Der Allmächtige? - Oliver Mayer-Rüth - E-Book

Der Allmächtige? E-Book

Oliver Mayer-Rüth

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Beschreibung

2023 sind Wahlen in der Türkei und ihr 100. Geburtstag. Wird Recep Tayyip Erdogan straucheln oder festigt er seine Präsidentschaft in diesem Schicksalsjahr? »Der Allmächtige??« durchleuchtet sein skrupelloses Vorgehen seit dem Putschversuch 2016. Gut recherchiert, im Lichte zahlreicher persönlicher Erlebnisse und politischer Ereignisse schildert ARD-Korrespondent Oliver Mayer-Rüth den Weg der heutigen Erdogan-Türkei und macht klar, welche riesigen Kollateralschäden der autoritäre Staatschef in Kauf nimmt, um seinen Palast in Ankara nie wieder verlassen zu müssen. Erdogans Umfragewerte lassen keinen reibungslosen Wahlsieg erwarten. Er kriminalisiert deshalb die Opposition, spielt nationalistische Gefühle aus, hält potenzielle Gegenkandidaten mit einer willfährigen Justiz in Schach, setzt Flüchtlinge als Hebel gegen die EU ein, blockiert den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands, mauschelt mit Wladimir Putin. Was macht das mit der Türkei? Mayer-Rüth zeigt auf, welche Optionen der Schlüsselstaat am Bosporus im geopolitischen Poker zwischen der EU, Russland und den USA noch hat.

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Seitenzahl: 375

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Oliver Mayer-Rüth

Der Allmächtige?

Die Türkei von Erdoğans Gnaden

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

unter http://dnb.dnb.deabrufbar.

ISBN 978-3-8012-0656-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8012-7050-6 (E-Book)

© 2023 by

Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Petra Bähner, Köln

Umschlagfoto: © picture alliance/EPA-EFE/TOLGA BOZOGLU

Satz:

Kempken DTP-Service | Satztechnik · Druckvorstufe · Mediengestaltung, Marburg

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2023

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Inhalt

EINLEITUNG

KAPITEL 1: Insignien der Macht

KAPITEL 2: Das Referendum

KAPITEL 3: Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018Kampf um Istanbul

KAPITEL 4: Pressefreiheit

KAPITEL 5: Die Türkei und Griechenland

KAPITEL 6: Osman Kavala

KAPITEL 7: Zypern

KAPITEL 8: Flüchtlinge – Sturm auf die Grenze

KAPITEL 9: Eine Geschichte der Inflation

KAPITEL 10: Der Präsident, die Kurden und die NATO

KAPITEL 11: Erdoğan und Putin – ein strategisches Bündnis

KAPITEL 12: Die Erde bebt – Ausblick auf die Wahl

ZUM SCHLUSS

EINLEITUNG

Was ist das Geheimnis der Macht des türkischen Präsidenten? Wie konnte es Erdoğan wiederholt schaffen, Mehrheiten für eine Politik zu mobilisieren, die zumindest in den letzten Jahren den Wohlstand seines Volkes nicht bedeutend vermehrt hat? Ist sein Einfluss inzwischen so gewachsen, dass er nahezu allmächtig schalten und walten kann, wie er will? Während die Inflation steil nach oben geht, steuert die Türkei seit 2016 von einer außenpolitischen Krise in die nächste. Erdoğan warnt, schimpft, verweigert, blockiert, lässt einsperren, angreifen, besetzen. Er provoziert mit Kalkül, um aus Konflikten innenpolitisches Kapital zu schlagen. Zumindest aus seiner Perspektive gibt ihm der Erfolg recht, auch wenn sein Agieren zu allerlei Kollateralschäden in der Beziehung zu anderen Ländern führt. In der EU nehmen ihn viele Bürger und Politiker aufgrund seines autoritären Führungsstils und seiner ständigen Konfrontationen als bedrohlich und unberechenbar wahr. Gleichzeitig wissen Regierungen im Westen, man kommt nicht ohne Weiteres an ihm vorbei. Er fordert Hochachtung ein und bekommt diese, insbesondere von Berlin, wo man schon unter einer Bundeskanzlerin Merkel stets darauf bedacht war, nicht zu eskalieren und offene Konflikte mit dem türkischen Präsidenten möglichst zu vermeiden. Daran hat sich mit Olaf Scholz nichts geändert. Erdoğans Wählerinnen und Wähler genießen es, dass man ihm und der Türkei Respekt zollt. Der türkische Präsident ist seit mehr als 20 Jahren an der Macht. Die Bevölkerung im Land ist jung. Alle, die bei den kommenden Wahlen zum ersten Mal ihre Stimme abgeben, haben nur ihn als Regierungschef erlebt. Man muss Erdoğan zugestehen, dass er sein Volk bestens kennt und weiß, wie er kommunizieren muss, um Mehrheiten zu organisieren. Offensichtlich ist, dass der Ton in den vergangenen sieben Jahren zunehmend nationalistischer und polarisierender wurde.

Namık Tan, ehemaliger türkischer Botschafter in Washington und Tel Aviv, hat nach dem apokalyptischen Erdbeben Anfang Februar dieses Jahres einen niederschmetternden Artikel auf dem türkischen Newsportal Yetkin Report geschrieben. Herrn Erdoğans AK-Partei habe wiederholt den äußeren Feind beschworen, ohne darauf zu achten, dass langfristigen Interessen der Türkei nicht damit gedient ist, jahrzehntealte Verbündete zu Gegnern zu erklären, so Tan. Über Jahre hinweg hätte die Erdoğan-Partei dafür gesorgt, dass sich die abwegige Vorstellung von fremden Mächten, die sich in türkische Angelegenheiten einmischen, auf ungesunde Weise im Bewusstsein der türkischen Öffentlichkeit verfestigt hat, klagt der frühere Diplomat.

Es gibt in der Geschichte ausreichend Belege dafür, welch verheerende Wirkung das süße Gift des Nationalismus auf einen Staat und sein Volk haben kann. Dennoch nutzen erneut weltweit Politiker die Ideologie, um Stimmen einzufangen. Ich persönlich finde diese Entwicklung beängstigend und wünsche mir stattdessen eine funktionierende multilaterale Weltordnung.

Ich habe dieses Buch geschrieben, um für Leserinnen und Leser anhand von persönlichen Erlebnissen und Beobachtungen des politischen Geschehens der vergangenen sieben Jahre in der Türkei nachvollziehbar zu machen, wie es Erdoğan geschafft hat, die Macht zu behalten und auszubauen. Ein zentrales Element seiner Politik sind analog zum Nationalismus ständige Krisen mit dem Ausland. In den folgenden Kapiteln beschreibe ich, welche Instrumente er regelmäßig einsetzt, um das Bedürfnis eines Teils der türkischen Bevölkerung nach Überlegenheit gegenüber anderen Völkern zu bedienen. Die Veröffentlichung des Buches war von vornherein für einen Zeitpunkt vor der kommenden Wahl in der Türkei geplant, in der Hoffnung, den Leserinnen und Lesern Informationen bereitzustellen, die zu einem tieferen Verständnis der Erdoğan-Politik beitragen. Ich habe dieses Buch auch geschrieben, weil Fuat Celik, mein im Jahr 2019 mit gerade mal 46 Lebensjahren leider viel zu früh verstorbener bester Freund in der Türkei, mich immer wieder aufgefordert hat, am Ende meiner Korrespondentenzeit interessante Erlebnisse, die in der aktuellen Fernsehberichterstattung keinen Niederschlag finden, zu veröffentlichen. Dankbar bin ich meinem Freund, dem Politikwissenschaftler und Sachbuchautor Dr. David Ranan, dass er mir bereits 2016 geraten hat, in einer Art Tagebuch Notizen zu machen, die dann die Grundlage für die Erzählungen in »Der Allmächtige?« waren. Außerdem hatte er die Geduld, erste Textentwürfe zu lesen und zu kritisieren, was bitter nötig war. Auch mein Freund und Kollege Dr. Markus Spieker hat mich regelmäßig aufgefordert, meine Erlebnisse als Türkei-Korrespondent in den Jahren von 2016 bis 2023 unbedingt als Buch zu veröffentlichen. Danke Markus für Deine Beharrlichkeit. Hubert Faustmann, Professor für Geschichte und internationale Beziehungen der »University of Nicosia« hat dankenswerterweise einen kritischen Blick auf das Zypern-Kapitel geworfen. Besonders danken muss ich Cemal Taşdan, der seit mehr als zwei Jahrzehnten als Producer für die ARD in Istanbul arbeitet. Cemal hat nicht nur einen Faktencheck des Buches vorgenommen, sondern mich jahrelang beraten und mein Verständnis von türkischer Politik geprägt. Bei zahlreichen im Buch geschilderten Erlebnissen war er dabei. Auch die beiden anderen Producer des ARD-Studios, Murat Yücalar und Şener Azak, und alle weiteren Studiomitarbeiter, haben maßgeblich zum Erscheinen der folgenden Kapitel durch Interviews, Übersetzungen und Ideen beigetragen. Vor der Veröffentlichung haben sich meine Schwiegereltern Christa und Wolfgang die Mühe gemacht, das Buch zu lesen. Vielen Dank, liebe Schwiegereltern. Seitdem ich im Land bin, tausche ich mich regelmäßig mit meinem Freund Ender Ciner, ehemaliger Abgeordneter des türkischen Parlaments, aus. Ender hat vieles vorausgesehen, was nach 2016 in der Türkei passiert ist. Sein kritischer Blick auf das politische Geschehen spiegelt sich an vielen Stellen des Buches wider. Besonders dankbar bin ich meiner Frau Hanna und meinen Kindern David, Joshua und Tabea. Ohne deren Einverständnis wäre ich nicht Korrespondent in der Türkei geworden. Sie sind im Sommer 2016 trotz vieler Terroranschläge und trotz des Putschversuchs hierhergekommen und bis heute geblieben.

Für dieses Buch habe ich zahlreiche Gespräche geführt. Ein bedeutender Teil der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner war aufgrund der politischen Rahmenbedingungen leider nicht bereit, sich mit Namen zitieren zu lassen. Dennoch waren viele der Aussagen so wichtig, dass ich diese hier festhalten wollte.

Liebe Türkinnen und Türken. Ihnen gehört ein großartiges, reiches, bedeutendes Land. Ihre Gastfreundschaft ist zu Recht weltweit berühmt. Ich habe jedes Gespräch mit Ihnen, insbesondere politische Diskussionen, sehr genossen. Bewundernswert ist, mit welch mentaler Stärke Sie sich den Herausforderungen des Alltags entgegenstellen und nie verzagen. Ich bin überzeugt davon, dass das türkische Volk in seiner Vielfalt und Heterogenität, auch ohne überbordenden Nationalismus, eine glänzende Zukunft haben kann.

KAPITEL 1: Insignien der Macht

»The President of the Republic of Turkey«, sagt die Mitarbeiterin des Präsidialamtes bedeutungsschwer ins Mikrofon. Recep Tayyip Erdoğan betritt den Saal, gefolgt von einem Tross an Beratern, Kofferträgern, Bodyguards. 30 bis 40 internationale Journalisten erheben sich unaufgefordert von ihren Plätzen. Einen nach dem anderen begrüßt der türkische Präsident persönlich. Der Hoffotograf hält jede Begegnung fest. Erdoğan ist groß, etwa 1,85 Meter. Er hat lange Arme. Wollte er den Journalisten die Hand geben und dabei die bei einer ersten Begegnung mit einem Fremden natürliche Distanz wahren, könnte er den Arm ausstrecken. Doch selbst ein Treffen mit Pressevertretern ist eine Demonstration der Macht. Der Präsident streckt den Arm nicht aus. Er winkelt diesen an, hebt dabei leicht die Hand. Für seine Gegenüber gibt es nun zwei Möglichkeiten. Entweder sie gehen ihm einen Schritt entgegen, überschreiten damit die besagte natürliche Distanz und greifen ebenfalls mit leicht gebeugtem Arm Erdoğans Hand, oder sie halten Abstand, müssen sich dann jedoch leicht nach vorne beugen, um die Hand des Präsidenten zu erreichen. Etwa 70 Prozent der Begrüßten, einschließlich dem Autor dieser Zeilen, entscheiden sich spontan für Variante zwei. Dabei fällt die Entscheidung nicht bewusst. Jeder westliche Journalist würde lieber im Boden versinken, als sich vor Erdoğan zu verbeugen. Man kennt die Methode nicht und ist schlicht überrascht. Schließlich begegnet man nicht täglich einem Staatsführer, der seit zwei Jahrzehnten ein Land regiert und in der Zeit kontinuierlich seine Macht ausbauen konnte. Die Fotos werden nach der Pressekonferenz auf der Internetseite des Präsidialamtes veröffentlicht. Lauter sich leicht vor Erdoğan verbeugende westliche Journalisten, die aus Sicht der meisten Erdoğan-Unterstützer den lieben langen Tag nichts anderes zu tun haben, als Unwahrheiten über ihren sogenannten »Reis«, also den Chef oder Anführer, zu verbreiten.

Erdoğan-Fans dürften ihre helle Freude an den Fotos haben. Der türkische Präsident kennt die in seinem Land für sein Volk wichtigen Symbole der Macht wie kein Zweiter. Sitzt er in einem Tausend-Zimmer-Palast auf einem goldenen Thron, mag das seinem Gast, wie beispielsweise der neben ihm sitzenden ehemaligen Bundeskanzlerin Merkel, unpassend vorkommen. Erdoğan weiß jedoch, seine Anhänger lieben solche Szenerien, denn sie erinnern an die goldenen Zeiten der Osmanen, als die Vorväter der Türken über das größte und mächtigste Reich der Welt herrschten.

Natürlich gehören zu machtbewussten Auftritten entsprechende Inhalte. Immer wieder erinnert Erdoğan seine Landsleute daran, dass andere Völker die Türken ernst nehmen, ja sogar den türkischen Zorn fürchten müssen. Zwei Tage vor der Pressekonferenz am 19. Oktober 2019 ist US-Vizepräsident Mike Pence in Ankara und kann nach einer Woche heftiger türkischer Angriffe auf die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien eine Waffenruhe für einen Zeitraum von 120 Stunden vereinbaren, in denen sich die Miliz zurückziehen muss. Der türkische Präsident warnt Washington vor der versammelten Auslandspresse, die Vereinbarung müsse eingehalten werden. Wenn nicht, werde die Türkei noch härter zuschlagen als bisher.

Nichts bei dem Auftritt vor den Medien ist dem Zufall überlassen. Alles entspricht einer minutiös geplanten Choreografie. Die Journalisten dürfen Fragen stellen, doch kein Fernsehsender hat das Recht, diese beziehungsweise die entsprechenden Antworten aufzuzeichnen. Lediglich Erdoğans zwanzigminütige Rede zu Beginn der Veranstaltung wird von einer Kamera des Präsidialamtes festgehalten und im Anschluss den Sendern zur Verfügung gestellt. Von westlichen Journalisten unbotmäßig gestellte Fragen haben in diesem System genauso wenig eine Chance, das Licht der Öffentlichkeit zu erreichen, wie möglicherweise ungeschickt formulierte Antworten, die zu einem späteren Zeitpunkt korrigiert werden müssen. Die Symbolik der Macht wird im Nahen Osten ernst genommen. Es geht um Ehre und die Frage, wer der Stärkere ist. Saudi-Arabische Medien veröffentlichten nach einem Treffen des türkischen Präsidenten mit dem saudischen Kronprinzen ein Foto, auf dem Mohammed Bin Salman breit grinst und Erdoğan selbst eine leicht gebückte Haltung eingenommen hat. Der türkische Palast veröffentlichte ein Foto, auf dem beide aufrecht stehen. Offenbar war es dem Königssohn wichtig, Erdoğan herabzuwürdigen, nachdem der türkische Präsident die Staatsanwaltschaft gegen Bin Salman aufgrund des Mordes an dem im türkischen Exil lebenden saudischen Journalisten Khashoggi ermitteln ließ.

Wenn hoher Besuch nach Ankara kommt, ist die erste Station auf dem Weg in den Tausend-Zimmer-Palast ein mit osmanischen Ornamenten verzierter Pavillon auf dem Gelände vor dem Eingangstor. Dort empfängt der Präsident seinen Staatsgast, um sich die Nationalhymnen der Türkei und des Gastlandes anzuhören. Im Anschluss schreiten sie einen blauen Teppich entlang. Nicht nur Soldaten stehen Spalier. 16 in historische Rüstungen gekleidete Schwertträger stehen symbolisch für die von Turkvölkern gegründeten Reiche. Erdoğans Einflusssphäre endet nicht an den Landesgrenzen, so die Botschaft. Seine Bürger, unabhängig davon, ob sie Erdoğan-Unterstützer oder Gegner sind, stellen den Pomp kaum infrage. Es sei die Ehrfurcht vor dem Amt, sagt eine ältere Bewohnerin Istanbuls, die bei Wahlen ihre Stimme der Opposition gibt, wie sie versichert.

Zum besseren Verständnis beschreibt sie den Besuch einer Hochzeit, zu der auch der Präsident geladen war. Ein Verwandter sei Abgeordneter der von Erdoğan geführten »Adalet ve Kalkınma Partisi«, kurz AKP. Dessen Tochter habe geheiratet. Selbstverständlich folge man der Einladung, denn Familie sei wichtiger als Politik. Als der Staatschef den Saal betritt, seien alle aufgestanden und hätten geklatscht. Sie habe mit ihrem Applaus jedoch nicht den Politiker Erdoğan gemeint, sondern den Präsidenten ihres Landes, versucht sie zu erklären.

Im Laufe der Jahre hat der Machthaber der Türkei einen eigenen Stil bezüglich Körperhaltung, Bewegungsrhythmus, Gestik und Mimik entwickelt, der die Ernsthaftigkeit des Amtes unterstreicht. In seinem Auftritt liegt stets Strenge gepaart mit Würde. Hin und wieder lächelt er milde. Einen in der Öffentlichkeit herzlich lachenden Erdoğan gab es schon länger nicht mehr zu sehen. Bisweilen bewegt er sich so langsam, dass sich Beobachter Gedanken über seine Gesundheit machen. Das Pensum seiner Auftritte in Wahlkampfzeiten ist jedoch über allen Zweifel erhaben. Drei bis vier Reden pro Tag vor großem Publikum in verschiedenen Städten sind keine Ausnahme. Zur Begrüßung legt Erdoğan nach islamischer Tradition die Hand aufs Herz. So lässt er sich gerne fotografieren und auf Bannern oder Plakaten abbilden. Eine Geste, die in der Türkei nicht nur in religiösen Kreisen gut ankommt, wo insbesondere unter Frauen und Männern das gegenseitige Handgeben verpönt ist.

Mitte Dezember 2022 erklärt Erdoğan wenig überraschend, bei der nächsten Wahl erneut antreten zu wollen. Sein Ziel ist es auch, das 100-jährige Jubiläum der Staatsgründung der Türkei im Herbst 2023 als Präsident zu feiern. Amtskollegen aus der ganzen Welt werden erwartet. Ein Kreis vom sakrosankten Staatsgründer Atatürk zu Erdoğan würde sich schließen. Weil es dem Präsidenten laut türkischer Verfassung, Artikel 101 des Grundgesetzes, nur zweimal hintereinander gestattet ist, zu kandidieren, will er die ursprünglich für den 24. Juni geplante Wahl auf den 14. Mai vorverlegen, so dass aus seiner Sicht die verfassungsrechtliche Hürde aufgrund von Neuwahlen genommen ist. Dafür muss sich das Parlament auflösen. Mit der Zustimmung der Opposition ist zu rechnen. Wie stehen die Chancen für seine Wiederwahl? Kann er erneut das islamisch-konservativ-nationalistische Lager ausreichend mobilisieren? Wie hat er es bisher geschafft, Mehrheiten zu gewinnen und die Macht in seinen Händen zu konzentrieren? Welche Spannungsfelder prägten in den vergangenen Jahren seine Politik? Wer Antworten auf diese Fragen findet, bekommt ein Gefühl dafür, wie das Votum bei der kommenden Wahl ausgehen könnte.

Die Washington Post glaubt, die weltweit wichtigsten Wahlen im Jahr 2023 fänden in der Türkei statt. Die US-Regierung, Moskau, die Länder der Europäischen Union, aber auch die Regierungen im Nahen Osten blicken mit hohem Interesse auf den Urnengang des NATO-Mitgliedslandes, das sich dem von demokratischen Prinzipien geprägten Wertekanon des Verteidigungsbündnisses verschrieben hat. Wer sich wünscht, Erdoğan möge die Wahl verlieren, könne sich gleichzeitig keineswegs klar darüber sein, was danach komme, so die Washington Post und ergänzt, politische Führer im Westen würden ihn dennoch gerne abtreten sehen. Sein autoritärer Politikstil, ständige außenpolitische Krisen, die Annäherung an Putin irritieren insbesondere die EU und die USA. Doch regiert er, wie manche glauben, gegen den Willen seines Volkes?

Erdoğan kennt die Mentalität der Türkinnen und Türken und hat es immer wieder geschafft, einen Großteil seiner Landsleute emotional zu packen und zu begeistern. Niemand in der Türkei stellt die rhetorische Begabung des ehemaligen Koranschülers infrage. In den vergangenen sieben Jahren ist es ihm gelungen, den Staat zu seinen Gunsten umzubauen und oppositionelle Kräfte in den Sicherheitsbehörden, der Justiz und der Armee zu eliminieren. Er kontrolliert das Gros der Medien, die Hohe Wahlkommission, das Verfassungsgericht. Selbst bei einer Wahlniederlage, so befürchten viele Oppositionelle hinter vorgehaltener Hand, müsste er die Zügel nicht aus der Hand geben. Bisher war ihm die Bestätigung durch den Souverän jedoch ein wichtiges Anliegen. Schließlich legitimiert sie den mit demokratisch gewählten Amtskollegen gemeinsamen Auftritt auf internationalem Parkett.

Frühjahr 2016. Erdoğan kommt für das Freitagsgebet in die »Große Moschee« des am goldenen Horn liegenden Hafenviertels Kasımpaşa. Dort ist er mit seinen Eltern Ahmet und Tenzile, drei Brüdern, einer Schwester und einem Cousin aufgewachsen. Sein Vater war Seemann bei der türkischen Küstenwache. Regelmäßig gibt der Präsident nach dem Freitagsgebet Interviews. So warten mehrere Fernsehteams vor dem Ausgang des Moscheegeländes auf das Staatsoberhaupt. Erdoğans Presseteam lädt üblicherweise die dem Palast nahestehenden großen Medienhäuser, das Staatsfernsehen TRT und die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu ein. Das ARD-Studio Istanbul hat von türkischen Journalisten von dem Termin erfahren. Der Kameramann stellt sich in die Reihe mit den Kollegen der anderen Sender und baut sein Stativ auf. Ein Polizist fragt ihn, zu welchem Sender er gehöre und ob man eine Akkreditierung habe. Nein, lautet die Antwort. Dann sollte man besser gehen, heißt es. Die Aufforderung des Beamten wird ignoriert. Im allgemeinen Trubel verliert er das ARD-Team aus den Augen.

Im Viertel hat sich herumgesprochen, dass Erdoğan zum Freitagsgebet in die Moschee gekommen ist. Immer mehr Bewohner Kasımpaşas warten auf den Mann, der einst hier seine Kindheit und Jugend verbrachte. Das Gebet müsste inzwischen abgeschlossen sein, sagt einer der türkischen Kollegen. Unruhe entsteht. Im Viertel ist man stolz auf den erfolgreichen Politiker aus den eigenen Reihen. Er sei stets ein guter Muslim und ein fleißiger Koranschüler gewesen, erklärt ein Anwohner. Niemand hier käme auf die Idee, Erdoğan oder dessen Politik infrage zu stellen. Der Sicherheitsdienst des Präsidialamtes hat die an der Moschee entlangführende enge Straße abgesperrt. Groß gewachsene, schwer bewaffnete Männer mit breiten Schultern und Sonnenbrille, einen kleinen Kopfhörer-Knopf im Ohr, geben den Schaulustigen zu verstehen, wo die rote Linie ist.

Eine große Menschentraube hat sich inzwischen um die Reihe der Kameramänner gebildet. Er kommt, er kommt, ruft jemand mit leicht euphorischer Stimme. Jetzt ist im Nahkampf um den optimalen Standort für die besten Bilder voller Körpereinsatz nötig. Die Polizei bemüht sich, das begeisterte Volk auf Abstand zu halten. Die Blicke erinnern an gläubige Katholiken, die auf dem Petersplatz in Rom den Heiligen Vater bestaunen. Erdoğan strahlt für seine treuesten Anhänger etwas Messianisches aus. Der große, hagere Mann schreitet auf die Kameras zu, überlegt kurz und dreht plötzlich nach rechts ab. Die für seine Sicherheit zuständigen Polizisten blicken irritiert. Was hat er vor? Kein Interview? Offensichtlich ist es eine seiner spontanen, aus dem Bauch heraus getroffenen Entscheidungen. Abgesprochen war der Richtungswechsel nicht, ansonsten würden die Polizisten koordinierter handeln. Ihre Aufgabe ist es, die Menschen auf Abstand zu halten, um einen Anschlag oder Übergriffe auf die Nummer Eins des Staates zu verhindern. Erdoğan jedoch geht direkt auf die begeisterten Bürger von Kasımpaşa zu. Er kennt hier jedes Haus, jede Gasse des eng bebauten, bunten Viertels aus seiner Kindheit. Er grüßt, spricht mit den Menschen, schüttelt Hände. Sie klatschen und rufen ihm zu, er sei der einzig wahre »Reis«. Die Zustimmung einer deutlichen Mehrheit bei Wahlen ist ihm in Kasımpaşa sicher. Die muskelbepackten Sicherheitsbeamten bemühen sich, die Kontrolle zu behalten, während Erdoğan in der Menge badet. Der Präsident biegt in eine enge Seitenstraße ab. Sein Ziel ist ein Kebap-Restaurant. Nachdem er mit einigen Getreuen das Lokal betreten hat, versperrt die Polizei den Eingang. Ganz Kasımpaşa scheint inzwischen in der Gasse zu stehen. Sich zu bewegen ist kaum noch möglich. Alles drängt und schiebt in der Hoffnung, noch einmal in sein Antlitz blicken zu dürfen. An diesem Tag ist Erdoğan der Präsident zum Anfassen. Ein Politiker, der die unmittelbare Nähe zu den Wählerinnen und Wählern nicht scheut. Schließlich blickt er vom ersten Stock herab aus dem Fenster des Restaurants hinaus auf die begeisterte und jubelnde Menge. Er winkt und wirkt glücklich. Seine Macht scheint an diesem Freitagmittag grenzenlos zu sein.

In Kasımpaşa sind sie überall zu sehen. Aufkleber auf den Heckscheiben von Pkw oder Bussen, die von Weitem einer Blüte ähnlichsehen. Es ist die sogenannte Tughra, eine Kalligrafie und auch die Signatur des Sultans, vergleichbar mit einem Sigel westlicher Feudalherrscher. Wer dieses Zeichen trägt, bekennt sich zur Herrschaft der Osmanen und zu Erdoğan, also zu einer Zeit vor der Gründung des modernen türkischen Staates durch Mustafa Kemal Atatürk. Solange die Sultane die Geschicke des Reiches bestimmten, waren Staatswesen, Sozialordnung und Kultur in hohem Maße vom Islam geprägt, so der Turkologe Matuz. Staatsgründer Atatürk hatte jedoch andere Pläne mit der Türkei. Sein Ziel war ein moderner, laizistischer, westlich orientierter Staat, ohne jegliche religiöse Prägung. Um dies durchzusetzen, wurde Frauen das Tragen des Schleiers und Männern das Tragen der Fez genannten Kopfbedeckung verboten. Verfassung und Rechtsstaat wurden europäisch ausgerichtet. Atatürk ließ die lateinische Schrift statt des arabischen Alphabets einführen. Das Militär bekam eine besonders starke Rolle im Staat und war aufgefordert, sämtliche Bestrebungen gegen das Ziel einer laizistischen Türkei gewaltsam zu unterbinden. Das Vorgehen des Staatsgründers war autoritär und nationalistisch geprägt und ließ anderen Ideologien keinen Raum. Religiöse Türkinnen und Türken wurden regelrecht unterdrückt.

Bis heute nennen sich Atatürks Anhänger Kemalisten. Auch sie haben auf der Heckscheibe ihrer Pkw ein Symbol kleben. Es ist die Unterschrift des Staatsgründers. Die Türkei ist in diese beiden Ideologien gespalten, was sich im Wahlverhalten widerspiegelt. Erdoğans Herausforderung ist es, den zwischen beiden gesellschaftlichen Gruppen verbindenden Nationalismus so zu befördern, dass sich säkulare Türken mit ihm solidarisieren können.

Wie Erdoğan, so grüßen auch heldenhafte Osmanen in detailverliebten Gewändern mit der Hand auf dem Herzen im türkischen Fernsehen. Eine edle Geste, die dem Gegenüber Respekt erweist. Und ähnlich wie der Präsident müssen die Osmanenkrieger gegen den äußeren Feind oder einen Verräter in den eigenen Reihen einen nicht enden wollenden Krieg mit vielen Opfern führen. Es handelt sich um Charaktere, mit denen sich türkische Zuschauer leicht identifizieren. Seit Jahren schreiben Autoren hierzulande routiniert Drehbücher, in denen sie die glorreichen Zeiten des osmanischen Imperiums beschwören. Die Produktionen laufen mit ansehnlichen Einschaltquoten im staatlichen Fernsehsender TRT oder in dem Palast nahestehenden Privatkanälen. Die Darstellungen durchsetzungsstarker, keiner Herausforderung aus dem Weg gehender Männer – und in Einzelfällen auch Frauen – passen zum Zeitgeist einer seit Staatsgründung nationalistisch geprägten Türkei.

Die Serie Payitaht Abdülhamid oder »The Last Emperor« bekam von Erdoğan durch öffentliche Erwähnungen eine besondere Auszeichnung. Es handelt sich um die Geschichte des von 1876 bis 1909 regierenden Sultans Abdülhamid II. Ausländische Mächte haben sich gegen ihn verschworen. Gegenspieler und Erzfeind in der Serie ist der Jude Theodor Herzl. Abdülhamids Ziel ist der Zusammenhalt des Osmanischen Reichs und der Schutz Palästinas. In der ersten Szene des Films fährt der Sultan auf einer Kutsche, begleitet von Soldaten und Leibwächtern, durch Istanbul. Am Straßenrand steht das jubelnde Volk. Ein Mann wirft eine mit einem Davidstern geprägte Münze in die Hand eines Soldaten, woraufhin dieser seine Kameraden zum Attentat gegen Abdülhamid aufruft. Sofort entstehen beim Zuschauer Assoziationen zum Putschversuch im Jahr 2016. Die Washingtoner »Foundation for Defence of Democracies« kritisiert laut Medienberichten, die Serie verbreite eine »antidemokratische, antisemitische und verschwörungstheoretische Weltsicht.« Als Payitaht Abdülhamid im Jahr 2017 bei TRT Freitagabends zur besten Sendezeit läuft, lobt Erdoğan das Programm ausdrücklich und zieht eine Linie zur heutigen Zeit. Erdoğan habe bei einer Rede in der Stadt Düzce deutlich gemacht, wie wichtig es für junge Menschen sei, die Geschichte zu kennen, so TRT. Was die Türken waren und zu was sie geworden seien, könne man in der Serie erfahren, so der Präsident. Das Land habe 18 Millionen Quadratkilometer gemessen und messe nun 780.000 Quadratkilometer, fährt er fort. Bei Payitaht Abdülhamid erlebe man türkische Geschichte. »Sie«, womit offenbar der imaginäre äußere Feind gemeint ist, wollten auch heute etwas von den 780.000 Quadratkilometern nehmen, warnt Erdoğan. Doch man werde mit Polizisten, Gendarmen, Soldaten, Hubschraubern und Panzern dagegen vorgehen.

Gemeinsam schreibt der erste Mann im Staat mit den Drehbuchautoren das Narrativ, die Türkei sei aufgrund der Angriffe fremder Mächte vom Zerfall gefährdet, was das Land Hand in Hand mit einem starken Anführer verhindern müsse. Josef Matuz, der renommierte, 1992 verstorbene Professor für Turkologie an der Universität Freiburg, beschreibt den eigentlichen Abdülhamid II. als Alleinherrscher, der das Osmanische Reich drei Jahrzehnte lang mit »Terrormaßnahmen« regierte. Aufgrund seiner misstrauischen Natur ließ Abdülhamid »alle ihm politisch verdächtig erscheinenden Personen bespitzeln«, so Matuz. »Für Druckerzeugnisse« habe der Sultan »eine scharfe Zensur« eingeführt. Allerdings sei es nicht zu einer hemmungslosen Tyrannei gekommen, denn es seien auch Reformen umgesetzt worden. In religiösen türkischen Kreisen verfängt die durch populäre Fernsehserien geförderte Erzählung, Erdoğan sei ein zweiter Abdülhamid, der sich gegen islamfeindliche ausländische, aber auch inländische Mächte zur Wehr setzen müsse. Die in den Serien vermittelten Werte und Geschlechterrollen passen zum islamisch-konservativen Weltbild der Erdoğan-Partei AKP. Gleichzeitig werden in der Türkei Netflix- oder Disney+-Produktionen, in denen homosexuelle Paare ohne jegliche Darstellung sexueller Handlungen vorkommen, indexiert. Der Präsident geht offenbar davon aus, die kulturelle Revolution hin zu einer islamisch-nationalistisch geprägten, westliche Werte ablehnenden Gesellschaft fördere und stabilisiere seine Macht.

Bei den Wahlen in den Jahren 2002, 2007 und 2011 kann Erdoğan unter anderem aufgrund wirtschaftspolitischer Erfolge, rechtsstaatlicher Reformen und einer Annäherung an die EU neben seiner religiösen Stammwählerschaft, die etwa 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht, auch säkular-konservative Wähler ansprechen, die in den 1980er- und 1990er-Jahren die »Anavatan Partisi« des ehemaligen Staatspräsidenten Turgut Özal wählten. Mehrheiten im Parlament sind ihm sicher. In den Jahren 2014 und 2015 bemüht er sich um Friedensverhandlungen mit der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei PKK und schlägt einen versöhnlichen Kurs gegenüber türkischen Kurden ein, den insbesondere die nationalistische Partei »Milliyetçi Hareket Partisi«, kurz MHP, ablehnt. Die prokurdische Partei »Halkların Demokratik Partisi« schafft es bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2015, mit ihrem charismatischen Parteichef Selahattin Demirtaş über die Zehn-Prozent-Hürde zu kommen und so ins Parlament einzuziehen. Erdoğans AKP findet nach der Wahl keinen Koalitionspartner.

Die Gewalt zwischen dem türkischen Staat und der PKK nimmt zu. Ende Juli spricht Erdoğan von einem gescheiterten Friedensprozess. Die Kurdenmiliz erklärt Städte im Südosten zu Autonomiegebieten. Um dem türkischen Militär den Zugang zu versperren, werden Gräben ausgehoben. Ende August 2015 kündigt der Präsident Neuwahlen für den folgenden November an. Im Vorfeld des Votums kommt es zu einem Terroranschlag in Ankara mit 102 Toten und mehr als 500 Verletzten. Die Themen Gewalt und Sicherheit bestimmen den Wahlkampf. Daraufhin kann die AKP erneut mehr als 50 Prozent der Sitze im Parlament gewinnen. Erdoğan lässt Militäroffensiven gegen die PKK im Südosten des Landes durchführen und beschuldigt die HDP, verlängerter Arm der PKK zu sein. Die MHP unterstützt den harten Kurs. Der Wechsel zu einer polarisierenden, nationalistischeren Politik zahlt sich aus, auch wenn er viele Opfer mit sich bringt.

»Ausweise und Pressekarten«, sagt der Polizist an einer Straßensperre wenige Kilometer vor der Stadtgrenze. Monatelang waren keine Journalisten im kurdisch geprägten Cizre. Es ist Frühling im Jahr 2016. Wenige Tage zuvor soll ein französisches Fernsehteam Zugang bekommen haben. Vor der Reise in die Provinz Şırnak, am Dreiländereck Syrien, Irak und Türkei, warnt unser Producer Cemal Taşdan, es könne sein, dass die Polizei uns an den Checkpoints durchlässt. Es sei aber auch möglich, dass wir unverrichteter Dinge wieder zurück nach Istanbul reisen müssen. Kameramann, Producer und Korrespondent übergeben Ausweise und Pressekarten. Der Polizist verschwindet in einer Hütte neben der Straßensperre.

Die türkische Armee startete Mitte Dezember 2015 eine Offensive gegen die PKK in Cizre und erklärte diese im Februar 2016 als beendet. Im Anschluss erließ der Gouverneur der Provinz mehrere Wochen eine Ausgangssperre. Die Nachrichten aus der belagerten Stadt klingen grauenhaft. Mehrere Dutzend Zivilisten seien getötet worden. Die Kämpfer der als Terrororganisation eingestuften Kurdenmiliz haben sich in einem Wohngebiet verschanzt, heißt es. Das türkische Militär habe von einem Hügel aus mit Panzern auf das Stadtviertel geschossen. Bisher wurden Beiträge über die Militäroffensive mit Material der Nachrichtenagenturen oder mit von Augenzeugen in sozialen Medien verbreiteten Aufnahmen erstellt, weil der türkische Staat ausländischen Korrespondenten den Zugang in die Konfliktregion verweigerte.

Geben sie jetzt den Weg nach Cizre frei? Nach fünf Minuten kommt der mit einer Splitterschutzweste gekleidete Polizist zurück zum Auto und reicht die Pressekarten und Ausweise durch das Seitenfenster. Er habe die Daten des Teams nach Ankara weitergeleitet, sagt er. Jetzt heißt es, Geduld haben. Wer in der Hauptstadt den Vorgang prüft, ist unklar. Geheimdienst? Militär? Informationsministerium? Oder alle drei?

In einem Tal sind in einer Entfernung von etwa 2 Kilometern Dächer der Stadt zu sehen. Wie geht es den Menschen in Cizre nach der Belagerung und der Militäroperation? Wie groß ist das Ausmaß der Zerstörung? Die Hügel rund um Cizre sind karg. Viel Fels, viel braune Erde, wenig grün. Der Tigris fließt durch die Stadt und schenkt den Menschen Wasser. Nirgends in der Türkei wird es so heiß wie hier. Cizre halte mit 49 Grad Celsius im Schatten den Rekord in der Türkei, steht im Internet.

Nach 20 Minuten Warten im Auto immer noch keine Antwort aus Ankara. Aussteigen. Beine vertreten. Die Straßensperre ist gut gesichert. Die Polizisten sitzen hinter mobilen Betonmauern, die vor Explosionen oder Angriffen mit Schusswaffen schützen sollen. Die Region ist Rückzugsgebiet der Kurdenmiliz PKK. Hier überqueren deren Kämpfer die nur wenige Hundert Meter entfernte türkischsyrische oder die etwa 20 Kilometer entfernte türkisch-irakische Grenze, um bei einer Offensive der Armee in das sichere Nachbarland zu flüchten oder von dort aus Angriffe gegen das türkische Militär durchzuführen. Wann gab es den letzten Zwischenfall mit der PKK? Das sei einige Tage her, antwortet einer der Polizisten. Nach 30 Minuten geht der Daumen hoch. Die Polizisten geben den Weg frei.

Der erste Eindruck an der Stadtgrenze: ein mehrstöckiges, wahrscheinlich von Artilleriefeuer beschädigtes Wohnhaus. Auf Cizres Hauptstraße sind nur wenige Menschen zu sehen. Die Einwohnerzahl des gesamten Landkreises beträgt in normalen Zeiten etwa 130.000. Viele sind während der Kämpfe geflohen. Südwestlich der Straße liegt das Stadtviertel »Cudi«. Gleich nach dem Abbiegen wird das ganze Ausmaß der Zerstörung sichtbar. Zwischen einzelnen intakten Wohnhäusern liegt ein zwei bis drei Fußballplätze großes Trümmerfeld. Bagger schieben den Schutt zerbombter Häuser auf die Seite. Cudi ist verwüstet und menschenleer. Fast nichts ist an einem Stück geblieben.

Das Viertel grenzt an einen Hang. Ein greiser Mann am Stock sucht sich den Weg durch die Trümmer. Von dort oben hätten die Panzer geschossen, erzählt er. Immer wieder habe es Explosionen gegeben. Tagelang ging das so. Türkischer Staat und PKK geben sich gegenseitig die Schuld für die in Cizre getöteten Zivilisten. Die Kurdenmiliz sagt, die Armee hätte hemmungslos in das Wohngebiet gefeuert. Ankara sagt, die Kurdenmiliz habe die Bewohner als Schutzschild missbraucht.

Im nordöstlich gelegenen Stadtteil »Nur« tobten ebenfalls Gefechte. Das Haus der kurdischen Familie Damri wurde durch Artilleriefeuer teilweise zerstört. Als die Armee angriff, seien sie zum Glück bei Verwandten in einer anderen Stadt gewesen, sagt Sefer Damri. Nachdem sich die Nachricht von der Offensive verbreitete, entschieden sie, erst einmal nicht nach Cizre zurückzukommen. Bei der Heimkehr viele Wochen später sei das Entsetzen groß gewesen. Das Haus halb eingestürzt und verbrannt. Inzwischen hat sich der Familienvater offenbar an den Anblick gewöhnt. »Solange wir keine Alternative haben, müssen wir hierbleiben«, erklärt er im Interview. Hierbleiben heißt, in einem löchrigen Haus zu leben, durch das der Wind in kalten Nächten pfeift, sodass die Kinder frieren. Eine Granate hat sich durch die Außenwand gebohrt. In einem Zimmer sind sämtliche Möbel nur noch Schrott und Kleinholz. In den intakten Räumen liegen Matratzen auf dem Boden. Damri sammelt im Treppenhaus leere Patronenhülsen auf. Manche haben ein Kaliber von mehr als 10 Zentimetern.

Sie seien keine PKK-Unterstützer, versichert er. Warum sein Haus zerstört worden sei, könne er nicht nachvollziehen. Er hofft auf das vor Kurzem vereinbarte Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Darin heiße es, türkische Staatsbürger dürften bald visafrei in die EU einreisen. Sobald das möglich sei, würde er mit der Familie nach Deutschland gehen, schließlich seien sie türkische Staatsbürger, auch wenn sie der Staat zurzeit vor allem fühlen lasse, dass sie Kurden sind. Was Sefer Damri nicht weiß, Brüssel hat Bedingungen für die Visafreiheit gestellt. Zum Beispiel die Anpassung der rigiden türkischen Terrorgesetze an das EU-Recht. Die Schwelle der hiesigen Justiz, mutmaßliche Terrorverdächtige inhaftieren zu lassen, ist deutlich niedriger als in Rechtsstaaten der Europäischen Union. Oppositionelle Kurden bekommen das immer wieder zu spüren. Auf dem Hof vor dem Haus bittet Damri darum, für seine Familie und ihn zu beten. Man würde sich in Deutschland vielleicht wiedersehen. Damals konnte er noch nicht ahnen, dass die versprochene Visafreiheit nie umgesetzt würde.

Im Frühjahr 2016 erschüttern zahlreiche Bombenanschläge Istanbul und Ankara. Die PKK und der sogenannte Islamische Staat bekennen sich zu den Attentaten. Der nicht enden wollende Terror versetzt das Land in Angst und Schrecken. Am 15. Juli rollen Panzer durch die Straßen Istanbuls und Ankaras. F-16-Kampfjets durchbrechen beim Flug über dem Bosporus die Schallmauer, so dass ein lauter Knall die Menschen der Millionenmetropole aufschrecken lässt. Soldaten sperren die Brücke über der Meerenge zwischen Europa und Asien. Ein Teil der türkischen Armee will die Regierung stürzen und die Kontrolle im Land übernehmen. Mit Staatsstreichen haben die Türken Erfahrungen. Immer wenn sich das Militär die Macht an sich gerissen hat, wurden in den Folgejahren Freiheiten brutal eingeschränkt, Menschen getötet, gefoltert, weggesperrt oder sind einfach verschwunden. Erdoğan schafft es, in der Putschnacht seine Anhänger zum Widerstand zu bewegen. Zivilisten stellen sich Panzern und Soldaten in den Weg. 265 Menschen werden getötet, fast 1.500 verletzt. Während für die Putschversuche vor den 2000er-Jahren die Kemalisten im Militär verantwortlich zeichnen, beschuldigen Erdoğan und dessen Anhänger diesmal die sektenartige Bewegung des in den USA im Exil lebenden Islampredigers Fethullah Gülen. Der bestreitet eine Beteiligung.

Erdoğan und der Islamprediger waren jahrelang Verbündete. Nachdem Erdoğan und seine Partei die Macht übernehmen konnten, förderten sich AKP und das Gülen-Netzwerk gegenseitig. Gülen-Jünger haben es mit politischer Unterstützung der AKP geschafft, in wichtige Positionen in Justiz, Militär, Polizei und Politik zu gelangen. Zur Bewegung gehörende Staatsanwälte und Richter gingen Hand in Hand mit der Polizei gegen kemalistische Militärs, Angehörige des Justizapparats und Geschäftsleute vor. Sie überziehen diese im sechseinhalb Jahre andauernden Ergenekon-Prozess mit fingierten Vorwürfen und verurteilen sie im Jahr 2013 zu hohen Haftstrafen.

Es kommt zum offenen Machtkampf zwischen Erdoğan und Gülen. Staatsanwälte und Richter, denen eine Nähe zu Gülen nachgesagt wird, ermitteln gegen Erdoğans Familie wegen Korruption. Das Netzwerk ist ein Staat im Staate, das Erdoğan noch mehr bekämpft, nachdem dieser vom Amt des Ministerpräsidenten in das des Präsidenten wechselt und die ihm eigentlich zugedachte Rolle eines repräsentativen Staatsoberhauptes ignoriert, indem er weiterhin die Fäden des Landes in der Hand hält. Aussteiger werfen der Gülen-Bewegung autoritäre Strukturen und die Existenz von nachrichtendienstlichen Einheiten zur Überwachung der Mitglieder vor. In Deutschland betreibt die Sekte Bildungsvereine und propagiert nach außen den Dialog. Deutsche Journalisten, die kritisch über das Netzwerk berichten, müssen in sozialen Medien »Shitstorms« erleben, werden verklagt und deren Redaktionen massiv unter Druck gesetzt. Nichtsdestotrotz pflegen Abgeordnete der Volksparteien des deutschen Bundestags Kontakte zu Anhängern des Islampredigers. Im Zuge des Putschversuchs fliehen türkische Militärs nach Deutschland, wo sie Asyl bekommen. Regierungskreise in Ankara vermuten, der deutsche Geheimdienst schöpfe gemeinsam mit dem US-Geheimdienst CIA Informationen geflohener Gülen-naher Offiziere über den türkischen Sicherheitsapparat ab. Erdoğan fordert vergeblich deren Auslieferung.

Bemerkenswert ist ein Interview mit der Überschrift »der Putsch war nur ein Vorwand«, das der sonst eher schweigsame Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, dem Spiegel im März 2017 gibt. Die Türkei habe auf verschiedensten Ebenen versucht, von der Schuld des Gülen-Netzwerks zu überzeugen. Das sei ihr aber nicht gelungen, so Kahl. Die Gülen-Bewegung sei eine zivile Vereinigung zur religiösen und säkularen Weiterbildung, ergänzt der BND-Chef. Die Aussage steht nicht nur im Widerspruch zur türkischen Regierung, auch hochrangige Funktionäre und Parlamentarier der türkischen Oppositionsparteien CHP und HDP halten Mitglieder des Gülen-Netzwerks in Interviews für die Drahtzieher des Putschversuchs. Ein Bericht des britischen Parlaments kommt zur Schlussfolgerung, neben anderen Akteuren hätten auch Gülen-Anhänger teilgenommen. Für die Behauptung, das Netzwerk als Ganzes stünde hinter dem vereitelten Staatsstreich, gebe es hingegen keine ausreichenden Beweise.

Das Telefon klingelt.

»Hier ist Mesut Yılmaz«, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung auf Deutsch mit leichtem Akzent. »Wissen Sie, wer ich bin?«, fragt der Herr.

Kurzes Zögern. Dann die ehrliche Antwort: »Nein, helfen Sie mir bitte, klären Sie mich auf«.

Yılmaz fährt fort, unser gemeinsamer Freund Ender Ciner habe ihm meine Telefonnummer gegeben. Jetzt fällt der Groschen. Mesut Yılmaz, ehemaliger Ministerpräsident der Türkei beziehungsweise Chef der »Anavatan Partisi«, übersetzt Vaterlandspartei. Zwischen 1991 und 1999 schafft er es dreimal in das Amt des Regierungschefs. Später ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Yılmaz ergebnislos wegen Korruption. Er war Abgeordneter der Schwarzmeerregion Rize, aus der auch Erdoğans Familie kommt. Während seiner Zeit als Parteichef richtet er die Vaterlandspartei europaorientiert und modern aus. Yılmaz war Schüler des renommierten Istanbuler Erkek-Gymnasiums, wo Lehrer aus Deutschland in deutscher Sprache unterrichten und die Lernenden auf ein deutsches Abitur vorbereiten. Was kann er wollen?

Der Ex-Regierungschef mag, ein wenig untypisch für Türken, keine Höflichkeitsfloskeln und kommt direkt zum Thema. Er habe gehört, die ARD bereite eine Dokumentation zum Putschversuch im vergangenen Sommer vor. Ob das stimme, fragt er. Das sei richtig, so die Antwort. Er würde gerne etwas zum Thema beitragen, erklärt Yılmaz mit fester Stimme. Es gehe um die auch in Deutschland diskutierte Frage, wer hinter dem Putschversuch stecke. Mehr wolle er erzählen, wenn das Fernsehteam da sei. Ok, lautet die Antwort. Eine Garantie auf eine Veröffentlichung könne aber nicht gegeben werden. Es käme auf den Inhalt an. Darauf lässt er sich ein und fügt an, er denke, seine Aussagen hätten ausreichende Relevanz, um in der Dokumentation zu erscheinen.

Ort und Zeit werden vereinbart. Yılmaz lädt das Team zu einer Wohnung in einem Hochhaus im Istanbuler Stadtteil Şişli ein. Im geräumigen Wohnzimmer hat er eine Aussicht weit über den Bosporus. Verschiedene osmanische Kunstartefakte stehen im Raum. Während das Kamerateam aufbaut, kritisiert er Erdoğans Vorgehen gegen Oppositionelle scharf. Die Maßnahmen schössen völlig über das Ziel hinaus. Das hemmungslose Wegsperren viel zu vieler Menschen habe das Land in Angst und Schrecken versetzt. Es gehe nur noch darum, wer für oder gegen Erdoğan sei. Das politische Klima sei vergiftet.

Yılmaz ist damals 69 Jahre alt. Er trägt das graue Haar nach hinten gekämmt, im Stile Cary Grants. Für das Interview hat er sich einen blauen Blazer und ein weißes Hemd angezogen. Er raucht Slim-Zigaretten nahezu Kette. Nach seiner Kritik am Präsidenten scherzt er und philosophiert kenntnisreich über deutschen Fußball. Der Kameramann gibt das Signal zum Start des Interviews. Wer steckt hinter dem Putschversuch?

Yılmaz ist sich sicher, dass der Befehl aus Pennsylvania kam, wo Fethullah Gülen im Exil lebt. Entscheidend sei, dass die Länder der EU nach dem Putschversuch der Türkei beistünden und die von der Gülen-Sekte ausgehende Gefahr nicht herunterspielen. Und dann kommt die entscheidende Aussage. Der Chef des Bundesnachrichtendiensts, Bruno Kahl, habe in der Türkei schwere Irritationen und Ärger erzeugt, so Yılmaz. Besonders unverständlich sei dessen Einlassung gewesen, zwischen dem Putschversuch und dieser Sekte sollte es keinerlei Verbindung geben. Yılmaz galt stets als Brückenbauer zwischen Deutschland und der Türkei. Seine eindeutige Positionierung ist bemerkenswert und soll offensichtlich eine Botschaft an die Deutschen sein. Dort gibt es seit dem Putschversuch eine anhaltende Debatte darüber, wer im Hintergrund das Militär orchestrierte. Oft heißt es, Erdoğan habe alles selbst inszeniert. Grund dafür sind Aussagen des türkischen Präsidenten, wie die in der Putschnacht, als er den versuchten Staatsstreich als Gnade Gottes bezeichnete, denn dieser liefere den Grund, die Streitkräfte zu säubern. Dass Erdoğan als AKP-Chef maßgeblich zur Unterwanderung der Streitkräfte durch die Gülen-Bewegung beigetragen haben dürfte, macht Yılmaz im Interview ebenfalls deutlich. Nach dem Machtantritt der AKP habe die Blütezeit der Sekte begonnen, so der ehemalige Ministerpräsident. Diese habe fast alle wichtigen Positionen im Land erobert und sei wie ein Staat im Staate gewesen. Man habe das Parallelstaat genannt, hält Yılmaz fest. Bei den Recherchen für die Dokumentation wird deutlich, Erdoğans Geheimdienstchef Hakan Fidan und Generalstabschef Hulusi Akar wussten mit hoher Wahrscheinlichkeit schon Stunden vor dem Putschversuch, was ein Teil des Militärs vorhatte. Ob Erdoğan das Umsturzvorhaben bewusst geschehen ließ, ist ungeklärt.

Yılmaz steht auf, blickt aus dem Fenster und sagt, in der Türkei könne alles sehr schnell gehen. Heute sei man wichtiger Staatsmann, morgen sitze man im Gefängnis. So sei das seit Jahrzehnten. Auf die Frage, wie er auf diese Äußerung komme, lächelt er und schweigt. Er sei jedenfalls dankbar dafür, dass er nicht ins Gefängnis musste, obwohl ihm das viele gewünscht hätten. Dreieinhalb Jahre nach dem Interview stirbt Mesut Yılmaz im Oktober 2020 nach einem schweren Krebsleiden.

2016 ist ein dunkles Jahr für die Türkei. Der Staat geht gegen Zehntausende Beamte hart vor. Es kommt zu massenhaften Festnahmen und Entlassungen. Gleichzeitig werden Tausende verurteilte Straftäter freigelassen, um in Gefängnissen für mutmaßliche Putschunterstützer Platz zu schaffen. Aufgrund des Ausnahmezustands kann Erdoğan per Dekret regieren. Die Rechte der Opposition sind deutlich eingeschränkt. Die nationalistische MHP unterstützt den Präsidenten. Parteichef Bahçeli spricht sich für das von Erdoğan angestrebte Präsidialsystem aus. Offenbar als Gegenleistung kann er seine Gefolgschaft auf den Posten der Beamten unterbringen, die aufgrund der Festnahmen und Massenentlassungen frei werden. Günter Seufert, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, schreibt, es sei Bahçeli darum gegangen, die Sicherungen wieder einzubauen, mit denen eine eigenständige Staatsbürokratie gefährlichen Experimenten der Regierung begegnen kann. Mit gefährlichen Experimenten sind Erdoğans Friedensverhandlungen mit den Kurden und das Bündnis mit der Gülen-Bewegung gemeint.

Die MHP schafft es, die Regierungspolitik und den Staatsapparat zunehmend nationalistisch zu prägen. Die Festnahme von Selahattin Demirtaş, Parteichef der prokurdischen HDP, im November 2016 ist eines der vielen Zeugnisse der neuen Ausrichtung. Erdoğan setzt seit dem Putschversuch, getrieben von der MHP, aber sicherlich auch aus eigenem Kalkül, zunehmend auf die nationalistische Karte. Im Dezember des Jahres 2020 schreibt Michael Thumann, Journalist für Außenpolitik in einer Kolumne für Zeit-Online, der türkische Staat sei auf dem Weg, ein MHP-Staat zu werden. Der Nationalismus hat das Land fest im Griff und bestimmt das politische Klima bei den folgenden Wahlen.

KAPITEL 2: Das Referendum 2017

Ihr Blick wirkt scheu und unsicher. Sicherlich hat ihr die mehrmonatige Haft übel zugesetzt. Die Kamera ist aufgebaut. Aslı Erdoğan sitzt vor einem Bücherregal. Der Kameramann drückt den Aufnahmeknopf. Erste Frage an die preisgekrönte Schriftstellerin: Was hält sie vom Vorgehen der türkischen Regierung gegen Oppositionelle? Sie antwortet, man könne die Situation in der Türkei im Januar 2017 mit Deutschland im Jahr 1936 vergleichen. Sie nennt Namen, Details, Argumente, klagt die türkische Regierung an. Nächste Frage: Ob sie Angst vor einer weiteren Verhaftung habe? Aslı Erdoğan mustert die Kamera, denkt kurz nach und stellt die Gegenfrage, ob das soeben Gesagte gefilmt wurde. Man vereinbart, das Interview noch einmal von vorne zu beginnen. Der Vergleich mit der deutschen Geschichte und die folgenden Ausführungen hätten sicherlich große Aufmerksamkeit erregt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte jedoch nach Veröffentlichung der Interviewsequenz eine Anti-Terror-Einheit der Polizei erneut vor Aslı Erdoğans Tür gestanden.

Wenige Monate zuvor, im August 2016, bringen Sicherheitskräfte die Schriftstellerin ins Frauengefängnis Bakırköy. Die Vorwürfe: Terrorpropaganda, Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation, Volksverhetzung. Aslı Erdoğan hatte bei der prokurdischen Zeitung Özgür Gündem Berichte geschrieben und ehrenamtlich die Geschäftsführung des Blattes beraten. Die Festnahme fand einen Monat nach dem Putschversuch statt. Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, liest bei der Eröffnungsrede der Frankfurter Buchmesse im Oktober eine aus dem Gefängnis geschmuggelte Grußbotschaft der Schriftstellerin vor. Sie schreibt, in ihrem Land lasse man mit unvorstellbarer Rohheit das Gewissen verkommen. Dabei werde gewohnheitsmäßig und wie blind versucht, die Wahrheit zu töten. Auch wenn sie nicht wisse wie, so habe es die Literatur aber immer geschafft, Diktatoren zu überwinden. Deutliche Worte aus der Haftanstalt. Zwei Tage vor Silvester beginnt die Verhandlung. Aslı Erdoğan ist Tochter einer sunnitisch-türkischen Intellektuellenfamilie und gilt als Fürsprecherin der kurdischen und armenischen Minderheiten in der Türkei. Allein das macht schon verdächtig. Der Richter entscheidet ihre vorläufige Freilassung mit der Auflage, das Land nicht zu verlassen, solange der Prozess weiterläuft.

Dass sie wenige Wochen später zu einem Interview bereit ist, überrascht. Sie leidet an Asthma und Diabetes. Mehr als 130 Tage Haft waren Folter für ihren Gesundheitszustand. Der Mut der zerbrechlich wirkenden Frau ist erschütternd. Sie sagt, sie sei keine politische Figur oder Aktivistin. Ihre Festnahme sei eine Warnung an alle, dass das freie Wort nicht mehr frei sei. Ihre Inhaftierung sollte alle anderen, die auch schreiben, einschüchtern, glaubt sie. Nur wenige Wochen sind seit der Freilassung vergangen. Gefragt nach dem Vorwurf ihr gegenüber, sie sei eine Verräterin, antwortet sie, Türken verhielten sich oft wie kleine Kinder. Gehe es um die Opfer der eigenen Verbrechen, ärgern sie sich, anstatt in den Spiegel zu sehen. Das ganze Land habe es nicht gelernt, in den Spiegel zu sehen, und das sei der Grund, warum man wütend auf sie sei. Sie versuche, dem türkischen Volk den Spiegel vorzuhalten, und das Volk möge das Bild, das es sehe, nicht. Harte Worte.

Aslı Erdoğan sagt, sie sei von der Haft immer noch traumatisiert. Man habe ihr bei der Festnahme eine Maschinenpistole auf die Brust gesetzt. Wenn sie solch eine Waffe sehe, reagiere sie körperlich. Angesprochen auf das Referendum zur Verfassungsänderung, das im kommenden April, also in vier Monaten, stattfinden soll, ist sie wenig optimistisch. Die Türkei habe einen omnipotenten Führer, der in Kürze das bereits existierende Regime legalisieren und verfestigen werde. Präsident Erdoğan fälle alle Entscheidungen, von der Benennung der Universitätsdirektoren bis zu den Verfassungsrichtern. Die Macht sei in einer Hand.

Im September 2017 hebt der Richter die Ausreisesperre auf. Die Schriftstellerin reist kurz darauf nach Deutschland und hat seitdem türkischen Boden nicht mehr betreten.

Erdoğan hat es in der Vergangenheit wiederholt geschafft, bei knappen Umfrageergebnissen Wahlen zu gewinnen. Für April 2017 plant er ein Referendum, mit dem er 69 Artikel der Verfassung ändern lassen will. Diese betreffen vor allem seine Stellung als Präsident. Die Abstimmung hat allein das Ziel, die Macht in seinen Händen zu konzentrieren, und soll mitten im Ausnahmezustand stattfinden, der im Zuge des Putschversuchs vom Juli 2016 vom Parlament mit den Stimmen der Fraktionen der Erdoğan-Partei AKP und der nationalistischen MHP beschlossen wurde.