Der Akazienkavalier - Ulla Lachauer - E-Book

Der Akazienkavalier E-Book

Ulla Lachauer

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Beschreibung

Gärten sind Seelenlandschaften und Schicksalsorte. Sie wirken als Lebensquell und können ein Glück vollkommen machen. Sie können Verzweifelte trösten und Feindschaften mildern. In schweren Zeiten sind sie überlebenswichtig. Ulla Lachauer kehrt zurück in die Gärten ihrer westfälischen Kindheit. Sie besucht Gärten in ganz Deutschland. Und sie entdeckt das Vergnügen, in der Fremde Zaungast zu sein. Sie reist nach Paris, an die Costa del Sol, in die Alpen. Auf die Kurische Nehrung, in die Vergangenheit des alten Ostpreußen. Odessa im Mai ist Schauplatz einer seltsamen Liebesgeschichte: «Der Akazienkavalier». Ulla Lachauer erzählt von Begegnungen mit Menschen und Gärten. Ein Lektüregenuss!

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Ulla Lachauer

Der Akazienkavalier

Von Menschen und Gärten

 

 

 

Über dieses Buch

Gärten sind Seelenlandschaften und Schicksalsorte. Sie wirken als Lebensquell und können ein Glück vollkommen machen. Sie können Verzweifelte trösten und Feindschaften mildern. In schweren Zeiten sind sie überlebenswichtig.Ulla Lachauer kehrt zurück in die Gärten ihrer westfälischen Kindheit. Sie besucht Gärten in ganz Deutschland. Und sie entdeckt das Vergnügen, in der Fremde Zaungast zu sein. Sie reist nach Paris, an die Costa del Sol, in die Alpen. Auf die Kurische Nehrung, in die Vergangenheit des alten Ostpreußen. Odessa im Mai ist Schauplatz einer seltsamen Liebesgeschichte: «Der Akazienkavalier».Ulla Lachauer erzählt von Begegnungen mit Menschen und Gärten. Ein Lektüregenuss!

Vita

Ulla Lachauer, geboren 1951 in Ahlen/Westfalen, lebt in Stuttgart. Sie arbeitet als freie Journalistin und Dokumentarfilmerin. Mit ihrem Buch «Paradiesstraße» (1996), der Lebensgeschichte einer osteuropäischen Bäuerin, wurde sie zur Bestsellerautorin. Weitere Bücher: «Die Brücke von Tilsit» (1994), «Osteuropäische Lebensläufe» (1998), «Ritas Leute. Eine deutsch-russische Familiengeschichte» (2002).

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2009

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Coverabbildung Tamara Staples/Getty Images

ISBN 978-3-644-00451-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Meinen Eltern, die einen wunderbaren Garten geschaffen haben, und für meinen Mann Winfried

Erster Teil

Raumfressende Pflanzen

Eines Tages im November war es so weit. Es wollte und wollte nicht hell werden, der Himmel über den umliegenden Mietshäusern war graulila, so etwas gibt es hier, in Mannheim. Ich war allein zu Haus, Einsprüche waren nicht zu befürchten, die klassische Situation für eine hinterhältige Tat. Sie war überfällig.

«Er wird verschwinden!»

Dachte ich, ganz wohl war mir nicht dabei. Um mir Mut zu machen, sagte ich es noch einmal laut, in die betreffende Richtung: «Du wirst verschwinden!»

Den Baum aus unserer Küche rauszutragen war nach Lage der Dinge unmöglich. Ohne eine Säge oder Ähnliches, das ihn in Stücke teilte, würde es nicht gehen. Meine Wahl fiel auf den kleinen stabilen Fuchsschwanz, ein bewährtes Stück, mit dem mein Vater früher westfälische Kirschbäume beschnitt.

Ich schaute das riesenhafte grüne Wesen noch einmal an, verbeugte mich leicht vor ihm, immerhin hatte es einige Jahre unseres Lebens begleitet. Und legte los. Probeweise sägte ich erst mal einige Zentimeter von der Spitze ab. Aus der Schnittstelle trat eine weiße Flüssigkeit. Zwei, drei Tropfen fielen – das Monster blutete.

Der Baum, ein «Ficus benjamini», war der letzte Überlebende. Ein halbes Dutzend anderer Wohnungsgenossen hatte längst das Zeitliche gesegnet, zwei Drachenbäume, eine Yucca-Palme, ein rosa blühender Kaktus, was eben so angeschleppt wurde von Freunden und Verwandten. Nicht zu vergessen die Euphorbia splendens, auch Christusbaum genannt, von einer Tante, deren Namen ich lieber nicht nenne. Sie starben, während wir auf Reisen waren, vertrockneten, weil die schöne, ewig verliebte Studentin von nebenan sie vergaß. Oder ertranken, wenn der alte Ingenieur von gegenüber sie in Pflege nahm; er lebte seit dem Tod seiner Frau hauptsächlich in seiner Kindheit, in Mährisch-Ostrau, und goss, wann immer er kurz in die Gegenwart zurückkehrte, gedankenverloren, bis zu fünfmal pro Tag. Schlimmer als in unserer Mansardenetage konnten es Pflanzen wohl kaum treffen. Dürre, Sintflut, ausgiebiges Lüften zur Winterzeit, allein der Ficus ertrug es geduldig, um nicht zu sagen mit Grandezza. Dabei hatte auch er seine Kindheit in einem holländischen Gewächshaus zugebracht, war, wie alle anderen, im Grunde nur für ein begrenztes, kränkelndes Leben ausgestattet.

Er schien unsere kleine, helle, nach Süden gewandte Küche zu lieben. Vielleicht war das Klima dem seiner indischen Urheimat ein wenig ähnlich? In den schwülen Sommern am Oberrhein, wenn wir immer matter wurden, drehte er richtig auf. Anfangs, aber nur sehr kurz, schoss er in die Höhe. Dann hatte er, fast im rechten Winkel, einen Knick gemacht, lichtwärts. Seitdem wuchs der Ficus beharrlich aufs Fenster zu, immer weiter, an unserem mächtigen hundertjährigen Küchenschrank vorbei, und umfing diesen auf halber Höhe mit seinem grünen Arm. Erst versperrte er die Tür, hinter der Nudeln, Reis und Konserven lagern, später Besteckschubladen und Geschirrfächer. Um die Teetassen herauszubugsieren, musste man sich mit ihm anlegen.

«Gestatten, Madame?»

Jeden Morgen dasselbe Ritual, dieselbe Frage, ein fester Griff. Ob man ihn nach oben oder unten bog, er fand blitzschnell, fast ohne Nachwippen, in die Ausgangsposition zurück. Mein Mann hielt den Eigensinnigen für weiblich, ich natürlich für männlich.

«Gestatten, Monsieur?»

Mit der Zeit wurde der Ton rau.

«Olles Kamuffel!»

«Hundling, elendiger!»

Wer sich flach auf den Bauch legen muss, um an Bratpfannen und Töpfe zu gelangen, greift im Reich der Geschöpfe schon mal daneben. Wir selbst fühlten uns manchmal in unserer Küche wie Tiere, Kriechtiere.

Ein Gast, der uns einmal bäuchlings sah, tippte sich an die Stirn. Er hatte recht: Wir waren im Begriff, närrisch zu werden. Eine überraschende Entdeckung auf einer Israelreise tat ein Übriges. In einer Allee in Tel Aviv hatten wir beim Spazierengehen ovale, ledrige Blätter gefunden, unzweifelhaft von einem «Ficus benjamini». Die Bäume, die sie abgeworfen hatten, waren haushoch. Von da an wussten wir in etwa, was auf uns noch alles zukommen könnte.

Bei unserer Rückkehr hatte sich das häusliche Exemplar, das laut Botanikbuch zur Familie der Maulbeerbaumgewächse gehört, der Gewürze bemächtigt, der letzten Abteilung des Küchenschrankes, und verdeckte bereits das Foto von «Wine», des Buben in Lederhosen, der mein Mann wurde. Vier Wochen, und Piero della Francescas schwangere Madonna war so gut wie verschwunden. Eine weit zurückliegende Italienerinnerung an Monterchi, kein Morgen verging ohne einen Blick auf das verblichene Plakat, zur Muttergottes und den Engeln. Nur Marias demütig gesenkter Kopf und der zarte, auberginefarbene Baldachin ragten jetzt noch übers Grün.

Was tun? Nach den Gesetzen der Statik hätte unser Ficus längst umkippen müssen. In dem viel zu kleinen Terrakottatopf stand er da wie ein gedrungener Akrobat, der ein überdimensioniert langes Bein ins Nirgendwo reckt. Er wuchs ungestüm, geradezu tollkühn weiter, und er behielt die Balance. Im folgenden Dezember legte sich das erste Blatt auf das Kofferradio, zu Silvester berührte es die Fensterscheibe. Der Baum fraß unsere Küche, das Praktische, das Schöne, er verdrängte uns. Wann endlich würde er stürzen?

«Wohin des Wegs?»

Witzelten wir manchmal. Da, wo der grüne Geselle hinwollte, jenseits des Fensters, ist nichts. Ein Hinterhof nur, Dächer von Tiefgaragen, drei Bäume, wovon zwei, die Kastanie und der Kirschbaum, krank sind, einige noch nicht vergiftete Tauben. Ein schon lange ansässiges Elsternpaar, das vielleicht ist sehenswert. Hier und da ein Meislein. Und sommers – die einzige wirkliche Sensation – die Mauersegler, die sich zu Hunderten schreiend, rasend schnell in die hässliche Häuserschlucht stürzen und beim Aufsteigen bizarre Muster in die Lüfte schreiben.

Wir hielten uns tapfer, unterdrückten die aufkommenden Mordgelüste.

«Ich täte es!»

Der Rat kam aus Westfalen. In den berühmten «Haubenbriefen» (Briefen, die meine Schwiegermutter jeden Freitag beim Friseur, unter der Haube, an uns schrieb) kam das Thema immer häufiger zur Sprache. «Da würd ich mich nicht dranhängen.» Irgendwann fiel am Telefon der denkwürdige Satz: «An Pflanzen soll man sich ergötzen, nicht erquälen.» Anlass war, soweit ich mich erinnere, unser Verdacht, der Ficus könnte den Mehlmotten, die nach etlichen Feldzügen kurz vor der Ausrottung standen, Asyl geben. Ganz aus der Luft gegriffen war das nicht, immerhin waren seine Vorfahren in Indien Wirtsbäume für Schildlackläuse gewesen. Nur, wer von uns würde es tun?

«Frauen sind beherzter.» Wieder so ein Satz aus Westfalen.

An Blut hatte ich, als ich mir schließlich im November ein Herz fasste, allerdings nicht gedacht. Es floss reichlich aus der kleinen Wunde, beim nächsten Schnitt würde es bestimmt mehr sein. Ich zögerte. Plötzlich, ohne das leiseste vorherige Zittern, fiel der Baum um. Der Terrakottatopf zersprang mit einem Riesengetöse und gab einen festen, vielfach verknäulten Wurzelballen frei, in dem zu meiner Verwunderung nur ein paar Krümel Erde hingen. Es gab kein Zurück mehr. Alle dreißig Zentimeter etwa setzte ich den Fuchsschwanz an, systematisch, Stück für Stück, Stamm, Äste und Ästchen, das weiße Blut klebte zäh an den Händen. Es lief weiter, als ich am Ende des Gemetzels die Teile in blaue Müllsäcke packte, sieben oder acht stopfte ich voll. Ich war schweißgebadet. Glücklicherweise hatte mein Denken ausgesetzt. Ab und zu blitzte eine Szene aus dem Hitchcockfilm «Fenster zum Hof» durch den Kopf.

«Der Hinterhof! Natürlich!»

Finster musste es sein. Und kein James Stewart durfte mehr am Fenster sitzen und beobachten, ob der Nachbar vielleicht seine zerstückelte Frau im Hof vergräbt. Es war eine sternlose Nacht, auf leisen Sohlen trug ich die Säcke zu den Mülltonnen.

Mein Mann war voller Anerkennung, geradezu überschwänglich dankbar. Offenbar ahnte er was, er wollte nämlich über die Einzelheiten des Verschwindens nichts wissen. Wir waren nun wieder im Vollbesitz unserer 12 Quadratmeter großen Küche. Doch irgendwie, weiß der Himmel warum, ließ uns der Baum nicht in Ruh. Wir merkten es zuerst daran, dass wir seine frühere Anwesenheit, all die Malaisen mit ihm, hartnäckig beschwiegen.

Es dauerte nicht lange, und wir entdeckten sie allüberall in der Stadt: die monströsesten Geschöpfe. Im Seniorenheim um die Ecke war ein Ficus benjamini gerade im Begriff, den Fensterrahmen auszuhebeln. An einem hellen Julitag sahen wir im Zeichensaal der Realschule die Lampen brennen, weil ein Dutzend Schefflera das Sonnenlicht abschirmten. Wuchernde, oft aberwitzig verkrüppelte Naturen, plötzlich hatten wir einen Blick für sie. Bei Freunden blockierte eine die Klotür, sie war nicht mehr zu schließen, und das beschwor einen Familienstreit herauf: «Scheißhaus oder Gewächshaus?» Vornehmer ausgedrückt: «Privatheit» contra «Lebensrecht der Pflanze»? Wir lächelten dazu, ein wenig beklommen. Wenn im verrauchten Café die Kellnerinnen stritten, ob man die lästigen, armseligen Bewohner der mit Zigarettenkippen gespickten Blumentöpfe nicht lieber «abmurksen» sollte, anstatt ihren «natürlichen Tod» abzuwarten, spitzten wir die Ohren.

Einmal sahen wir in einer Benediktinerabtei einen Priester, der sich auf dem Weg vom Altar zum Tabernakel und zurück durch einen wahren Urwald kämpfen musste. Seelenruhig, schicksalergeben. Ähnliches ließe sich von dem Besitzer der Würstchenbude sagen, der Ketchup und Majo hinter grünen Bajonetten, sprich: Sansevierien, aufbewahrte und x-mal am Tag den Umstand und die Verletzungsgefahr, sie von dort hervorzuholen, auf sich nahm.

«Raumfressende Pflanzen», eines schönen Tages hatten wir den Begriff zum Phänomen gefunden – auf Küchenlatein «planta spatium devorans». Die Haltung ihrer Besitzer gegenüber den damit verbundenen Unbequemlichkeiten wurde uns allerdings immer rätselhafter. Es schien, dass die meisten Zeitgenossen, anders als wir, dazu neigten, sich mit ihnen abzufinden. Beziehungsweise die Schwierigkeiten weniger hassten, als dass sie deren Verursacher respektierten oder sogar liebten. So wie sie sich selbst liebten oder geliebt werden wollten, unvollkommen und degeneriert, wie sie waren, sich gegenseitig immerzu im Wege standen und voneinander nicht loskamen.

«Er hatte», heißt es bei Albert Camus, «immer nur das Notwendige geliebt.»

Eine Zeit lang verfiel ich der Marotte, Gedanken von Dichtern und Philosophen über die Liebe, die mir gefielen, auf das mysteriöse Verhältnis Mensch und Zimmerpflanze anzuwenden. «Er hatte letzten Endes nichts von dem geliebt, was er gewählt hatte, außer dem, was sich ihm durch die Umstände allmählich aufgedrängt hatte.» Ich zitiere weiter, Camus möge mir verzeihen: «Die wahre Liebe ist weder eine Wahl noch eine Freiheit. Das Herz, vor allem das Herz ist nicht frei. Es ist das Unvermeidliche und die Erkenntnis des Unvermeidlichen. Und er hatte von ganzem Herzen wirklich nie etwas anderes als das Unvermeidliche geliebt.»

Übrigens, auch in seinem Frankreich, im Land der geometrischen, penibel gestutzten Gärten, gibt es diese bizarren Hausgemeinschaften von Menschen und raumfressenden Pflanzen. Die eindrucksvollste sah ich in Paris, in einer Conciergerie im vornehmen 16. Arrondissement. Hinter der wachsamen Dame, die mich aus ihrer Luke musterte: ein Bambusdschungel! Der Raum, in dem sie auch kochte und zu gewissen Zeiten schlief, war etwa so groß wie unsere Küche.

Ein Kuriosum am Rande? Eine Fußnote nur im großen Buch der Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft? Irgendetwas im Menschen scheint sich dem Trend, vielleicht der Vernunft überhaupt entgegenzustellen. Mit der Zeit verflüchtigte sich bei mir das Nachdenken darüber, es blieb die Lust, solche Beobachtungen zu sammeln.

Die Zeit verging – am Amazonas wurden weiterhin die Regenwälder abgeholzt, in Astrachan stand der Stör kurz vor der Ausrottung, und ich fand mich weit entfernt von zu Hause wieder, in der kasachischen Steppe mit ihren Wermutgerüchen, in der sibirischen Taiga, und mit dem Erlebnis der gewaltigen Natur war das kleine Grün ganz aus dem Sinn. Bis zu jenem Februartag, kurz nach der Jahrtausendwende, als ich, gerade noch rechtzeitig, bevor der Schneesturm einsetzte und die Stadt Samara lahmlegte, in meinem Hotelzimmer landete. An der Bar fünf oder sechs «Schwalben», so nennt man hier die Damen, die käufliche Liebe anbieten – und keine Freier da. Ich war in dieser Nacht der einzige Gast in diesem zauberhaften Belle-Époque-Hotel, das sich nur mühsam aufrecht hielt. Am nächsten Morgen sah ich sie, immer noch in Arbeitskleidung, Minirock und tiefdekolletiertem Top, alle zusammen im Flur, interessiert über etwas gebeugt, das ich erst sehen konnte, als ich mich zu ihnen stellte: ein wassergefülltes Gurkenglas, in dem ein Geranienreis Wurzeln geschlagen hatte. Ich habe nicht alles verstanden, was sie sagten, es schien eine Art Streit um die richtige Blumenpflege zu sein, pro und contra, wer zu Hause welche Topfpflanzen besaß. Sie kicherten viel und rieben sich die schwarzumrandeten Augen, verschmierten dabei die Wimperntusche, dass sie allmählich aussahen wie Eulen. Dann redeten sie von ihren Großmüttern auf dem Lande, und ich konnte jetzt sehen, wie jung sie waren. Irgendwie schien das Glück auf, das sie sich wünschten. So kam in Samara an der Wolga das schon fast vergessene Thema zu mir zurück, nach Mannheim.

«Wie kam das Grün ins Haus?»

Hörten wir eines Sonntags eine weibliche, sehr schwäbische Stimme aus dem Radio fragen. Ein Vortrag aus der Reihe «Die Aula», wir saßen gerade beim Frühstück in der Küche. «Zunächst einmal: Wie kam das Grün in mein Haus?» Die Dame, eine Volkskundlerin, Frau Professor Köhle-Hezinger, erzählte, wie sie zu ihren Topfblumen kam, von grünen, angeblich pflegeleichten Geschenken, und wie sie es schaffte, sie totzukriegen. Sie schien uns zu meinen, wir waren wie elektrisiert. Die Anekdoten waren Vorwort zu einem weitausholenden Spaziergang auf einem, wie sie sagte, «weißen Fleck der Forschungs-Landkarte». Die grundsätzliche These dazu hatte sie von ihrer bäuerlichen Mutter entlehnt, die rigoros die Auffassung vertrat, Grün gehöre nicht aufs Fensterbrett, sondern in den Garten. Die Tanne in Wald und Gebirge, der Wein auf den Acker und allenfalls ans Haus etc. Pflanzen im Haus, das sei «Materie am falschen Ort». In der Geschichte, so die Volkskundlerin, habe es in allen Kulturen eine klare Trennung von draußen und drinnen, Pflanze und Mensch gegeben.

«Bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Stube (Kammern und Küche sowieso) pflanzenfrei, sieht man von Getrocknetem ab, also Kräuter- und Palmbüscheln, Zweiglein von Buchsbaum und Palmkätzchen. Sie steckten am Kruzifix, hinter Bildern, an Uhr oder Spiegel.» Die schwäbische Stimme sprach munter und viel zu rasch, deswegen ließen wir uns später das Manuskript der Sendung kommen.

Wir lasen und staunten: «Tiere fanden früher und bedenkenloser ihre Heimstatt in der Stube als Pflanzen. Sie waren, wie der Kükenkäfig unter der Stubenbank, Teil der bäuerlichen Wirtschaft, sie gehörten zur Überlebensökonomie und -strategie, sie waren nützlich, dienlich, verwertbar. Ihre Gerüche, Geräusche und Exkremente waren, aus solcher Sicht, kein Problem.» Wir erfuhren, dass erst mit dem historischen Rückzug des Bäuerlichen, der jahrhundertelang vorherrschenden Lebensform, die «Verhäuslichung des Grüns» beginnt. Der Vortrag schildert, soweit bekannt, die Stationen: die Orangerien und Wintergärten des Adels – eine Art Zwischenreich, nicht drinnen, nicht draußen; das Aufkommen des Blumentisches in den Salons des bürgerlichen Paris; schließlich, um 1900, halten Blumen und Zierbäumchen Einzug in katholische Kirchen, zu Ehren vor allem der Muttergottes. Um dieselbe Zeit verbreitet sich das eingetopfte Grün in den Haushaltungen aller Gesellschaftsschichten. Das geht ziemlich schnell, aber keineswegs unwidersprochen. Prominenteste Kritiker sind die Innenarchitekten des Bauhauses, für die Blumentöpfe zur Kategorie «Tingeltangel» bzw. «Gerümpel» zählen. Befürworter und Gegner liefern sich immer wieder erbitterte Schlachten, eine der letzten um 1968. Damals werfen revolutionäre Studenten massenweise die Blumenampeln und Gummibäume ihrer Eltern fort, ein symbolischer Akt; er gilt dem ganzen Plüsch, der überlebten Konvention, hinter denen sich die faschistische Vergangenheit verbirgt.

Beim Lesen des Vortrags stellten sich plötzlich die fast vergessenen Bilder des novemberlichen Gemetzels wieder ein. Vielleicht war es kein Teufel, der mich damals geritten hat, sondern die bäuerliche Vernunft meiner Großmutter? Ich kannte die Mutter meines Vaters nicht, weder sie, Maria, noch meinen Großvater Anton. Aber es könnte doch sein, dass in mir noch unbewusste Antriebskräfte früherer Generationen stecken. Schließlich sind wir fast alle Kinder, Enkel oder Urenkel von Bauern – man vergisst dies oft.

Und dann kam alles, wie es kommen musste. Das Grün hat sich wieder in unsere Küche eingeschlichen, diesmal auf besonders nette Weise: Wir hatten einer lieben Kollegin, die eine Aufheiterung nötig hatte, aus dem Supermarkt eine Tüte Feuerbohnen mitgebracht und ihr von dem italienischen Adeligen aus dem 18. Jahrhundert erzählt, der sich jeden Tag eine Handvoll solcher Bohnen in die linke Hosentasche steckte und, wann immer er etwas Positives erlebte, eine herausnahm und in die rechte Hosentasche tat. Abends zählte er das Gute und ließ es noch einmal genüsslich Revue passieren. Das probierte die Kollegin sogleich aus, es funktionierte. Zum Dank steckte sie einige Feuerbohnen in Blumentöpfe und schenkte uns zwei schon kräftig herangewachsene Ranken.

Gladiolenzeit

«Ich heirate in zwei Jahren, juchhu!»

«Und ich in vier!»

In zwei Jahren werde ich Braut sein. Annegret, an deren Pusteblume zwei weiße Flieger mehr geblieben waren, in vier. Was ist eigentlich besser? Wer ist die Siegerin? Wir konnten damals mühelos bis zehn zählen, ständig zählten wir irgendwas, Grashalme, Kuckucksschreie, Himbeerbonbons, aber wir hatten keinerlei Vorstellung von Zeit.

Die Pusteblumen sind da, die Mutter hat das Spiel dazu gelehrt. Auf einmal sind sie nicht mehr da, dafür blüht es an der Olfe, am Bach bei Großmutters Haus, gelb. Vor dem alten Gartenhäuschen ist es bunt, ich rupfe und sammle. Alles gehört mir, mir, mir! Bis jemand «Halt!» schreit oder «Pfui!». Gänseblümchen pflücken «ja», ihre großen Schwestern, die die Erwachsenen Margeriten nennen, «nein» – zu verstehen ist das nicht.

Der Erinnerung sind diese frühen Jahre weitgehend entzogen. Doch ist unsere erste Beziehung zu Blumen, zur Natur fürs ganze Leben prägend. Eine ungemähte Wiese – das Kind bahnt sich den Weg durch Gras und Mohn, die hohe, streng duftende Schafgarbe verstellt ihm den Weg, seine Freude schlägt in Angst um, und weil es den Vater in Rufweite weiß und der erscheint, ist alles gut.

Viele Kinder mögen am liebsten kleine Blumen, das Vergissmeinnicht mit seinen winzigen Blüten, Schneeglöckchen und Veilchen, die ihre Hände leicht zu fassen kriegen. Wichtiger als Schönheit ist das Praktische. Ein Rhabarberblatt ist ein prima Sonnenschirm, an der Hagebutte interessiert das Juckpulver. Zur Beerdigung einer toten Meise oder Drossel braucht man Blumen, die in den Sarg, einen Schuhkarton oder eine Zigarrenschachtel, hineinpassen.

Lieben kleine Kinder Blumen? Liebe ist wohl nicht das richtige Wort, denn sie setzt einen gewissen Grad von Bewusstheit voraus, ebenso wie die Fähigkeit zum Gegenteil, dem Hass. Bei mir begann dies mit fünf oder sechs Jahren, ich war noch kein Schulkind. Damals hatte ich, soweit ich mich erinnere, zum ersten Mal eine bewusste Beziehung zu einer Blume. Das heißt, ich hatte eine feste Meinung über sie: Ich konnte sie nicht ausstehen, diese Gladiolen.

Es hatte mit meiner Großtante Minchen zu tun, die sie über alles liebte. Im Sommer musste ich ihr jeden Sonntagmorgen vor der Messe aus dem elterlichen Garten einen Strauß Gladiolen bringen. Fünf oder sieben («Blumen für die Vase müssen immer unpaar sein», hieß es) von diesen Riesenbiestern, die entsetzlich lang und ebenso schwer waren. Trug ich sie mit den Blüten nach oben, waren meine dünnen Arme schon an der nächsten Straßenecke müde; wenn ich sie kopfunter transportierte, schleiften sie auf dem Bürgersteig. Von unserer Parkstraße bis zu Tante Minchens Weststraße war es ziemlich weit, und da Heulen und Protest nichts nützten, das «Ämtchen» war mir aufgetragen und basta, half ich mir selbst. Ich zählte meine Schritte. Nach je zehn Schritten nahm ich einen Positionswechsel vor, Strauß hoch, zehn Schritte, Strauß runter, zehn Schritte, Strauß hoch, so war es leichter. Noch besser ging es, seit ich einen Zauberspruch erfunden hatte: «Gladiole, blöde Dohle, schwer wie Kohle, flieg!»

Wege, die man sich einteilt, erscheinen kürzer – eine wichtige Lektion über die Zeit. Blumen haben ihre Zeit, auch das lernte ich durch die Gladiolen. Im Garten unterbrach ich oft meine Spiele und schlich um das Beet herum, wo sie ungeheuer zahlreich und farbenfroh wuchsen. Ich beobachtete kritisch ihre Zustände und versuchte abzuschätzen, wie lange es noch dauern könnte, bis die letzten verblüht sein würden und ich befreit.

Der nächste Juni kam und mit ihm die von Tante Minchen ersehnten Gladiolen, der übernächste und noch einer. Fünf Sommer lang versah ich mein Sonntagsämtchen. Ich war elf, als die Großtante starb – im April 1962, vor der Gladiolenzeit. An ihr Gesicht habe ich nur eine vage Erinnerung, es war rundlich und gutmütig. Deutlicher ist mir ihre Frisur, streng zurückgekämmte weiße Haare, im Nacken zu einem Dutt verschlungen, und vor allem ihr weicher, großer Busen. Gegenwärtig blieb mir die Atmosphäre ihres Zimmers, seine Gerüche, eine Mischung von Uralt-Lavendel und Mottenkugeln, und einige weibliche Porzellanfigürchen, die Hut oder Spitzentaschentuch schwenkten. Diese jungen Damen und meine Tante Minchen schienen dieselben Ideale zu haben: «Gerade halten!» oder: «Ein Mädchen schneidet keine Grimassen!» Sätze, die aus Tante Minchens Jugend stammten, als der Kaiser noch lebte, sie sagte «unser Kaiser», und «Sedanstag» gefeiert wurde, ein Fest mit viel «Tschingderassabum und Blumenschmuck, leider Gottes außerhalb der Gladiolenzeit». Etwas darüber zu fragen oder ihr zu widersprechen hatte wenig Zweck, Tante Minchen war fast taub.

Erst sehr viel später habe ich begriffen: Ich war in einem anderen Zeitalter zu Besuch.

Mit dem Erwachsenwerden verbesserte sich auch mein Verhältnis zu Gladiolen. Ich entdeckte die Skala ihrer Farben, Rottöne in großer Zahl, von unglaublicher Delikatesse, die Zartheit des Rosa, des Gelb, schreiendes Lila. Mir gefiel, wie sie sich räkelten und eigenwillig verdrehten. Kaum eine Blume widersetzt sich so sehr gärtnerischem Bemühen, sie gerade zu biegen. Irgendwann fing ich an, sie gernzuhaben.

Dann sah ich in New York die Bilder von Chaim Soutine, dem Maler aus dem weißrussischen Stetl: ein Gladiolenstrauß in einem Krug, viel zu klein, um die kräftigen, tanzenden Stängel zu halten, ein Blütenrot wie das verwesende Fleisch von Schlachtvieh, das er auch malte, in Paris, anno 1919 – nature morte, beide Motive erzählen von der Sterblichkeit des Menschen und indirekt vom Wahnsinn des Ersten Weltkriegs. Beim Betrachten musste ich an Tante Minchen denken und dass sie, als unverheiratete Frau von Mitte dreißig, diese Erschütterungen miterlebt hat. Die ärgste war der Tod von Eugen, ihres jüngeren Bruders, 1914, ihm wurde an der französischen Front der halbe Schädel weggeschossen.

Bunte Schwerter, bei mir in der Nähe wachsen sie oft in ganzen Armeen – kein Feld am Straßenrand, an dem ich nicht anhalte. In der Saison kaufe ich fast jeden Samstag auf dem Markt Gladiolen. Ihr Blütenstand ist wie eine Zeitleiste: Unten sind sie schon vergangen, unterdessen blühen sie weiter oben auf, an der Spitze eine noch verschlossene Knospe. Manchmal ordne ich den Blüten einer Gladiole Namen aus meiner Familie zu. Meine Großtante Minchen, bürgerlich Wilhelmine Beumer, Jahrgang 1882, ist immer die unterste, zuerst verschrumpelnde, darüber meine Eltern Marianne und Karl und so weiter bis ins 21. Jahrhundert. Jedes Mal bin ich verblüfft von dem Gedanken, wie sehr ich, über meine eigene Lebenszeit hinaus, von fernen Zeitaltern beeinflusst bin, bis zurück ins Wilhelminische, das in Gestalt «wilhelminischer» Erzählungen über mich kam.

Minchens jüngere, ebenfalls ledige Schwester Mimy setzte diese ausführlich und, weil ich sie liebte, sehr wirksam fort. Ich akzeptierte ihre vorsintflutlichen Ansichten völlig, wie sie umgekehrt meinen Minirock und meine verzweifelte Sehnsucht nach Freiheit. Für meine Geschwister und mich war das abgedunkelte Zimmer der beinahe blinden Großtante Mimy eine Insel außerhalb der Zeit. Wir fanden sie immer in dem großen Sessel am Fenster, ich sehe sie jetzt beim Schreiben vor mir – sehr gerade, sehr dünn, in einem hochgeschlossenen, dunklen, trotz sommerlicher Hitze langärmeligen Kleid. Im Profil ähnelt sie einem schönen Vogel, den Kopf ein wenig vorgeneigt, sie wartet auf Besuch, auf mich.

Als Mimy starb, war ich beinahe dreißig. Sollte ich das von der Statistik errechnete Durchschnittsalter von 84 erreichen, werden am Ende in meinem armen Kopf Geschichten aus etwa 150 Jahren herumgeistern.

Damals, als ich Gladiolen hasste, ahnte ich noch nicht, dass auch Erwachsene sich oft verloren fühlen. Der Garten meiner Kindheit, weiß ich heute, ist einmal Tante Minchens Garten gewesen, aus ihrer Perspektive handelt die Geschichte, die ich hier erzähle: vom Altwerden. Es setzte bei ihr während des Zweiten Weltkriegs ein. Wilhelmine Beumer, die tüchtige Chefeinkäuferin im Textilkaufhaus ihres Bruders, meines Großvaters, war im Chaos geschäftlich unterwegs gewesen. Güterzüge, Tiefflieger, dreckige, verwanzte Hotels in Berlin, das alles hatte die alte Dame, das «Fräulein» Beumer, auf diese Anrede legte sie größten Wert, tapfer und mit allen Kräften, die ihr geblieben waren, auf sich genommen. Nach 1945 drängte man sie aus dem Geschäft. Du bist schwerhörig, hieß es, aber es war wohl eher so, dass sie nicht in die neue Zeit passte. Hinzu kam, dass jetzt drei ausgebombte Cousinen aus Hannover und Breslau in der Wohnung lebten, ihr blieb nur ein Zimmerchen übrig. Also stürzte sich Tante Minchen auf den Garten der Beumers, mit großem Furor, so wurde mir berichtet. Sie hackte, säte, pflückte. Erdbeeren soll sie akkurat nach Sorten getrennt haben, «Mieze Schindler» seien ihr die liebsten gewesen. Drei, vier Jahre dauerte ihre Freude, dann bauten meine Eltern auf dem Gartengrundstück ein Haus. Anfangs besuchte sie uns noch ab und zu, beäugte kritisch, mit dem Blick eines anderen Zeitalters, die Beete. Nach einem Oberschenkelhalsbruch konnte sie ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Zu diesem Zeitpunkt begann mein Gladiolen-Ämtchen.

Hänschen und das Apfelei

Wie die verrückte Geschichte ins Rollen kam, weiß heute niemand mehr. Ob unsere Mutter meinen kleinen Bruder Hans einfach nur in den April schicken wollte. Oder dieser von sich aus fragte: «Mutter, wie wächst eigentlich Apfelnkompott?» Hans, der lispelte und sich als Kind in den ersten Jahren überhaupt schwertat mit dem Sprechen, brachte uns oft zum Lachen, indem er das schwierige Wort, seine Lieblingsspeise, um einen zusätzlichen Buchstaben komplizierte. «Apfelnkompott», beim «n» rutschte ihm manchmal vor lauter Begeisterung die Zunge ein Stückchen heraus. Er war ein Leckermaul und dazu über die Maßen gutgläubig, was Eltern und Geschwister immer wieder in Versuchung führte, ihn auf den Arm zu nehmen.

«Apfelnkompott wächst aus Samen», antwortete Mutter. – «Und hart gekochte Eier?» – «Natürlich auch aus Samen.»

Hans quengelte. Mutter Marianne lachte und vertröstete ihn. Eines Tages war eine Dose mit Samen da – flache, klebrige Dinger in zwei grellbunten Farben, eine sogenannte «Apfelei-Mischung». Auf der Gebrauchsanweisung, die Mutter ihm vorlas, stand, man müsse abends je ein Samenkorn drei Zentimeter tief in der Erde vergraben, ein gelbes für Apfelkompott, ein orangenes für das Ei, anderntags könne man dann das Gewünschte ernten. An diesem Tag, mit der ersten Aussaat, begann ein ganz besonderer Sommer.

Jubel jeden Morgen! Eine weiße emaillierte Schale gefüllt mit Kompott stand da, mittendrin ein hart gekochtes Ei. Solange Hans den Samen in sein Beetchen pflanzte, war das Wunder leicht zu bewerkstelligen. Hinten im Garten, bei den Haselnussbüschen, hatte jedes Kind ein eigenes Stück Land, vier nebeneinanderliegende schmale Streifen, in der Reihenfolge des Alters: Ursula, Brigitte, Hans und Helmut. Da unsere Mutter immer als Erste aufstand, konnte sie ungestört dorthin gehen und die am Vorabend gekochte Speise auf Beet Nummer drei stellen.

Nach ungefähr einer Woche verkündete Hans, er werde ausprobieren, ob der Samen «anderswo noch besser» wüchse. Jetzt hatte unsere wundertätige Mutter ein Problem. Sie brauchte jemanden, der auf der Lauer lag, wenn Hans am Abend in den Garten ging, und ihn unauffällig beobachtete. Also wurden die Töchter, wer sonst, als Spione verpflichtet. Das war zunächst ganz amüsant, sogar unser Vater und das Kindermädchen Ella machten mit, eine regelrechte Verschwörung.

Hans war auf der Suche nach einem geeigneten Platz zum Aussäen meist unschlüssig. Es konnte passieren, dass endlich, nach langem Anmarsch, sein runder Po hinter den Johannisbeerbüschen verschwand. Und er eine Viertelstunde später wieder auftauchte – unverrichteter Dinge, sich ins Gras setzte und sich dann erneut auf Rundgang begab. Anscheinend dachte er intensiv nach.

Unter den Kirschbäumen? In deren Zweigen spektakelten die gefräßigen Stare. An der Himbeerhecke? Da stand die Kastenfalle, womöglich würde das Kaninchen, bevor es hineintappte, sein «Apfelnkompott» probieren. Am besten regengeschützt, also unter dem Efeu am alten Gartenhaus? Dort allerdings war es nicht ganz geheuer, drinnen zwischen den Gartengeräten wohnte in unseren Kinderspielen die Hexe Kaukaukau. Zu Füßen der gerade hochgebundenen Erbsen und Bohnen? Mutters Reich. Oder sonnig und leicht erhöht, im Spargelhügel? Über den herrschte Vater – sich dem interessantesten aller Gemüse zu nähern, war strengstens verboten.

Es wurde Frühsommer, das abendliche Ritual allmählich lästig. Es setzte sich fort in den Juli hinein, am 3. des Monats wurde Hans fünf. Ich erinnere mich, dass sich, während ich den Bruder verfolgte, meine Wahrnehmung des Gartens allmählich veränderte. Er war anders als beim Purzelbaumschlagen, beim Herumtoben und Klettern, anders als beim Erdbeerpflücken. Das Schleichen und Verharren, eine Art Versteckspiel mit ungewohnten Regeln, ich durfte Hans nicht verlieren, musste zugleich für ihn unsichtbar sein, und meine vergeblichen Versuche, mit seinen Augen zu sehen, die Gedanken unter seinem blonden Pony zu erraten, verwirrten mich. Offenbar war der Garten von Hans ein anderer als meiner. Ich war achteinhalb, und in diesem Sommer 1959 ahnte ich zum ersten Mal, dass der Garten eigentlich viele Gärten waren: Jedes Familienmitglied hatte seinen.

Ich spürte, dass er für alle äußerst wichtig war, bedeutsamer vielleicht als das neuerrichtete ziegelrote Haus. Nach dem Bauen – Richtfest war kurz vor der Geburt von Hans gewesen – waren die stolzen Besitzer noch auf lange erschöpft, frische Luft und Auslauf konnten sie gut brauchen. Als Kind war mir Ostern, dessen wichtigste Rituale, vom Eiersuchen bis zum Osterfeuer, draußen stattfanden, immer lieber als Weihnachten, das drinnen begangen wurde.

Mein Garten, das war der Matsch nach dem Regen und ein Versteck an der Hecke, das nur mir gehörte. Ich liebte die Wochen um Fronleichnam, wenn alles wie verrückt blühte, Gravensteiner Äpfel, den modrigen Duft der Champignons, die Vater im Gartenhaus züchtete, Kartoffelfeuer, das verwilderte Gebüsch am Wäscheplatz. Ich liebte ganz besonders die Minuten nach dem Ruf: «Jetzt aber ins Bett!» An warmen Sommerabenden konnte man fürs Federballspiel oft noch eine halbe Stunde rausschinden und dem weißen Ball hinterherjagen, ein Kunststück, ihn in der Dunkelheit zu treffen. Noch mehr ließe sich aufzählen, und vieles gehörte nicht dazu, war mir in diesem Alter völlig egal: wie Rhododendron und ganz besonders Hortensien, das Modegewächs schlechthin, in ebendiesem Jahr bekam ich mindestens zehn davon zur ersten heiligen Kommunion geschenkt, Libellen und der Komposthaufen zum Beispiel, die Gladiolenbeete, die wir Großtante Minchens Aktivitäten zu verdanken hatten, und die mehrere Generationen zurückreichende Geschichte der Bäume – sie warteten noch darauf, entdeckt zu werden. Noch heute könnte ich alles aufzeichnen, diesen und auch spätere Zustände meines Gartens, er ist wie eine innere Landkarte. Mit ihm verbinden sich zwei frühe, elementare Erfahrungen: die von Freiheit und der Freude daran und die von Einsamkeit, im Garten war sie zu ertragen, oft sogar schön.

Besagter Sommer, die Geschichte mit Hans, hatte es in sich. Mittlerweile hatte sogar der Jüngste, der zweieinhalbjährige Helmut, die Samen als saure Drops identifiziert. Das Hänschen veräppeln – wir lachten und lästerten zu fünft, es schien dafür keine Ohren zu haben. Hinter dem boshaften Vergnügen jedoch verbarg sich – bei mir – schreckliche Eifersucht. Da saß dieser Bursche jeden Morgen beim Frühstück und löffelte selig sein Leibgericht. Wie ein Kronprinz! Genau das war er, Vaters Liebling und sein Ebenbild, spätestens jetzt war es nicht mehr zu übersehen. Über Hans lag Wohlgefallen, mochte er noch so naiv und dickfellig sein.

Aber war er es wirklich? Es gab Spekulationen darüber, nicht nur in der engeren Familie. Spielte er den Einfaltspinsel nur? Vielleicht lachte er ja insgeheim über uns? Herausgefunden haben wir es nie, obwohl Hans in späteren Jahren immer wieder dazu befragt wurde. Nein, er habe fest geglaubt, niemals Verdacht geschöpft, war seine Antwort. Überraschungsangriffe auf Familienfesten, Alkoholeinfluss, sanfte Erpressung, nichts konnte Hans, den tüchtigen, weltgewandten, seit langem in Südfrankreich lebenden – er hat sich als der Sprachbegabteste von uns allen entpuppt und besitzt einen nicht gerade üppigen, ewig unter Dürre leidenden Garten – zu einem Geständnis bewegen. «Warum sollte ich nicht daran glauben, es funktionierte doch», sagte er unlängst am Telefon.

Der fünfjährige Hans wusste anscheinend etwas vom Glück. Sollte sich eines Tages doch noch herausstellen, dass seine Behauptung nicht oder nur halb wahr ist, wird die Geschichte in der Familie wohl trotzdem unverändert weitererzählt werden. Wir brauchen sie, so wie der Mensch Märchen braucht. Und wie im Märchen, ob es am Hof eines Königs oder im Wald oder, was häufig vorkommt, in einem Garten spielt, ist auch hier der Zauber umgeben von allerhand Ernst, harter Arbeit, Traurigkeit. Zu unserem «Hans im Glück» gehört zum Beispiel, dass sich unsere Mutter außerordentlich plagte. Die halbe Stunde fürs Schälen, Apfel- und Eikochen ging von ihrem Nachtschlaf ab. Und wenn sie vergnügt und energisch mit dem Schüsselchen in den Garten lief, zog sie das rechte Bein ein wenig nach, Folge eines schweren Reitunfalls. Mit vierzehn Jahren, erzählte sie mal, hätte sie am liebsten Bäuerin werden und zwölf Kinder haben wollen. Sie kam damals gerade ins Internat, und nach Abitur und Studium hätte sie das Zeug zu einer beruflichen Karriere, wohl auch die Sehnsucht danach, gehabt. Vielleicht, wer weiß, war sie als Hausfrau mit dem großen Garten und immerhin vier Kindern ihrem Jugendtraum ganz nahe.

Um die Hintergründe zu beleuchten, müsste ich weit ausholen, etwa in die Kindheit unseres Vaters zurückgehen, des Bauernsohns aus dem westlichen Münsterland, der zu seinem großen Kummer den elterlichen Hof nicht erbte, nach sieben Jahren Krieg und russischer Gefangenschaft Tierarzt wurde in Ahlen und sich dort, nur 80 Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt, zeitlebens wie im Exil fühlte. Für ihn war der Garten ein Refugium, wo er das, was er verloren hatte und vermisste, noch ein wenig leben konnte. Er grub und hackte, meist in Holzschuhen, verwendete überreichlich Mist zum Düngen. Obstbäume und Rosen veredelte er selbst, die Wildlinge holte er aus dem Ahlener Stadtwald, die «schönen Augen» oft von zu Hause. Gekaufte Pflanzen mochte er nicht; bei den Bauern, deren Tiere er kurierte, erbat er Stauden, die er noch nicht hatte. An der Weißdornhecke hinten im Garten hielt er Jagdhunde, mit ihnen zog er, wenn Saison war, in Wald und Feld, in die nächstgrößere Natur. Sein liebster Ort war der offene Kamin am Rande der Terrasse. Sogar bei starker Kälte saß er dort, rauchend, und stocherte in der Glut. Er konnte nicht ohne Feuer sein, und drinnen im Haus war es ihm zu eng.

Was er in diesem Sommer – dem zwölften seines «Exils», er war vierundvierzig Jahre alt – dachte, wenn er Hans seine Drops eingraben sah, weiß niemand. Vielleicht rührte ihn der Vorgang, das Säen? Hoffte er, da könnte wieder ein Bauer heranwachsen? Oder umgekehrt, vielleicht wurde ihm klar, dass ebendieses unmöglich war, ein für alle Mal vorbei? Womöglich war das Bedeutungsvolle auch nur die Leichtigkeit des Geschehens, dass er selbst sich dadurch ein wenig unbeschwerter fühlte?

Irgendwann war die «Apfelei» natürlich vorbei. Ihr Ende, es fiel zusammen mit dem Ende des Sommers, ist nicht im Familiengedächtnis gespeichert. Hauptsächlich deswegen, weil es im Rheinland stattfand, nur mein Bruder Hans kennt es genau. Er wurde für ein paar Tage zu Onkel und Tante geschickt, die Samenmischung hatte er natürlich in seinem Campingbeutel dabei. Am ersten Abend, während er den Garten der rheinischen Verwandtschaft inspizierte, erklärte er seinem sieben Jahre älteren Vetter stolz, was er vorhatte. «Du Dämelack!» Der Vetter klärte das Hänschen sogleich gründlich auf. Christkind, Osterhase und Klapperstorch wurden aus dem Leben des Fünfjährigen gleich mit vertrieben. «Einfach schrecklich», erinnert sich Hans fast fünfzig Jahre später.

Zweiter Teil

Feuerborns Birnbaum

«Heute Abend unterm Birnbaum?», ruft Änne ins Telefon.

Wo sonst? In dieser Julischwüle, am Freitag, wenn die Damen unter der Friseurhaube geschwitzt haben.

«Unterm Birnbaum ist es luftig», sagt Hanna, meine Schwiegermutter. «Erst pättkern wir barfuß um den Baum herum, übers Gras, damit die Hitze abgeleitet wird. Und dann ein kühles Bier! Man muss sich wundern, dass in diesem Baum, so krückelig, wie er ist, noch so viel Saft ist. Nur Früchte trägt er kaum.» Da sitzen die Schwestern schon unter dem Blätterdach in der Jahnstraße 31 versammelt – die Gastgeberinnen Änne und Zita sowie Hanna und Mia, die aus der etwa tausend Meter entfernten Schumannstraße mit dem Auto «angereist» sind.