MORO  Das Vermächtnis - Maxi Magga - E-Book

MORO Das Vermächtnis E-Book

Maxi Magga

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Beschreibung

Was, um alles in der Welt, habe ich getan - haben ich und meinesgleichen getan -, dass wir so abgrundtief verachtet, ja gehasst werden, dass jeder Kellerassel mehr Recht auf Leben und Würde zugebilligt wird als uns? Der flüchtige Sklave Moro fällt bei der Befreiung anderer Sklaven seinem früheren Besitzer in die Hände. Sein Leben hängt an einem seidenen Faden. Aber da sind noch andere, mächtige Männer, die es auf ihn abgesehen haben. Die Liebe zu seinem Sohn ist die Fessel, an die er gekettet wird. Leidensfähigkeit und Opferbereitschaft leiten ihn durch Zeiten grausamster Erniedrigung, doch auch neuer Hoffnungen. Band 3 der Moro-Reihe, nach "Der Abgerichtete" und "Moro: Flucht im 24. Jahrhundert". Die Bücher können auch unabhängig voneinander gelesen werden.

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MORO

Das Vermächtnis

Maxi Magga

MORODas Vermächtnis

© 2022 Maxi Magga

Coverdesign von:

Nina Döllerer

Lektorat:

Astrid Leutholf

Buchsatz von tredition, erstellt mit

dem tredition Designer

ISBN Softcover:

978-3-347-68848-3

ISBN E-Book:

978-3-347-68849-0

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

Kapitel 1 Anna

Zuerst waren es kaum registrierbare Zuckungen der Augenlider. Leichte Bewegungen der Finger und der Gesichtsmuskeln kamen hinzu. Der Atem wurde unruhiger. Dann schlug er plötzlich die Augen auf. Ohne etwas zu erkennen, fast als gehörten sie nicht zu ihm, irrten sie ziellos umher. Wie aus weiter Ferne drang eine Stimme zu ihm, doch er verstand die Worte nicht. Unvermittelt bäumte er sich auf, sog so krampfhaft die Luft ein, dass es sich anhörte, als drängte ein Ertrinkender endlich durch die Wasseroberfläche zurück ins Leben. Die Hände krampften sich um die Decke, die über ihn gebreitet worden war. Die Anstrengung des Erwachens war wohl zu groß, denn kurz darauf fiel er wieder in einen tiefen Schlaf.

Er öffnete die Augen, kaum dass er den nassen Lappen spürte, mit dem seine Lippen benetzt wurden. Gierig saugte er die wenigen Wassertropfen heraus und hob mit einer verzweifelten Geste die rechte Hand.

„Heiliges Kastensystem! Du bist tatsächlich zurück! Durst? Willst du mehr Wasser? Dein Blinzeln nehme ich mal als ein Ja. Warte einen Moment, bin gleich wieder bei dir.“

Dankbar entspannte er sich, folgte der Frau, zu der die Stimme gehörte, mit seinen Blicken, bis sie den Raum verlassen hatte. Groß, hager, dunkle, kurze Haare. Müsste er sie kennen? Zu schwach, um länger darüber nachzudenken, drehte er den Kopf zur Seite. Er erschrak, als sie ihn an der Schulter berührte, hatte er doch ihre Rückkehr nicht gehört.

„Nur ruhig, alles in Ordnung. Komm, ich helfe dir, dich ein wenig aufzurichten. Dann kannst du ein paar Schlucke trinken. Siehst du, geht ja.“

Eine kleine Weile hörte er noch ihrer monotonen Stimme zu, ohne wirklich aufzunehmen, was sie sagte, bevor er erneut einschlief.

Als er die Augen das nächste Mal aufschlug, war es dunkel. Eine einzelne Kerze auf einem Hocker neben seinem Bett, der als Tisch benutzt wurde, verbreitete flackernd ihr schwaches Licht. Daneben sah er die Frau von vorhin auf einem Stuhl sitzen. Der Kopf war auf ihre Brust gesunken, die Hände lagen schlaff in ihrem Schoß. Er versuchte sich etwas aufzurichten. Sofort wurde die Gestalt, von der er gedacht hatte, sie schliefe, lebendig und lächelte ihn an.

„Na, aufgewacht?“, kommentierte sie das Offensichtliche.

Er nickte und räusperte sich, bevor er mit unsicherer Stimme fragte, wo er war.

„Bei mir, in meiner Hütte beim Steinbruch. Bin die Anna. Die alte Anna nennen mich die Leute. War ganz schön anstrengend, dich hierher zu schleifen. Dachte ehrlich nicht, dass ich’s schaffe, so allein. Wusste nicht mal, ob du noch lebst. Was sagst du? Keine Ahnung, wie du dahin gekommen bist. Weißt du das denn nicht?“

Er schüttelte langsam den Kopf.

„Danke für die Hilfe“, flüsterte er.

„Wird sich zeigen, ob du mir dankbar sein solltest. Du kennst jetzt meinen Namen. Aber wer bist du?“

Er öffnete den Mund, setzte zum Sprechen an, doch seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.

„Ich weiß nicht. Mein Name … liegt mir auf der Zunge, aber …“

„Schon gut“, unterbrach sie ihn, „streng dich nicht an. Das kannst du mir auch später sagen. Kein

Wunder, dass du alles vergessen hast, so wie du dir den Kopf aufgeschlagen hast. Koche schnell einen Kräutertee für dich, zur Beruhigung. Morgen sehen wir weiter.“

Auch Annas Beruhigungstee bewahrte ihn nicht vor einem unruhigen Schlaf. Schmerzen in jedem einzelnen Teil seines Körpers, die ihn nahezu zur Unbeweglichkeit verurteilten, eine nicht greifbare Angst, die sein Herz zusammenzog, und seine verzweifelten Versuche, sich zu erinnern, wer er war und was geschehen sein mochte, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Kaum graute der Tag, da richtete Anna sich ächzend auf und knetete ihren Nacken. Dennoch trat sie mit einem Lächeln an sein Bett.

„Morgen, Fremder. Wasser? Warte.“

Beschämt sah er zu, wie sie, steifbeinig und sich den Rücken reibend, einen Becher aus einem Fass neben der Tür füllte und zurück humpelte.

„Ich bin es nicht wert, dass Sie meinetwegen Schmerzen leiden“, flüsterte er gequält, „und ich sollte nicht in einem Bett liegen.“

Er hatte mehr sagen wollen, aber sein eigener Satz verwirrte ihn. Warum erwähnte er so etwas? Da weiteten sich seine Augen in einem Grauen, das er nicht in Worte fassen konnte. Der Kopf schlug heftig hin und her, aber das Verstehen duldete kein Nein. Du bist es nicht wert, dröhnte es in ihm, du bist nichts wert, nicht einmal so viel.

Verbissen versuchte er, sich aufzurichten und aus der Wolldecke zu befreien. Anna drückte ihn ohne große Mühe nieder.

„Bleib ruhig liegen. Du schadest dir“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen.

Noch immer kämpfte er gegen die Decke, seine Schwäche und nun auch noch gegen eine aufsteigende Übelkeit an.

„Nein! Bitte, das geht nicht. Das ist nicht erlaubt. Ich … ich bin doch nur ein Sklave.“

Kaum war das Wort heraus, gab er den Kampf auf und fiel schwer auf das Bett zurück. Die Hände vor das Gesicht geschlagen, sodass er kaum zu verstehen war, wiederholte er tonlos: „Nichts als ein Sklave.“

„Weiß ich.“

Die alte Frau gab seine Schultern frei und setzte

sich.

„Hab die Narben auf deinem Rücken gesehen, als ich deine Wunden ausgewaschen hab. Kastenmarke hast du auch keine, obwohl dies das größte Vergehen hierzulande ist. Bist wohl abgehauen, was?“

Langsam senkte er die Hände. Ungläubig starrte er sie an.

„Sie wissen, was ich bin? Und lassen mich trotzdem hier schlafen? Sie ekeln sich nicht vor mir?“

Anna lachte leise.

„Hab ich nicht vor. Jetzt, wo du wieder weißt, dass du ein Sklave bist, ist dir da nicht auch dein Name eingefallen?“

Es fiel ihm schwer, sich darauf zu konzentrieren, und er hatte keinen Erfolg damit. Traurig schüttelte er den Kopf.

„Also, falls du fürchtest, dass ich dich ausliefere, wenn ich weiß, wer du bist, dann liegst du hier im falschen Bett. Hab noch nie einen verraten. Werd ich auch jetzt nicht tun. Nur für den Fall, dass du es noch nicht bemerkt haben solltest, ich trage die rote Plakette, bin F-Kaste. Also gar nicht so viel Unterschied zu dir. Genug davon. Kümmern wir uns um deine Verletzungen.“

Routiniert prüfte sie den aktuellen Zustand der vielfältigen Wunden, wusch sie aus, trug Salben auf diese auf und verband jene sorgfältig. Verwundert bemerkte er, dass Anna zu ihnen sprach.

„Ihr kriegt nur ein bisschen frische Paste. Heiliges Kastensystem, bis ich euch alle verbunden hätte, wäre ich ja eine alte Frau“, sagte sie zum Beispiel zu den Hautabschürfungen und kicherte. „Das sieht gut aus bei dir, Schienbein. Weiß ja, dass die Stöcke drücken, aber das musst du ertragen, sie halten den Bruch stabil. Dich warne ich, du fieser Riss, wenn du dich doch noch entzündest, werde ich rabiat. Die anderen Löcher im Fleisch benehmen sich besser als du. Drei starke Verbrennungen. Ihr macht mir vielleicht Sorgen! Möchte wissen, woher ihr stammt. Und wie tief ihr geht, bei den Schmerzen, die ihr austeilt. Der Fremde zuckt ja schon, kaum dass ich in der Hütte bin. Wie soll ich denn den Brustkorb straff umwickeln, um die gebrochenen Rippen zu richten, wenn ihr mir ständig im Weg seid? Sag bloß, du an der Schläfe hast wieder angefangen zu bluten. Schäm dich. Wo ich dich doch so sorgfältig genäht habe.“

„Schöner wird dein Gesicht durch meine Behandlung ja nicht, Fremder, aber mehr kann ich nicht tun. Heilen muss dein Körper sich allein“, teilte sie ihm schließlich mit, während sie aufräumte. „Dein unregelmäßiger Herzschlag gefällt mir gar nicht. Ruhe dich jetzt aus. Ist das Beste, was wir tun können.“

Er hatte alle Kraft aufgewandt, um die Prozedur klaglos zu ertragen, und war dadurch von seinem Schicksal abgelenkt worden. Nun war er erschöpft. Dennoch raffte er die letzten Reserven zusammen und bat: „Bitte, auf dem Boden liegen …“

Annas unmissverständliches Nein war das Letzte, was er hörte.

„Hier, probier es damit, Fremder.“

Anna hielt ihm ein Gestell hin, das sie in den vergangenen Tagen aus einer Astgabel und einem Besenstiel gebaut hatte. Mühsam stemmte er sich von der neuen, behelfsmäßigen Schlafstelle auf der festgestampften Erde hoch. Bemüht, seine Zweifel nicht allzu deutlich zu zeigen, griff er nach dem unförmigen Ding. Mit ihrer Hilfe klemmte er sich die Gabel unter die Achsel und versuchte sich fortzubewegen, ohne das gebrochene Bein zu belasten. Zuerst war er unsicher, aber schon nach ein paar Versuchen gelang es ihm, sich damit selbstständig und einigermaßen schmerzfrei in der Hütte zu bewegen.

Das war ein weiterer Schritt auf dem langen Weg der Heilung. Ein paar Fiebertage hatte er überstanden, die meisten der offenen Wunden hatten begonnen zu vernarben, die gebrochenen Rippen behinderten ihn nur noch wenig. Sogar die merkwürdig tiefen, kreisrunden Verbrennungen heilten langsam. Als er nach Wochen im Bett endlich hatte aufstehen dürfen, nicht mehr völlig abhängig war von Annas, ihm völlig unverständlicher Güte, war das ein Segen für ihn. Doch weit mehr als das hatte es ihn erleichtert, ihr das Bett zurückgeben zu können. Sie seinetwegen auf dem provisorischen Lager auf dem Fußboden schlafen lassen zu müssen, bedrückte ihn. Wenn er jedoch davon sprach, wie peinlich es ihm war, schimpfte sie ihn aus und fragte, wie sie ihn mit ihrem schlimmen Rücken so tief unten denn pflegen sollte. Jetzt also der nächste Schritt. Wie sehr er sich darauf freute, an die frische Luft zu kommen, selbst wenn er vorerst nur ein paar wacklige Schritte mit der Krücke machen konnte. In Gedanken hatte er sich bereits eine lange Liste gemacht, was er alles in der Hütte ausbessern und reparieren wollte, sobald er dazu in der Lage war, um etwas von der Schuld abzutragen, die er Anna gegenüber empfand.

Bis der Herbst sich ankündigte, saßen die beiden oft tagsüber zusammen vor einer mächtigen Zwinge, in die sie flache Naturbruchsteine steckten, die sie sägten, schliffen und glätteten, bis sie die gewünschte Form hatten.

„Ich glaube fast, Anna, mit dieser runden Platte gelingt uns ein Meisterstück. Wunderschön! Ob dieser Monsire aus der Stadt einen kleinen Tisch daraus machen lassen möchte? Was meinst du?“

„Vielleicht ja, vielleicht nein. Ist doch egal. Mir ist wichtiger, was er mir dafür gibt.“

Moro lachte kurz. „Das stimmt allerdings. Mir gehen auch wichtigere Dinge durch den Kopf. Ich weiß ja, ich sollte Sie nicht schon wieder bitten, mir zu erzählen, wie Sie mich gefunden haben, aber … “

Bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, versetzte Anna ihm einen leichten Schlag an den Hinterkopf, der ihn verstummen ließ.

„Hab ich nicht schon hundert Mal gesagt, dass du dir dieses Sie sparen kannst? Eine aus der F-Kaste wird mit du angesprochen. So sagen es die Kastenregeln.“

„Nicht von jemandem, der noch weit darunter steht, einem wie mir. Aua! Schon gut. Aufhören bitte, es war doch nur ein Versehen und kommt bestimmt nicht mehr vor. Versprochen.“

„Will ich dir auch raten. Wie ich dich gefunden habe, fragst du. Also, war nebenan im alten Steinbruch, habe nach Heilkräutern gesucht. Da höre ich an der oberen Kante einen Wagen. Sehe hoch. Schon werfen zwei Männer jemanden runter. Das warst du. Der Wurf war nicht weit genug, bist nicht tief gestürzt, aber mit losem Geröll bis auf den Boden der Grube gerutscht. Habe gewartet, bis der Wagen weg war und dich dann in meine Hütte gezerrt.“

„Die Männer, Anna, du hast sie gesehen.“

„Hab ich. Dunkle Kleidung, Helme, mehr wusste ich gestern nicht, mehr weiß ich heute nicht.“

„Und das Hovercraft, Anna. Bitte, denk noch

einmal nach. Bist du wirklich sicher, dass das größer

war als normal? Du warst weit entfernt und die Sonne …“

„Kann noch ganz gut sehen. Wie oft muss ich das noch sagen? Der Wagen war sehr groß, und auffällig weiß, orange und blau oder grün lackiert.“

„Die Farben der Guardians“, stöhnte er. „Das gibt keinen Sinn. Warum sollten die mich in den Steinbruch werfen, anstatt mich meinem Besitzer auszuliefern?“

„Wenn du das herausfindest, wirst du vielleicht auch wissen, wo deine schweren Verletzungen und die ewig lange Bewusstlosigkeit herkommen. Vom Absturz im Bruch alleine sicher nicht. Schluss für heute. Wir sehen ja fast nichts mehr. Morgen ist auch noch ein Tag.“

„Anna, dem Heiligen Kastensystem sei Dank, dass du endlich da bist. Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du noch nie so lange für eine Lieferung unterwegs warst. Hat der Monsire etwa Schwierigkeiten gemacht mit dem, was er dir geben wollte?“

„Lass mich, Fremder. Muss mich hinsetzen, meine alten Beine wollen nicht mehr so. Der Monsire? Nein, ich habe sogar die Reste vom Tisch der Herrschaften obendrein gekriegt. Hier, sieh nur“, forderte sie ihn auf und reichte ihm einen kleinen Sack. „Gut, was?“

Anna sammelte sich ein wenig, dann sah sie ihn so lange schweigend an, bis er von den unverhofften Nahrungsmitteln im Sack aufblickte.

„Was ist los? Etwas stimmt doch nicht.“

Anna seufzte tief, bevor sie anfing zu reden.

„In der Stadt sprechen alle davon. Ein älteres Paar, C-Kaste, lässt überall nach einem jungen Mann suchen, einem Sklaven. Wenn ich das richtig verstanden habe, hat er zeitweise bei ihnen gelebt. Erinnert dich das an etwas?“

Moro hatte den Atem angehalten, seine Augen hingen an den Lippen der Frau.

„Nein. Weiter, bitte Anna, sprich weiter. Warum suchen sie diesen Mann? Gehört er ihnen?“

„Hab das nicht ganz genau verstanden, glaube es aber nicht. Amelie und Vedhes irgendwas, so heißen die beiden, suchen ihn, weil er an dem Tag verschwunden ist, an dem ihr Haus angezündet wurde.“

Alles Blut wich aus seinem Gesicht. Kaum atmend, starrte er auf seine Hände.

„Denjenigen, den sie suchen, nennen sie …“

„Moro. Sie nennen ihn Moro. Stimmt doch, Anna?“

Seine Stimme war nur mehr ein Krächzen.

Sie nickte. „Dann ist es wahr? Du erinnerst dich an sie?“

„Ich erinnere mich wieder. An ihre Namen und meinen, an ihre Gesichter. Daran, dass sie die Einzigen vor dir waren, die gut zu mir waren. Nein, da war noch einer, ein Junge. Anna, kann es möglich sein, dass ich ein solches Monster bin, dass ich ihnen ihre Güte so grausam vergolten habe? Sollte ich tatsächlich das Feuer gelegt haben und mich jetzt nicht einmal daran entsinnen? Denn ausgerechnet daran fehlt mir noch immer jede Erinnerung.“

Er wandte sich ihr zu, streckte seine Hände nach ihr aus. Doch Anna wich eine wenig zurück. Moro sprang sofort auf. Ihre Reaktion schnürte ihm den Hals zu.

„Wenn du willst, werde ich noch in dieser Minute gehen“, flüsterte er tonlos. „Du musst dich nicht sorgen, dass ich dir etwas antue.“

Anna fasste sich schnell.

„Unsinn. War nur mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt und bin erschrocken. Tut mir leid, Fremder.“ Mit einem Lächeln korrigierte sie sich: „Tut mir leid, Moro.“

„Bist du sicher, dass ich noch bleiben darf?“

„Ganz sicher. Setz dich wieder hin und erzähle mir alles, woran du dich noch erinnerst.“

Sie redeten die ganze Nacht lang. Zuerst gab Moros Gedächtnis nur diffuse Einzelheiten preis, aber mit Annas Hilfe fügten sie sich zusammen. Nur auf die Fragen, die ihn am meisten quälten, fanden sie keine Antwort. War er an dem Paar zum Verbrecher geworden? Und wie kam er dann so weit entfernt an diesen Steinbruch?

„Wir sind uns also einig“, fasste Anna todmüde zusammen, „nach ein paar Stunden Schlaf geh ich wieder in die Stadt und bitte, mit dem Monsire sprechen zu dürfen.“

„Die werden dich nie anhören. Anna, es ist großartig, dass du das für mich tun willst, aber du wirst nur müde und enttäuscht zurückkommen. C-Kaste, Anna! Wer so hochsteht, interessiert sich nicht für das, was du ihnen zu sagen hättest.“

„Du wiederholst dich. Ändert aber nichts an meiner Entscheidung. Außerdem werden Reiche hellhörig, wenn’s ums Geld geht. Sag einfach, sie haben mir zu viel bezahlt, dann wird die Madam schon weich. Ein Versuch lohnt sich.“

„Das kann ich schon gar nicht akzeptieren. Du verdienst so wenig, da kannst du es dir einfach nicht leisten, etwas davon zu verschenken, vielleicht für nichts und wieder nichts. Sei doch vernünftig.“

„Ist es dein Geld oder meins, hä? Also, halt den Mund.“

Moro gab auf. Aber die Sorge um sie machte ihn zu unruhig, um still in der Hütte zu warten, bis sie sich erholt hatte. Er nahm einen Korb vom Haken und machte sich auf, Heilkräuter zu suchen, wie er es von ihr gelernt hatte. Bei seiner Rückkehr war sie bereits gegangen. Voller böser Vorahnungen lief Moro nervös auf und ab. In seiner Vorstellung sah er sie in ihrem Blut in einem Graben liegen, gewaltsam vertrieben von den Hausangestellten des Monsire, oder, noch schlimmer, in einer Gefängniszelle der Guardians wegen Störung der Ordnung. Unendlich erleichtert sah er endlich einen dunklen Punkt am Horizont, der beim Näherkommen wuchs. Als er sicher war, dass sie es war, lief er ihr entgegen.

„Dem Heiligen Kastensystem sei Dank, du bist wieder da und gesund“, rief er ihr schon von weitem zu. Er musste sich allerdings gedulden, bis sie in der Hütte war und ihre brennenden Füße in eine Schüssel mit kühlendem Wasser gesteckt hatte, bevor sie bereit war zu berichten.

„Wie es gelaufen ist? Na, wie denn wohl, wunderbar! Viel besser, als ich erwartet hab. Glaub, die Madam war ganz zufrieden, so richtig tratschen zu können. Hat mir sogar das Geld zurückgegeben, das ich ihr hingelegt hab. Hab fast gedacht, jetzt lädt sie mich zu Tee ein, aber den hat sie doch allein getrunken.“

Anna lachte kichernd in sich hinein. Moro, der vor Aufregung seine Hände knetete, unterbrach sie nicht.

„Ein bisschen was hab ich rausgekriegt. Dieses Paar … “

„Amelie und Vedhes“, half Moro aus.

„Ja, die zwei aus Steinberg. Dort stand jedenfalls das Haus, das abgebrannt ist. Weiß jetzt auch ungefähr, wie man dahin kommt. Aber außer Trümmern wirst du wohl nichts finden. Sie wohnen nun in einer Stadt, die Altenburg heißt. Die liegt weit im Norden, meinte die Madam. Jedenfalls soll jeder, der etwas mitteilen kann, an das Haus Basti in der Exzellenz-Roderik-Allee schreiben. Es gibt sogar eine Belohnung. Was ist denn mit dir? Glaubst du, es ist Blutgeld?“

Besorgt beobachtete Anna, wie elend Moro plötzlich aussah.

„Wenn, dann weil sie mich für schuldig halten, und dann ist es nur gerecht. Nein, es ist der Name des Hauses. Basti. Ich erinnere mich, ihr toter Sohn hieß so. In seinem Zimmer, sogar in seinem Bett haben sie mich schlafen lassen. Anna, ich muss wissen, ob ich wirklich dieser Verbrecher bin, der ihnen das Dach über dem Kopf angezündet hat. Morgen früh werde ich gehen. Sei nicht böse auf mich. Bitte, weine doch nicht.“

Die Vorbereitungen für seine Reise ins Ungewisse waren bei Tagesbeginn schnell erledigt. Er besaß nichts als die Kleidung, mit der sie ihn in den Steinbruch geworfen hatten, vielfach von Anna geflickt und ausgebessert.

„Nochmal, nein, von deinen Vorräten nehme ich nichts mit. Ich komme ganz gut mit dem zurecht, was ich unterwegs finde. Das habe ich doch schon früher geschafft. Jetzt im Herbst findet man in der Natur genug, was man essen kann.“

„Weiß ja, aber wollte dir halt noch etwas Gutes tun. Du hast einer alten einsamen Frau neuen Lebensmut gegeben. Die vergangenen Monate, in denen ich mich mit jemand anderem unterhalten konnte als mit mir selber, waren die schönsten in meinem Leben.“

„Ach, Anna, es kann nicht richtig sein, dass du als F-Kastige so geächtet wirst.“

„Wirst du jetzt still sein. So will es das Kastensystem eben. Das ist schon in Ordnung. Nur was mit dir geschehen ist, deine Versklavung, das hat nichts darin verloren.“

„Ich will mich heute nicht mit dir streiten. Wenn ich Amelie und Vedhes gefunden habe, wenn ich weiß, ob ich ein Ungeheuer oder ein Mensch bin, dann komme ich vielleicht zurück.“

„Und wenn du deinen Sohn gefunden hast. Vergessen?“

„Nein, Anna, das habe ich nicht vergessen. Wie könnte ich! Ich werde meine Familie suchen, bis ich sie wiedergefunden habe. Und sollte es mein ganzes Leben dauern. Leb wohl.“

Moro, nahm ihre Hände und küsste sie zu Abschied auf beide Wangen. Dann riss er sich los und machte sich auf den Weg, von dem er nicht wusste, wohin er ihn führen würde. In seinem wild klopfenden Herzen bewahrte er die einzigen Anhaltspunkte für seine Suche, den Namen des Paares und des Ortes, an dem es nun leben sollte, und das Wort „Guardians“.

*****

„Sind Sie denn immer noch auf der Suche nach diesem Sklaven, ach, wie heißt er doch gleich, diesem Mann, der Ihr Haus angezündet hat, verehrter Freund?“

Vedhes nahm seinem Gast einen Stapel druckfrischer Suchplakate ab.

„Moro. Und wir haben schon mehrfach darüber gesprochen, dass er unser Haus angezündet haben soll, dass wir, meine Frau und ich, aber von seiner Unschuld überzeugt sind.“

„Richtig, richtig, das haben wir. Umso weniger verstehe ich aber Ihre Suche. Wäre es nicht vernünftiger, das viele Geld auszugeben, ein kleines Vermögen immerhin, um den wahren Täter zu finden? Dieser Sklave kann doch unmöglich so viel wert sein.“

„Er ist nicht unser …“

Amelie legte ihm schnell die Hand auf den Arm.

„Du regst dich zu sehr auf, mein Lieber. Beruhige dich.“

Vedhes fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

„Du hast ja recht. Und Sie bitte ich, meinen kleinen Ausbruch zu entschuldigen, Monsire Burkmann. Nehmen Sie doch bitte Platz. Darf ich Ihnen vielleicht etwas anbieten? Nein? Wie immer in Eile, nicht wahr? Nun, wir hoffen, durch diesen Sklaven einen Anhaltspunkt zu erhalten, wer für die völlige Zerstörung unseres Besitzes verantwortlich ist, der sich seit einem Jahrhundert in Familienhand befand. Wie ich früher bereits sagte, sind mehrere Vermummte in unsere Wohnung eingedrungen und haben uns mit Taserpistolen bewusstlos geschossen. Das kann Moro nicht getan haben, aber seit diesem Zeitpunkt ist er wie vom Erdboden verschwunden.“

„Aber sind denn nicht auch die Guardians der Überzeugung, er habe Sie mit anderem gesellschaftlichem Abschaum beraubt und zur Vertuschung Feuer gelegt?“

Vedhes ballte die Fäuste, unterdrückte jedoch seinen Ärger, bevor er antwortete.

„Das sind sie, das ist wahr. Aber Beweise dafür haben sie uns bisher nicht vorlegen können.“

„Das kommt schon noch, verlassen Sie sich darauf. Leider muss ich Sie jetzt verlassen. Geschäfte, Sie verstehen. Ach, meine Frau lässt fragen, ob sie beim Ball zur Eröffnung der Wintersaison in knapp zwei Wochen mit Ihnen rechnen darf. Oder reisen Sie etwa wegen Ihrer Nachforschungen erneut durch unser schönes Land?“

„Mein Mann ist nicht unbedingt ein begnadeter Tänzer, Monsire, aber ich werde ihn sicher überreden. Ich freue mich jedenfalls auf den Abend“, warf Amelie ein, bevor ihr Mann mehr als ein unwilliges Brummen von sich geben konnte.

„Das wird meine Frau gern hören. Ich darf mich dann verabschieden? Wenn ich wieder behilflich sein kann, bitte, jederzeit. Danke, ich finde selbst hinaus.“

Amelie schüttelte den Kopf, als ihr Besucher gegangen war.

„Was denn?“, brummte ihr Mann.

„Vedhes, reiß dich endlich zusammen. Du kannst die Menschen hier nicht so vor den Kopf stoßen. Gerade dieser Burkmann und seine Frau haben uns das Einleben hier sehr erleichtert. Nicht zuletzt war er bei unserer Suche nach Moro ausgesprochen hilfreich. Daher werden wir zu diesem Ball gehen und Kontakte pflegen und du wirst der charmanteste Mann dort sein.“

Vedhes verzog das Gesicht.

„Mir zuliebe.“

„Dir zuliebe“, versicherte er ernsthaft.

*****

Er war längst nicht mehr im jugendlichen Alter und ganz gewiss nicht der Gesündeste. Als er vor Wochen aufgebrochen war, hatte wenigstens das Wetter noch mitgespielt. Die Temperaturen waren für lange, anstrengende Märsche nahezu perfekt gewesen, gelegentliche Regenschauer hatten Moro mehr erfrischt als belästigt. Die hellen Abende ermöglichten ihm ein gutes Tagespensum, wenngleich er seinem Körper viel weniger abverlangen konnte als früher. Sein Marschtempo konnte er ja selbst bestimmen, aber wenn er schnell sein musste, um eine Begegnung zu vermeiden, verließ ihn bald die Kraft und er geriet in Atemnot. Da er alles mied, was einem genutzten Weg oder gar einer Straße glich, und sich stattdessen querfeldein durchschlug, machte ihm der gerade erst verheilte Beinbruch zu schaffen. Zudem waren inzwischen die Tage und vor allem die Nächte spürbar kälter geworden. Der Winter machte sich eindeutig zum Einzug bereit. Es war allerhöchste Zeit, sich wärmere Kleidung zu besorgen. Nun ja, zu stehlen. Moro massierte sein schmerzendes Bein. Selbst wenn er sich hätte sehen lassen dürfen, schenken würde ihm niemand etwas. Wer so kostbare Dinge wie warme Kleidung besaß, sah ihn nicht, für den existierte er allenfalls als Verpflichtung, die Guardians zu informieren. Wer selbst nichts hatte, das er entbehren könnte, nahm ihn nur als Bedrohung wahr.

„Du kannst es nicht mehr länger aufschieben“, stellte Moro im Selbstgespräch fest, wie so oft in letzter Zeit. „Morgen versuchst du, wenigstens an eine Jacke zu kommen. Wer weiß, vielleicht steckt ja in einer der Taschen noch ein halber gebratener Waschbär.“

Er lachte lautlos. Bei dem bloßen Gedanken daran lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Resigniert schluckte er und drehte weitere Steine und Blätter um auf der Suche nach Käfern und Schnecken, die sein Abendessen bilden sollten. Früher, noch vor wenigen Jahren, hatte er wenig Probleme, Ratten und andere kleine Tiere zu erlegen, doch in den Wochen seit dem Abschied von Anna hatte er kaum Glück damit gehabt.

„Du bist zu langsam geworden. Die kriegen einen Lachkrampf, wenn sie dich beobachten. Es sollte mehr verletzte Vögel geben, so wie der Rabe gestern. Oder war das schon vorgestern? Egal, ich bin nur gespannt, was du essen willst, wenn du wegen der Kälte nicht mal mehr genügend Weichtiere findest.“

Wütend schlug er mit einem faustgroßen Stein auf die Erde vor sich ein.

„Was hast du dir bloß dabei gedacht? Diese ganze Sucherei war doch von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Eine blöde Idee. Das Einzige, was du finden wirst, ist dein eigener Tod.“

Ohne den seiner Kaste verwehrten Schulbesuch konnte er keinen der Wegweiser lesen, durfte es aber auch nicht riskieren, jemanden zu fragen. So hatte er ausschließlich die Sonne und die Sternbilder, um sich zu orientieren. Nur im Schutz der Nacht wagte er es, sich befestigten Straßen mit ihren Ortsschildern zu nähern. Zeichen für Zeichen verglich er dann das, was darauf geschrieben stand, mit dem, was er in ein Holzstückchen eingeritzt hatte. Ob er die Symbole tatsächlich richtig von einem der Suchplakate übertragen hatte? Wie hätte er sich sicher sein können? Vielleicht trug er seit Wochen die Inschrift „Brandstifter“ mit sich umher. Dies war nicht der einzige Abend, an dem Moro drohte, an seiner Aufgabe zu verzweifeln.

Er kannte solche Selbstzweifel zur Genüge. Und er kannte auch die einzige Antwort darauf: Er war nicht am Leben geblieben, hatte nicht all das durchgemacht, nur um hier und jetzt aufzugeben.

Als der Morgen graute, hatten sich Geist und Körper einigermaßen erholt. Er kramte den abgegriffenen Holzspan aus der Hosentasche hervor. Wie stets bei diesen Gelegenheiten, hielt er einen Moment inne und dankte Anna in Gedanken für alles, was sie für ihn getan hatte. Dieses kleine Stück Holz war der beste Beweis für ihren Mut. Durch nichts auf der Welt hatte sie sich davon abhalten lassen, noch einmal den beschwerlichen Weg in die Stadt auf sich zu nehmen, um ein Exemplar des Anschlages zu stehlen, mit dem nach ihm gesucht wurde. Er weigerte sich, sie zu verlassen, bevor dieses verräterische Diebesgut vernichtet worden war. Schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, sahen sie zu, wie dieses Plakat, das einen so großen Einfluss auf ihrer beider Schicksal hatte, in der offenen Feuerstelle in Rauch aufging. Wie sie erfahren hatte, dass die herausgehobenen Zeichen die neue Adresse von Vedhes und Amelie kennzeichneten, verriet sie ihm nicht. Vermutlich hatte sie jemanden mit dem wenigen Geld bestochen, das sie von dem Monsire für die Steinplatte bekommen hatte. Ein lebensgefährliches Wagnis! Es überlief ihn immer noch eiskalt, wenn er nur daran dachte.

Moro vergewisserte sich, dass er die Zeichen noch korrekt im Gedächtnis hatte, an denen er zu erkennen hoffte, wann er am Ziel war, in Altenburg, der Stadt in der Vedhes und Amelie nun lebten. Wie es dann weiterging, musste man sehen.

Noch ein Schluck Wasser aus dem Bach, der eigentlich nur ein Rinnsal war, und die endlose Wanderung begannen von Neuem. Irgendwo nördlich vom Steinbruch und ihrer Hütte, hatte Anna gesagt. Heilige Kastenordnung, das konnte überall und nirgends sein! Trotzdem setzte er einen Fuß vor den anderen, Stunde um Stunde. Am Nachmittag fand er ein Gelände voller Büsche, die noch letzte wilde Beeren trugen. Ein Fest für den hungrigen Mann.

Wenig später tauchten vereinzelte Hütten auf. Moro wagte sich soweit wie möglich heran, zu seiner Enttäuschung fand er jedoch nirgends abgelegte oder zum Trocknen aufgehängte Kleidung.

Gegen Abend wurden die Katen größer, die Trampelpfade, denen er seit Stunden gefolgt war, verdichteten sich und in der Ferne tauchten die Umrisse einer kleinen Stadt auf. Moro suchte sich einen Unterschlupf, an dem er sich ausruhen und auf die Nacht warten konnte, und hoffte, die Wolken würden sich verziehen und der Mond hell genug scheinen.

Im Schutz der Dunkelheit näherte er sich ein paar Stunden später dem Ort. Da alles um ihn herum still schien, wagte er es, die Straße direkt am Ortsschild zu betreten. Er versuchte, die Zeichen darauf zu identifizieren, stutzte, schaute noch einmal genauer hin und holte schließlich doch den Span hervor, um wieder und wieder Zeichen für Zeichen zu vergleichen.

„Anna, du Teufelsweib, ich habe es geschafft! Hörst du mich?“, flüsterte er. „Durch deine Hilfe bin ich hier.“

Seine Freude bekam einen gehörigen Dämpfer, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Erschrocken duckte er sich und huschte in den Schatten am Wegrand. Alles blieb ruhig. Anscheinend hatte er sich von einem Tier vertreiben lassen. Er bezwang seine Ungeduld und wartete, bis der Mond ihm die Mitternacht anzeigte. Aufs Äußerste angespannt, betrat er Altenburg und schlich, sich im tiefen Schatten haltend, wann immer es möglich war, durch die angrenzenden Straßen. Beim ersten Zeichen der Dämmerung verkroch er sich, hungrig und todmüde, in den Trümmern eines eingestürzten Hauses. Schlafen konnte er dennoch nicht. Die Augen wollten sich nicht schließen, die Hände nicht stillhalten. Er war so dicht dran! Morgen würde er vielleicht schon den beiden Menschen begegnen, deren Urteil er so fürchtete wie nichts anderes. Er hielt die innere Unruhe schließlich nicht mehr aus, setzte sich in eine Ecke, zog die Beine an und versuchte, sich mit den Geräuschen der erwachenden Stadt abzulenken.

In der nächsten Nacht machte er sich wieder auf die Suche. Überglücklich stürzte er sich auf die weggeworfenen Reste eines Brotes aus dem 3D-Drucker und verschlang es gierig. Mit einem Höchstmaß an Aufmerksamkeit auf die Umgebung achtend, löste er sich etwas später aus der sicheren Dunkelheit einer Häuserreihe und schlenderte betont lässig, so hoffte er wenigstens, quer über einen Platz zu einem Brunnen. Dort löschte er seinen quälenden Durst. Die Gefahr, dabei entdeckt zu werden, war trotz der späten Stunde groß, da ihm das gnadenlose Mondlicht keinerlei Deckung bot. Doch das musste er in Kauf nehmen, Wasser war jetzt wichtiger.

Weiter ging die wirre Suche nach einem Stadtviertel, in dem man die Mitglieder der C-Kaste vermuten durfte, einer Gegend mit großen Häusern und weitläufigen Grundstücken, die den Geruch nach Reichtum und Sorglosigkeit verströmten.

Erst spät in der Nacht glaubte er, sein Ziel gefunden zu haben. Hier standen die Gebäude deutlich weiter voneinander entfernt, alles erschien aufgeräumter. Der leichte Wind trug ihm den ungewohnten Duft noch blühender Pflanzen zu. Allerdings wurde sein Aufenthalt jetzt weitaus riskanter. Es gab wesentlich weniger dunkle Ecken und Nischen, in denen er sich hätte verbergen können. Die oft gehörte Behauptung, die reichen Gegenden würden besser von den Guardians bewacht, fiel ihm ein. Vorstellbar war das auf alle Fälle. Und bei einer Entdeckung würde er wahrscheinlich die nächste Guardianstation gar nicht erst lebend erreichen. Mit Gewalt verdrängte er solche Gedanken und zog sich in sein Versteck in der Ruine zurück. Heute war es zu spät, um weiter zu suchen. Was bedeutete schon ein Tag?

Moros Aufgabe in der dritten Nacht war es, in dem entdeckten Stadtviertel ein Straßenschild zu finden, auf dem die Zeichen in drei Gruppen mit jeweils einem kleinen Strich dazwischen angeordnet waren, Exzellenz-Roderik-Allee sollte das heißen, wenn er sich richtig an Annes Worte erinnerte.

„Ein wenig Glück nur, bitte, nur so viel, dass ich das Schild nicht übersehe“, flehte er.

Seine Bitte hatte bald Erfolg. Zitternd vor Kälte, Hunger und Erschöpfung stand er da und starrte ungläubig an der Mauer hinauf. Wieder zog er das Holzstückchen aus der Hosentasche und verglich die Zeichen. Korrekt! Irgendwo in dieser nicht sehr langen Straße befand sich das Haus, das Basti hieß. Das Haus, in dem sich sein weiteres Schicksal entscheiden würde.

Moro widerstand dem Verlangen, Zeit zu schinden, die Suche nach Basti auf die nächste Nacht zu verschieben. Auf fünf einzelne Zeichen musste er achten, von denen das erste aussah wie die nach links aufgerichteten Brüste einer Frau. Das siebte Haus war es bereits. Sein Ziel. Und was nun? Sein Kopf fühlte sich an wie leergefegt, Moro konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er hatte immer nur bis zu dieser Stelle gedacht, nie weiter, nie daran, wie er Vedhes und Amelie auf sich aufmerksam machen sollte.

Ausgerechnet jetzt, fluchte er, als er den sich nähernden Hovercraftwagen hörte. Er hatte viel zu lange planlos herumgestanden, musste schnellstens verschwinden. Aber wohin?Sämtliche Zwischenräume zwischen den Häusern waren durch hohe Einfriedungen gesichert, da gab es kein Durchkommen. Moro ließ sich auf die Erde fallen und rollte sich über den kaum zwei Meter breiten bepflanzten Streifen bis vor den Zaun, wo der Boden etwas abfiel. Dort drückte er sich auf die Erde und deckte das Gesicht mit den Armen ab. So fiel es nicht gleich als heller Fleck auf, trotzdem konnte er beobachten, was geschah.

Was für ein lausiges Versteck! Moro hielt den Atem an, als würde der Fahrer ihn leichter entdecken, wenn sein Brustkorb sich bewegte.

Hilf, Heiliges Kastensystem, hilf mir, der Wagen

hält!

Moro sollte aufspringen, die vielleicht letzte Chance nutzen, um wegzulaufen, bevor die Insassen ausstiegen und ihn sahen. Natürlich sollte er das, aber er rührte sich nicht. Mit aus Gewohnheit niedergeschlagenem Blick registrierte er, wie der Mann der Frau mit dem langen, eleganten Kleid aus dem Wagen half, sich dann zu dem Fahrer beugte und ihm etwas gab. Das Fahrzeug entfernte sich, das Paar näherte sich ohne Argwohn der Haustür.

„Madam!“

Die Frau stockte einen Augenblick, schüttelte leicht den Kopf, als hätte sie sich geirrt und ging weiter.

„Madam, Master Vedhes“, rief Moro, nun etwas lauter. Gleichzeitig reckte er den Kopf in die Höhe. „Ich bin es. Moro.“

Einen Augenblick lang schien es, als hätten sie ihn nicht gehört.

„Moro!“

Beide liefen zu ihm, namenlose Verblüffung in den Gesichtern.

„Ich habe Sie gesucht. Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.“

„Das hast du nicht. Nicht sehr jedenfalls. Komm, steh auf, bevor uns noch jemand sieht. Vedhes, mach die Tür endlich auf.“

Mit ihren Körpern verdeckten sie Moro und brachten ihn sicher ins Haus. Amelie legte den Finger auf den Mund und zeigte auf ein Zimmer am Ende der kleinen Eingangshalle. Erst nachdem sie dessen Tür sorgfältig hinter sich geschlossen hatte, stemmte sie die Hände in die Hüften, sah ihn prüfend an.

„Moro, Junge, bist du es denn wirklich? Man kann unter dem Gewirr von Bart und Haaren ja kaum etwas von dir erkennen. Und wie dünn du bist! Setz dich, Junge, ich hole dir erst einmal was zu essen.“

„So eine Überraschung“, fiel ihr Vedhes ins Wort. „Wie kommst du hierher? Wo warst du nur die ganze Zeit? Rede doch endlich!“

„Junge, du schwankst ja! Komm, du musst dich setzen.“

Moro, dem die plötzliche Hitze im Zimmer zu schaffen machte, riss sich zusammen. Energisch schüttelte er den Kopf.

„Ich starre vor Dreck, Madam. Ich stinke. Ich mache Ihnen nur alles schmutzig.“

„Da ist was Wahres dran. Du wirst dich trotzdem ein paar Minuten hier hinsetzen und ausruhen. In der Zwischenzeit mache ich ein Bad für dich fertig. Vedhes, hole ihm doch bitte ein Glas Wasser. Er scheint völlig dehydriert zu sein.“