Der Abstieg - Wolfgang Willems - E-Book

Der Abstieg E-Book

Wolfgang Willems

0,0
1,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Trotz vieler realer Elemente handelt es sich bei dieser Geschichte um eine Fiktion, die über das Jahr 2004 bis Herbst 2005 zeigt, wie Leidtragende der kombinierten Arbeitslosenhilfe mit Sozialhilfe als langjährige Arbeitnehmer aus dem Netz staatlicher Fürsorge fallen und daraus resultierend einen beruflichen, menschlichen sowie familiären Abstieg erleben können. Aus dramaturgischen Gründen und zur Straffung der fiktiven Geschichte muss nicht alles der Wirklichkeit entsprechen. Das bezieht sich sowohl auf umfangreiche gesetzliche Bestimmungen wie präzis wirkende Ortsangaben und auch Personen. Zwar sind viele Daten den geltenden Gesetzen entnommen, aber für eine beschleunigte Darstellung des Verfahrens gelegentlich gerafft.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2013

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolfgang Willems

Der Abstieg

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Der Abstieg

 

 

von

 

Wolfgang J. Willems

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Projekt 1596 / BoD-Nr. 501261

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

Trotz vieler realer Elemente handelt es sich bei dieser Geschichte um eine Fiktion, die über das Jahr 2004 bis Herbst 2005 zeigt, wie Leidtragende der kombinierten Arbeitslosenhilfe mit Sozialhilfe als langjährige Arbeitnehmer aus dem Netz staatlicher Fürsorge fallen und daraus resultierend einen beruflichen, menschlichen sowie familiären Abstieg erleben können. Aus dramaturgischen Gründen und zur Straffung der fiktiven Geschichte muss nicht alles der Wirklichkeit entsprechen. Das bezieht sich sowohl auf umfangreiche gesetzliche Bestimmungen wie präzis wirkende Ortsangaben und auch Personen. Zwar sind viele Daten den geltenden Gesetzen entnommen, aber für eine beschleunigte Darstellung des Verfahrens gelegentlich gerafft.

 

INHALT

 

 

 

Januar 2004

Silvester

Neujahr 2004

 

Februar

Kritische Zeiten

Gerüchte

 

März

Bewerbungen

Betriebsversammlung

Kündigung

 

April

Schlechte Laune

Arbeitslos

Urlaub

 

Mai

Frei-Tage

Keine Chance

 

Juni

Geburtstag

Sportabzeichen

 

Juli

Alg II

Hoffnungsschimmer

Zu teuer

 

August

Absagen

Langeweile

Demo

 

September

Alo-Treff

Morgenstund’

Kassensturz

 

Oktober

Glück und Glas

Leben lohnt

Kabarett

 

November

Ungerechtigkeiten

Jobsuche

Betreuerarbeit

 

Dezember 2004

Weihnachtsbummel

Jammertag

Notverkauf

 

Januar 2005

Auf ein Neues

Selbstmord

Arm oder reich

Perspektiven

 

Februar

Fastnacht 2005

Banküberfall

Entschuldigung

 

März

Sauf-Tour

Selbstständigkeit

Familienrat

 

April

Fragestunde

Hoffnungslos

 

Mai

Incorporated

Geschäfte

 

Juni

Ärger

Ausbeutung

 

Juli

Falscher Wohlstand

Todesfall

Erbschaft

 

August

Allein

Trennung

Tobsuchtsanfall

 

September 2005

Am Ende

Neuanfang

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

 

  

Es ist eisig kalt. Auf der Hotelterrasse drängen sich Herren im schwarzen Anzug, bibbern leicht vor sich hin. Genauso wie die Damen im Pelzmantel. Darunter tragen sie elegante Abendkleidung. Manche haben es sogar gewagt, ohne den wärmenden Überhang nach draußen zu treten. Es ist drei Minuten vor Mitternacht. Sie alle warten auf das Neue Jahr.

 

Sie schauen hinaus in die helle Landschaft des Deutsch-Französischen Gartens. In wenigen Minuten soll hier ein beeindruckendes Feuerwerk das Neue Jahr begrüßen. Versprochen hat man den Hotelgästen eine Super-Illumination mit klassischer Musik. Zu den Klängen von Händels Feuerwerksmusik sollen Knaller und Kracher gen Himmel aufsteigen, farbige Blüten in die Vollmondnacht zaubern. Das helle Licht des Mondes wird von dem frisch gefallenen Schnee reflektiert. So erscheinen Silhouetten von Bäumen und Sträuchern wie eine unwirkliche Kulisse, die sowohl die Finsternis der Nacht wie das Hoffen auf einen neuen Tag widerspiegeln.

 

Etwa 30 elegant gekleidete Paare stehen auf der Terrasse. Dazu einzelne Herrschaften, Singles, die in einer besonderen Atmosphäre mit Gesellschaft das Neue Jahr erleben wollten. Auch vom Hotelpersonal halten sich vereinzelt Kellner und Küchenmädchen im Hintergrund. Sie haben Anorak oder Mantel über ihre schwarz-weiße Dienstkleidung gezogen. Klassische Musik erklingt seit einigen Minuten. Sie hat die Gäste aus dem warmen Restaurant hinaus in die Kühle der Nacht gelockt.  

 

Klar sind die Sterne am dunkelblauen Nachthimmel zu erkennen. Lieselotte Pitz schaut nach oben. „Schön ist die Nacht“, flüstert sie ihrem Mann zu. Er steht neben ihr. Sie hält seine Hand. Andreas Pitz schaut in die Ferne, zum Horizont. Dorthin, wo sich das aus der Stadt aufsteigende Licht am Himmel abzeichnet. Er denkt an das in wenigen Minuten zu Ende gehende Jahr. Er wird melancholisch, sieht die Zeit an sich vorbeistreifen. „Je älter man wird, desto schneller verrauscht die Zeit“, denkt er.

 

Ein Zischen durchbricht die Nacht. Die Menschen schauen auf ihre Uhren. Ein silberner Sternenkranz erleuchtet das Umfeld der Terrasse taghell. Das dunkle Grün der Fichten ist zu erkennen - und wird auch schon wieder nachtgrau, als die hernieder regnenden Feuerwerkskörper ihre Strahlkraft verlieren. Paare umarmen sich, andere lassen die aus dem Restaurant mitgebrachten Sektgläser erklingen. Wieder andere staunen nur über die jetzt dauernd aufsteigenden Feuerwerkskörper.

 

„Prosit Neujahr“ ist ringsum zu hören, „Glückliches Neujahr“ oder auch einfach nur „Ein schönes Neues Jahr“ wünschen sich die Menschen. Andreas Pitz drückt seiner Frau einen Kuss auf den Mund. „Du bist mein Glücksstern“, sagt er danach. „Ich wünsche Dir alles Gute zum Neuen Jahr!“. „Ich Dir auch!“ Andreas stellt sich hinter seine Frau, umarmt sie und hält ihre Hände vor ihrem Körper. Der Pelz wärmt nicht nur sie sondern auch ihn. Der Himmel erstrahlt in vielerlei Farben: Blaue und rote Sterne rieseln zur Erde, dazwischen schrauben sich silberne Säulen gen Himmel. Die Musik greift den Abschussrhythmus der Feuerwerkskörper auf - oder ist es umgekehrt? Auf jeden Fall passt die Musik zu den am Himmel auftauchenden Lichtbildern. Laut und impulsiv bei den Krachern, entspannend zu silbernen und goldenen Schirmen, die ihre funkelnden Taler zur Erde regnen lassen.

 

Immer wieder ist ein vielstimmiges „Aah“ und Ooh“ zu hören. Die Menschen staunen. Inzwischen sind auch aus der benachbarten Spielbank Besucher nach draußen gekommen, stehen frierend im Schnee auf der Terrasse. Andreas schmiegt sich an seine Frau, hat seine Hände in ihre bepelzten Ärmel geschoben. Er schaut seine Frau von der Seite an. Ihr Gesicht ist nicht nur fröhlich, es strahlt vor Glück.

 

„So etwas kriegen nur Franzosen hin“, sagt er. „Feuerwerk und Musik in diesem Einklang zu erleben vergisst man nie mehr.“ Und er erinnert sich an Paris, wo er zu Studentenzeiten als Reiseleiter arbeitete. Das Feuerwerk zum Nationalfeiertag am 14. Juli hat er am Eiffelturm erlebt. Dazu an Johannistag ein gewaltiges Feuerwerk auf Montmartre. Mit klassischer Musik, Trommeln, Trompeten und Posaunen wurde der Eindruck erweckt, als ob die Kirche von Sacre Coeur explodieren wollte.

 

Gemeinsam mit Liesel - so nennt er seine Frau - verfolgt er die aufsteigenden Raketen, schaut zu, wie sie sich am Himmel teilen, um zum Klang der Musik einen beeindruckenden Farbenzauber in die Nacht zu zeichnen. Vereinzelt ziehen sich Zuschauer bereits wieder ins warme Restaurant zurück. Aber Andreas liebt Feuerwerke. Vor allem gute Feuerwerke. Und das hier ist schön und gut. Goldregen rieselt zur Erde. Dazu erklingt - so glaubt er zu erkennen - Musik von Chopin. Aber die Kälte nimmt Besitz von ihm.

 

Er zittert leicht hinter seiner Frau. „Ist Dir kalt?“ fragt sie. Entschlossen schiebt sie seine sie umgreifenden Arme zur Seite, öffnet ihren Mantel und stellt sich mit weit geöffneten Armen hinter ihn. Dann umarmt sie Andreas, so dass der wärmende Mantel beide bedeckt. „Danke“ murmelt er und legt den Kopf zurück - an ihre trotz Nachtkühle warme Wange. Sie drückt ihn noch enger an sich. Und sofort merkt er ihre Körperwärme, die auf ihn überstrahlt.

 

Schon 20 Minuten steigen Raketen und Kracher in den Himmel auf. Andreas wundert sich. So teuer war das Essen nun auch wieder nicht, dass man „alle Ewigkeiten“ davon ein Feuerwerk bestreiten könnte. „Sollen wir ins Restaurant zurückgehen?“ fragt Lieselotte. „Nein“, Andreas will das Feuerwerk bis zu Ende erleben. „Du wirst noch krank“, sagt seine Frau besorgt. Sie spürt, dass er trotz Pelzwärme schon wieder in der Kälte bibbert. Er dreht sich im Mantel um, umfasst ihre Taille und küsst sie - richtig. Er schmiegt sich noch enger an sie. Nach einer leichten Drehung der beiden Körper kann er über ihre Schulter weiter das Feuerwerk bewundern. Sie schaut in die Gegenrichtung und bestaunt Leucht- und Lichteffekte.

 

Die Filmmusik zum „Krieg der Sterne“ läutet das Finale ein. Andreas hat wie die wenigen noch übrig gebliebenen Zuschauer den Eindruck, dass sich Starts von Knallern und das Erscheinen der funkelnden Leuchtkugeln überholen wollen. Ein einziges Geballer schallt durch das Tal, dazu am Himmel die schönsten Lichtbilder. Unwillkürlich stehen Lieselotte und ihr Mann wieder nebeneinander. Mit offenem Mund staunen sie über die Lichteffekte. Sie bemerken die Kälte gar nicht mehr, die sie umgibt. Mit einem - im wahrsten Sinne des Wortes - Knalleffekt und einem geradezu riesigen Sternenregen findet das Silvesterfeuerwerk sein Ende.

 

Sekundenlang ist es still auf der Terrasse - genauso wie in der breiten Talaue der Grünanlage des Deutsch-Französischen Gartens. Die Musik ist verstummt. Für den Feuerwerker und seine Mitarbeiter gibt es nur dürftigen Applaus, denn nur wenige Zuschauer haben sich das ganze Spectacle in der Kälte angesehen. Andreas hakt seine Frau unter und geht vorsichtig mit ihr über die auf der Terrasse liegende Schneeschicht zurück ins Restaurant. Erst jetzt nimmt er wahr, dass sie mit ihren eleganten Tanzschuhen mindestens so gefroren haben muss wie er.

 

 

 

 

 

 

Vorbei geht es am Büfett, wo die Eisdekoration dezent vor sich hinschmilzt. Andreas denkt mit einem wohligen Gefühl an den Abend, mit dem er seiner Frau eine Freude machen wollte. Sie hat es gerne etwas exquisierter, liebt die schöne Umgebung des Hotels, in dem sie schon des öfteren zum Essen waren. „Ich bin ein Ästhet“, sagt sie immer. Er muss mit dem Gedanken daran lächeln.

 

Aber es stimmt: In der heimischen Wohnung sorgt sie dafür, dass es schön aussieht. Sie hatte an der Tür einen Weihnachtskranz angebracht. Sie hatte zu Halloween eine „Gruselparty“ vorbereitet. Im Herbst lagen immer ein paar bunte Kastanienblätter auf dem Tisch, um das sonntägliche Mittagessen zur Jahreszeit stimmig genießen zu können. Selbst das tägliche Frühstück lässt sie zu einem Erlebnis werden: Sei es mit Fruchtsaft oder einem Limoncello als Aperitif, der besonderen Moltebeeren-Marmelade als eine Erinnerung an die Nordkap-Reise letzten Sommer oder mit einem kleinen Schoko-Dessert zum Abschluss. Mit Liesel beginnt jeder Tag aufs Neue schön. Andreas lächelt wieder. Er liebt seine Frau.

 

Sie stehen vor der Garderobe. Er hilft ihr aus dem Mantel. Aus einem Impuls heraus umarmt er sie. „Ich liebe Dich“, sagt er. Andreas drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Sie freut sich. Ihre Augen strahlen. Eng umschlungen gehen sie zurück ins Restaurant. „Sie hat noch immer schmale Hüften“, denkt sich Andreas, dessen Finger in ihrer Seite spielen.

 

Die Musiker, die ihren Platz auf einem improvisierten Podest am anderen Ende des Raumes haben, spielen einen Walzer. „Wollen wir tanzen?“, fragt Andreas seine Frau. Eine eigentlich überflüssige Frage, denn sie tanzt gern. Zügig durchqueren beide das leicht abgedunkelte Restaurant. Auf der Bühne funkeln Lichterketten mit Sternenimagination. Auf den Tischen, an denen sie auf dem Weg zu der kleinen Tanzfläche vorbeieilen, stehen silberne Leuchter mit heruntergebrannten weißen Kerzen. Andreas legt seine Hand auf das rechte Schulterblatt seiner Frau, greift ihre linke Hand. Und schon drehen sie sich im Takt der Musik.

 

Sie sind ein schönes Paar: Anthrazitfarben schimmert sein Anzug mit einem leichten Glanz, dazu trägt Andreas ein weißes Hemd unterschiedlich dichter Streifen in Weiß. So scheint seine satte braune Haut immer mal wieder durch. Schönes schwarzes Haar mit silbergrauen Fäden macht ihn zu einem eleganten Mann. Nicht minder elegant wirkt Lieselotte: Rötlich-blond krönt ihr halblanges Haar ein eher schlicht geschnittenes Kleid. Große Blütenmuster in Rot setzen farbliche Akzente. Dreiviertel lang zaubert das Kleid in Verbindung mit dazu passenden Pumps mit kleinen Absätzen das Bild einer großen Frau - obwohl Lieselotte mit 1,69 Meter etwas kleiner ist als ihr Mann. Eine Kette aus echten Südseeperlen schmückt ein dezent ausgeschnittenes Decolletée. Ohrclips mit glänzenden Perlen lenken die Blicke auf das sparsam geschminkte Gesicht: etwas Rouge, zum Blütenrot des Kleides passender Lippenstift, schön nachgezogene Augen.

 

Beide tragen sie randlose klare Brillen mit Goldbügel. Das sieht nicht nur schön aus, sondern - so glaubt zumindest Andreas - auch intelligent. „Vorbei“, stellt Andreas etwas außer Atem fest, als die Musik aufhört. Die beiden bleiben auf der Tanzfläche stehen, wollen hören, was als Nächstes gespielt wird. Sie hält noch immer seine Hand. Rock’n Roll wird angesagt. Andreas spürt ihre Erregung, seine Frau tanzt gerne voller Ekstase. Und so fliegen alsbald ihre Beine. Hier zeigt sich, dass sich der Tanzkurs letzten Herbst gelohnt hat. Andreas führt seine Frau um sich herum, lässt sie in seinen Arm einrollen, sie um sich selber drehen. Während er leise zur Musik mitsummt - damit kann er sich angeblich besser auf den Takt konzentrieren -, fliegt Lieselotte wie spielerisch um ihn herum. Andreas schaut sich um. Er sieht einige wenige Paare besser tanzen, andere schieben eine eher „ruhige Kugel“.

 

Er ist stolz auf seine Frau. „Mit ihr kann man so viel anfangen“, denkt er sich - wie in Trance dem Takt des Tanzens folgend. Führt er? Oder lenkt sie ihn? Er lächelt. Sie lächelt zurück. „Schön!“, sagt er nur - und schon tanzt Liesel wieder neben ihm. Sie ist eine sportliche Frau. Als Andreas meinte, etwas für seine Fitness tun zu müssen und zu Laufen anfing, hat sie ihn begleitet. Mond- oder Sonnenfinsternis sind für sie Gründe, stundenlang aufs Land zu fahren und in den Himmel zu gucken. Kaum ein Museum ist es nicht wert, es sich nicht anzusehen: angefangen vom Schulmuseum in Ottweiler über das Fastnachtsmuseum in St. Ingbert bis hin zum Historischen Museum in Saarbrücken. Dort hat Andreas in der „Schulabteilung“ seine Kindheit gesehen: auf einer Holzbank lag „Mon Livre“, das Buch, mit dem er zu Volksschulzeiten Französisch lernte.

 

Im Urlaub geht sie tauchen. Er erholt sich in der Zeit lesend am Strand. Wenn sie montags mit Arbeitskolleginnen ins Bad nach Merzig fährt, sagt Andreas, dass ihm die Luft in der Sauna zu heiß und zu trocken sei. Dafür geht er dann mit, wenn sie ins luxemburgische Mondorf les Bains fährt, um sich mit ihr im warmen Thermalwasser zu erholen. Ohne ihre Initiativen wäre sein Leben viel ruhiger - und erlebnisärmer. Sie hat ihm das Römerheiligtum in Ihn gezeigt, mit ihm die Kupfergrube in Düppenweiler besichtigt. Und wegen ihr war Andreas im Losheimer Stausee baden - obwohl ihm das Wasser auch zur Sommerzeit „grundsätzlich zu kalt“ war.

 

Jetzt ist ihm heiß, Schweißperlen stehen Andreas auf der Stirn. Die Musik hat aufgehört. Wie Lieselotte ist Andreas aufgekratzt, aber gleichzeitig auch müde. Mitternacht ist „seine Zeit“, um zu Bett zu gehen. „Du bist müde“, sagt seine Frau, ebenso feststellend wie fragend. Natürlich gibt er das nicht zu: „Nein, nein, ich könnte geradewegs die Nacht durchmachen!“ Er wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß ab. Die Kapelle macht Pause. Wie die anderen Tänzer gehen Lieselotte und Andreas zu ihrem Tisch. Die Bedienung scheint neue Kerzen auf die Leuchter gesetzt zu haben. Als sich Lieselotte hinsetzt, schiebt ihr Andreas den Stuhl unter. Gleichzeitig erschöpft wie zufrieden schauen sie sich um. Zwei Plätze an dem für vier Paare vorgesehenen Tisch sind bereits frei.

 

„Die sind bereits gegangen“, sagt Andreas’ Nachbar auf einen fragenden Blick. Neben Andreas sitzt Eugen Suchomski.   Suchomski ist Direktor bei den Stadtwerken, hat Andreas im Laufe des Abends erfahren. Suchomski redet gern und viel und so kennt Andreas fast das gesamte Leben des wahrscheinlich 50-Jährigen. Er wollte eigentlich lieber zu Hause in aller Ruhe das Neue Jahr begrüßen - „eigentlich lieber gar nicht, am liebsten wäre ich wie jeden Abend zu Bett gegangen“ -, doch Ingrid, „meine Gattin“, habe ihn „gezwungen“ mal „richtig“ auszugehen. Für Ingrid Suchomski war es ein „erfrischender Abend“, denn Lieselotte Pitz hat sich zu Büfett und Tanz „über Gott und die Welt“ mit der 49-Jährigen unterhalten.

 

Genauso wie mit dem anderen noch verbliebenen Paar. Manches Mal beneidet Andreas seine Frau um ihre Fähigkeit, Small Talk zu führen. Nikolai und Rosa Zöller sind Zahnärzte, haben erst Anfang des inzwischen letzten Jahres eine Gemeinschaftspraxis eröffnet. Das junge Paar wollte sich nach einem erfolgreichen und harten Jahr mit dieser Silvesterfeier etwas Gutes tun. „Wir gehen denn mal auch“, sagt Suchomski. Er steht auf, verabschiedet sich wie seine Frau von der Runde. Dann walzt der etwas unförmige Mann Richtung Garderobe. Seine Frau folgt ihm.

 

„Sie tanzen gut“, lobt Rosa Zöller das Ehepaar Pitz. Andreas freut sich. „Wir könnten noch besser sein, wenn Andreas öfter mit mir zum Tanzen ginge“, sagt Lieselotte über den Tisch. Verstohlen schaut Andreas auf seine aus dem Ärmel lugende Uhr. Es ist kurz nach ein Uhr. Er greift zur Rosé-Flasche. Sie enthält noch einen kleinen Rest Wein. „Trinkst Du noch etwas?“, fragt er seine Frau. Sie lehnt ab, trinkt lieber von dem auf dem Tisch stehenden Mineralwasser. „Trink Du - und dann fahren wir nach Hause!“ Um Andreas Mundwinkel zuckt ein Lächeln. Er erinnert sich, seine Frau noch überraschen zu wollen. Jetzt ist die Zeit dafür gekommen.

 

Er trinkt aus. Die beiden verabschieden sich von ihren Tischgästen, wünschen ihnen ein weiterhin gutes Jahr. Andreas umgreift die Hüfte seiner Frau, zieht sie an sich. „Das war ein schöner Abend“, flüstert sie ihm entgegen. Er drückt ihr einen Kuss auf den Mund. „Komm!“ Hand in Hand gehen die beiden zur Garderobe. Andreas hilft seiner Frau in den Mantel, den eigenen Mantel hängt er nur um. Sie gehen Richtung Hotelhalle, wo noch ein Weihnachtsbaum warmes Kerzenlicht ausstrahlt.

 

Während Lieselotte Richtung Ausgang strebt, zieht Andreas Richtung Rezeption. Die Hand seiner Frau hält er fest, so dass sie mit ihm gehen muss. „Hast Du etwas vergessen?“ fragt sie. „Könnte man so sehen“, meint er nur vielsagend. Und zur Rezeptionistin gewand: „Meine Schlüssel bitte, Nummer 166!“ „Was soll das? Wohnen wir etwa hier?“ Lieselotte ist überrascht. Sie glaubt nicht, was sie sieht. Ihr Mann strebt mit dem Schlüssel zum Aufzug. „Ich habe doch gar nichts dabei“, sagt sie. „Macht doch nichts, Liesel“, sagt Andreas verschmitzt, „ohne alles bist Du noch schöner!“. Die beiden spiegeln sich im goldfarbenen Metall und im Rahmen der Aufzugtür. Sie sehen sich an - und strahlen. Andreas legt den Arm auf die Schultern seiner Frau. Die Tür öffnet sich. Auch im Innern des Aufzugs ist alles verspiegelt. Andreas küsst seine Frau. Dann drückt er den Etagenknopf. „In diesem Jahr geht es aufwärts!“

 

 

Blauer Himmel, gleißende Sonnenstrahlen auf einer dichten Schneedecke - all das wäre zu sehen, wenn sich Andreas und Lieselotte Pitz zum Fenster ihres Zimmers bewegen würden. Aber sie liegen noch immer in ihrem kuschelig warmen Bett. Sein Arm reicht über ihren Hals zurück zu seinem Körper. Es scheint, als ob er sie erdrücken wollte. Lieselotte wird wach, befreit sich aus diesem Würgegriff. Daraufhin öffnet auch Andreas verschlafen seine Augen. „Hallo Liesel, schön geschlafen?“, murmelt er aus seinem Kissen.

 

„Es war eine wunderschöne Nacht“, erwidert Lieselotte leise. „Das Essen, unsere Tänze, das Feuerwerk und dann dieses Zimmer!“ Sie scheint in Gedanken noch einmal alles zu erleben. „Wie bist Du eigentlich dazu gekommen, hier zu übernachten?“ Erst sagt Andreas nichts, gewöhnt verschlafen blinzelnd seine Augen an die Helligkeit im Hotelzimmer. Er rollt sich auf den Rücken, schaut zur Decke. „Du wolltest doch immer ausgehen, ‚richtig’ ausgehen“, sagt er dann. „Und was ist besser als Ferien vom Alltag, die das Zuhause wirklich hinter einem lassen? Und im Hotel gab es ein Sonderangebot: Silvesteressen mit Feuerwerk und Übernachtung - alles inclusive!“ „Und mich dazu!“, meint Lieselotte mit spitzer Stimme. „Ja, Liesel!“, entgegnet er im satten Tonfall eines zufriedenen Ehemannes. Die beiden rollen aufeinander zu, sie liegen einander gegenüber. Ihre verliebten Blicke kreuzen sich. „Und jetzt noch ein schönes Frühstück mit allem Drum und Dran“, stellt Andreas verträumt fest, als er seine Frau umarmt. Er rollt über sie, richtet sich auf. Sein Blick fällt auf seine Armbanduhr, die ihn vom Nachttisch aus anzuschauen scheint.

 

„Was, schon 20 vor elf?“ entfährt es ihm. Er sieht gar nicht mehr ihre mädchenhaften Brüste, springt aus dem Bett. „Wir müssen runter zum Frühstück! Es gibt nur bis elf Uhr etwas zu essen!“ Wie eine kalte Dusche überfährt es Lieselotte - und das nicht nur, weil er die Bettdecke mit sich gerissen hat. Aber so kennt sie ihren Mann. Er ist ein Hektiker. Aus der Dusche hört sie das Wasser rauschen. „Komm Liesel!“, ruft er. Noch liegt sie auf dem Bett, schaut aus dem Fenster, wo graue Wolken aufziehen. Als Andreas weiter nach ihr ruft, steht sie auf, folgt ihm in die Dusche.

 

Das Frühstücksbüfett war schon etwas „zerrupft“, als die beiden kurz vor elf Uhr ins Restaurant kommen. Gleich den ersten Kellner fragt Andreas, ob sie noch essen können. „Natürlich, gerne“, bekommt er zu hören. Lieselotte sucht einen der schon wieder sauber hergerichteten Tische. Sie setzt sich hin. Eine Bedienung kommt vorbei: „Möchten Sie Kaffee?“ „Ja, gerne!“ „Ich möchte lieber Tee - Hagebuttentee“, ergänzt Andreas auf den fragenden Blick der Kellnerin. Er hat sich nicht einmal hingesetzt. „Komm, wir gehen essen“, sagt er zu Lieselotte gewandt.

 

Sie steht wieder auf. Sie laufen zur Büfett-Theke: Fruchtsäfte, Müsli, Körner, Brot und Brötchen, verschiedene Marmeladensorten, Käsescheiben, Wurstplatten, Rührei und gekochte Eier. „Wenn ich das essen müsste“, sagt Andreas, dabei zeigt er auf Wurst und Rührei, „würde mir schlecht.“ Er schaut sich weiter um: Obstsalat, Bananen, Äpfel, Orangen. Dann entdeckt er die Piccolos, kleine Sektflaschen. „Na Liesel, trinken wir einen?“ fragt er Lieselotte. Als sie nickt, nimmt er zwei Flaschen, holt sich noch einen Fruchtsaft und geht zum Tisch zurück. Lieselotte kommt mit einer Schale Müsli. „Auf ein schönes Neues Jahr!“ Andreas gießt den Sekt in die bereit stehenden Gläser. „Andreas, schau mir in die Augen“, fordert Lieselotte ihren Mann auf. „Prost!“ Die Gläser klingen hell.

 

„Weißt Du noch“, erinnert Lieselotte, „als wir in Warnemünde waren und fast das Abendessen verschlafen hätten?“ „Jaaa“, sagt Andreas gedehnt, „da hatten wir auch einen zu viel getrunken!“ „Draußen war es kalt und in der Fischerkate haben wir einen Grog nach dem anderen in uns reingeschüttet.“ Lieselotte lächelt in der Erinnerung an diesen Kurzurlaub an die herbstliche Ostseeküste. „Und dann haben wir uns im Hotel hingelegt und sind auch erst fünf Minuten vor dem großen Menü wach geworden“, ergänzt Andreas. „Das hat hervorragend geschmeckt. Und ich habe alles gegessen!“ Das ist für Andreas nicht alltäglich. Er mag nur wenig Fisch, isst kaum Fleisch und Käse und Eier sind auch nicht „seine Sache“. Jetzt zum Frühstück beschränkt er sich auf Marmelade-Brötchen und den mit Honig getränkten Puffreis. „Das erinnert mich an meine Kindheit“, sagt er. „Damals haben wir das in rauen Mengen gegessen.“ Lieselotte genießt ihre Brötchen mit Wurst und Käse, versucht ihren Mann davon zu überzeugen, dass er zum Abschluss auch noch einen Obstsalat essen sollte.

 

Schließlich ist es Mittag. Die beiden merken, dass sie stören. Das Hotelpersonal hat längst begonnen, das Büfett abzubauen. Außer Andreas und Lieselotte gibt es keine weiteren Gäste im Restaurant. Durch die großen Fenster zum Park sehen sie, dass es wieder schneit. Große, dichte Schneeflocken fallen zur Erde. Die draußen sichtbare Ruhe scheint trotz Geschirrgeklapper ins Restaurant überschwappen zu wollen. Das Schneegestöber nimmt zu. Man kann schon gar nicht mehr über die Talaue hinweg sehen.

 

„Gehen wir?“ Auffordernd schaut Andreas auf Lieselotte, die gerade ihren Löffel zur Seite gelegt hat. Sie nickt. Vor dem Aufzug legt Andreas seine Hand um seine Frau. Sie schauen in die goldfarbene Spiegelung. „Verwegen siehst Du aus“, meint sie, auf seinen Bartansatz anspielend. Er verzieht seinen Mund zu einem breiten Lächeln. „Andreas, ein Dreitagebart würde Dir stehen!“, schickt Lieselotte hinterher. Andreas sagt nichts. Im Aufzug betrachten sie weiterhin ihr Spiegelbilder. „Sie sieht auch ohne Schminke ‚einwandfrei’ aus“, denkt sich Andreas. Im Zimmer holen sie ihre Mäntel, dann gehen sie nach unten - zur Tiefgarage.

 

Andreas startet den Mercedes-Geländewagen. Das Rolltor der Garage öffnet sich und hinaus geht es. Dichtes Schneetreiben behindert die Sicht. Andreas fährt langsam und vorsichtig. „Das Beste an diesem Auto ist die Sitzheizung. Das muss ich immer wieder sagen“, meint Lieselotte, als sie nach Hause fahren. Der Schnee schluckt alle Geräusche. Herrlich sieht der Wald aus: Schwarze Bäume heben sich im Schneegestöber gegen das Weiß der Umgebung ab.

 

Endlich sind sie zu Hause. Das elektrische Garagentor fährt nach oben. Lieselottes Peugeot-Cabrio steht trocken in der Doppelgarage. Durch den Verbindungsgang geht es direkt ins Haus. „Mama, Papa, seid ihr es?“ klingt eine Stimme von oben. „Du bist schon da?“ ruft Lieselotte. „Wie war es bei Su?“ Mit lautem Gepolter kommt Isabella die Treppe herunter gesprungen.

 

Die Zwölfjährige ist das Nesthäkchen der Familie. Die „Großen“, das sind der sechsundzwanzigjährige Friedbert und die zweiundzwanzigjährige Helene, wohnen schon nicht mehr zu Hause. Helene studiert in Paris Literatur. Sie möchte Journalistin werden. Friedbert studiert „in Amerika“ ‚Economics’. „Wo der Wirtschaftsstudent wirklich studiert“, so erzählt Andreas immer Neugierigen aus Verwandtschaft, Bekanntschaft und Freundschaft, „ist egal. Das kennt eh’ keiner!“ An der Uni in Saarbrücken hatte Friedbert vor zwei Jahren eine amerikanische Austauschstudentin kennen gelernt. Sie kam aus Kalifornien und deswegen wollte er auch dorthin, als ihr Jahr in Deutschland vorüber war. „Jetzt sitzt er in Eureka, im nördlichen Kalifornien - noch weit hinter San Francisco“, erklärt Andreas nicht ganz ohne Schadenfreude. Erst war er damals dagegen, dass sein Sohn in Kalifornien „High life“ mache. Als er dann erfuhr, dass Eureka „amerikanische Provinz“ sei, stimmte er schließlich dem Auslandsstudium zu.

 

„Wir waren am Schloss“, erzählt Isabella. „Su, ihr Bruder, ihre Mutter und ihr Vater. Da war ’was los! Mindestens tausend Leute! Und die haben geschossen und geknallt! Und von überall in der Stadt haben wir Feuerwerke gesehen. Da geh’ ich nächstes Jahr wieder hin!“ Lieselotte umarmt ihre Tochter: „Erst einmal auch Dir ein schönes Neues Jahr!“ „Prost Neujahr, Kleines“, sagt dann auch Andreas. „Wann wart ihr denn zu Hause?“ „Gegen eins“, kommt zögerlich-fragend Isabellas Antwort. Sie durfte die Neujahrsnacht bei ihrer Freundin Su verbringen. Die beiden besuchen gemeinsam das Deutsch-Französische Gymnasium in Saarbrücken. Su ist die Tochter von Andreas’ Kegelbruder Horst Stolz, einem Lehrer.

 

Horst schwärmt immer von der Neujahrsnacht am Saarbrücker Schloss. Von der Schlossterrasse, einer Grünanlage hoch über dem Saartal, hat man eine großartige Aussicht auf die Stadtsilhouette und die überall aufsteigenden Feuerwerkskörper. Für Horst Stolz ist Neujahr ein „einigermaßen festliches Essen“ in einem Restaurant am St. Johanner Markt. Dann geht er zum Schloss, trinkt dort mit seiner Familie ein Glas Sekt, schaut sich das Spektakel und die fröhlichen Menschen an. Danach geht er gut gestimmt nach Hause. Als die Kinder dieses Mal zusammen Neujahr feiern wollten und auch Horst nichts dagegen einzuwenden hatte, nutzte Andreas die Chance, einmal allein mit seiner Frau Silvester zu feiern.

 

Für Helene war es die erste Silvesternacht in der französischen Hauptstadt. Die feierte sie lieber mit ihren neuen Kommilitonen als nach Haus zu fahren; und nach Eureka zu fliegen hatte Andreas keine Lust.

 

 

 

 

 

 

„Verdammt, schon wieder Überstunden!“ Andreas Pitz stürmt in sein Büro, an der Sekretärin vorbei. Er geht zum Telefon, ruft in der Werkstatt an. „Hallo Armin, heute müssen wir wieder länger bleiben! Der Polen-Auftrag soll jetzt doch noch diese Woche raus. Ich komm’ nachher runter. Dann starten wir die Testreihen.“ Andreas wählt eine neue Nummer. Durch die offen stehende Bürotür brüllt er nach draußen: „Sie bleiben auch da! Wir müssen später noch den Bericht schreiben.“ Andreas macht eine kleine Pause. „Das geht doch bei Ihnen?“, klingt es schon etwas versöhnlicher. Der Elektroingenieur, der bei der auf Bergbaumaschinen spezialisierten Maschinenfabrik Brück als Abteilungsleiter auch für die Qualitätskontrolle zuständig ist, sieht seine Sekretärin vor seinem geistigen Auge Grimassen schneiden. „Hans-Georg“, Pitz spricht wieder ins Telefon, „es tut mir leid. Wir müssen wieder länger arbeiten. Der neue Kohlenschaufler für die Polen muss diese Woche noch fertig werden und heute Abend machen wir den Schaltungstest. In einer halbe Stunde bin ich in der Halle.“ Es scheint keinen Widerspruch zu geben. Pitz legt auf. Schnellen Schrittes geht er zur Bürotür, schaut in sein Sekretariat, wo Sigrid Konz am Schreibtisch Papiere sortiert. „Sie können doch bleiben?“, fragend bittend klingt Andreas’ Stimme.

 

„Wenn es denn wieder sein muss.“ Sigrid Konz klingt nicht gerade begeistert. „Diesen Monat bin ich schon drei Mal länger geblieben. Wann soll ich denn die Überstunden mit denen vom Vormonat abfeiern? Hier läuft doch alles auf der ‚Reservespur’!“ Pitz weiß, dass er seinen Mitarbeitern viel abverlangt. Aber die Aufträge sind eng kalkuliert. Spezielle Einzelanfertigungen von Maschinen für die Bergwerke in Polen und in der Ukraine müssen das Werk auf jeden Fall ohne Mängel verlassen. Nachbesserungen sind teuer. Erst vor neun Monaten hatte die Firma einen Walzenschrämlader in die Ukraine geliefert. Als die Maschine mit der dortigen Stromspannung Probleme hatte, musste Andreas Pitz mit zwei Kollegen nach Kriwoj Rog fahren. Über eine Woche waren die Männer vor Ort, um die Maschine so umzubauen, dass es kaum noch Ausfälle gab. Für die Firma ging mit dieser Aktion ein Teil des kalkulierten Gewinnes verloren.

 

Im letzten Herbst hatte der Chef dann einen Bergbauzulieferer in Polen gekauft. Mit diesen billigeren Arbeitskräften wollte er zumindest Teile der für die schlesischen Bergwerke bestimmten Produktion vor Ort fertigen. Bislang hat sich das als richtige Entscheidung erwiesen. Die Polen arbeiten gut. Nicht nur, dass sie nach den Plänen aus der Zentrale Bauteile passgenau für die im Saarland entwickelten Maschinen fertigen. Sie haben offensichtlich auch einen „besseren Draht“ zu den Gruben im Donez-Becken. So kam ein neuer Auftrag aus der Ukraine über Zabrze in die Entwicklungsabteilung nach Völklingen. „Unsere Investition in Polen sichert Arbeitsplätze auch bei uns“ ist seitdem einer der Lieblingssätze von Josef Brück. Vor allem brauchen jetzt keine Monteure mehr aus dem Saarland nach Polen zu fliegen, um Mängel zu beseitigen oder bei der Inbetriebnahme der doch gewaltigen und komplizierten Maschinen zu helfen. Das besorgen die polnischen Kollegen kostengünstig und schnell.

 

„Ich geh’ jetzt nach unten. Wenn alles klappt, bin ich in einer Stunde wieder da“, sagt Andreas Pitz zu seiner Sekretärin. „Dann schreiben wir den Bericht und morgen kommen Sie halt etwas später.“ „Jawohl, Herr Oberingenieur!“ Wenn ihn Sigrid Konz so anspricht, ist sie wirklich sauer. „Es tut mir leid“, schiebt Andreas Pitz hinterher, „aber der Chef will morgen Ergebnisse sehen.“ Er geht ins Labor, um elektrische Messtests mit der neuen Maschine für das polnische Bergwerk zu machen. „Fangen wir an“, sagt er zu seinen Mitarbeitern. Armin Adler bedient die Maschine, Hans-Georg Kretschmann sitzt am Computer und Andreas Pitz ruft die verschiedenen Programmsimulationen auf. Es scheint alles in Ordnung zu sein. Sie kommen zügig voran.

 

„Ich hab’ gehört, dass wir noch mehr Arbeit nach Polen verlagern“, sucht auf einmal Hans-Georg Kretschmann das Gespräch mit Pitz. „Weiß ich nicht“, sagt Andreas, seine Augen weiterhin auf die Messreihen im Computer gerichtet. „Slawomir war vor zwei Wochen beim Chef. Da ging es wohl um neue Aufträge. Aber dass wir dafür ’was abgeben?“ Slawomir Barteczko ist der Geschäftsführer der Partnergesellschaft in Zabrze. Er kommt jedes Quartal nach Völklingen, „um Bericht zu erstatten“. Mit dem Chef Josef Brück kommt der frühere Allein-Eigentümer des polnischen Maschinenbauers gut hin. Er hat sich im Zuge der EU-Erweiterung einen deutschen Partner gesucht, um Know-How und Aufträge nach Polen zu holen. Bislang wurden schon zwei polnische Mitarbeiter in Völklingen auf westliche Standards geschult. Im Austausch haben die Polen einem leitenden Techniker aus Völklingen in Zabrze ihre Arbeitsweise vermittelt.

 

Durch den Lärm der Maschine brüllt Armin Adler, dass er von einer Sekretärin gehört habe, dass das polnische Werk modernisiert wird. Adler ist Betriebsratsmitglied, kommt mit vielen Mitarbeitern ins Gespräch. Von daher kennt er alle Gerüchte. „Dann würde auch eine Auftragsverlagerung Sinn machen“, meint er skeptisch. „Was wollen wir denn verlagern?“, fragt Pitz zurück. „Da kommt doch nur die Produktion in Frage.“ „Genau das“, stellt Adler fest. „Und das bedeutet Entlassungen!“ „Aber unsere Auftragsbücher sind doch voll! Wir machen nicht umsonst unsere Überstunden. Es könnte nicht besser laufen. Und bisher hat noch niemand etwas von ‚Verlagerung’ gesagt“, stellt Pitz klar. „Gesagt noch nicht“, meint Kretschmann, „aber unsere polnischen Kollegen haben angedeutet, dass bei Ihnen fleißig gebaut wird. Nach dem EU-Beitritt sind sie ‚Inland’ und bei ihrer Kostenstruktur um einiges günstiger als wir.“ „Brück ist Unternehmer“, hier spricht der Gewerkschaftler aus Adler, „und Unternehmer unternehmen ’was. Am liebsten erhöhen sie ihre Gewinne. Und dazu sparen sie. Am Arbeitnehmer!“

 

Für Andreas Pitz sind die Ängste seiner Kollegen neu. Er kann - und will - nicht glauben, dass Brück Teile seines Unternehmens nach Osten verlagert. „Wir sind gut. Und wir können etwas“, sagt er beruhigend zu seinen Kollegen. „Es sind schon einige Firmen in die Tschechei gegangen.“ Er macht eine kleine Pause. „Und sie sind wieder zurück gekommen, weil die Qualität nicht mehr gestimmt hat.“ Über 300 Mitarbeiter beschäftigt Brück in Völklingen. Halb so groß ist die Schwesterfirma in Polen. „Wenn uns die Polen übernehmen wollen, müssen sie noch ganz schön wachsen“, meint Pitz. „Deswegen ist ja auch der Barteczko so oft hier“, wirft Adler ein. Pitz kommt ins Grübeln. Irgendwie stimmt das schon. Der polnische Geschäftsführer ist zwar immer mal wieder im Saarland gewesen. Aber bei genauem Nachdenken ist er seit Jahresanfang ein bisschen zu oft in Völklingen. Und auch sein Chef war - wenn Pitz Gesprächstermine wollte - „gerade mal in Polen“.

 

„Fertig!“, Kretschmann betätigt die Druckertaste. Pitz holt drei Seiten Messergebnisse von der Auswurfplatte, wirft einen prüfenden Blick auf die Papiere und lobt seine Mitarbeiter: „Prima Jungs, so muss das laufen. Dann bauen auch wir die Maschinen und nicht die Polen!“ Guter Dinge geht Andreas Pitz nach oben in sein Büro. „Alles bestens, Frau Konz“, ruft er gut gelaunt seiner Sekretärin zu. „Hier sind die Ergebnisse! Bringen Sie sie bitte für den Chef ‚in Form’.“ Er geht in sein Büro. Vor seinem Schreibtisch dreht er um. Andreas geht noch einmal ins Sekretariat: „Ach, was ich Sie noch fragen wollte: Haben Sie davon gehört, dass von unserer Produktion etwas nach Polen gehen soll?“ „Nein“, entgegnet sie, „das ist mir neu.“

 

Als Sigrid Konz am nächsten Tag in der Kantine sitzt, erzählt sie einer Kollegin, dass ihr Chef davon gesprochen habe, dass Teile der Produktion nach Polen gingen …

 

 

Der stumpfe Kirchturm des Straßburger Münsters ist am Horizont zu sehen. Die Autostraße verlässt die Vogesen-Höhen. „Das war doch wieder eine gute Idee, über Fastnacht wegzufahren.“ Liselotte Pitz schaut ihren Mann von der Seite an. Sie erwartet erneut zustimmendes Einverständnis für ihre Entscheidung, für ein paar Tage gemeinsam mit der Tochter ein Wellness-Hotel im Schwarzwald zu besuchen. Die zwölfjährige Isabella war zwar zunächst nicht sonderlich davon begeistert, „zusammen mit den ‚Alten’“ ein „Schönheitshotel“ zu besuchen. „Das brauche ich doch gar nicht. Ich bin doch schön!“, sagte sie kess, als Lieselotte vor einer Woche die Familie mit ihrer Idee überraschte. Auch Andreas Pitz verspürte zunächst wenig Lust, „als Mann in ein ‚Weiberhotel’“ zu fahren.

 

Aber Isabella wurde schließlich mit einem dem Hotel benachbarten Reiterhof überzeugt. Dort könnte sie während des Aufenthaltes Reitunterricht nehmen. Für Andreas gab es schließlich gar keine Alternative: Sein Chef hatte im Gegensatz zu früheren Jahren zu Fastnacht eine Urlaubssperre verhängt. Lediglich Rosenmontag sollte für die Mitarbeiter frei sein. Faschingsdienstag müssten wieder „alle Mann arbeiten“. Die Auftragslage sei so gut, war die Begründung von Josef Brück, dass auf keinen Mitarbeiter zu verzichten sei. Nur wenn alle arbeiteten, könnten die bestellten Maschinen vereinbarungsgemäß ausgeliefert werden. Andreas Pitz war deswegen verärgert. Normalerweise machte er zu Fastnacht mit der Familie eine Woche Ski-Urlaub. Jetzt hätte er zu Hause bleiben müssen. Und dann kam auch noch seine Frau mit der Idee eines Wellness-Urlaubs. „Das kann Dir gar nicht schaden, Andreas. Bei Deinen dauernden Überstunden machst Du Dich noch kaputt!“, so hatte sie ihn praktisch „gezwungen“, auf ihren Vorschlag einzugehen.

 

Andreas folgt der Beschilderung „Place Kléber“. Er stellt den Wagen in der Tiefgarage nahe dem Straßburger Münster ab. „Mittagszeit, Essenszeit“, sagt er zu Frau und Tochter gewandt. „Liesel, wo gehen wir hin?“ „Nach ‚La Petite France’, in die Altstadt“, entscheidet Lieselotte und sieht die Enttäuschung in Isabellas Augen. „Ich wollte lieber zu MacDo“, sagt die Kleine mit Trotz in der Stimme. „Erst gesagt, erst gemacht“, ungerührt besteht Lieselotte darauf, „ein typisches Restaurant“ zu besuchen. „Im Elsass isst man Sauerkraut!“ Andreas mag Sauerkraut. Deswegen hat er nichts gegen die Entscheidung seiner Frau einzuwenden. Zielsicher führt Lieselotte Pitz die Familie zur Ill, um in einem der in einem Fachwerkhaus untergebrachten Restaurants mit Blick auf die vorbei fahrenden Ausflugsschiffe zu speisen. Mit einem Eis-Crêpe als Nachtisch ist auch Isabella wieder mit der Restaurant-Auswahl versöhnt.

 

Auf dem Rückweg zum Auto schauen die Drei noch in die Kathedrale. Lieselotte erklärt ihrer Tochter die astronomische Uhr. Andreas zündet vor der Heiligenfigur von St. Antoine eine Kerze an. „Für unser Glück“, sagt er, „damit alles so bleibt, wie es ist.“

 

Als sie den Rhein überqueren, beginnt es zu schneien. Auf den Schwarzwaldstraßen hoch nach Freudenstadt liegt bereits eine gute Schneeschicht. Andreas fährt vorsichtig. Für den Mercedes-Geländewagen sind weder Wetter noch Straße ein Problem. Sie kommen gut voran. Trotzdem beginnt bereits die Dämmerung, als die Familie ihre Zimmer im Hotel Engel bezieht. Während Lieselotte das Hotel erkundet, begleitet Andreas seine Tochter zum benachbarten Reiterhof. Isabella wollte schon einmal „ihr“ Pferd sehen. Die Reitlehrerin, die sie im Stall treffen, weiß schon, dass Isabella anderthalb Tage zu Besuch ist. Sie bringt das Mädchen zu „Bonny“, einem „braven Haflinger“. Das Pferd gefällt Isabella. Willig lässt sich das Pferd von der Zwölfjährigen streicheln.

 

Im Ambiente eines griechischen Tempels liegen Lieselotte und Andreas im weißen Frotteebademantel auf dem einer Liege nachempfundenen warmen Stein von „Wolke 7“. „Wolke 7“ ist das

Wellness-Paradies im Hotel Engel. Sphärische Musik klingt dezent aus den Lautsprechern über den riesigen Fenstern, die aus der wohlig-warmen Umgebung eines Badehauses einen weiten Blick in die verschneite Schwarzwaldlandschaft erlauben. Seit dem späten Morgen genießen die beiden ein „Beauty-Programm“. Noch gestern Abend hatte Lieselotte für sich und ihren Mann Massagen bestellt und Sauna und Solarium reserviert. Lieselotte genießt das Verwöhnen etwas mehr, ihr Mann etwas weniger.

 

Zur Einstimmung ging es gleich nach dem Frühstück in das wohltemperierte Wasser eines Whirlpools. In Erinnerung an einen Urlaub in Portugal fand Andreas das gemeinsame Bad mit seiner Frau im „Blubberwasser“ erfrischend. Etwas genervt fühlte er sich während der Behandlung beim Masseur. Der fordert Andreas immer wieder auf, sich doch zu entspannen. „Ich habe keine Ruhe für solche Dinge“, sagte Andreas zu seiner Frau. Aber dennoch folgte er Lieselotte danach brav ins Solarium. Andreas sah aber keinen Sinn darin, als „eher dunkler Typ“ auch noch künstliche Sonne zu ertragen. So war er froh, als es in die Wärmegrotte ging. Von exotischen Düften umnebelt ließen sich die Farblichteffekte mit Lieselotte genießen. Auch die Regenwaldmassage entspannte Andreas: Dicke, warme Wassertropfen perlten von seinem Körper, als er mit Lieselotte den grün dekorierten Rieselgang zu Papageien-Geschrei durchquerte. Von der Ayurveda-Gesichts-Massage hielt Andreas allerdings ebenso wenig wie vom Kaltwasserbecken  nach der Sauna. „Liesel, ich bin ein Warm-Duscher“, räumte er lächelnd gegenüber seiner Frau ein. Natürlich weiß sie, dass Andreas kein Sauna-Gänger ist. Sie fand es daher sehr entgegenkommend, dass er ihr die Freude gemacht hatte, sie in die Schönheitsfarm zu begleiten.

 

Entspannt liegen die beiden im offenen Bademantel auf dem beheizten Mosaik. „Schön ist es hier“, haucht Lieselotte. „Wir sollten solche Kurzreisen öfter machen.“ Andreas schaut nach draußen. Das gleißende Sonnenlicht wird vom frisch gefallenen Schnee der vergangenen Nacht reflektiert. Der blaue Himmel lässt aus der Wärme des Badehauses vergessen, dass es draußen eisig kalt sein muss. Morgen früh wollen sie noch auf die Loipe gehen. Dann fahren sie wieder nach Hause.

 

„An was denkst Du?“, fragt Lieselotte ihren gedankenverloren vor sich hinblickenden Mann. Seit einigen Wochen gibt es Gerüchte im Betrieb. Es ist die Rede davon, einen Produktionsbereich nach Polen zu verlagern. Das würde Entlassungen im Saarland bedeuten. „Es gibt Probleme bei uns im Betrieb“, sagt Andreas. „Eine Abteilung wird geschlossen. Wir haben zwar genug zu tun. Aber wir sind zu teuer. Sagt der Chef.“ Andreas erklärt seiner Frau, dass die polnische Beteiligungsgesellschaft wirtschaftlicher als das Völklinger Werk arbeitet. „Eine Arbeitsstunde in Deutschland kostet fünf Mal mehr als eine Arbeitsstunde in Polen! Da können wir noch so gut arbeiten. Wenn wir unsere Kosten über eine Mischkalkulation nicht drücken können, bleiben wir ‚auf der Strecke’.“ Lieselotte greift nach dem Arm ihres Mannes. „Und die Qualität?“, fragt sie. „Die Polen sind nicht schlecht“, räumt Andreas ein. „Was die nicht können, lernen die schnell. Nicht umsonst hat sich Barteczko einen deutschen Teilhaber gesucht. Außerdem“, so fährt er fort, „sind die Abnehmer im Osten nicht an der ‚ganz großen Qualität’ interessiert. Denen reicht es, wenn gute Maschinen gut funktionieren.“ 

 

„Und um welche Abteilung geht es?“, fragt Lieselotte nach Weile des die Atmosphäre genießenden Schweigens. „Das weiß man noch nicht so genau“, sagt Andreas. „Mal sind es die Steinbruchleute, dann ist es die Erz-Abteilung. Auch von meiner Abteilung war schon die Rede.“ „Die Steinkohle-Abteilung!“, entfährt es Lieselotte ganz erstaunt. Sie richtet sich auf. „Das geht doch nicht! Steinkohle und das Saarland gehören zusammen. Eure Firma hat doch ihr gesamtes Know how mit den Saarbergwerken entwickelt!“ „Eben!“ Andreas klingt nicht mehr so überzeugend. „Im Saarland gibt es gerade mal noch zwei Gruben. Und das auch nicht mehr allzu lange. Kohle kommt jetzt aus Polen! Dann werden auch dort die neuen Maschinen entwickelt und gebaut!“

 

Lieselotte schaut auf ihren die Wärme sichtlich genießenden Mann. Entspannt liegt er trotz des ernsten Themas auf der Liege. „Die Polen sind nicht schlecht“, wiederholt Andreas in Gedanken versunken. „Erst vor ein paar Tagen haben Sie einen neuen Auftrag von einer Kohlengrube in Sibirien ‚an Land gezogen’. Und mit Kemerowo wollte Brück schon immer ins Geschäft kommen.“ Lieselotte zieht ihren Mann am Arm: „Komm, wir gehen in den Whirlpool!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Guten Morgen“, freundlich begrüßt Lieselotte Pitz ihre Sekretärin. Sandra Bachnik sitzt bereits seit acht Uhr im Büro. Die examinierte Krankenschwester Lieselotte Pitz leitet seit ihrem Qualifizierungsabschluss als Pflegedienstleiterin vor fünf Jahren die Ambulante Seniorenpflege der Caritas in Dillingen. Der gut funktionierende Altenpflegedienst ist eine gemeinnützige GmbH mit 28 Mitarbeiterinnen. Pitz ist praktisch die Geschäftsführerin des kleinen Unternehmens. Formell wird die Ambulante Seniorenpflege vom Personaldirektor im nahe gelegenen von der Kirche getragenen Krankenhaus als kaufmännischem Geschäftsführer geleitet. Da der aber dort genug zu tun hat, muss sich Lieselotte Pitz nur immer mal wieder mit ihrem Chef absprechen.

 

So war es auch heute Morgen. Mit Joachim Papierok hat sich Lieselotte Pitz beraten. Zur Mittagszeit stehen Bewerbungsgespräche an. Der Betrieb soll weiter wachsen. Die Ambulante Seniorenpflege will eine der vom saarländischen Sozialministerium vorgesehenen Dienstleistungsagenturen werden, um die vielfach anzutreffende Schwarzarbeit bei Haushalten zu reduzieren. Da die Altenpflegerinnen bei der ambulanten Betreuung älterer Menschen ohnehin oft genug hauswirtschaftliche Dienstleistungen erbringen, lag es nahe, diesen Servicebereich auszubauen und sozialversicherungspflichtig beschäftigt Putzfrauen, Bügelhilfen, Köchinnen, Krankenhilfen oder Wasch-Hilfen Privathaushalten anzubieten. Nach Lieselottes Ansicht bringt ein solcher Service allen Seiten Vorteile: Die Haushalte beschäftigen keine „Schwarzarbeiter“ mehr. Die Haushaltshilfen sind in das soziale System integriert. Das bedeutet, dass sie Rentenansprüche erwerben, krankenversichert sind, eine Unfallversicherung haben und sogar Ansprüche für eine eventuelle Arbeitslosigkeit aufbauen. Außerdem erhalten die Haushalte unabhängig von Ferien oder Krankheit ihrer „Perle“ die Gewähr einer regelmäßigen Dienstleistung, weil nicht die Person, sondern die Leistung gekauft wird. Sollte die gewohnte Arbeitshilfe krank sein, kommt eine Vertreterin. Ein nicht zu vernachlässigender Vorteil ist außerdem, dass diese Dienstleistungen steuerlich absetzbar sind.

 

Fünf Frauen will Lieselotte Pitz zunächst einmal einstellen. Hinzu kommt eine weitere ausgebildete Krankenschwester. Nach einer Änderung des Pflegedienstgesetzes muss ein fachlich qualifizierter Ansprechpartner bei Altenpflegediensten rund um die Uhr zur Verfügung stehen. 15 Frauen hat Sandra Bachnik für ihre Chefin eingeladen. Dabei brauchten sie nicht einmal eine Anzeige zu schalten. Immer wieder gehen bei der Ambulanten Seniorenpflege unaufgefordert Bewerbungen von Hauswirtschafterinnen wie Altenpflegerinnen ein. Bekannte von Mitarbeiterinnen bewerben sich ebenso wie Menschen, die die Autos des Altenpflegedienstes sehen und denken, dass sie hier bei einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung einen sicheren Arbeitsplatz finden können. Stolz ist Lieselotte Pitz darauf, dass sie - im Gegensatz zu vielen anderen Pflegediensten - kaum Personalfluktuation hat. Wer bei ihr arbeitet, arbeitet gern. Pitz nimmt sich nicht nur die Zeit, mit ihren Mitarbeiterinnen zu feiern, sie „geigt“ ihnen auch gelegentlich die Meinung. Dies aber so, dass die Mitarbeiterin etwas lernt und weiß, wie sie sich in Zukunft verbessern kann. „Zufriedene Mitarbeiter haben zufriedene Kunden“, sagt Pitz. „Und zufriedene Kunden vermitteln Freude bei der Arbeit!“

 

„Gut, dass Sie da sind“, ruft Sandra Bachnik zu ihrer Chefin. „Eine Frau hat heute Morgen schon angerufen, dass sie nicht vorbeikommen könne. Ihr Kind sei krank geworden.“ Lieselotte Pitz stellt ihre Tasche auf den Schreibtisch. Die Ambulante Seniorenpflege ist eigentlich nur ein großes Büro: Im Eingangsbereich sitzt die Sekretärin, dann kommt eine Art Besprechungszimmer. Hier holen sich die Mitarbeiterinnen auch ihre Informationen vom Einsatzbrett, an dem die Dienstpläne hängen. Nur durch eine große, zumeist offen stehende Schiebetür getrennt hat dann auch schon Lieselotte Pitz ihren Schreibtisch im Nachbarzimmer stehen. „Machen Sie mit der Frau einen neuen Termin aus!“, ruft Pitz ihrer Sekretärin zu. Sie mag Frauen mit Kindern. Für diese Arbeit sind sie die besten Mitarbeiterinnen. Sie fallen zwar gelegentlich wegen der Kinderbetreuung aus. Aber ansonsten sind sie zuverlässig. Sie wissen, was in einem Haushalt zu tun ist und auch bei der Altenpflege sind sie beliebte Ansprechpartnerinnen, weil sie die Geduld mitbringen, die hin und wieder bei der Seniorenbetreuung notwendig ist.

 

Heute wird es für Lieselotte Pitz wieder kein Mittagessen geben. Sie hat sich für die 14 Gespräche mit den Bewerberinnen jeweils 15 Minuten eingeräumt. Die grundlegenden Daten der Frauen kennt Pitz aus den vorliegenden Schreiben. Die Vorstellungsgespräche sollen nur noch zeigen, ob sie ins Team und zur vorhandenen Mitarbeiterstruktur passen. „Bringen Sie mir eine Salatschale mit, wenn Sie in die Mittagspause gehen“, bittet Lieselotte ihre Sekretärin. Es ist elf Uhr. Die erste Bewerberin steht in der Tür.

 

Katrin Reis ist 36 Jahre alt, verheiratet und hat zwei schulpflichtige Kinder. Ihr Mann ist Koch in der Hütten-Kantine. Sie hatte vor ihrer Hochzeit im Gästehaus der Hütte im Service gearbeitet. Ihre Berufstätigkeit gab sie mit der Geburt des ersten Kindes auf. Jetzt sucht sie einen beruflichen Neustart als Altenpflegehelferin. Lieselotte Pitz unterhält sich freundlich mit der Frau, die aber nur morgens arbeiten will. „Nachmittags muss ich wegen der Kinder zu Hause sein!“ Das passt nicht zu den Anforderungen bei der Ambulanten Seniorenpflege. Hier sollen alle Mitarbeiter morgens, nachmittags und abends einsetzbar sein. Selbst ein Entgegenkommen auf die Frühschicht hätte nicht gepasst, weil die Dienste bereits um sechs Uhr beginnen. Katrin Reis könnte aber frühestens nach dem Schulbeginn ihrer Kinder arbeiten.

 

Die nächste Kandidatin ist eine Frau, auch Mitte 30. Nach einer Krebserkrankung geht es ihr wieder besser. Als gelernte Altenpflegerin will sie in den Beruf zurück, zunächst allerdings nur halbtags. Dagegen hat Lieselotte Pitz nichts einzuwenden. Nach ihrer Ansicht arbeiten Halbtagskräfte ohnehin effektiver als Ganztagsbeschäftigte. Pitz legt die Papiere der neuen Kollegin für die Sekretärin bereit.

 

Dann kommt die Krankenschwester. „Sie wissen bestimmt auch schon“, beginnt sie das Gespräch mit Lieselotte, „dass unser Krankenhaus geschlossen werden soll.“ Entsprechend den neuen Anforderungen der Gesundheitsreform will die Rumlicher Schwesternschaft eines ihrer saarländischen Krankenhäuser schließen. „Ich habe davon gehört“, räumt Pitz ein. „Aber es muss ja nicht so kommen“, tröstet sie die Bewerberin. „Ich möchte aber auch weg von Stress und Mobbing in dem Haus“, fährt die etwa 50-Jährige fort. „In der Altenpflege sehe ich eine Zukunft“, sagt Gerda Kerner. „Ich mag nicht mehr in einer großen Organisation arbeiten. So eine kleine Station wie Ihre würde mir gefallen.“ Lieselotte Pitz fragt nach den beruflichen Einsatzfeldern der Krankenschwester und stellt fest, dass Gerda Kerner wie sie Kinderkrankenschwester ist. Sie hatten - um ein Jahr versetzt - sogar die selben Ausbilderinnen in der Schwesterschule. Angeregt unterhält sich Pitz mit ihrer Besucherin. „Dann fangen Sie zum 1. Mai bei uns an!“, sagt sie schließlich. Die nächste Bewerberin wartet schon vor der Tür.

 

Die Frau ist mindestens 60 Jahre alt. Sie spricht wenig, scheint aber sichtlich erfreut zu sein, dass sie dieses Vorstellungsgespräch hat. Lieselotte Pitz fällt es schwer, die krakelige Handschrift im Bewerbungsschreiben und den Lebenslauf zu lesen. So lässt sie sich erzählen, dass Anneliese Hartz nach früheren Beschäftigungen in der Gastronomie, im Hotel und in mehreren Altenheimen nach der Frühpensionierung ihres Mannes wieder darauf angewiesen ist, etwas Geld dazu zu verdienen. Obwohl die Frau nicht den rüstigsten Eindruck vermittelt will es Lieselotte mit ihr als Hausarbeitshilfe versuchen. Als sie ihr das sagt, strahlen die Augen von Anneliese Hartz auf.

 

So geht es über die Mittagszeit hinweg. Ohne Pause kommen die Bewerberinnen wie bestellt. Lieselotte Pitz unterhält sich mit den Frauen, bringt Berufliches wie Privates zur Sprache. Einer Frau, die in Kürze in den Hochwald umziehen will, rät sie von der Stelle ab, da sich die Beschäftigung im Saartal wegen der Anfahrt nicht mehr lohnen würde. Eine Frau ohne Auto kann sie auch nicht einstellen, weil zu Früh- oder Spätschicht noch nicht genügend öffentliche Verkehrsmittel unterwegs sind. Schließlich hat Lieselotte Pitz noch drei Frauen als Hausarbeitshelferinnen ausgewählt. Anfang April sollen sie ihre Arbeit aufnehmen.

 

Unverständlich ist Lieselotte als selbstständiger Frau der Neuzeit die Feststellung einer Bewerberin, dass sie erst ihren Mann fragen müsse, ob sie die Stelle annehmen dürfe. Bei den anderen Frauen war sofort sichtliche Freude zu bemerken, wenn ihnen Lieselotte mitteilte, dass sie eingestellt würden. Dagegen wollte Ottilie Krämer erst einmal mit ihrem Mann über eine neue Berufstätigkeit sprechen. „Aber deswegen sind Sie doch da“, hatte Pitz eingeworfen. „Ihr Mann weiß doch, dass Sie wieder arbeiten wollen! Oder etwa nicht?“ „Doch, doch. Aber ich muss ihn halt fragen.“ Lieselotte Pitz fühlt sich in die 50er Jahre zurück versetzt. Von ihrer Mutter weiß sie, dass damals die Frauen ihre Ehemänner zu fragen hatten, wenn sie arbeiten wollten. Sie mag nicht glauben, dass es das heute noch gibt.

 

„Was machen wir mit der Mutter?“, fragt Sandra Bachnik, als sie von Lieselotte Pitz die Unterlagen der erfolgreichen Bewerber erhält, um die Arbeitsverträge auszuschreiben. „Welche Mutter?“ Mit der Frage fällt es Lieselotte wieder ein. „Ach, die Frau, die heute nicht kommen konnte.“ Nach kurzem Nachdenken bittet Lieselotte Pitz ihre Sekretärin, trotzdem einen neuen Termin mit der Frau abzusprechen. „Wenn alles gut läuft, nehmen wir die auch noch!“, sagt sie zuversichtlich.

 

Lieselotte geht zu ihrem Schreibtisch, holt ihre dick bepackte Tasche und verabschiedet sich von ihrer Sekretärin. „Tschüs. Morgen komme ich wieder später. Morgens bin ich bei der Saarländischen Pflegegesellschaft. Mittags esse ich mit Herrn Papierok in der Krankenhauskantine, um ihn über meine Gespräche zu informieren und am Nachmittag beginnen wir dann mit der Lohnabrechung.“ Für Lieselotte Pitz war das ein „guter“ Tag. Unzufrieden war sie eigentlich nur mit Elena Babitski. Die Deutschrussin hatte nichts gelernt, sprach nur schlecht Deutsch und benahm sich im Büro, als ob sie einen Anspruch auf die Stelle hätte. „Ich kann dieses Anspruchsdenken nicht leiden“, dachte sich Lieselotte, als sie in ihr Cabrio stieg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es rumpelt und poltert in der Kegelbahn vom „Prellbock“. Der „Prellbock“ ist die Arbeiterkneipe im Stadtteil Fenne. Früher war das Gebäude ein Bahnhof. Seitdem die Kokerei geschlossen ist, gibt es auch keinen Bahnhof mehr. Holger von Rüden hat die Kneipe gepachtet. Auf der Kokerei war er einst Revisionsingenieur. Als er entlassen wurde, war er zu alt, um einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Da hat er etwas Neues angefangen. Seit 15 Jahren ist er „Kneipier“ - und es gefällt ihm.

 

„Noch’n Bier?“ ruft er in die lärmerfüllte Kegelbahn, die er seinerzeit „mit Kumpels“ im Güterschuppen des alten Bahnhofs eingerichtet hat. „Klar, eine Runde auf Paul!“, tönt es zurück. Aber es ist nicht Paul, der da ruft. Doch das stört Holger nicht. Er weiß, dass er sich auf „seine“ Leute verlassen kann. Er geht zurück zur Theke, zapft sieben frische Pils.

 

Durch die offen stehende Tür kommt Andreas Pitz in den „Prellbock“. „Spät dran!“, stellt Holger gegenüber dem Kegelbruder fest. „Die anderen spielen schon fast eine Stunde.“ Pitz guckt mürrisch in die Runde. Am Fenster - mit Aussicht auf die Gleisanlagen - sitzen zwei Männer beim Bier. „Bald gehör’ ich zu Euch!“, stößt er hervor. Und weiter geht es: „Scheiß Laden!“ hört Holger, als Andreas an der Theke vorbei kommt. „Eh eh eh“, sagt der Wirt vorwurfsvoll. „Nicht Deine Kneipe, meine Firma!“, bekommt er daraufhin zu hören. „Jetzt ist es auch bei uns soweit: Personalabbau!“ Pitz geht weiter in den Anbau zur Kegelbahn.

 

Gleich wird er ob seiner Verspätung begrüßt: „Na, wieder Überstunden gemacht? Einmal muss doch Schluss sein.“ Und im Ton der aus etwas Alkoholgenuss resultierend guten Laune geht es dozierend weiter: „Jeder hat ein Recht auf Freizeit! Auch der Herr Oberingenieur!“ Die „Jungs“ - alles gestandene Männer zwischen Anfang 40 und Ende 50 - sind guter Dinge. Sie trainieren für ein Wettkegeln am kommenden Wochenende und bislang fielen „alle Neune“ öfter als man es erwarten konnte. „Scheiß Laden“, sagt Pitz wieder. „Nix Überstunden - Betriebsversammlung!“

 

Holger von Rüden drängt sich an den Tisch, bringt sieben Bier. „Ach, jetzt hab’ ich Deins vergessen“, stellt er mit Blick auf Andreas fest. „Aber: kommt sofort“, verspricht er. Andreas Pitz greift nach dem nächst stehenden Bier, setzt es an und trinkt es in einem Zug leer. „Boar!“ Seine Kumpels staunen. „Was gibt’s?“ Die Männer kegeln seit 13 Jahren zusammen. Da kennen sie ihre Eigenheiten und Gewohnheiten untereinander. Hier auf der Kegelbahn wurden schon Dinge besprochen, die zu Hause niemand zu wissen brauchte. Und man hat sich hier im Kreise der Freunde beraten, was zu Hause zu laufen hatte. Die acht Kegelbrüder wissen, dass sie sich aufeinander verlassen können. Da weiß man aus dem Verhalten einzelner sofort Schlüsse zu ziehen. Und bei Andreas stimmt heute etwas nicht.

 

„Was gibt’s?“ Auf der Kegelbahn wird es ruhig. Die Männer setzen sich um den Tisch, wollen hören, was Andreas bewegt. „Scheiß Laden!“ stößt er noch einmal hervor. „Bei uns werden jetzt auch Mitarbeiter entlassen, mindestens 32!“ Das lässt er erst einmal wirken. Dann fährt er fort: „Bei uns wird die Steinkohle-Abteilung geschlossen! Bis Jahresende soll alles ‚sozialverträglich’“ - hier hören die Kumpels einen spöttischen Unterton - „abgewickelt werden. Versetzt wird keiner! Wir sind zu teuer, sagt der Chef.“

 

Damit greift er zu dem Bier, das der Wirt gerade hereinbringt. „Eh, das war für mich!“, sagt Paul. Und zu Holger gewandt bestellt er: „Noch einmal zwei Bier!“ Die Jungs nehmen einen tiefen Schluck aus ihren Gläsern, dann fährt Andreas fort: „In meinem Alter“ - er ist 52 - „krieg ich doch keinen neuen Job mehr! Zu alt zum schaffen und zu jung für die Frührente!“ Er macht wieder eine Pause. Man merkt, dass er sich offensichtlich nicht erst seit heute mit diesen Vorgängen in seiner Firma auseinandergesetzt hat. „Du kriegst doch eine Abfindung!“, wirft Walter ein, „dann Arbeitslosengeld. Da wartest Du doch locker auf Deine Rente!“

 

Andreas Pitz sieht das nicht so: „Arbeitslosengeld“, schnauft er gering schätzend. „Ein Jahr lang 67 Prozent vom Nettogehalt und dann Sozialhilfe!“ „Das heißt jetzt Hartz IV“ wirft in seinem dozierenden Tonfall Horst Stolz ein. Horst ist Lehrer und der einzige Beamte in der Runde. „Scheiß egal“, Andreas tobt. „Ich kriege doch eh’ keine neue Stelle. Dann bin ich langzeitarbeitslos und dann geht’s ans ‚Eingemachte’: Bei meinem Haus und den Ersparnissen, dem Einkommen von meiner Frau, da krieg’ ich doch nichts mehr! Jahrzehnte lang eingezahlt - und dann: Nichts!“

 

Sichtlich kommen die Männer ins Grübeln. Es ist still auf der Kegelbahn, als Holger zwei Bier bringt. Schließlich plädiert Richard als Optimist für gute Laune: „Wart’s ab, so schlimm wird das schon nicht kommen. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Du weißt doch: Bei uns werden dauernd Leute entlassen.“ Richard Bernward ist Vorsitzender des Kegelclubs. Er arbeitet als Elektrosteiger Untertage für die Deutsche Steinkohle AG.

 

In den letzten 15 Jahren hat er drei Mal seinen Arbeitsplatz gewechselt. Als die Grube Reden in den 80er Jahren geschlossen wurde, ging es für ihn zur Nachbargrube nach Göttelborn. Als auch dort die Lichter ausgingen, fand er weitere Beschäftigung auf der Grube Karlsbrunn. Trotzdem ist ihm für die Zukunft nicht bange, obwohl diese Grube bis 2006 geschlossen werden soll. Dann gibt es im Saarland noch eine Grube - und auch die soll bis 2010 dicht gemacht werden.

 

„Du hast gut reden“, wirft Pitz vorwurfsvoll ein, „Dein Laden kümmert sich um seine Leute! Da gibt’s Versetzungen, Umschulungen oder Hilfen zur Selbstständigkeit!“ Er nimmt noch einmal einen tiefen Zug aus dem Bierglas. „Ich krieg’ ’ne Abfindung - und dann kann ich gehen. Ob ich noch etwas anderes finde oder nicht interessiert bei uns keinen Menschen. Fast 25 Jahre habe ich für meinen Laden gearbeitet - und jetzt geht’s ab!“ Immer wieder unterbricht er seinen Redefluss, so als ob jedes Wort bei seinen Kumpels nie wieder zu vergessen sei.

 

Bernward setzt wieder ein: „Du hast doch noch ein gutes halbes Jahr vor Dir. In der Zeit kannst Du Dir ganz entspannt etwas Neues suchen. Als Abteilungsleiter weißt Du doch etwas! Du besitzt Teamgeist, kannst Leute führen! Und Du kannst etwas! Dazu kommt Dein spezielles Wissen für den Bergbau!“ „Und wer braucht das?“, fragend schaut sich Pitz um. „Außerdem bin ich zu alt!“ Müde scheint er in sich zusammen zu sacken.

 

Auch die anderen Kegelbrüder sind still, scheinen nachzudenken. Die gute Laune eines erfolgreichen Kegelabends ist dahin. „Da, schieb die Kugel!“ Richard reicht Andreas eine Kugel, der steht tatsächlich auf, bringt die Kugel auf die Bahn. Sie läuft in leichten Abweichungen der geraden Linie etwas hin und her - und verschwindet in der Rinne. „Scheiße“, zischt es aus Andreas. „Ich bin zu alt! Ich bin nicht mehr in Form!“ Betreten schauen die Kegelbrüder in ihre Gläser. Wie sollen sie Andreas Pitz wieder aufmuntern?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Guten Morgen, Chef“, freundlich begrüßt Sigrid Konz ihren Abteilungsleiter. Auch Andreas Pitz ist guter Dinge. Inzwischen hat er den Schock verdaut, dass die Steinkohle-Abteilung nach Polen verlagert werden soll. „Bis Jahresende“, so seine Einstellung, „ist noch lange Zeit. Da wird sich schon noch etwas ergeben!“ Im Augenblick läuft es in der Maschinenfabrik bestens. Immer wieder kommen neue Aufträge aus dem Osten. Vielleicht findet sich auch noch für ihn und seine Männer eine Umsetzungsmöglichkeit. Zumindest hat der Chef diese Chance letzthin bei einer Besprechung angedeutet.

 

„Sie sollen zum Chef kommen“, sagt die Sekretärin. „Ja, ich guck’ g’rad noch, wie’s unten läuft“, entgegnet Andreas Pitz. „Ich hatte den Eindruck, dass er Sie lieber gleich sehen will“, schiebt Sigrid Konz nach. Mit einem Ton, der auch Pitz klar macht, dass es besser ist, erst zum Chef und dann zu den Mitarbeitern zu gehen. Er grummelt vor sich hin und geht nach oben. „Der Chef wollte mich sehen“, sagt er zur Sekretärin von Josef Brück. „Dann gehen Sie gerade durch!“

 

„Guten Morgen, Herr Brück“, freundlich begrüßt Pitz seinen Chef. „Guten Morgen, Andreas.“ In der Firma Brück nennt der Chef seine Mitarbeiter zumeist beim Vornamen. Er aber ist „Herr Brück“. „Setz Dich!“, fordert er seinen Abteilungsleiter auf. „Wie Du weißt haben wir ein paar Probleme“, setzt Brück an. „Weniger mit der Auslastung als mit der Wirtschaftlichkeit.“ „Deswegen hatten wir ja auch letzthin die Betriebsversammlung“, signalisiert Pitz Verständnis. Er spürt schon ein Magengrimmen, bemerkt, dass dies kein angenehmes Gespräch werden dürfte.

 

„In Deiner Abteilung arbeiten 32 Leute“, beginnt Brück mit Fakten. „Einige von denen sind schon ganz schön lange bei uns. Nicht nur, dass es mir Leid täte, die zu entlassen. Mit langen Kündigungszeiten würde sich die Auflösung der Abteilung hinziehen. Die Firma muss aber“, so erläutert Brück an seinem großen, mit aufgestapelten Papieren übersäten Schreibtisch sitzend, „möglichst schnell wirtschaftlicher arbeiten. Nur dann können wir uns am Markt behaupten!“ Andreas weiß nicht so genau, worauf der Chef hinaus will. „Was wollen Sie mir sagen?“ Andreas Frage klingt eine Spur zu aggressiv dafür, dass in dem patriarchalisch geführten Familienbetrieb mit Josef Brück nur einer das Sagen hat.

 

„Wir haben keine Zeit, Ihre Abteilung bis Jahresende mitzuschleppen!“ Brutal hat Josef Brück die noch in der Betriebsversammlung angedeutete Übergangsphase von einem halben Jahr zur Schließung der Steinkohle-Abteilung gestrichen. Gegenüber Andreas Pitz hebt der Unternehmer hervor, dass es bei der angesprochenen  „Sozialverträglichkeit“ bleiben wird, bleiben muss. „Langjährige Mitarbeiter werden wir behalten und in die Abteilungen versetzen, in denen es zur Zeit Engpässe bei den Beschäftigten gibt“, sagt Brück. Das versetzt Pitz einen Stich ins Herz. Er kam erst vor vier Jahren ins Unternehmen. Jahrzehntelang war er bei den Saarbergwerken beschäftigt gewesen. Als dort eine Grube nach der anderen geschlossen wurde, schlug das Unternehmen seinen Mitarbeitern vor, sich auf perspektivisch bessere Arbeitsplätze zu bewerben. Pitz gehörte zu denen, die das Ende des Saarbergbaues nicht als Betroffene miterleben wollten. Er nutzte das Angebot der Firma, sich über eine Zusatzqualifikation im Maschinenbau für einen neuen Arbeitgeber „fit“ zu machen. Über die betriebsinterne Arbeitsvermittlung kam er dann zum Bergbauzulieferer Brück. Dort wurde ihm gleich eine Führungsposition angeboten. Da er sich auch einkommensmäßig nicht verschlechterte, war Pitz der Meinung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. „Der Bergbau“, so erzählte er damals nach lange überlegender Diskussion seiner Frau, „wird in Deutschland mittelfristig eingestellt. Aber die zunehmende Nachfrage nach guten deutschen Industrieprodukten wird dafür aus dem Ausland zunehmen.“ Grundsätzlich war das wohl richtig. Aber Pitz hatte anscheinend vergessen, dass auch die Ausländer irgendwann diese Maschinen selber bauen wollen - und können.