron wusste, dass es nicht so war, dass es gar nicht so sein konnte. Für kein Geld der Welt würden die Oberen der E-Kaste einen alten, verbrauchten Mann aufnehmen, der ihnen nicht mehr von Nutzen sein konnte. Wenn die Bestechung für Sora und die Kinder gelang, würde sein Vater allein hier in dieser Hütte sterben. Das lag tonnenschwer auf seiner Seele: Er konnte sie nicht alle retten.

Bevor ihm die Tränen über das Gesicht liefen, wandte er sich abrupt ab und ging auf Sora zu. Sie blieb in ihrer Ecke hocken, als Moron sie und ihr Kind zum Abschied auf die Stirn küsste. Sie kauerte auch noch dort, als er den vierstündigen Fußmarsch in das Stadtzentrum antrat. Nach einigen Metern drehte er sich nach ihr um. Er hob hoffnungsvoll den Arm, um ihr zuzuwinken, aber sie stand nicht vor der Hütte, um ihm nachzusehen. Den Stich im Herzen, den er in diesem Augenblick fühlte, nahm er ihr übel. Mit einem Ruck machte er kehrt und stapfte enttäuscht davon.

Er trug nur ein kleines Stück Holz bei sich, das er aus dem Tisch des Ältesten herausgeschlagen hatte. Da es schon seit Jahren kein Papier mehr gab, hatte dieser die Adresse, an der Moron sich melden sollte, sorgfältig in das Holz geritzt. Moron hoffte, dass sie richtig abgeschrieben worden war, denn es war nicht leicht gewesen, die Schriftzeichen des elektronischen Übermittlers an einer Wand zu erkennen, die schon seit Jahrzehnten keinen Putz mehr kannte. Der Signaltransmitter war zudem instabil, ständig drohte die Nachricht zusammenbrechen. Für F-Kastenmitglieder gab es jedoch keine andere Möglichkeit, an die Mitteilung des Anwalts aus der Stadt zu kommen. Das Steinhaus des Dorfältesten war weit und breit das einzige Gebäude, das überhaupt ab und zu Strom und zudem die technische Ausrüstung für diese Art der Kommunikation hatte, auch wenn sie alt und unzulänglich war. Früher, vor sehr langer Zeit, musste es einmal anders gewesen sein. Damals gab es ein dichtes Netz an Sendestationen, so erzählte man sich. Vereinzelt fand man, verteilt über die ganze Ebene, noch immer hohe Stahlträger, die einst Strommasten gewesen sein sollten.

Der Älteste hatte ihm den Text an der Wand vor gelesen, weil Moron nicht einmal seinen eigenen Namen lesen und schreiben konnte. Aber selbst der alte Mann war nicht im Stande gewesen, ihm die Bedeutung einiger Stellen des Schreibens zu erklären. Eine merkwürdige Sprache war das! Niemand in ihrem Dorf sprach so, mit solchen Wörtern und so endlos langen Sätzen. Der Älteste schärfte ihm fest ein, den Anwalt unbedingt nach allen Passagen zu fragen, die Moron nicht verstanden hatte.

Bei der Erinnerung daran tastete er nach dem kostbaren Holzstückchen in seiner Jackentasche. Spürte er da nicht noch etwas? Erstaunt zog er einen gut daumengroßen Stein heraus, schmeichelnd glatt und strahlend weiß mit einem tiefroten Streifen. So etwas kam in ihrer Umgebung gar nicht vor, aber nicht nur deshalb erkannte Moron ihn sofort wieder. Es war der Spielstein seiner kleinen Tochter. Mit ihm hatte sie als Baby das Greifen geübt, auf ihm hatte sie die Schmerzen beim Zahnen zu bekämpfen versucht und an ihm lutschte sie begierig, wenn sie hungrig im Bett lag. Es brach ihm das Herz, dass sich so ein kleines Kind davon getrennt haben mochte, nur damit sein Vater sich nicht allein fühlen musste. Es fehlte nicht viel und Moron wäre umgekehrt. Aber er tat es nicht. Das Bild seiner Tochter vor Augen, ging er entschlossener weiter denn je.

2

Der Trubel der Stadt machte ihm Angst. Menschen über Menschen! Und alle bewegten sich erschreckend furchtlos zwischen den unzähligen großen und kleinen Luftkissenwagen, Hoverboards der Guardians und Pferdekarren, die Kisten und Fässer transportierten. Jeder fuhr oder lief, wie und wo es ihm beliebte und hatte nur darauf zu achten, den Fahrzeugen in den Kennfarben der höheren Kasten stets den Vorrang zu lassen. Falls es zu einem Unfall kam, trug immer der Beteiligte aus der unteren Kaste die Schuld, weil er den Vorrang des Kastenhöheren missachtet hatte. Spielte sich der Unfall zwischen zwei Gleichberechtigten ab, so hatten sie sich die Verantwortung zu teilen.

Moron hätte jeder Maus Vorrang eingeräumt. Furchtsam drückte er sich dicht an den Gebäuden entlang. Diese Häuser, ausnahmslos aus Stein und Glas und einem schimmernden Material gebaut, das er nicht kannte, wuchsen links und rechts der breiten Straßen scheinbar bis in den Himmel. Alle paar Meter gab es Geschäfte oder fliegende Händler, bei denen sich die Stadtbewohner Nahrungsmittel und sonstige Dinge des täglichen Lebens direkt aus einem 3D-Drucker herstellen ließen. Ein Fluch für alle Menschen wie ihn, nicht nur in Morons Augen. Niemand konnte zählen, wie viele Arbeiter davon ins Elend gestürzt und im schlimmsten Fall sogar aus ihrer Kaste geworfen worden waren, weil ihre Arbeit plötzlich nichts mehr wert war.

Ein wenig abseits von den großen, glitzernden Straßen zeigte die Stadt ein anderes Gesicht. Die Wege wurden schmaler, dunkler und schmutziger. Hier rannten sogar Ratten durch eingestürzte, nur sehr langsam verrottende Gebäude, die trotz der langen Zeit noch immer an die furchtbaren europaweiten Zerstörungen aus den Großen Verteilungskriegen erinnerten.

Mit bangem Respekt blieb Moron jedes Mal dicht an die Mauern gedrückt abwartend stehen, wenn eine der unzähligen Doppelpatrouillen der Guardians vorbeiging und ihn demonstrativ musterte. Jeder im Land wusste, sie waren kompromisslos und hart und setzten die zahlreichen Sonderrechte in der Erfüllung ihres Auftrags, Gesetz und Ordnung innerhalb der Gesellschaft aufrecht zu erhalten, rigoros ein.

Moron hätte es niemals gewagt, einen von ihnen nach dem Weg zu fragen. Es kostete ihn schon eine Menge Überwindung, überhaupt fremde Menschen anzusprechen. Unter den entrüsteten oder angewiderten Blicken der Stadtbewohner begann er sich wegen seiner abgetragenen, mehrfach geflickten Kleidung und der nackten Füße zu schämen. Sora hatte seine einzige Jacke extra für die Reise sorgfältig gewaschen, aber das galt hier nichts. Seine Schuhe hatte er am Morgen seinem Vater gegeben, damit wenigstens seine Füße bei der Arbeit auf den Feldern geschützt würden. Aber auch das zählte unter diesen Menschen nicht, die überwiegend zur D-Kaste gehörten, wie an ihren kleinen weißen Abzeichen über dem Herzen zu erkennen war. Zwischen ihnen schlenderten viele Mitglieder der C-Kaste, vor denen sich der Strom der Fußgänger spaltete wie Wasser an einem Felsen. Der Älteste hatte erzählt, dass es bis zu den großen Kriegen gar keine Kasten gegeben haben sollte. Moron konnte sich so etwas nicht vorstellen. Wie hätte man damals denn wissen sollen, wer bei einer Begegnung auf der Straße Platz machen musste, wer bevorzugt bedient wurde, wer in den Wintermonaten zum Schneeräumen verpflichtet werden konnte?

Merkwürdig gekleidet waren die Menschen hier! Viele Frauen trugen Kleider, die so eng waren, dass sie sich sicher kaum darin bewegen konnten, und diese hatten rundherum winzige Löcher, durch die man die Haut sehen konnte. Etliche Männer trugen Hosen, die ebenso eng und unbequem schienen wie die Kleidung der Frauen, und dazu Hemden, die in grellen Farben leuchteten, mit völlig unpraktischen weiten Ärmeln. Manchmal war es sogar schwierig, in dieser Buntheit überhaupt das obligatorische Kastenabzeichen zu erkennen.

Moron begegnete auch einigen Bewohnern der Unterstadt mit ihren grünen Kennzeichen der E-Kaste. Vor ihnen musste er sich in Acht nehmen. Diese Menschen waren nie allein in der Stadt unterwegs. Nur allzu gern würden sie die Gelegenheit nutzen, sich an ihm für die eigene Geringachtung durch die höheren Kasten zu rächen. Dass er als Angehöriger der F-Kaste mit seinem roten Abzeichen ausgerechnet hier Hilfe gegen ihre Anfeindungen finden könnte, war nicht zu erwarten.

Nach seinem stundenlangen Fußmarsch bis zur Stadt wurde Moron weitere Stunden kreuz und quer umher gehetzt. Er erkannte es schnell als eine der gewohnten Schikanen, denen seine Kaste ausgesetzt war, dass er oft genug in eine falsche oder sogar in die Richtung geschickt wurde, aus der er gerade gekommen war, wenn er zaghaft sein Holzstück vorgezeigte. Irgendwann stand er aber doch vor dem richtigen Gebäude. Sorgfältig verglich er Zeichen für Zeichen. Es stimmte. Und es konnte doch nicht sein! Der Name auf dem Schild neben der Haustür war blau geschrieben. Blau! Das war die Farbe der C-Kaste! Was hatte einer aus der C-Kaste mit ihm zu tun? Wie benahm man sich in dessen Gegenwart? Wie hatte man ihn anzusprechen? Es musste unbedingt ein Fehler sein! Noch einmal verglich er die Form der Zeichen. Kein Zweifel, sie stimmten überein.

Unschlüssig stand er vor der großen, gläsernen Tür und wagte nicht sie anzufassen. Mitten auf dem Weg war er stehengeblieben, so dass die Vorüberhastenden gezwungen waren ihm auszuweichen. Sie schimpften und rempelten ihn an. Sein Erscheinungsbild und sein fassungsloses Erstaunen weckten andererseits aber auch Neugier und Spott. Nicht wenige blieben vor ihm stehen, musterten ihn ungeniert, tuschelten und lachten. Schließlich floh Moron vor dieser Art von Demütigung ins Haus. Dort gingen die Wunder der Stadt weiter. Er lief über riesige weiche Tücher, die überall auf dem Boden lagen, stieß gegen Tische, die so blank waren, dass er sich darin spiegeln konnte, und blickte in Lampen, die ohne Kerzen oder Öl brannten, und das am helllichten Tag. Es war sein Glück, dass er bereits erwartet wurde, sonst hätte das Abenteuer vielleicht ein unrühmliches Ende genommen. So aber wurde er von der wohl schönsten Frau abgefangen, die er je gesehen hatte, und in das Büro des Anwalts gebracht, der ihn hierher bestellt hatte. Dort saß er nun auf der alleräußersten Kante seines Stuhls drei Menschen gegenüber, die es sich in hellen, komfortablen Sesseln bequem gemacht hatten. Der Anwalt mit seinem blauen Abzeichen wirkte nervös und angespannt, ganz anders als das vornehm aussehende, dezent gekleideten Paar, das der silbernen Plaketten gar nicht bedurft hätte, um sich als Mitglieder der zweithöchsten, der B-Kaste, auszuweisen. Das brünette, glatte Haar der Dame fiel seidig glänzend bis tief in den Rücken, die braunen, smaragdgrün umrandeten Augen funkelten Moron lebhaft an, die leicht geöffneten Lippen gaben einen Blick auf makellos weiße Zähne frei. Hätte man ihn gefragt, er hätte nicht angeben können, wie alt sie war, aber bestimmt kaum älter als er. Ihr vielleicht 34 oder 35 Jahre zählender Begleiter stand ihr an Eleganz in nichts nach. Das tiefschwarze Haar war offensichtlich vor kurzer Zeit erst geschnitten worden, ohne solche Patzer und Fehler wie bei Moron. Die Augen schienen unergründlich. Er hätte ohne genauere Prüfung nur sagen können, dass sie sehr dunkel waren. Während das Paar dem Anwalt zuhörte, musterte es den auf seiner Stuhlecke balancierenden Moron, der sich sichtlich unwohl fühlte. Unablässig knetete er seine Finger und verlegen versuchte er seine Füße unter dem Stuhl zu verstecken. Die Frau lächelte ihm freundlich aufmunternd zu.

„Sie haben alles verstanden, Moron Kinze? Oder soll ich etwas noch einmal erklären?“

Nein, er hatte bei weitem nicht alles verstanden. In Wahrheit hatte er nach der ersten so ungewohnten, so falsch klingenden Anrede mit „Sie“ kaum noch etwas gehört. Die fremdartige Umgebung, das rasche Vorlesen der Papiere durch den Anwalt, das freundliche Lächeln der Frau, alles verwirrte ihn, raubte ihm jede Erinnerung an die Fragen, die er mit dem Dorfältesten doch extra so sorgfältig zusammengestellt hatte.

„Wie gesagt, Kinze, wir können den Vertrag heute noch perfekt machen. Die Herrschaften hier haben sich bereit erklärt, Sie in ihr Programm aufzunehmen. Sie wollen Ihre gesamten Schulden übernehmen und Ihre Frau und Ihre Kinder darüber hinaus mit einer ansehnlichen Summe unterstützen, so dass sie hier in der Stadt eine Chance auf ein ganz neues Leben in der E-Kaste haben. Im Gegenzug verkaufen Sie sich als Sklave auf Lebenszeit mit allen Konsequenzen an diese Herrschaften. Falls Sie die ersten 20 bis 25 Jahren überleben, abhängig davon, ob zum Beispiel Arztkosten für Sie angefallen sind, ist Ihre Familie von jeder Rückzahlung befreit und erhält in diesem Moment zusätzlich, als freiwilligen Bonus, die Vergünstigung, sich ihren Wohnort selbst aussuchen zu dürfen. Falls nicht, ist eine anteilige Rückzahlung des Kaufpreises entsprechend der abgedienten Jahre anhängig. Haben Sie das jetzt soweit verstanden?“

Moron war sich immer noch nicht sicher, ob er nun wirklich Bescheid wusste, aber es schien genau das zu sein, worum er sich beworben hatte, seit er zufällig von dieser Möglichkeit erfahren hatte. Er sah keinen anderen Weg. Zutiefst aufgewühlt blickte er auf diese zwei schönen, vornehmen, reichen Menschen, die bereit waren, dafür zu sorgen, dass es seiner Familie in Zukunft gut gehen würde, und war erfüllt von grenzenloser Dankbarkeit. Er schwor sich sehr hart zu arbeiten, um sich der Gnade, die sie ihm gewährten, würdig zu erweisen.