MORO Flucht im 24. Jahrhundert - Maxi Magga - E-Book

MORO Flucht im 24. Jahrhundert E-Book

Maxi Magga

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Beschreibung

Wer dem sadistischen Sklavenhalter entkommt, ist noch lange nicht in Sicherheit. Das muss auch Moro erfahren. Vogelfrei und gekennzeichnet mit einem Halsring, der nicht zu entfernen ist, kämpft er ums nackte Überleben. Wird er seine junge Frau und seinen Sohn wiederfinden, die er verließ, um sie zu retten? Damals, als er sich in die Sklaverei verkaufte ...

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Maxi Magga

MORO

Flucht im 24. Jahrhundert

© 2021 Maxi Magga

Autor: Maxi Magga

Umschlaggestaltung: Nina Döllerer Coverdesign unter der Verwendung von Bilder: Rustic und Raisa Kanareva,

Korrektorat: Astrid Leutholf

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN:

 

Paperback:

978-3-347-36026-6

E-Book:

978-3-347-36028-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verzweiflung kroch langsam, aber unaufhaltsam in seine Seele. Sie lähmte den Geist, so wie die Nässe und Kälte dieses Apriltages den Körper hemmte. Dazu dieser Hunger! Moro, der eigentlich Moron hieß wie sein Vater, den jedoch nahezu alle bloß Moro nannten, wusste nur zu gut, was es bedeutete, Hunger zu haben. Er lebte mit ihm, solange er denken konnte. Schon seit Tagen hatte er kaum etwas Essbares gefunden. In seiner Not versuchte er, den grimmigen Magen mit Gras und vereinzelt aufgesammelten Insekten zu beschäftigen. Am Vortag stritt er sich sogar in Sichtweite eines Dorfes mit einem abgemagerten Hund um dessen Beute. Kratzer in der Haut und ein tiefer Riss in der alten, ohnehin zu dünnen Jacke zeugten von dem erfolglosen Kampf. Vom ersten Tag seiner Flucht an – Wie lange war das jetzt her? Drei Wochen? Er hatte längst die Kontrolle verloren. – war seine Kleidung feucht und klamm. Die Füße waren wund und blutig, obwohl er die zu großen Schuhe so komfortabel wie möglich mit Gras und Moos ausgestopft hatte.

Das war nicht das Schlimmste, das alles konnte er ertragen. Er hatte schon weit Härteres aushalten müssen. Dass er sich verirrt hatte, war es, was ihm jeden Mut raubte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er war. Als Kind der verachteten F-Kaste hatte er nie zur Schule gehen dürfen. Da er sie nicht lesen konnte, ergaben die Ortsschilder für ihn keinen Sinn. Bis vor drei oder vier Tagen, er erinnerte sich nicht genau, hatte er sich mit Hilfe des Kartendispensers mehr schlecht als recht über Wasser gehalten. Mühsam hatte er die Form jedes einzelnen Zeichens auf den Straßenschildern mit denen auf dem Display verglichen. Häufig hatte auch das nicht weitergeholfen, weil er der Karte zufolge einen Wald, einen Hof oder eine Stadt hätte vorfinden müssen. Aber da gab es keinen Wald oder Hof und die Stadt hatte einen anderen Namen. War er an einem falschen Ort? Oder hatte sich vielleicht die Gegend verändert? Das Gerät war schließlich schon älter als er selbst. Wie auch immer, jetzt schien es endgültig defekt zu sein. Mitten in seinem Bemühen sich zu orientieren, hatte sich das Display einfach verdunkelt. Ja, wenn Ferine dabei gewesen wäre, so wie sie es geplant hatten, die hätte bestimmt gewusst, was zu tun war. Aber Moro war allein verloren. Ihm war nur erschreckend klar, dass er nicht wusste wohin und dass er noch weit von seiner Heimat und damit von seiner Frau und seinem Kind entfernt war. Dass nichts und niemand ihm helfen würde. Nur der Gedanke an die geliebten Menschen trieb ihn seit Wochen durch die Kälte voran. Und die Worte seines Vaters, die sich so tief in sein Gedächtnis eingegraben hatten, dass er sie abends vor dem Einschlafen, morgens beim Aufwachen und während der Verzweiflung des Tages zu hören glaubte: Mach nicht den gleichen Fehler wie ich. Du musst zurück zu deiner Familie.

Auch jetzt hörte er diese Stimme, nur leiser als sonst. Die Hilferufe seines Körpers klangen lauter. Er konnte nicht mehr. Nicht einen einzigen Schritt. Seit dem Vorabend saß er zusammengekauert im Windschutz der Reste einer alten Mauer und wartete. Hätte ihn jemand gefragt worauf, er hätte es nicht sagen können.

Lange bevor der Schall ihn erreichte, hatte sein Unterbewusstsein etwas wahrgenommen. Moro erwachte aus seiner Lethargie und sah sich um. Vor dem Gemäuer, an dem er Schutz gesucht hatte, fiel das Gelände einige Meter ab bis auf eine marode Straße. Von dort unten drangen leises Klirren und Marschgeräusche herauf. Moro duckte sich wieder hinter die Mauer und spähte den Weg entlang. Und da sah er sie. Eine Doppelreihe von mehr als einem Dutzend Männern in zerlumpter Kleidung, manche von ihnen barfuß. Jeder Einzelne trug Hand- und Fußfesseln. Keine Kastenabzeichen. Sklaven. Wie er. Moro konnte den Blick nicht von dem elenden Haufen abwenden. Er sah sich selbst darin. Dieser Trupp wurde offensichtlich von drei Aufsehern zu einem Einsatzort geführt, denn jeder von ihnen trug Arbeitsgeräte mit sich.

Vor Entsetzen unfähig sich zu bewegen, starrte Moro auf das abschreckende Bild unter ihm und hörte die leisen Schritte nicht, die sich hinterrücks näherten, bis es zu spät war. Die beiden scharfen Spieße der großen, metallenen Gabel bohrten sich links und rechts von seinem Hals in den Boden und drückten ihn nieder. Fast gleichzeitig spürte er, wie seine Hände auf den Rücken gedreht und mit Handschellen fixiert wurden. Bevor er verstand, was vor sich ging, lag er gefesselt auf den Knien vor zwei mit Betäubungstasern und Peitschen bewaffneten Männern.

Einer von ihnen riss Moros Kopf an den Haaren nach hinten und schüttelte ihn heftig.

„Seit zwei Tagen soll sich hier ein Strolch herumtreiben. Gut möglich, dass das jetzt ein Ende hat. Oder was meinst du?“

Moro rührte sich nicht. Er hielt die Lider tief gesenkt, damit ein versehentlicher Blick in die Augen den anderen nicht beleidigte. So hatte man es ihm eingeprügelt.

„Sieh an! Kein Kastenabzeichen! Das wird ja immer besser! Du kommst mit. Und dir gebe ich heute Abend einen auf deine scharfen Augen aus“, rief er seinem Kollegen hinterher, der bereits den Abhang hinunterrutschte.

Er riss seinen Gefangenen auf die Beine und erreichte mit ihm trotz einiger Schwierigkeiten die Männer, die auf der Straße warteten.

„Wollen doch mal sehen, was du so mit dir herumträgst. Ausziehen!“, herrschte er ihn an und nahm die Handschellen ab.

Moro gehorchte. Sie durchsuchten seine Kleidung und leerten die Schuhe. Rücksichtslos zerrten sie an dem Metallband um seinen Hals, das der Herr ihm einst angelegt hatte, um ihn mit Stromstößen unter Kontrolle zu halten. Da sie es nicht abnehmen konnten, verloren sie bald das Interesse daran. Stattdessen fuchtelte einer der Bewacher mit wutrotem Gesicht mit dem kleinen Taschenmesser, das er in einer Jackentasche gefunden hatte, dicht vor Moros Augen herum.

„Was hast du denn damit vor? Los, sprich schon! Kannst du nicht reden? Soll ich es dir sagen? Das ist eine Waffe, die du benutzen wolltest, um unschuldige Menschen zu berauben. Gib es ruhig zu! Du bist ohnehin geliefert. Oder ist es etwa dazu da, um kleine, anständige Mädchen zu zwingen, sich mit dir abzugeben, du Stück Dreck? Wie viele hast du schon belästigt? Antworte endlich, verdammt. Ich bringe dich zum Reden, darauf kannst du Gift nehmen.“

Der Mann, offensichtlich der Anführer der Gruppe, redete sich in Rage. Das begleitende Wachpersonal grinste, die angeketteten Sklaven ließen ängstlich die Köpfe hängen, als ob sie selbst im Fokus des Wutausbruchs stünden. Moro stand nur da, starrte auf den Boden vor seinen Füßen und schwieg. Zu groß war seine Angst, ungewollt auch nur mit einem Wort zu verraten, von wo er geflohen war.

Ein weiterer Aufseher mischte sich ein.

„Seht mal, was ich gefunden habe. Das ist doch so ein Kartending. Oder irre ich mich? Sowas wollte ich schon immer haben. Aber das da scheint nicht zu funktionieren. Scheiße! Warum schleppt der Idiot kaputten Kram mit sich herum?“

„Lass den Blödsinn gefälligst, hier geht es nicht um Kinderkacke. Leibesvisitation!“, fuhr der Truppführer seinen Untergebenen an.

Moros Herz begann zu rasen. Die Geschehnisse im Haus seines Herrn zerrten augenblicklich wieder an jedem Nerv. Er musste sich komplett ausziehen, Arme und Beine spreizen, die Haare ausschütteln und sich eingehend inspizieren lassen. Zum Schluss fuhr ihm einer der Aufseher mit schmutzigen Fingern durch die Mundhöhle.

„Haltet euch ran, Männer, wir haben nicht ewig Zeit. Ihr habt da was vergessen.“

Moro wurde auf die Knie gezwungen, die Doppelspießgabel presste seinen Kopf in die feuchte Erde. So hatten sie ihn in der Position, in der sie ihn haben wollten. Rücksichtslos suchten sie im Rektum nach irgendetwas, das ihn belasten würde. Sie fanden nichts.

Der Anführer verlor die Kontrolle. Er trat den hilflosen Gefangenen, wo immer er ihn treffen konnte, und fuhr ihn an zu gestehen.

„Verdammt, mach dein Maul auf. Wie viele anständige Bürger hast du angegriffen? Wo hast du die Beute versteckt?“

Doch Moro schwieg eisern. Einzig ein schmerzvolles Stöhnen kam über seine Lippen. Nach einer gefühlten Ewigkeit ging einer der Männer dazwischen.

„Es ist genug, Jago. Lass mir noch etwas von ihm übrig. Wir sind spät dran.“

Der Jago genannte Wortführer funkelte ihn wütend an. Doch er beruhigte sich, nickte und ermahnte ihn, bald nachzukommen. Gleichmütig, wie er gekommen war, zog der Trupp weiter. Moro zog seinen Kopf ein wenig aus dem Schlamm, in den er getreten worden war, und spuckte. Modrige, sandige Erde, vermischt mit seinem Blut, verstopfte Mund, Nase und Augen. Zuviel Freiheit war ihm jedoch nicht vergönnt. Sofort stand der Wächter bei ihm und erneuerte den Druck der Doppelspießgabel.

„Nicht so eilig, mein Bester. Für ein bisschen Spaß sollte immer Zeit sein, meinst du nicht? Also, was ist dir lieber? Das …“, fragte er mit freundlicher Stimme und fasste sich in den Schritt, „oder das?“ Dabei zeigte er Moro einen faustdicken Ast mit bröckelnder Rinde und kleinen Auswüchsen.

Moro schrie auf.

„Nein, bitte nicht. Nein!“

„Na, schau mal einer an! Du kannst ja tatsächlich sprechen! Gut, du hast dich entschieden. Still halten!“

Moro ergab sich in sein Schicksal. Er rang nur noch darum, nicht von der Gabel erstickt zu werden. Er kämpfte um nichts als das nackte Überleben.

Endlich ließ der andere von ihm ab und befahl ihm, sich wieder anzuziehen. Er legte ihm Fußketten an, wie die Männer in der Kolonne sie tragen mussten, und zog die Arme auf dem Rücken in die Höhe, wo er die Hände zusammenband. Dann schlang er einen Lederriemen oberhalb des Ringes um den Hals, den er an den Handschellen verknotete. So trieb er seinen Gefangenen vor sich her.

Moro hatte mit beträchtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Da die Graseinlagen fehlten, spreizte er verzweifelt die Zehen in den großen Schuhen, um diese nicht zu verlieren. Der Aufseher legte ein schnelles Tempo vor, ihm blieb nichts anderes übrig, als in einen trippelnden Laufschritt zu fallen, um trotz der knappen Kette zwischen den Füßen mitzuhalten. Die auf den Rücken gebundenen Arme schmerzten schon nach kurzer Zeit, aber er musste sie dennoch hochhalten, damit sie nicht an dem Riemen um seinen Hals zogen und so das Atmen behinderten. Und noch immer blinzelte er gegen den Dreck in seinen Augen an. Doch am meisten litt er unter dem Unrecht, das ihm so grundlos angetan wurde.

Moro hatte keine Vorstellung, wie lange sie so den Weg entlang hetzten, bis sie die anderen eingeholt hatten. Die Sklaven arbeiteten an einem Hang, den sie roden sollten, ihre Bewacher saßen, sich unterhaltend, auf Baumstämmen dabei und tranken dampfend heiße Getränke aus ihren Isolierflaschen.

„Das wird aber auch Zeit“, wurden sie begrüßt. „Schick den da in den Hang zu den anderen. Ich entscheide heute Abend, was mit ihm geschieht.“

So schuftete Moro trotz seiner Verletzungen, bis bei Einbruch der Dämmerung zum Aufstellen gerufen wurde. Schwankend vor Schwäche erwartete er das Machtwort, das seine Zukunft bestimmen würde.

„Mit dem ist beim Chef kein Blumentopf zu gewinnen. Damit halse ich mir höchstens zusätzliche Verwaltungsarbeit auf. Jagt ihn weg. Aber das Messer bleibt hier“, ordnete der Anführer an und hatte den kleinen Zwischenfall bereits vergessen.

Moro schnappte sich die Schuhe, die er während der Anstrengungen im Hang nicht hatte gebrauchen können, da er fürchtete abzurutschen, und lief, so schnell es ihm möglich war, auf der Straße zurück. So bald wie möglich, verließ er den öffentlichen Weg und versuchte, abseits davon unterzutauchen. Dankbar trank er Wasser aus einer Pfütze, die er in einem Graben entdeckte, und kroch für die Nacht unter einen ausladenden Busch. Schlaflos kämpfte er darum, die Schmerzen, den Hunger und die ihm zugefügten Erniedrigungen zu verdrängen, indem er sein ganzes Denken und Fühlen auf seine Frau Vanisa richtete. Die Qual, sie nicht bei sich zu haben, sie vielleicht nie mehr in den Armen halten zu dürfen, ließ alles andere dahinter klein und nichtig werden.

Das Morgengrauen fand Moro wieder unterwegs. Blindlings hielt er an der Richtung fest, die er schon am Vortag eingeschlagen hatte.

Zwei Tage später war klar, er hatte sich geirrt. Die Mauer, die ihm damals Schutz geboten hatte, schien ihn jetzt zu verhöhnen. Achtundvierzig Stunden im Kreis gelaufen. Achtundvierzig Stunden voller Mühen und Selbstverleugnung und er war keinen Schritt weiter gekommen. Wenige Meter unter sich sah er auf der Straße den defekten Kartendispenser liegen. Dieser Moment, der jeden Zweifel zunichtemachte, raubte ihm die letzte Zuversicht. Ohne zu wissen warum, holte er das Gerät herauf und wischte den Schmutz ab. In Moros Herz blieb pure Verzweiflung zurück. Er überließ sich wehrlos dem Schmerz, sank hart zu Boden und rollte sich zusammen.

Die Stimme seines Vaters ließ sich dadurch nicht zum Schweigen bringen.

Kapitel 1

Der Fluss führte zu dieser Jahreszeit mäßiges Hochwasser, gerade so hoch, dass die Ratte an die für sie ungünstigste Stelle geschwemmt worden war. Das Flussbankett war dort so steil und glatt, dass sie immer wieder ins Wasser zurückrutschte. Stur blieb sie am selben Ort und ahnte nicht, dass eine größere Gefahr auf sie wartete, als zu ertrinken. Am Ufer lauerte Moro, bewaffnet mit einem schweren Stein. Nahezu unbeweglich kniete er in der Deckung einiger Pflanzen und harrte geduldig aus, dass das Tier in Reichweite käme. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie diese schlauen, flinken Vierbeiner überlistet werden konnten. Er hatte es oft getan, bevor er sich an den Mann, den er nur „Herr“ nannte, in die Sklaverei verkauft hatte. So manche Ratte hatte ihr Leben lassen müssen, damit sie einen weiteren Tag überlebten, er und seine Familie. Jetzt profitierte er von seiner Erfahrung. Dieses Tier war fett. Falls es ihm gelänge, es zu erlegen, hätte er Nahrung für zwei Tage. Wenn er sich stark einschränkte, vielleicht sogar für drei.

Eine gewisse Euphorie machte sich in ihm breit, als er an seinen Zusammenbruch vor gut einer Woche dachte. Damals, nach seinem Irrweg und dem Zusammentreffen mit der Gruppe der Arbeitssklaven und ihren Aufsehern, als er glaubte, einfach liegenbleiben und sterben zu können. Aber der Mensch ist nicht dafür gemacht, sich hinzusetzen und zu verhungern. Trotz seiner Verzweiflung nahm er im Lauf des Tages das aufgeregte Gehabe eines Amselpärchens wahr. Endlich begriff er, was das bedeuten konnte. Er störte sie und vor allem ihr Nest, in dem sie zu dieser Jahreszeit brüten wollten. Wie elektrisiert sprang er auf und suchte im angrenzenden Gebüsch nach dem Gelege. Es war nicht schwer zu finden. Mit zitternden Händen holte er die fünf bläulich-grün schimmernden Eier heraus. So winzig! Kaum drei Zentimeter lang waren sie, aber sie verhießen ihm die Rettung. Vorsichtig öffnete er eines nach dem anderen und schlürfte den Inhalt. Er hielt das letzte schon in der Hand, da wurde er sich des immer wütenderen Gezeters der Vögel bewusst. Bedauernd, aber ohne das kleinste Zögern, legte er das Ei zurück.

„Ich hab auch ein Kind“, murmelte er. „Danke, dass ihr mir geholfen habt.“

Kopfschüttelnd ertappte er sich selbst dabei, in Erinnerung an die winzigen Lebensretter zu lächeln. Verdammt, jetzt war nicht die Zeit dafür. Er musste sich besser konzentrieren, durfte nicht seine Aufgabe vernachlässigen, nur weil er seinen Tagträumen nachhing. Er erneuerte seinen Griff um den Stein und verfolgte die unbeirrbaren, aber vergeblichen Bemühungen der Ratte, ans Ufer zu gelangen. Plötzlich verharrte sie unbeweglich, äugte eine Strecke voraus und huschte fluchtartig in den Fluss. Moro war enttäuscht und zugleich alarmiert. Sein Fokus auf die Nahrungsbeschaffung hatte ihn unachtsam werden lassen gegenüber dem, was sich hinter seinem Rücken abspielen mochte. Vorsichtig, ohne das bisschen Deckung im Gestrüpp aufzugeben, sah er sich um.

Da! Vielleicht vierzig oder fünfzig Schritte von ihm entfernt, marschierten zwei Guardians am Flussufer entlang. Wären sie nicht so in ihr Gespräch vertieft gewesen, hätten sie ihn längst gesehen. Die Furcht vor der enormen Macht der Sicherheitsbeamten, die auf ihn als Flüchtigen aufmerksam wurden oder ihn auch nur als Herumtreiber kontrollieren und dabei das fehlende Kastenabzeichen bemerken würden, war zu groß. Moro ließ den Stein fallen und, jede Vorsicht vergessend, rannte er los. Nur weg von hier! Weg von den Guardians, die ihn in die Hölle im Haus des Herrn zurückstoßen konnten. Im gleichen Moment, in dem er seinen lächerlichen Schutz verließ, wurde ihm bewusst, welch großen Fehler er begangen hatte. Noch bevor er die Flussbankette verlassen hatte, waren sie hinter ihm her. Er holte aus seinem geschwächten Körper heraus, was nur möglich war. Aber die Verfolger waren gut ausgebildete, durchtrainierte Polizisten, die neben ihren Schlagstöcken auch mit Tasern ausgestattet waren, die den Getroffenen bewusstlos machten, sowie mit den gefürchteten Gummiwaffen, die kinderfaustgroße Hartgummikugeln verschossen. Mit diesen Waffen wurden schon unzähligen Verfolgten die Knochen gebrochen.

Nach wenigen Minuten fing Moro an zu keuchen. Die Schuhe hatte er bereits auf den ersten Metern verloren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er eingeholt wurde. Verzweifelt suchte er ein Versteck oder wenigstens einen Abzweig von diesem schnurgeraden Weg zwischen einem riesigen, mit Zäunen und Stacheldraht abgesperrten Areal und einem verwilderten Gelände, in das kaum einzudringen war.

Endlich schien der Pfad einem Knick zu folgen, einige der höher gewachsenen Sträucher bildeten dort einen spärlichen Blickschutz. Die Guardians mussten das ebenfalls bemerkt haben, denn unvermittelt flog eines der Gummigeschosse mit einem unheilvollen Zischen auf Moro zu. Er wurde zwar nur an der Schulter getroffen, aber der Druck reichte aus, um ihn herumzureißen und zu Fall zu bringen. Jetzt hatte er nicht viel Zeit. In wenigen Sekunden würden die Beamten an dieser Stelle sein, dann durften sie nichts mehr von ihm vorfinden. Mit der Kraft der Verzweiflung robbte er zwischen die Wurzeln und verschlungenen Pflanzen und zwängte sich unter Büschen hindurch. Er lag trotzdem noch so dicht an der Straße, dass er die Verfolger hörte. Voller Angst aufgespürt zu werden, atmete er nur flach. Gegen das donnernde Pochen seines Herzens und das betäubende Rauschen des Blutes in seinen Ohren, konnte er nicht das Geringste tun. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass sie es hörten und ihn entdeckten. Aber die Zeit verging und nichts geschah.

Im gleichen Maß, in dem das Gefühl für die akute Gefahr nachließ, wurde Moro sich der Verletzungen bewusst, die er sich beim Verstecken im harten, teilweise dornigen Gebüsch zugezogen hatte. Etliche Dornen steckten in seinem Fleisch und die auf Spannung gebogenen Zweige rissen an der Haut. Trotzdem harrte er unbeweglich aus. Die Angst, dass den Beamten die unnatürlichen Bewegungen der Pflanzen auffallen könnten, war zu groß. Erst nach einer Zeit, die ihm unendlich lang erschien, arbeitete er sich langsam und vorsichtig aus dem Schlupfloch heraus.

„Nein! Bitte nicht“, flüsterte er. Entsetzt hielt er die Luft an und seine Augen weiteten sich, denn er sah, dass er seine Verfolger nicht hatte abschütteln können, im Gegenteil, dort auf dem Weg kamen zwei weitere Guardians auf sein Versteck zu. Gemeinsam machten sie Anstalten, mit Hilfe langer Stöcke in die verwilderte Fläche einzudringen, die Moro die einzige Zuflucht bot.

Jetzt durfte es kein Überlegen und nicht das kleinste Zögern mehr geben. Er befreite sich, so schnell es ging, aus der Umklammerung der Pflanzen und hetzte ohne Rücksicht über das Gelände. Er achtete nicht darauf, dass seine Kleidung endgültig zerfetzt und seine Haut vielfach aufgerissen wurde. Das Grauen verlieh ihm ungeahnte Kräfte, die Gesetzeshüter, die mehr als Moro auf den Eigenschutz bedacht waren, blieben zurück. Zwei oder drei auf ihn abgegebene Schüsse verfehlten ihn deutlich. Aber die Guardians gaben nicht auf. Sie versuchten ihn einzukreisen. Der Flüchtige bemerkte es zwar, sah jedoch keine Möglichkeit, es zu verhindern. So trieben sie ihn auf eine kleine Gruppe verstreut liegender Gebäude zu. Dort gab es höchstwahrscheinlich Menschen, was gefährlich für ihn war, andererseits bedeutete es aber auch offene Wege und mit sehr viel Glück vielleicht ein Versteck. Egal, es gab ohnehin keinen Ausweg.

Moro erreichte das Grundstück deutlich früher als die Verfolger. Vier unterschiedliche Bauwerke waren an drei Seiten eines freien Platzes errichtet. Er rannte auf eine Art Scheune zu, die ihm am nächsten lag. Nur einen Wimpernschlag, bevor er an der nächstgelegenen Ecke ankam und aus dem Blickfeld der Guardians hätte entkommen können, öffnete sich ein Tor an der linken Seite. Ein oder zwei Sekunden lang verdeckte es ihn vor den Blicken dessen, der dort herauskam. In fliegender Hast bog er rechts ab und rettete sich vorläufig in den Durchgang zwischen der Scheune und einem Stall. Aber das Manöver hatte ihn Zeit und Kraft gekostet. Außerdem hatte er jetzt die Guardians hinter sich, wurde auf beiden Seiten von Gebäuden behindert, und rannte geradewegs auf das Wohnhaus dieses Hofes zu. Moro schaute sich hektisch um. Nirgends ein Ausweg. Sein Zögern brachte die Verfolger heran. Er setzte alles auf eine Karte, riss eine schmale Seitentür des Stalles zu seiner Rechten auf und flüchtete ins Innere.

Mit tief heruntergebeugtem Oberkörper kämpfte er darum, wieder Luft holen zu können. Jeder Atemzug stach wie mit tausend Nadeln in seine Lungen. Noch immer heftig schnaufend sah er sich schließlich um. Das Innere des Stalles lag im Halbdunkel, die Wände waren mit verschiedensten Gerätschaften zugestellt, aber in der Eile sah Moro nirgends etwas, das ihn davor hätte schützen können, sofort entdeckt zu werden. Sein Blick fand zurück zu einem großen, mit einem Bretterzaun gesicherten Pferch, in dem etliche Tiere untergebracht waren.

Schweine? Richtige, lebendige Schweine? Er hatte noch nie eines gesehen. Ein totes, ja. In Wahrheit war es nur ein halbes totes Schwein gewesen, das der Koch in das Haus des Herrn getragen hatte. Moros Großvater hatte vor langer Zeit erzählt, dass es früher so viele davon gegeben haben soll, dass nicht nur die höchsten Kasten sich Schweinefleisch leisten konnten. War er denn wieder in das Reich eines Hochgeborenen geraten?

Er sah sich um. Panik stieg in ihm hoch wie eine giftige Blase. Hier gab es nichts, was sich auch nur annähernd als Versteck geeignet hätte. Gar nichts. Bis auf die Schweine? Gefährlicher als die Guardians waren sie bestimmt nicht. Mit dem Mut dessen, der keinen anderen Ausweg sieht, kletterte er über die Absperrung und versuchte, sich in der dunkelsten Ecke in den Morast einzugraben. Er war nicht tief genug, viel flacher als Moro gedacht hatte. Und die neugierigen Tiere drängelten sich dazu und lenkten die Aufmerksamkeit auf diesen Teil des Stalles. Draußen hörte er bereits die Guardians. Einen letzten Versuch noch, bevor er sich stellen würde: Mit aller Macht wühlte er sich in den Fresstrog hinein, hoffte inständig, dass er ausreichend vom Futter bedeckt wäre. Mehr konnte er nicht tun.

Nur Sekunden später wurde die Tür aufgerissen, zwei der Verfolger stürmten herein, in einer Hand den Taser, in der anderen den erhobenen Schlagstock. Moro hielt die Luft an. Wenn er doch nur auch den Herzschlag stoppen könnte! Ob sie das wilde Klopfen von außen hörten oder sogar die pochende Bewegung sahen?

Laute, wütende Stimmen drangen an Moros Ohr und das scheußliche Krachen, wenn die Knüppel mit Gewalt gegen einen Gegenstand geschmettert wurden. Die namenlose Angst, vielfach verstärkt durch das Schreien und Dröhnen, raubte ihm jeden klaren Gedanken, einzig der Wille, sich nicht sehen zu lassen, blieb.

Unvermittelt mischte sich eine andere, weibliche Stimme ein, die nicht weniger zornig klang. Nur Sekunden später hörte Moro sie direkt neben dem Trog. Eine Lücke in dem stinkenden Schweinefraß, mit dem er sich bedeckt hatte, erlaubte es ihm, ihr Gesicht zu sehen. Er versuchte, sein Auge zu schließen, damit es nicht so leicht zu erkennen wäre, aber es wollte ihm nicht gehorchen.

Die Frau drehte sich, noch immer mit den Guardians schimpfend, in seine Richtung, hob den Eimer, den sie mit sich führte, und kippte seinen Inhalt in den Trog. Eine Winzigkeit, bevor die weiteren Küchenabfälle Moros Guckloch verdeckt hätten, bemerkte sie das Auge und schreckte zurück. Er sah eine Hand, die sich näherte, und das Futter sorgfältig über ihm verteilte. Dann fand diese Hand seinen Arm. Aber anstatt daran zu ziehen und den Flüchtigen zu verraten, drückte die Frau ihn leicht, als ob sie ihm Mut machen wollte, und wandte sich von dem Trog ab. Moro hörte, wie ihre Stimme und die der Guardians leiser wurden.

Er gestattete sich, in winzigen Stößen die so lange angehaltene Luft auszuatmen. Draußen, außerhalb seines Verstecks wurde es still. Kein Geschrei mehr, keine Drohgebärden mit den Schlagstöcken. So gerne er sich etwas zusätzlichen freien Raum zum Atmen verschafft hätte, er blieb bewegungslos liegen, wo er war, und lauschte weiter auf jedes Geräusch. Solange er hin und wieder Gesprächsfetzen hörte, würde er sein Versteck nicht aufgeben. Inständig hoffte er, dass er das Signal der Frau richtig gedeutet hatte, und sie ihn nicht verraten würde.

Aber Moro hatte die Rechnung ohne die Schweine gemacht. Kaum war die von den Menschen verursachte Störung ihres Reviers beendet, beruhigte sich das aufgeregte Quieken und die Tiere näherten sich ihrer Futterquelle. Bald drängten sie sich um den Trog herum und stießen ihre kräftigen Schnauzen auf der Suche nach dem besten Brocken in die Abfälle. Schon bekam der Mann einzelne Bisse ab, die unangenehm, aber anfangs nicht wirklich schmerzhaft waren. Doch dann verbiss sich eines der Schweine in seinen Unterschenkel und zog daran. Moro wehrte sich panisch und brachte damit Unruhe und Anspannung unter die Tiere. Eines von ihnen reagierte besonders aggressiv und griff ihn an. Er schaffte es zwar, aus dem Trog herauszukommen, fiel dabei aber dem Angreifer direkt vor die Klauen. Der ließ nicht locker und attackierte weiter. Mittlerweile durch mehrere Bisse verletzt, robbte Moro bis zur Umzäunung des Pferchs. Einzig die Todesangst half ihm darüber hinweg. Keuchend und am ganzen Körper bebend, brach er auf der anderen Seite zusammen.

Er wusste nicht, wie lange er so dort gelegen hatte, als das Scheunentor geöffnet wurde. Er hörte es, aber er hatte nicht einmal mehr genug Kraft, um sich erneut zu fürchten.

„Gut“, fand er resignierend, „sie sind da. Es ist vorbei. Sollen sie mit mir machen, was sie wollen.“

„Heiliges Kastensystem! Was ist denn hier passiert? Hallo, hörst du mich?“ Das waren fraglos nicht die Guardians. Die Emotionen überwältigten Moro. Er hielt seine Augen fest geschlossen. Die Frau sollte auf keinen Fall die Angst darin flimmern sehen. So nickte er nur.

„Sie sind weg. Sei beruhigt, die Gefahr ist vorbei. Kannst du aufstehen?“, fragte sie teilnahmsvoll.

Moro war zwar bereit, aber der Versuch endete in einem Fiasko. Als sie den schwankenden Mann stützen wollte, zuckte er erschrocken zurück und stürzte erneut in den Dreck. Die Frau schrie leise auf und kniete sofort wieder an seiner Seite.

„Ich habe dich erschreckt, oder? Tut mir wirklich leid. Probieren wir es noch einmal?“

Moro schüttelte entmutigt den Kopf.

„Sie machen sich schmutzig. Bitte, wenn ich noch ein bisschen hier liegenbleiben dürfte? Nur ein paar Minuten. Dann verschwinde ich“, bat er stockend.

„Das ist Unsinn!“, unterbrach sie ihn resolut. „Dieser Unrat beschmutzt nur meine Kleidung, nicht mich. Auf die eine oder andere Art bringe ich dich hier raus. Deine Wunden müssen schnellstens versorgt werden. Danach sehen wir weiter. Ich bin gleich wieder da.“

Langsam löste sich die Spannung in Moros Muskeln. Zum ersten Mal seit Stunden beruhigte sich der Herzschlag und die Atmung wurde regelmäßiger, um sich nur Minuten später von neuem zu überschlagen. Wie hatte die Frau es geschafft, völlig unbemerkt an seine Seite zu kommen? War er so unaufmerksam? Oder war er kurze Zeit ohnmächtig gewesen? Plötzlich stand sie wieder neben ihm. Vor sich hatte sie eine Schubkarre abgestellt, auf die sie mit beträchtlicher Mühe den doch nur aus Haut und Knochen bestehenden Körper des Mannes wuchtete.

So traten sie den kurzen, beschwerlichen Weg zum Wohnhaus an. Moros Augen waren die meiste Zeit fest geschlossen, nur manchmal blinzelte er. Flüchtig fiel sein Blick dabei auf den unverhältnismäßig großen, stabilen Zwinger nahe am Gebäude. Sklavenhalter, schoss es ihm durch den Kopf. Der Gedanke wollte ihm den Magen umdrehen, aber die Strapaze, mit der Schubkarre über die drei Stufen ins Haus zu kommen, verdrängte alles andere.

Endlich schafften sie es in die große, altmodische Küche. Dort half sie ihm, sich auf den Boden zu legen und wusch ihm das Gesicht. Erstaunt nahm er den Becher mit frischem Wasser und leerte ihn in einem Zug.

„Wir müssen dich ausziehen, da hilft nichts. Der Stallmist muss gründlich abgewaschen werden und die Wunden gesäubert und desinfiziert. Die Gefahr einer Infektion ist extrem groß. Es wird am wenigsten quälend für dich sein, wenn ich die Sachen vorsichtig herunterschneide. Leid tun wird es dir darum sicher nicht. Von Kleidung kann man da wohl kaum noch sprechen“, redete sie beruhigend auf ihn ein. „Falls ich bisher versäumt habe, dir zu sagen, mit wem du es zu tun hast – mein Name ist Amelie, ich wohne hier mit meinem Mann Vedhes auf dieser ehemaligen Farm. Du heißt Moro, wenn ich die Guardians richtig verstanden habe? Fein, dann lass uns anfangen.“

So hatte in seinem ganzen Leben niemand mit ihm gesprochen. Wie hatte er sie nur mit einem einzigen Gedanken mit Sklavenhaltern in Verbindung bringen können? Verwundert, aber voller Vertrauen nickte er zu allem, was sie sagte.

Die Arbeit forderte beide bis zur Erschöpfung. Hauptsächlich die offenen Bisswunden und die Schulter, wo ihn das Gummigeschoss getroffen hatte, schmerzten fürchterlich. Der Knochen erweckte nicht den Anschein gebrochen zu sein, vorsichtshalber legte sie dennoch eine Fixierung an. Etliche weitere Risswunden der Haut und eine Reihe Hämatome, die ihre blaugrüne Pracht erst in der Folge vollständig preisgeben würden, zierten den Körper. Nicht genug jedoch, um die alten Narben zu überdecken. Die Frau sah sie genau, schwieg aber zunächst dazu. Sie nahm sich fest vor, mit ihrem Mann darüber zu reden. Auch zu diesem merkwürdigen Halsring sagte sie nichts. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Nirgends fand sie einen Verschluss, mit dem sie ihn hätte öffnen und abnehmen können.

Schließlich war die Arbeit getan. Amelie wechselte ihre völlig verdreckte Kleidung, bevor sie sich neben den Verletzten auf den Boden setzte.

„Moro, du kannst nicht hierbleiben. Das wäre entschieden zu gefährlich für uns alle. Die Guardians haben ihre Suche mit Sicherheit nicht eingestellt. Wir müssen damit rechnen, dass sie wieder auf der Farm auftauchen.“

Moro machte Anstalten aufzustehen.

„Ich gehe sofort, Madam.“

Amelie stutzte kurz bei dieser Anrede, überging sie aber.

„Nichts da. Du kannst kaum stehen, geschweige denn deine Flucht fortsetzen. Was ich sagen wollte, ist, dass du dich verstecken musst. Hier, unter der Küche, gibt es einen geheimen Raum. Den entdeckt so schnell niemand. Dort bleibst du, solange es notwendig ist. Nur, dahin zu kommen, dürfte in deinem Zustand ein wenig schwierig werden. Wirst du mir helfen?“

„Ja“, stimmte Moro zu und senkte den Kopf. „Ich danke Ihnen.“

Leicht war es in der Tat nicht, Amelies Patienten in diesen Raum zu bringen, der eher ein unterirdischer Bunker war. Sie schob den großen Tisch und die Stühle zur Seite, rollte den Bodenbelag teilweise auf und öffnete endlich die Luke, die den einzigen Zugang zu dem Keller bildete. Es führte nur eine steile, herausnehmbare Leiter hinunter. Diesen Weg zusammen mit dem verletzten Mann zu nehmen, war schlicht unmöglich. Stattdessen holte sie einen kleinen Flaschenzug, wie er beim Einlagern schwerer Kisten oder Fässer benutzt wurde, und baute ihn über der Öffnung auf. Einen Augenblick zögerte sie.

„Ich frage mich“, murmelte sie, „ob es nicht doch besser ist, zu warten, bis Vedhes zurückkommt? Was, wenn der Aufbau dein Gewicht nicht aushält? Du bist zwar erschreckend dünn und ausgemergelt, wiegst aber bestimmt mehr als eine Kiste unserer selbst angebauten Kartoffeln, die wir sonst im kühlen Keller verwahren. Nicht auszudenken, was passiert, wenn der Flaschenzug zusammenbricht und wir beide abstürzen. Nein, ich fürchte, wir müssen es trotzdem riskieren. Die Gefahr, dass du entdeckt wirst, ist viel zu groß.“

„Es dauert nicht mehr lange“ redete sie Moro gut zu, „ jetzt kommt dein Part. Ich werde dir dieses Seil unter den Achseln durchziehen. Dann lasse ich dich mithilfe dieser Konstruktion hinunter. Falls dabei ein Verband verrutscht, macht das nichts aus. Das richte ich, wenn wir den Abstieg geschafft haben. Es tut mir leid, aber die Aktion wird nicht ohne Schmerzen für dich abgehen. Bist du bereit?“

Moro tat sein Möglichstes, um Amelie zu unterstützen. Dennoch bedeutete es eine enorme Kraftanstrengung. Gemeinsam schafften sie es dann doch. Bevor sie selbst im Keller ankam, war er bereits eingeschlafen. Er merkte nicht mehr, dass sie das Seil löste, seine Verbände überprüfte und eine Decke über ihm ausbreitete. Zu guter Letzt stellte sie ihm Wasser hin und schloss leise die Luke.

Moro saß auf dem Boden in Vedhes‘ Werkstatt und beobachtete angespannt, wie er versuchte, einen Holzklotz vor der vernichtenden Hitze des Schneidbrenners zu bewahren. Im nächsten Augenblick flog das unschuldige Scheit mit Wucht gegen die gegenüberliegende Wand.

„Ich weiß mir, ehrlich gesagt, bald keinen Rat mehr“, gestand der Ältere der beiden aufgebracht. „Nichts, was auch nur ansatzweise schützen würde, kann zwischen deinen Hals und dieses vermaledeite Halsband geschoben werden. Zumindest nicht so, dass es dich vollständig absichert. Seit vier Tagen versuchen wir schon, eine Lösung dafür zu finden. Dabei wissen wir nicht einmal, ob ich mit meinen Gerätschaften auch nur das Geringste gegen diese Legierung ausrichten kann. Wie einer aus der B-Kaste an so ein Material kommt und es nutzt, um dich zu zwingen etwas zu tun, über das du nicht einmal sprechen willst, verstehe ich bis heute nicht. Dir dein Kastenzeichen wegzunehmen und sich die Hilfe der Guardians zu organisieren, um dich suchen zu lassen, das allerdings entspricht ihrer Art genau.“

Diese Geschichte war erbärmlich. Moro wusste es. Genauso gut wusste er, dass weder Amelie noch Vedhes sie glaubten. Ihm war auf ihre Nachfragen einfach nichts Besseres eingefallen. Geschwächt von den Strapazen der Flucht und des hefigen Fiebers, das ihn quälte, nachdem sich die Wunden infiziert hatten, war er ihrer Befragung nicht gewachsen. Seine Geschichte, die doch so dicht an der Wahrheit war, passte trotzdem vorne und hinten nicht zusammen. Es war gefährlich, nein, mehr als das, absurd, einen Herrn der B-Kaste zu beschuldigen, einem C-Kastigen, als der er sich ausgab, das Abzeichen wegzunehmen, um ihn zum Sklaven zu machen. Er musste noch halb im Fieberwahn gewesen sein, als er mit Bestürzung ihre blauen Anstecker der C-Kaste bemerkte und verzweifelt alles riskiert hatte. Nur, wenn er ihnen gleichwertig war, würden sie ihn schließlich nicht auf der Stelle davonjagen. Das war vor mehr als zwei Wochen, aber Moro fand weder einen Weg noch den Mut, seine Lügen zu gestehen. Das Paar setzte ihn nicht unter Druck. Hin und wieder bemühten sie sich, das Gespräch darauf zu lenken. Wenn der ohnehin äußerst schweigsame junge Mann nicht reden wollte, beließen sie es dabei.

Vedhes suchte in seinem gut bestückten Wortschatz nach einem angemessenen Fluch. Da er keinen fand, der seine Frustration gebührend herausgestellt hätte, schwieg er lieber und schüttelte seinen Kopf. Die Sonne, die an diesem Tag ihre Strahlen großzügig verteilte, ließ das silberweiße, schulterlange Haar des Mannes aufleuchten und sein Gesicht milder erscheinen. Moro vertraute dem Ausdruck von tiefem Leid, von dem die Falten um den Mund und die Augen sprachen. Vielleicht war das der Grund, dachte er, weshalb sie ihn nicht zum Reden drängten.

„Ich bin Ihnen unendlich dankbar, dass Sie es versucht haben.“

„Falsche Zeit, Moro“, ermannte sich Vedhes und ergänzte beim Anblick von dessen erstauntem Gesicht: „Du solltest sagen: ‚… dass Sie es versuchen, nicht versucht haben‘. Ich gebe nicht so leicht auf. Reich mir bitte ein neues Scheit aus dem Stapel.“

Der Jüngere drehte sich um und griff nach einem frischen Holzstück, da zischte es hinter ihm: „Versteck dich. Schnell!“

Mehr brauchte er nicht. Seit Moro zeitweise den Bunker verlassen durfte, kannte er die sichersten Wege zurück. Er sprang durch das Fenster auf der Rückseite der Werkstatt, lief geduckt zwischen großen Gegenständen, die absichtlich als Sichtschutz dort aufgestellt worden waren, zur Hintertür des Wohnhauses. Laut nach Amelie rufend, legte er die Falltür in der Küche frei und verschwand im Keller. Über ihm stellte die Frau die übliche Ordnung wieder her. Auch sie wusste genau, worauf es jetzt ankam.

Moro wartete in der Dunkelheit unterhalb der Treppe und lauschte. Falls er merkte, dass die Luke entgegen allen Erwartungen doch gefunden werden sollte, würde er nach den Kisten tasten, die an einer Wand gestapelt waren. In eine davon hatte Vedhes seitlich eine Klapptür eingebaut. Moro würde hineinkriechen und sein Versteck von innen verriegeln.

Lange Zeit geschah nichts. Doch dann hörte er herrische Stimmen, die lautstark die Durchsuchung des Hauses ankündigten.

Die Frau gab sich betont genervt: „Diese dumme Geschichte ist jetzt nahezu drei Wochen her. Was glauben Sie hier zu finden? Zweimal haben Sie uns schon mit Razzien belästigt. Was können wir dafür, dass Sie diesen Verbrecher in unserer Nähe verloren haben?“

„Keinen Verbrecher, wir suchen einen geflohenen persönlichen Sklaven eines verdienstvollen Wissenschaftlers und Beamten aus der B-Kaste. Und jetzt machen Sie den Weg frei.“

Moro prallte entsetzt zurück. Woher wussten sie das? Sie suchten nicht jemanden, der sich bei einer anstehenden Kontrolle auffällig benommen hatte. Auch keinen Mann, der das vorgeschriebene Kastenabzeichen nicht vorweisen konnte. Die Guardians fahndeten gezielt nach ihm, nach Moro oder „Nummer Zehn“, dem Eigentum eines unangreifbaren Mitglieds der zweithöchsten Gesellschaftsschicht. Die Hoffnung, dass der Herr die Flucht aus Furcht vor einem Skandal nicht angezeigt hatte, war endgültig dahin.

Schlagartig wurde ihm der Platz zu eng. Moro rang nach Luft. Er kämpfte verbissen gegen die aufsteigende Übelkeit. Hätte in diesem Augenblick jemand die Luke geöffnet, er wäre nicht fähig zu tun, was getan werden musste, wäre seinen Verfolgern hilflos ausgeliefert. Im