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März 1945: Der ehemalige Staatsanwalt Walter Gänslein überlebt die Würzburger Bombennacht. Als er anschließend in den Ruinen der zerstörten Stadt Henriette begegnet, keimt Hoffnung auf. Doch das Schicksal meint es anders. Die beiden werden getrennt. Alte Männer wie Gänslein sollen jetzt auf Befehl des Führers in einer aussichtslosen Schlacht die US-Army aufhalten. Als die Amerikaner vorrücken, gerät Gänslein in Kriegsgefangenschaft. Dort begegnet er der Person, auf die er seit Jahrzehnten gewartet hat.
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Seitenzahl: 214
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Alexander Meining
Der alte Mann vom Main
roman
Das letzte Aufgebot Würzburg 1945: Der ehemalige Staatsanwalt Walter Gänslein ist des Lebens überdrüssig. Mittlerweile 75 Jahre alt, fühlt er sich einsam in der Stadt, die schon viel zu lange von den Nazis regiert wird. Am Abend des 16. März wird er unerwartet Zeuge des Bombenangriffs der Alliierten. Binnen 20 Minuten wird fast die gesamte Altstadt zerstört. Gänslein eilt zurück in ein loderndes Inferno. Auf der Suche nach Nahrung begegnet er Henriette Kerstan. Die beiden lernen sich kennen und finden Gefallen aneinander. Doch als Gänslein am nächsten Morgen mit Henriette Würzburg verlassen möchte, wird er für den Volkssturm zwangsrekrutiert. Er soll die Ruinen der Stadt gegen die vorrückende US-Army verteidigen. Gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen wird er in eine sinnlose Schlacht geschickt. Der Befehl kommt vom Führer persönlich: Würzburg muss gehalten werden! Als die Amerikaner eintreffen, gerät Gänslein in Kriegsgefangenschaft und begegnet dort der Person, auf die er seit Jahrzehnten gewartet hat.
Alexander Meining lebt und schreibt in Würzburg. Durch die in der Residenzstadt während des späten 19. Jahrhunderts spielenden Georg-Hiebler-Romane wurde er bekannt.
Mit „Der alte Mann vom Main“ bleibt der Standort gleich, nur ist die Kulisse eine andere. Inmitten von Ruinen tobt eine blutige Schlacht, hervorgerufen durch ein fanatisches Regime, das die letzten Kräfte mobilisiert. In diesem Kontext historisch belegter Tatsachen erzählt der Autor eine fiktive Geschichte von Tod und Trauer, Zuneigung und Zuversicht.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Sammlung Willi Dürrnagel
ISBN 978-3-7349-3276-2
Die meisten Personen und ein Großteil der Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Doktor Otto Hellmuth, Gauleiter des Gaus Mainfranken
Theo Memmel, Oberbürgermeister der Stadt Würzburg
Richard Wolf, Oberst der Wehrmacht und Kampfkommandant der Stadt Würzburg
Harry Collins, Major General der US-Army, Oberbefehlshaber 42nd Rainbow Division
Norman Caum, Colonel der US-Army, Kommandant des 242. Regiments der Rainbow-Division
Die Last des toten Tiers in Gänsleins Rucksack wog schwer. Schwerer, als er es vermutet hatte, bestand doch Dackel Ricco zuletzt nur mehr aus Haut und Knochen. Hinzu kam das Gewicht des Klappspatens und der Flasche Silvaner, die er neben der Hundeleiche dort verstaut hatte.
Bevor er die Stufen des Kreuzwegs hoch zum Käppele stieg, musste Gänslein stehen bleiben, um durchzuatmen. Er spürte jetzt das Alter, war er doch mittlerweile 75 Jahre. Knie und Hüfte schmerzten bei Belastung, und sein Herz schlug auch nicht mehr so, wie er es von früher kannte. Statt einem gleichmäßigen Rhythmus – je nach Anstrengung manchmal schneller, manchmal langsamer – bemerkte er seit einigen Monaten Aussetzer, gefolgt von Salven seines Herzschlags. Immer dann wurde es ihm kurzzeitig schwindelig und er musste sich hinsetzen. Dieses Mal war es die Anstrengung, den Hang des tief eingeschnittenen Maintals hochzuwandern. Er hatte Probleme, seine Lungen mit ausreichend Luft zu füllen. »Wird Zeit, dass ich sterbe«, murmelte er keuchend vor sich hin und stieg langsam weiter nach oben.
Es war mittlerweile kurz vor 19 Uhr, als er mit dem Käppele, der von Balthasar Neumann erbauten Barockkirche, das Ende des Kreuzwegs erreicht hatte. Noch war es hell, aber in wenigen Minuten würde es finstere Nacht sein. Gänslein blieb stehen, atmete ein paarmal tief durch und warf einen Blick auf die Stadt. Es war ein sonniger Märztag gewesen, die Sicht war gut. Von hier aus überblickte er die gesamte Innenstadt, vom Würzburger Stein und dem danebenliegenden Stadtteil Grombühl im Norden bis zum Stadtteil Sanderau im Süden. Direkt am Main, zwischen Alter Mainbrücke und Löwenbrücke, sah er das Haus, in dem er wohnte. Jetzt musste er kurz lächeln. Er mochte seine Wohnung im dritten Stock. Von dort hatte er einen wunderbaren Blick über den Main und war in nur wenigen Minuten am Marktplatz. »Schön ist sie schon, die Stadt«, redete er mit sich selbst. »Und keine Minute habe ich es bereut, hier heimisch geworden zu sein.«
Dann ging er links an der Kirche vorbei, überquerte eine Straße und lief in ein kleines Wäldchen oberhalb des Käppele. Nach nur wenigen Schritten fand er die Stelle, welche er gesucht hatte. Gänslein stellte die schwere Last auf den weichen Waldboden und atmete tief durch. »So, Ricco, jetzt wird es ernst«, sagte er und öffnete den Rucksack. »Willkommen auf meinem kleinen und illegalen Hundefriedhof.«
Gerade als er den Spaten aufklappte und im nun letzten Licht des Tages begann, ein Loch zu graben, hörte er von der Stadt die Sirenen heulen. »Luftalarm«, murmelte er. »Wieder mal. Was soll denn noch zerbombt werden? Der Hauptbahnhof ist seit drei Wochen zerstört, und ansonsten gibt es eigentlich nichts, was sich in Würzburg als Ziel eignet. Nur Krankenhäuser und Kirchen – fast keine Industrie. Jeder andere Ort lohnt sich mehr, in Schutt und Asche gelegt zu werden.«
Nach kurzer Zeit war das Heulen wieder beendet. »Wahrscheinlich nur ein Fehlalarm«, sagte er und begann zu graben.
Nachdem ihm das Loch im Waldboden ausreichend groß erschien, legte er den toten Körper des Dackels hinein und schaufelte das Hundegrab zu. Er klappte den Spaten zusammen, verstaute ihn wieder und schulterte den nun deutlich leichteren Rucksack. Dann nahm er den Hut ab, stellte sich vor Riccos Grab und begann zu reden: »Von meinen drei Hunden, die hier begraben sind, warst du der dümmste, Ricco. Links von dir«, er warf einen kurzen Blick auf eine zwei Meter entfernte Stelle im Waldboden, »liegt Luna, mein erster und sicher auch klügster Hund. Luna war einzigartig, eine bessere Begleiterin konnte man sich nicht wünschen. Für sie habe ich diesen Platz hier ausgesucht – still, im Grünen, mit Blick über die Stadt und nahe einer Kirche. Dann kam der Krieg, und 1919 besorgte ich mir Rudi. Der Labrador liegt zwischen dir und Luna. Als er 1933 starb, war mir klar, dass rasch ein neuer Hund hermusste – nicht ganz so agil wie ein Labrador, schließlich war ich ja auch nicht mehr der Jüngste, sondern eher ein gemütlicher Gefährte. Ich wollte einen Hund, der mich auf Trab hält, aber nicht belastet. Und das warst dann du, Ricco, ein Deutscher Rauhaardackel, geboren 1933. Ein seltsamer Hund bist du gewesen. Du hast immer laut gekläfft, warst schwer zu erziehen und hattest keinerlei Respekt vor anderen deiner Art. Wie der Führer selbst bist du durch Würzburgs Straßen marschiert – ein Dackel mit kurzen Stummelbeinchen, jedoch aufrecht erhobenem Kopf und stolzem Blick. Wäre es dir möglich gewesen, hättest du beim Spazierengehen ständig deine rechte Vorderpfote zum Deutschen Gruß ausgestreckt. So hast du lieber die Hinterpfote gehoben und überall dort hingepinkelt, wo du es besser hättest bleiben lassen. Na ja, wenigstens hast du mir zu ausreichender Bewegung verholfen. Dass ich heute noch lebe, verdanke ich wohl dir.«
Gänslein musste nun über sich selbst schmunzeln. Er strich sich seinen grauen Haarschopf glatt und setzte den Hut wieder auf. »Vor zwei Jahren, mit dem Ende der Schlacht um Stalingrad, bist du dann krank geworden. Und seit letztem Sommer, mit der Landung der Alliierten in der Normandie, ging gar nichts mehr mit dir. Ich musste dich oft tragen, damit du deine Geschäfte erledigen konntest, so schlecht war es um dich bestellt. Aber so ein Hundeleben dauert eben nicht viel länger als zwölf Jahre. Dass du heute Morgen tot in deinem Körbchen lagst, war absehbar und vielleicht auch eine Erlösung. Tja, Ricco, nichts hat auf immer und ewig Bestand – weder du noch ich noch unser sogenanntes Tausendjähriges Reich.«
Als er den Satz beendet hatte, machte Gänslein eine angedeutete Verbeugung vor dem Grab. Er sah sich um, ob ihn jemand beobachtet hatte. Niemand war in seiner Umgebung. Er war allein. Dann ging er wieder zurück zum Käppele.
Dort angekommen, stellte er seinen Rucksack auf der Mauer ab, welche den Platz um die Kirche begrenzte, und sah ein weiteres Mal auf die Stadt.
Inzwischen war es stockfinster.
Plötzlich begannen erneut die Sirenen zu heulen – dieses Mal länger. Gleichzeitig erloschen die Lichter in den Straßen. »Scheint doch was Ernstes zu sein«, sagte Gänslein und sah auf seine Armbanduhr. Es war 20 Uhr. Kurz überlegte er, rasch den Weg zurück in die Stadt zu nehmen, in seiner Wohnung das Notwendigste zusammenzupacken und einen Luftschutzraum aufzusuchen. Dann beschloss er zu bleiben. Ob er im Bombenhagel sterben würde oder nicht, war ihm nun egal.
Er setzte sich auf die Mauer, ließ die Füße herunterbaumeln und blickte in die Tiefe. Die Mauer führte etwa 15 Meter senkrecht nach unten, gefolgt von einem mit Sträuchern bewachsenen steilen Abhang.
»Wenn ich jetzt hier runterspringe, bin ich tot«, murmelte er. »Wäre nicht das Schlechteste. Was soll ich noch hier? Ich habe niemanden, um den ich mich kümmern muss, und niemand kümmert sich um mich. Nicht mal mehr Gesprächspartner hat man. Alle, die man kannte, Freunde und Kollegen, sind mittlerweile tot. Ein tattriger Greis bin ich geworden. Einer, der mit sich selbst spricht, da ihm sonst keiner zuhört. Ich bin eine Altlast, ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, ohne Frau, Kinder, Enkel, Urenkel – nutzlos und einsam.«
Er seufzte, beugte sich weiter nach vorne und starrte in die finstere Tiefe.
Dann lehnte er sich wieder zurück und öffnete den Rucksack. »Aber zuerst wird die Flasche zu Riccos Ehren geleert. Ich schleppe das Ding doch nicht umsonst hier hoch.«
Er holte aus der Jackentasche einen Korkenzieher, entkorkte die Flasche mit einem lauten »Plopp« und trank einen Schluck. Genießerisch spitzte er die Lippen. »Auch daran habe ich mich gewöhnt während meiner Zeit in Würzburg: Wein zu genießen anstatt, wie es in meiner oberbayerischen Heimat üblich ist, Bier in sich hineinzukippen.«
Während Gänslein langsam die Flasche leerte, dachte er nach.
Er erinnerte sich an die Zeit, als er das erste Mal in Würzburg gewesen war. Nach dem Studium in München trat er eine Stelle in der Staatsanwaltschaft der Residenzstadt an. Er, der in Kolbermoor bei Rosenheim geborene Oberbayer, musste sich an vieles gewöhnen: den fremden Dialekt, die unterfränkische Mentalität und dass es hier Wein statt Bier zu trinken gab. Dennoch war er froh, dass es ihn hierher verschlagen hatte. Das Voralpenland und die Gegend um Rosenheim waren ihm zu bäuerlich, München zu aufgeblasen. Die Hauptstadt der Bewegung, wie sie nun hieß, hatte ihn nie gereizt. Für Gänslein waren die Münchner entweder arrogant oder einfältig oder im schlimmsten Fall beides. Er war sich sicher, dass er dort nicht bleiben wollte. Und so kam er nach Würzburg. Die Stadt am Main war zwar nie das Ziel seiner Wünsche gewesen, dennoch nahm er 1895, vor 50 Jahren, das Stellenangebot gerne an. Wenn es dort nichts werden würde, hatte er sich damals gedacht, hätte er immer noch in eine andere Stadt wechseln können. Beamte mit abgeschlossenem Studium waren damals sehr gefragt gewesen. Aber er blieb in Würzburg. Die Stadt gefiel ihm, und die Arbeit machte ihm Spaß.
Er hatte Verbrechen aufgeklärt und Recht und Ordnung walten lassen. Bis zu seiner Pensionierung war er eine angesehene Persönlichkeit gewesen. Und dann?
Dann übernahmen die Nationalsozialisten Schritt für Schritt die Kontrolle. Mit ihnen wurde alles anders. Eine Bande von Verbrechern hatte nach der Macht gegriffen – obskure Gestalten, die weder Bildung noch Anstand hatten. Gänslein verachtete die Nazis. Er hasste ihr Auftreten, ihre Sprache, ihre Taten. Aber er hatte sich seinem Schicksal gefügt. Bei der Machtübernahme 1933 war er bereits 63 Jahre. Zu alt, um noch Widerstand zu leisten. Und dann sah er, was mit denen passierte, die sich auflehnten oder nicht dem Rassen-Ideal dieser Mörderbande entsprachen. Gänslein hatte viele Juden als Nachbarn. Ehemalige Kollegen der Staatsanwaltschaft waren jüdischen Glaubens. Und dann? Von einem Tag auf den anderen waren sie verschwunden und tauchten nie wieder auf. Manchmal wurden sie vor den Augen der gesamten Stadt durch die Straßen zum Bahnhof getrieben, um von dort abtransportiert zu werden. Nach dem Gehetze in der Zeitung und den Gesprächen, die man in der Stadt mitbekam, war ihm klar, was mit den Juden passierte: Sie wurden enteignet, weggesperrt und misshandelt. Aber Gänslein hielt sich zurück. Er begehrte nicht auf. Sein gesamtes berufliches Leben wollte er Gerechtigkeit walten lassen. Jetzt schien es ihm egal zu sein, wenn Unrecht herrschte. So kurz vor der Pensionierung fügte er sich. Die paar Monate wollte er aussitzen. Warum das Altersruhegeld riskieren, für das man als Beamter ein Leben lang gearbeitet hatte?
Manchmal schämte er sich dafür.
Aber es gab da noch etwas anderes, was ihn zum passiven Mitläufer machte. Als der Krieg begann, trat die kollektive Idiotie ein. Das ganze Volk, darunter viele von denen, die anfangs keine Nationalsozialisten waren, fiel in einen Rausch. Das, was im Ersten Weltkrieg nicht erreicht wurde, trat ein. Sowohl im Westen als auch im Osten war die deutsche Armee siegreich. Das Reich wuchs und wuchs. Alle, vom Kind bis zum Greis – Gänslein selbst mit eingeschlossen – saßen abends vor dem Volksempfänger und feierten die Nachrichten erneuter Territorialgewinne wie Siege beim Fußball. Dass dies alles mit unendlich viel Leid, Tod und Schmerzen verbunden war, interessierte nicht. Warum auch? Schließlich ging es um das große Ganze: die deutsche Herrschaft. Deutschland war wieder jemand in der Welt, und jeder Deutsche – auch Gänslein – war ein Teil davon.
In einer Sache jedoch unterschied sich Gänslein von dem großen Rest der gierigen Masse. Er wusste, dass jede Nation in jedem Krieg irgendwann ihre Niederlage würde eingestehen müssen. Und diesen Zeitpunkt hatte Hitlerdeutschland seiner Meinung nach verpasst. An allen Ecken des einstmals ganz Europa umfassenden Reichs wurden Verluste erlitten. Das Debakel war unumgänglich und trotz aller Durchhalteparolen für jedermann erkennbar. Für Gänslein war der Krieg schon längst verloren.
»Bald wird das ganze Nazipack entweder ermordet oder verhaftet sein. Tausendjähriges Reich – dass ich nicht lache!«, giftete er und trank einen weiteren Schluck aus der Flasche. Langsam spürte er die Wirkung des Alkohols.
Er starrte in die dunkle Nacht.
»Der Krieg wird bald vorbei sein, und die Menschheit wird sich noch lange an eine Verbrecherbande unter der Führung eines gewissen Adolf Hitler erinnern«, murmelte er. »Und was wird sonst bleiben? Was wird vor allem von mir bleiben? Nicht viel, Unterschriften auf alten, verstaubten Akten der Staatsanwaltschaft, die irgendwann auf dem Müll landen werden. Ansonsten? Nichts! Kein Mensch wird sich daran erinnern, dass ich früher Verbrechen verhinderte und Täter ihrer gerechten Strafe zuführte. Warum auch? In Anbetracht der millionenfachen Morde, die wir die letzten Jahre erleben mussten, wäre das sinnlos. Ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wen sollte es da interessieren, wer oder was Walter Gänslein war?«
Er wischte sich jetzt ein paar Tränen aus den Augen.
»Ich sollte besser runterspringen. Bei meinen alten Knochen und dem schwachen Herzen wird der Tod schnell und schmerzlos kommen.«
Er leerte die Flasche, rutschte mit dem Gesäß näher zur Kante und blickte in die Tiefe.
Dann überschlugen sich die Ereignisse.
Wenige Minuten nach 21 Uhr gab es Vollalarm.
In der Ferne hörte Gänslein ein Dröhnen, welches immer lauter wurde. Propellermaschinen näherten sich vom Nordwesten her rasch der Stadt. Es mussten Hunderte sein, wie ein gigantischer Schwarm von Riesenheuschrecken. Er lehnte sich zurück und starrte in den Himmel – wartend, was da auf ihn zukam.
Nur wenige Minuten später, um 21.25 Uhr, begann der Angriff.
Walter Gänslein, geboren 1870 in Kolbermoor, wurde Zeuge, wie an diesem Freitagabend innerhalb von 20 Minuten Würzburg – die Stadt, in der er seit einem halben Jahrhundert wohnte – nahezu komplett zerstört wurde. Seinen ursprünglichen Plan, sich vom Käppele den Abhang hinabzustürzen, hatte er verworfen. Seine volle Aufmerksamkeit galt nun dem Geschehen, das ihn jetzt erwartete.
Zunächst fielen an kleinen Fallschirmchen befestigte grüne Leuchtbomben vom Himmel, die sich langsam, ganz langsam dem Boden näherten. Unmittelbar danach trafen rote Leuchtbomben die Sportplätze nahe des Mains an der Mergentheimer Straße – nicht weit weg von Gänsleins Beobachtungspunkt. Der alte Mann wusste mittlerweile, was die roten Lichter bedeuteten. Es waren keine Fehleinschläge zu früh abgeworfener Bomben, nein, sie sollten den Bomberpiloten signalisieren, mit ihren Flugzeugen ab hier fächerförmig aus dem Verband auszuscheren und die eigentliche Bombenlast abzuwerfen.
Dies geschah nun.
Gleichmäßig über die gesamte Altstadt verteilt, wurden tonnenweise Sprengbomben abgeworfen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Die Erde vibrierte. Ganze Häuserreihen explodierten. Dächer wurden abgedeckt.
Dann folgten weitere Flugzeuge. Diese hatten eine andere Ladung an Bord. Nach den Sprengbomben kamen jetzt Brandbomben. Hunderttausende kleine Stabbrandbomben fielen vom Himmel herab. Die abgedeckten Häuser in den engen Straßen der Altstadt, oft noch aus Holz gebaut, waren der ideale Nährboden für die rasche und fatale Ausbreitung des Feuers, welches nun folgte.
Mit offenem Mund gaffte Gänslein auf den Feuersturm. Der ganze Himmel glühte, am leuchtenden Horizont sah er die letzten Flugzeuge weiterziehen, nachdem sie sich ihrer tödlichen Last entledigt hatten. Der Auftrag der Fliegerstaffel schien erledigt zu sein. Die todbringende Fracht war abgeworfen.
Obwohl er selbst etwa 1.000 Meter Luftlinie vom Feuer entfernt war, spürte Gänslein die Hitze des weiter anwachsenden Brandes bis zum Käppele hochziehen. Die Innenstadt, vom Main bis zum Ringpark, stand nun vollständig in Flammen. Wie Fackeln aus einem gigantischen Scheiterhaufen ragten die brennenden Türme der vielen Würzburger Kirchen heraus.
War es zuvor der Lärm der Explosionen, hörte er jetzt das Knistern des Feuers, das sich gierig durch die Straßen fraß. Zu dem Prasseln gesellten sich die heulenden Sirenen der Feuerwehrfahrzeuge. Ein hoffnungsloses Unterfangen, dachte sich Gänslein, als er am Mainkai einen Feuerwehrzug sah. Es waren ja nicht ein oder zwei Häuser, die da in Flammen standen. Die gesamte Stadt brannte! Wie sollte man ein Feuer dieses Ausmaßes löschen können? Zudem waren die Straßen der Innenstadt durch die Krater der zuvor abgeworfenen Bomben größtenteils nicht befahrbar.
In diesem Moment erinnerte er sich an seinen Religionsunterricht vor langer Zeit, als er ein Kind gewesen war. Der Pfarrer hatte ihnen den Unterschied zwischen Himmel und Hölle erklärt. Gänslein hatte damals eine sehr konkrete Ahnung gehabt, wie die Hölle auszusehen hatte. Das, was er an diesem Abend sah und hörte, entsprach exakt dem Bild seiner damaligen Vorstellung: Feuer, Ruinen, der Gestank von Rauch und die Schreie hilfloser Menschen.
Jetzt erblickte er das Haus am Main, in dem seine Wohnung war. Wie alle anderen Gebäude brannte es lichterloh. Er stellte sich gerade vor, wie seine Möbel, Bilder, Dokumente, Wertsachen und Kleidungsstücke – Dinge, die er jahrzehntelang gepflegt hatte, darunter viele Erinnerungsstücke – Opfer der Flammen wurden. Dann sah er, wie das Haus in sich zusammenfiel.
»Warum?«, flüsterte er fassungslos. »Warum nur? Der Krieg war doch schon vorbei.«
Er atmete ein paarmal tief durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann hatte er genug von dem infernalen Schauspiel. Gänslein drehte sich um und stieg von der Mauer, auf der er nun weit mehr als eine Stunde gesessen hatte. Er ging ein paar Schritte auf dem Vorplatz zur Kirche, als es ihm schwarz vor Augen wurde und er wie ein Sack Kartoffeln auf den Boden fiel.
Als er wieder zu sich kam, sah er hoch zum Himmel. Das Leuchten schien ihm etwas geringer als zuvor zu sein. Er setzte sich auf und blickte sich um. Auf der Mauer sah er neben einer leeren Weinflasche seinen Rucksack. Mühsam erhob er sich und ging zu dem Mauervorsprung zurück. Auf halber Wegstrecke sackten ihm erneut die Beine weg.
Dieses Mal blieb er bei Bewusstsein. Er hockte sich im Schneidersitz auf den Boden, vergrub sein Gesicht in den Händen und begann bitterlich zu weinen. Hemmungslos schluchzte er vor sich hin. Der Fluss der Tränen ließ sich nicht aufhalten.
Etwa fünf Minuten später ging es ihm etwas besser. Er stand auf und holte sich den Rucksack. Den Blick auf die weiterhin brennende Stadt vermied er jetzt. Den Gestank des Rauchs, der von unten zu ihm hochzog, konnte er jedoch nicht ausblenden. Ihm wurde übel. Schwallartig musste er sich übergeben. Dann hustete er ein paarmal, rieb sich die Augen, schulterte den Rucksack und ging langsam auf wackeligen Beinen vom Käppele über den Kreuzweg hinunter zurück in Richtung Stadt.
Als er über die Nikolausstraße an der Mergentheimer Straße, unten am Main, angekommen war, waren die Häuser hier – es waren vorwiegend Villen von Studentenverbindungen – bis auf kleinere Schäden intakt. Ab der Burkarder Kirche begann jedoch die Zerstörung. Gänslein tapste langsam die Straße weiter zur Alten Mainbrücke. Hier standen alle Häuser in Flammen. Die Hitze war unerträglich, beißender Rauch bohrte sich in Gänsleins Lunge.
Er ging weiter zur Brücke. Am Fluss war die Luft etwas besser. Obwohl auf beiden Seiten des Mains jedes Haus zerstört erschien, war zu Gänsleins Verwunderung die Alte Mainbrücke intakt.
Auf der Brücke hatte sich eine Gruppe von etwa 30 Personen gesammelt, unschlüssig, wohin sie gehen sollte. Die lodernden Flammen beidseits des Flusses leuchteten weiterhin hell. Gänslein sah rußgeschwärzte Gesichter von Frauen, Kindern und alten Männern, wie er selbst einer war.
Er setzte sich auf eine Bank in eine der Ausbuchtungen der Brücke. Über ihm thronte die Statue des Heiligen Kilian. Gänslein hustete heftig und konnte nur schwer atmen. Zudem hatte er nun schrecklichen Durst. Krampfhaft versuchte er, Speichel zu sammeln, um die Kehle feucht zu halten und den Hustenreiz zu stillen. Als sich der Husten etwas besserte, blickte er hoch. Direkt vor ihm stand eine etwa 40-jährige Frau mit einem Jungen an ihrer Seite. Beide waren blond, ihre blauen Augen leuchteten in dem Licht der Flammen, die weiterhin links und rechts am Ufer loderten. Der Junge war etwa so groß wie die Frau und trug das braune Hemd der Hitlerjugend. Zunächst lächelte Gänslein die beiden an. Vielleicht freut man sich, gemeinsam überlebt zu haben und heil aus der Hölle entkommen zu sein, dachte er sich. Sein Lächeln verschwand, als er die reglosen, rußigen Gesichter der beiden sah.
Aus heiterem Himmel begann die Frau jetzt zu sprechen. »Schau ihn dir an, Herbert«, sagte sie und sah zuerst auf Gänslein und dann auf den Jungen. »Die jungen starken Männer wie dein Vater und dein Bruder verteidigen das Vaterland, während nutzlose Greise wie dieser hier überleben. Statt sich für Volk und Führer zu opfern, bleiben sie hier und werden uns jetzt das Wenige, was wir an Wasser und Essen noch haben, streitig machen.«
Gänslein dachte zunächst, sich verhört zu haben. Dann sah er mit müden Augen auf die Frau vor ihm. »Ich habe mir mein Schicksal nicht ausgesucht, Gnädigste«, sagte er mit heiserer, brüchiger Stimme. »Im Gegensatz zu Ihnen und Ihrer Brut, die wohl immer noch an den Endsieg glaubt – selbst jetzt, nach all dem, was heute Abend hier passiert ist. Schauen Sie sich doch um. Ist das das Heilige Deutsche Tausendjährige Reich, welches uns Ihr Führer versprochen hat?«
»Das ist Verrat, Mutter«, rief nun empört der Junge an ihrer Seite, »Zersetzung der Wehrkraft. Wenn ich eine Waffe hätte, würde ich den Mann erschießen. Gell, das dürfte ich doch, oder, Mutter?«
Die Frau sah voller Hass auf Gänslein.
Dieser hielt einen Moment lang ihrem Blick stand, dann machte er eine abweisende Handbewegung. »Macht doch, was ihr wollt, aber lasst mir jetzt einfach meine Ruhe«, erwiderte er.
Der Junge spuckte vor Gänsleins Füße.
Dann gingen die beiden ein paar Schritte weiter.
Was ist das für eine Welt, fragte sich Gänslein. Eine Stadt wird zerstört, und die Menschen begegnen sich mit Hass. »Was ist nur aus uns geworden? Nein, meine Zeit ist vorbei. Ich gehöre nicht hierher – eigentlich schon lange nicht mehr. Ich hätte besser die Mauer runterspringen sollen«, murmelte er vor sich hin und lehnte sich auf der Bank zurück. »Mit Glück schlafe ich jetzt ein und wache nicht mehr auf. Mir reicht es.«
Am Morgen des folgenden Tages, es war der Samstag, verließ Gänslein seinen Schlafplatz auf der Brücke. Um ihn herum war es menschenleer. Wie in Trance setzte er sich in Bewegung und ging auf das rechte Mainufer zu in Richtung Würzburger Innenstadt – oder das, was von ihr übrig geblieben war. Vereinzelt loderten immer noch Brände. Die Straßen waren voll mit Schutt. Es stank erbärmlich nach einer Mischung aus Rauch und verbrannten Leibern.
Zunächst versuchte er, zu dem Haus zu gelangen, in dem sich seine Wohnung befand. Er ging rechts flussaufwärts. Der Mainkai, die einstmals breite und prächtige Straße mit Bootsanlegestellen zum Main und Bäumen auf der dem Fluss abgewandten Seite, war quasi nicht begehbar. Langsam kämpfte er sich über die Schuttberge. Durch die ledernen Sohlen seiner Schuhe spürte er die Hitze der Kopfsteine, mit denen die Straße gepflastert war.
Nach etwa 30 Metern erreichte er das Haus der Deutschen Einheitsfront. Bis zur Übernahme des Hauses durch die Nazis 1937 war hier das Hotel Schwan, Würzburgs prächtigstes Hotel, gewesen. Jetzt war das Gebäude nur mehr ein Schutthaufen, aus dem gelegentlich kleine Flammen loderten. Die stuckverzierte Fassade, die offene Terrasse mit Blick auf den Fluss, die luxuriöse Innenausstattung – alles war für immer zerstört. Was nicht gleich zerbombt wurde, fiel anschließend dem Feuer zum Opfer.
Mühsam kämpfte er sich etwa 20 Meter weiter, bis er auf Höhe des Hauses stand, in dem er selbst fast 50 Jahre lang gewohnt hatte. Er erkannte das Gebäude an der Fassade. Kein einziges Fenster war mehr intakt. Gänslein kletterte auf einen Schuttberg. Durch ein Fensterloch versuchte er, in die Parterrewohnung zu blicken. Es war die Wohnung der Kreislers, ein älteres Ehepaar um die 70, die schon seit Jahrzehnten Gänsleins Nachbarn gewesen waren. Früher hatte Fritz Kreisler sich auch als Hausmeister um das Haus gekümmert.
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