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Königreich Bayern, 1890: Prinzessin Therese von Bayern kontaktiert Georg Hiebler in einer heiklen Angelegenheit. Er soll sie zu einer Behandlung ihres geisteskranken Cousins, König Otto von Bayern, in die Würzburger Universitätsklinik begleiten. Doch die Abreise des Königs bleibt nicht unbemerkt. Obwohl eigentlich nur ein gemächlicher Ausflug in die unterfränkische Metropole geplant war, befindet sich Hiebler plötzlich in einem Netz gesponnen aus geistigen Wirrungen, verbotenen Liebschaften und mörderischen Intrigen.
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Seitenzahl: 212
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Alexander Meining
Die Käppele-Verschwörung
Historischer Kriminalroman
Das Ende der Monarchie? Königreich Bayern im Jahre 1890: Schon seit Jahren wird König Otto aufgrund seiner Geisteskrankheit vor dem eigenen Volk versteckt. Doch Prinzessin Therese von Bayern, Ottos Cousine, will das nicht mehr hinnehmen. Sie wünscht eine Behandlung des Königs durch Herrn Professor Rieger in der renommierten Würzburger Universitätsklinik. Georg Hiebler, Leiter des Nachrichtenbureaus des Königreichs, begleitet das Paar, welches unter falschem Namen die Reise antritt. Kaum in Würzburg angekommen, dreht der König durch, seine Tarnung droht aufzufliegen. Aber nicht nur das: Deutschnationale Kräfte, denen die Bayerische Monarchie schon länger ein Dorn im Auge ist, erkennen die Gunst der Stunde und nutzen Ottos Aufenthalt in Würzburg für ihre eigenen, mörderischen Pläne. Was für Hiebler als gemächlicher Ausflug gedacht war, wird schließlich zu einem Kampf auf Leben und Tod.
Geboren und aufgewachsen ist Alexander Meining in München. Dort begann er Geschichte zu studieren, bevor er zur Medizin wechselte. Inzwischen lebt, arbeitet und schreibt er in Würzburg. „Die Käppele-Verschwörung“ ist nach „Mord im Ringpark“ und „Würzburger Dynamit“ der dritte Teil der im Gmeiner-Verlag erschienenen „Georg-Hiebler-Reihe“. Erneut ist das schöne Würzburg des ausgehenden 19. Jahrhundert die Kulisse. Reale Personen und historische Ereignisse bieten hierbei den Rahmen für fiktive Geschichten, bei denen der Schauplatz, die Epoche, die Charaktere und die Spannung im Vordergrund stehen.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Chapel,_W%C3%BCrzburg,_Bavaria,_Germany-LCCN2002720618.jpg
ISBN 978-3-7349-3120-8
Die meisten Personen und ein Großteil der Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Professor von Grashey (Psychiater, München)
Doktor Max Hubrich (Psychiater, Werneck)
Otto I. (König von Bayern)
Prinzessin Therese von Bayern (Tochter des Prinzregenten und Cousine Ottos)
Professor Konrad Rieger (Psychiater, Würzburg)
Professor Adam Kunkel (Toxikologe, Würzburg)
Maximilian Freiherr von Feilitzsch (Staatsminister des Innern, Königreich Bayern)
Luitpold von Bayern (Prinzregent des Königreichs Bayern)
Ludwig, Leopold und Arnulf von Bayern (Söhne des Prinzregenten)
Professor Max von Pettenkofer (Vorsitzender der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München)
März 1890
Die drei Männer teilten sich eine Kutsche. Der älteste der Gruppe, Hermann Schnack, Abgeordneter des bayerischen Landtags und Mitglied der Zentrumspartei, blätterte in einer Zeitung und kraulte sich währenddessen seinen langen grauen Bart. Ihm gegenüber saß Herr Professor von Grashey und unterzeichnete in einer Unterschriftenmappe eine schier nicht enden wollende Flut von Arztbriefen. Doktor Hubrich, der dritte in der Gruppe und ärztlicher Leiter der Kreisirrenanstalt im unterfränkischen Werneck, schaute aus dem Fenster. Er schob den Kragen etwas zur Seite und kratzte sich an seinem frisch rasierten Hals. Still beobachtete er die Bäume links und rechts entlang des Weges in gemächlicher Geschwindigkeit an der Kutsche vorbeiziehen. Es war ein milder und sonniger Frühlingstag. Neben dem rhythmischen Geklapper der Hufe auf dem Kiesweg und den Rollgeräuschen der Räder drang lautes Vogelgezwitscher durch das offene Kutschenfenster.
Von Grashey unterzeichnete einen weiteren Brief. Dann klappte er die Unterschriftenmappe zu, blickte hoch und sah ebenfalls aus dem Fenster.
»Sie sind das erste Mal dabei, Herr Kollege«, sprach er Hubrich an. »Aber seien Sie beruhigt. Der Besuch des hohen Patienten ist eine reine Routineangelegenheit. Die jährliche Pro-forma-Untersuchung eines armen Kranken, der nie mehr wieder gesund wird.«
Hubrich hob die Augenbrauen und blickte verwundert auf Grashey.
»Wissen Sie, Herr Hubrich«, fuhr dieser fort, »ich mache das mittlerweile seit vier Jahren. Es ist immer das Gleiche, aber der Landtag verlangt jedes Jahr ein neues Attest.«
Abgeordneter Schnack sah von seiner Zeitung hoch. Er blickte zuerst auf Hubrich und dann auf Grashey. »Hat schon seinen Grund, Herr Professor«, sagte er lächelnd.
Von Grashey seufzte frustriert. »Vorher war mein Schwiegervater, Bernhard von Gudden, für den hohen Patienten zuständig. Leider weilt er ja nicht mehr unter uns. Wie Sie wissen, hat der andere hohe Patient, Seine Majestät Ludwig II., ihn mit in den Tod genommen. Und jetzt bin eben ich als Nachfolger meines Schwiegervaters in der Pflicht, die geistige Gesundheit oder eben Krankheit der Wittelsbacher zu attestieren. Ob mir das in Anbetracht des Schicksals meines Schwiegervaters gefällt oder nicht.«
»Herr Kollege, Professor von Guddens tragischer Tod ist mehr als bedauerlich«, sagte endlich Hubrich, der bisher geschwiegen hatte. »Und dennoch weigere ich mich, diese verantwortungsvolle Aufgabe als lästige Pflicht zu erachten und die Untersuchung des Patienten nur als Lappalie zu bezeichnen. Für mich ist die heutige Konsultation eine Ehre. Ich fühle mich verpflichtet, mir entsprechend meines Wissens und basierend auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen ein gänzlich unbelastetes Bild vom Zustand unseres Patienten zu machen. Schließlich ist König Otto I. als Bruder von Ludwig II. dessen rechtmäßiger Nachfolger auf dem Königsthron. Obwohl, wie wir natürlich alle wissen, mittlerweile Bayern vom Prinzregenten Luitpold regiert wird, so ist er dennoch unser König. Aus diesem Grunde habe ich die weite Reise nach München angetreten. Ich will Ihrer Diagnose nicht widersprechen, aber dennoch denke ich, dass es schon seinen Grund haben wird, wenn der Landtagspräsident mich um meine Dienste bittet.«
Schnack grinste erneut.
»Hm, meinen Sie?«, erwiderte von Grashey gelassen. Er legte die Unterschriftenmappe neben sich, nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit einem weißen Seidentuch, das er aus der Innentasche seines Jacketts zog. »Sie werden sehen, Herr Kollege, selten ist eine Diagnose so einfach zu stellen gewesen wie die unseres hohen Patienten. Tag und Nacht kümmern sich zwei meiner Assistenzärzte nur um ihn. Die jungen Kollegen werden Ihnen auch nichts anderes berichten, als dass es sich um eine schwere Form der Dementia praecox handelt. Wahnvorstellungen vermengt mit einer fortschreitenden Abnahme der kognitiven Leistungen.«
Hubrich hob zweifelnd die rechte Augenbraue hoch, dann wandte er sich wieder ab und blickte aus dem Fenster.
Schnack widmete sich wieder der Zeitungslektüre.
Von Grashey steckte das Tuch ein, setzte die Brille auf und zog aus seiner Westentasche eine goldene Taschenuhr hervor. Er klappte den Deckel auf. »Vor einer guten halben Stunde sind wir los. Eigentlich müssten wir jeden Moment da sein«, sagte er. Dann klappte er den Deckel wieder zu, steckte die Uhr ein und beugte sich vor, um erneut aus dem Fenster zu sehen. »Na, da sind wir doch schon: Schloss Fürstenried – die teuerste Irrenanstalt der Welt.«
In diesem Moment hielt die Kutsche. Die drei Männer stiegen aus, setzten ihre Zylinderhüte auf und zogen die Jacken gerade. Schnack wies den Kutscher an zu warten. Dann gingen sie gemeinsam über den Kies der Auffahrt zu der Eingangstür.
Zwei uniformierte Soldaten standen auf den Stufen vor dem Eingang. Die Wachsoldaten schienen die Gruppe schon erwartet zu haben. Gelangweilt salutierten sie und öffneten die schwere Tür des Schlosses.
Hubrich, Schnack und von Grashey kamen in ein weitläufiges Vestibül. Im Gegensatz zu der schmucken Barockfassade des Anfang des 18. Jahrhunderts erbauten ehemaligen Jagdschlosses, war der Innenraum nüchtern, kahl und ohne Möbel. Zu Hubrichs Überraschung waren sämtliche Kanten im Raum sowie das Geländer der in den ersten Stock führenden Treppe mit dicken Stoffen gepolstert. Die Türen zu den Räumen im Erdgeschoss wiesen keine Klinken, sondern einen runden Knauf auf.
Nachdem die drei Männer das Schloss betreten hatten, wurden sie von einem Diener empfangen, der ihnen wortlos Hüte und Mäntel abnahm. Vor einem nach rechts abgehendem Raum standen zwei weitere Wachsoldaten, die beide salutierten, als sie die Gruppe sahen.
»Wie viele Soldaten sind hier eigentlich abkommandiert?«, fragte Hubrich den Abgeordneten Schnack.
In diesem Moment kam ein Offizier die Treppe herunter. »Es sind mit mir genau zwei Dutzend, die für den Schutz und die Sicherheit Seiner Majestät sorgen«, antwortete der Mann, der Hubrichs Frage scheinbar vernommen hatte.
Schnack schüttelte dem Offizier die Hand. »Herr Oberst Gattlinger! Erneut ist ein Jahr vergangen. So sieht man sich wieder. Den Herrn Professor von Grashey kennen Sie ja inzwischen. Heute neu in der Runde ist Herr Doktor Hubrich.«
Oberst Gattlinger schüttelte freundlich lächelnd die Hände der anderen beiden Männer. »Willkommen im Schloss Fürstenried«, sagte er und machte eine angedeutete Verbeugung. »Um Ihre Frage weiter zu beantworten, Herr Doktor«, fuhr Gattlinger an Hubrich gewandt fort, »neben den 24 Soldaten sind hier im Schloss noch vier Diener, vier Pfleger und ein Koch tätig. Bis auf Letzteren und meine Person arbeiten alle im Schichtdienst. Tag und Nacht, zu jeder Stunde wird für Majestät gesorgt.«
»Und wie steht es um den hohen Patienten?«, fragte von Grashey.
»Diese Beurteilung liegt außerhalb meines Tätigkeitsbereiches, Herr Professor. Ich habe andere Aufgaben zu erfüllen – aber das wissen Sie ja«, antwortete er mit dem Anflug eines Lächelns.
»Na gut! Dann werden wir wohl jetzt unserer Aufgabe nachkommen«, erwiderte von Grashey. »Wo finden wir Seine Majestät?«
Oberst Gattlinger gab den beiden Wachsoldaten vor der Tür ein Zeichen. Die Männer nickten, einer öffnete die Tür und steckte seinen Kopf durch den Türspalt. Er murmelte etwas in den Raum, was für die in der Eingangshalle Stehenden nicht vernehmbar war. Dann hörte man eine weitere Stimme aus dem Raum antworten. Es folgte ein kurzer Wortwechsel. Der Soldat ging wieder einen Schritt zurück und schloss die Tür hinter sich.
»Melde gehorsamst«, begann er schließlich, »der Kammerdiener Seiner Majestät lässt verlauten, dass Majestät aktuell keinen Besuch zu empfangen wünscht.«
Gattlinger ging zu dem Wachsoldaten und positionierte sich einen Meter vor ihm. »Welcher Pfleger hat gerade Dienst?«, fragte er schroff.
»Der Pfleger Franz, Herr Oberst. Und mit ihm ist der Kammerdiener Bernhard im Raum. Seine Majestät haben laut Auskunft der beiden seit drei Tagen nichts mehr gegessen. Man versuche im Moment geduldig, Majestät zu bewegen, seine Mahlzeit einzunehmen.«
»Das ist doch nicht neu, dass er außer Zigarren und Zigaretten nichts zu sich nimmt – dieser Hungerkünstler«, spottete Gattlinger. »Öffnen Sie die Tür, die Kommission hat eine Aufgabe zu erfüllen.«
»Sehr wohl, Herr Oberst«, erwiderte der Soldat und tat wie geheißen.
»Bitte, meine Herren«, sagte Gattlinger und winkte Hubrich, von Grashey und Schnack zu sich.
Es folgte ein kurzes Nicken der drei Männer, dann gingen sie los.
»Ich sagte doch: jetzt nicht!«, rief ein Pfleger aus dem Raum, als er die offene Tür und die sich nähernde Gruppe wahrnahm.
»Seien Sie still!«, befahl Gattlinger. »Die Kommission muss mit ihrer jährlichen Untersuchung beginnen.«
Gefolgt von den anderen beiden, schritt Hubrich neugierig durch die Tür. Zunächst erblickte er Pfleger Franz, einen großen, wuchtigen Mann mit kahl geschorenem Kopf und langem, nach oben gezwirbeltem Schnurrbart, der mit einer Mischung aus Überraschung und Ärger auf die unwillkommenen Gäste reagierte. Dann sah sich Hubrich im Raum um. Die Wände waren zu seiner Verwunderung durchgehend mit Matratzen gepolstert. In der Mitte des Raums war ein weiterer Mann, der Kammerdiener, der gerade einen kleinen Tisch deckte, vor dem ein einzelner Stuhl stand. Aus einer dunklen Ecke hörte Hubrich ein seltsames, monotones Gemurmel: »Lu, La, Lu … Lu, Lu, Lu … Lu, La, Lu …« Hubrich ging zwei Schritte weiter in den Raum und drehte sich in Richtung der Geräuschquelle. Er sah einen hageren Mann, der kontinuierlich drei Schritte vor und anschließend wieder drei Schritte zurück ging. Der Mann starrte auf den Boden und hielt beide Hände vor der Brust ineinander verschränkt. Unaufhörlich kratzte er sich abwechselnd mit der linken und rechten Hand am jeweils anderen Unterarm. »Lu, La, Lu … Lu, Lu, Lu …«, murmelte er weiter vor sich hin.
Die Person machte einen jämmerlichen Eindruck. Die Haare standen wirr vom Kopf ab, der Bart war ungekämmt und ungepflegt. Er trug ein schmutziges Hemd, ansonsten schien er nackt zu sein. Das lange Hemd bedeckte zwar den Unterleib. Stuhl- und Urinflecken waren jedoch auf dem weißen Stoff deutlich sichtbar.
»Das ist …, das ist der …?«, stammelte Hubrich.
»Das ist Seine Majestät, König Otto I. von Bayern!«, ergänzte von Grashey.
Hubrich ging langsam auf den König zu und machte eine Verbeugung.
Otto nahm den Arzt nicht wahr. Er kratzte sich und ging, weiter vor sich hin murmelnd, auf und ab – drei Schritte vor und drei zurück.
»Ich weiß doch, dass die Kommission heute kommt, aber hätten Sie nicht wenigstens noch ein bisschen draußen warten können?«, fragte Franz genervt Oberst Gattlinger. »Mit etwas Geduld hätten wir Seiner Majestät wenigstens eine Decke um den Schoß wickeln und ihn an den Tisch setzen können.«
»Na ja, ich lass Sie dann mal Ihrer Tätigkeit nachgehen«, sagte Gattlinger zu Hubrich, ohne auf die Frage einzugehen. Er verließ rasch den Raum und ließ die Tür mit einem Krach ins Schloss fallen.
Das laute Geräusch ließ Otto schlagartig innehalten. Jetzt ging er langsam auf Hubrich zu und starrte ihn an. Instinktiv trat Hubrich einen Schritt zurück. Dann hob Otto seinen rechten Arm. »Ja … ja … ist der Glabaratsch!«, schrie er plötzlich. »Glabaratsch! Ich weiß! … der Teufel!«, rief er ein weiteres Mal.
Kurz hatte man den Eindruck, dass er mit der Hand auf Hubrich einschlagen wollte, dann fiel er jedoch wieder in sich zusammen und setzte seinen monotonen Singsang mit den Schritten – drei vor und drei zurück – fort.
»Seine Majestät scheint Wahnvorstellung zu haben«, rief Hubrich von Grashey zu, der stumm nickte.
»Majestät, hier sind die beiden angekündigten Medizinprofessoren und der Herr Landtagsabgeordnete, welche bitten, ihre Aufwartung machen zu dürfen«, sagte Franz. Er ging langsam zu Otto und hielt ihn sanft am Arm.
»Schleich dich!«, rief Otto barsch zu seinem Pfleger. »Hörst du’s denn nicht? Da spricht der Glabaratsch!«
Otto versuchte jetzt, sich dem Griff des Pflegers zu entziehen und auf Doktor Hubrich loszustürmen. »Der Glabaratsch! Der Datsch!«, schrie er voller Zorn. Als er spürte, dass er sich dem Griff des Pflegers nicht entziehen konnte, trat er mit den Beinen in Richtung des Doktors und spuckte auf ihn.
»Ist gut, Otto«, besänftigte ihn der Pfleger. »Jetzt komm, sei brav, setzt dich an den Tisch und schau, dass du was isst!«
Hubrich, der mittlerweile zwei weitere Schritte von dem um sich schlagenden und spuckenden Otto zurückgewichen war, war überrascht, dass der Pfleger den König wie einen Bauernbuben ansprach. Aber die Sache schien zu wirken. Wie ein Kind ließ sich Otto von Franz an den Tisch führen. Er setzte sich artig auf den Stuhl und starrte auf den gedeckten Tisch. Vor ihm waren ein belegtes Brot sowie eine Schüssel mit Brei angerichtet. Dann legte der Kammerdiener dem König eine Decke auf den Schoß und schenkte ihm eine Tasse Tee ein.
»Wie geht es Euch, Majestät?«, fragte schließlich von Grashey und näherte sich langsam dem König.
Der Angesprochene reagierte nicht. Otto kratzte sich am Kopf und blickte verwirrt auf den Tisch. »Wo sind die Zigaretten?«, fragte er. »Wo … sind … die … Zigaretten? Ich muss rauchen.«
Sofort eilte der Kammerdiener mit einem kleinen silbernen Tablett, auf dem ein Zigarettenetui und eine Schachtel Streichhölzer lagen, an den Tisch.
»Ha, ha! Hab dich überlistet!«, sprach der König mit einer imaginären Person und begann zu kichern. »Das mag er nicht, das mag er nicht – der Glabaratsch, der Datsch.«
»Können Sie uns denn sagen, was er nicht mag, dieser Glabaratsch?«, fragte von Grashey.
Otto blickte hoch und sah Grashey in die Augen. »Pst«, machte er und hielt den rechten Zeigefinger vor den Mund. Er blickte suchend nach rechts und nach links und flüsterte: »Der Glabaratsch … Lu … Lu … Lu … das mag er nicht, das mag er nicht.« Plötzlich verharrte sein Blick auf dem immer noch fassungslosen Hubrich. »Weiß schon, wer du bist«, fuhr Otto fort und spuckte erneut in seine Richtung. »Brauchst dich nicht verstecken.«
»Otto, lass das!«, ging Franz dazwischen.
Der König blickte kurz auf seinen Pfleger und wandte sich dann wieder dem gedeckten Tisch zu. »Das mag er nicht, das mag er nicht«, brabbelte er vor sich hin.
»Was mag er denn nicht?«, fragte Grashey.
»Tabak, Tabak, Tabak – Dabak …«, murmelte Otto, griff sich eine Zigarette aus dem silbernen Etui und steckte sie sich in den linken Mundwinkel. Dann öffnete er die Streichholzschachtel und zündete ein Holz an. Statt sich jedoch damit die Zigarette anzustecken, warf er das brennende Streichholz in die Schachtel zurück. Es folgte ein kurzes Zischen, bis die gesamte Schachtel auf dem Tablett lichterloh zu brennen anfing. Otto erfreute sich sichtlich an dem Feuer, nahm das gesamte Tablett, hielt es sich vor das Gesicht und steckte sich an der etwa zehn Zentimeter nach oben lodernden Flamme seine Zigarette an. Anschließend stellte er das Tablett wieder auf den Tisch, zog tief an der glimmenden Zigarette und betrachtete, wie das Feuer langsam erlosch. Es schien für ihn die normalste Art zu sein, sich so eine Zigarette anzuzünden.
Dann räumte der Kammerdiener rasch das Tablett wieder weg. »Sie können sich nicht vorstellen, was wir für einen Verbrauch an Streichholzschachteln haben«, sprach der Diener im Vorbeigehen in Grasheys und Schnacks Richtung. »Das sind bis zu 40 Schachteln pro Tag – nicht pro Monat.«
»Sie meinen also, dass der Tabak die Person vertreibt, die Sie Glabaratsch nennen?«, versuchte es Grashey erneut mit dem König.
Otto antwortete nicht. Er inhalierte stumm den Rauch seiner Zigarette.
»Majestät?«, versuchte es nun Hubrich. »Können Sie uns sagen, welchen Tag wir heute haben?«
Otto blickte kurz erschrocken auf Hubrich, dann steckte er die Zigarette in den Brei, der vor ihm in der Schüssel war. Anschließend zog er den erloschenen Stummel wieder heraus und überzeugte sich, dass die Glut ausgegangen war. Er zerrieb das verbliebene Papier, sodass die Tabakkrümel auf den Brei fielen. Dann nahm er einen Löffel, rührte die Krümel sorgfältig in den Brei und begann schließlich, das Tabak-Brei-Gemisch gierig zu essen.
»Otto, hör sofort auf damit!«, rief Pfleger Franz und eilte zu ihm an den Tisch. »Das ist giftig!«
In diesem Moment schob sich Otto rasch zwei weitere Löffel in den Mund, nahm die Schüssel, stand auf und warf den Brei auf Hubrich. Dann stürmte er auf den armen bekleckerten Arzt zu und spuckte ihm Breireste auf Hemd und Jackett. »Tabak, Dabak, der Glabaratsch, Tabak – Dabak«, schrie er und schlug auf Hubrich ein. Schnack und Grashey eilten hinzu und schirmten den sichtlich schockierten Doktor ab, während Franz den König von hinten umklammerte und mit aller Kraft zurückzog. Wütend versuchte dieser, mit nackten Beinen Tritte gegen Hubrich zu setzen. »Der Teufel! Der Teufel bist!«, keifte Otto und begann erneut auf den Doktor zu spucken.
»Ich glaub, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen«, rief Franz, dessen Kräfte langsam zu schwinden schienen, den drei Männern zu.
Von Grashey nickte und führte gemeinsam mit Schnack den leicht torkelnden Hubrich aus dem Raum.
Als sie im Vestibül waren, hörten sie noch durch die verschlossene Türe ein paar laute, nicht zu verstehende Rufe, bis endlich Ruhe einkehrte. Die Männer atmeten kollektiv tief durch. Oberst Gattlinger, der vor der Tür gewartet hatte, nahm sie in Empfang. »Schrecklich, nicht wahr?«, fragte er, mehr nüchtern konstatierend als mitfühlend.
Hubrich blickte angewidert auf seine mit dem Brei-Tabak-Gemisch beschmierte Brust.
»Die Toilette ist dort vorne links«, sagte einer der beiden Wachsoldaten. »Dort können Sie sich frisch machen.«
Hubrich nickte kurz und machte sich auf den Weg, um wenigstens notdürftig die klebrige Masse zu entfernen.
Eine Viertelstunde später saßen die drei Männer wieder in der Kutsche auf dem Weg zurück in die Münchner Innenstadt. Hubrich schnupperte angewidert am Revers seines Jacketts. Von Grashey bemerkte dies. »Die medizinische Begutachtung lief dann nun doch etwas anders als gedacht, Herr Kollege?«, fragte er mit spöttischem Unterton in der Stimme.
»Entsetzlich!«, erwiderte Hubrich. »Man hat ja schon so einiges aus diversen Presseberichten vernommen. Aus diesem Grund wollte ich ja auch unbedingt sorgfältig und unvoreingenommen meine Pflicht erfüllen. Aber das …«, er machte eine kurze Denkpause. »Das ist nun doch schlimmer als gedacht. Seine Majestät darf auf keinen Fall Fürstenried verlassen. An die Aufnahme repräsentativer oder administrativer Pflichten ist nicht mal im Entferntesten zu denken.«
»So ist es, Herr Kollege«, stimmte ihm von Grashey zu. »Und dennoch sind wir jedes Jahr aufs Neue angehalten, dies zu bestätigen – bis Seine Majestät stirbt. Dies ist gesetzlich verankert. Oder irre ich mich, Herr Abgeordneter Schnack?«
»Nein, Herr Professor. Genauso ist es«, erwiderte dieser.
»Und was passiert, sollte der König an der fortschreitenden Dementia sterben?«, hakte Hubrich nach.
Schnack sah nachdenklich aus dem Fenster. Dann wandte er sich wieder dem Doktor zu. »Sollte König Otto oder der Prinzregent Luitpold versterben, werden die Karten neu gemischt. Wir von der Zentrumspartei sind natürlich daran interessiert, in so einem Fall Prinz Ludwig, den ältesten Sohn des Prinzregenten, auf dem bayerischen Thron zu sehen. Andere sehen das anders.«
Die beiden Mediziner blickten verwirrt auf Schnack.
»Können Sie uns das erläutern?«, fragte von Grashey.
»Die Nationalliberalen und Deutschnationalen machen sich breit«, antwortete Schnack. »Und die Preußen haben mittlerweile die Herrschaft übernommen. Kleinstaaterei ist ihnen ein Dorn im Auge. Man will ein deutsches Reich unter einem deutschen Kaiser – keine weiteren Könige oder Fürsten. Und auch hier in Bayern gibt es immer mehr Sympathisanten für die Auflösung der bayerischen Monarchie und die stärkere Anbindung an das Reich. Ludwig II. und König Otto waren als Preußenhasser bekannt. Die Reichsgründung 1871 war ihnen immer ein Dorn im Auge. Und nun? Ludwig ist seit vier Jahren tot, und wie es um Otto steht, haben Sie ja gerade selbst erleben können. Derzeit schaffen wir es, mit einem geisteskranken König und einem kooperativen und beim Volk beliebten Prinzregenten als dessen Vertreter so gerade die Balance zu halten. Stirbt einer der beiden, wird es zu einer Verfassungskrise kommen. Darauf können Sie sich verlassen. Und den Nationalliberalen – auch hier im Königreich Bayern – wäre nichts lieber als das.«
Sechs Monate später.
Georg von Hiebler ging es gut. Mit der Ernennung zum Leiter des Nachrichtenbureaus 1889 nahmen zwar die Aktenberge und die zu bearbeitenden Briefe und Anfragen zu, nur hatte er jetzt einen ganzen Stab von Gehilfen, der für ihn die Papierarbeiten größtenteils erledigte. Er selbst koordinierte, ließ sich unterrichten, sammelte ausgewertete Informationen und durfte einmal in der Woche dem Innenminister, Herrn Freiherr von Feilitzsch, Bericht erstatten. Hiebler war mit 28 Jahren auf der Karriereleiter weit oben angekommen. Sollte er weiterhin seine Arbeit zur vollen Zufriedenheit des Ministers und der Regierung erledigen, wäre der nächste logische Schritt die Ernennung zu einem Unterstaatssekretär.
Nach der Zerschlagung der Anarchistengruppen in München und Würzburg und dem Tod von Christos Krieger als mutmaßlichem Drahtzieher des geplanten Attentats auf den Prinzregenten, schien aktuell die Terrorgefahr gering zu sein. Auch im fernen Berlin war es in den letzten Monaten zu keinen weiteren Anschlägen gekommen. Und dennoch, Hiebler wusste, dass mit Veränderungen auch immer neue Gefahren entstehen können. Der deutsche Kaiser, Wilhelm II., war seit zwei Jahren in Amt und Würden und regierte selbstbewusst und nach weiterer Macht strebend. Zur Überraschung vieler hatte er sogar den als unantastbar angesehenen Reichskanzler Bismarck im März entlassen. Der neue Kaiser wollte selbst die Zügel in der Hand halten und Preußen und das Reich mit starker Hand regieren. Dies verschaffte ihm beides: Bewunderer und Feinde – auch im Königreich Bayern. Die Landesregierung und vor allem der oberste Souverän, Prinzregent Luitpold, mussten die Balance zwischen bayerischer Eigenständigkeit und Treue zum Reich halten.
Hiebler stand zwar in engem Austausch mit seinen Berliner Kollegen, dennoch diente er als bayerischer Beamter primär der bayerischen Monarchie und nicht dem Kaiser.
Den ersten direkten Kontakt zu einem Wittelsbacher hatte Hiebler zwei Jahre zuvor in Würzburg gehabt, als er in letzter Sekunde ein Bombenattentat auf den Prinzregenten verhindern konnte. Als Dank hierfür wurde ihm der bayerische Verdienstorden und, damit verbunden, die Ernennung in den Adelsstand verliehen. Jetzt, am späten Vormittag des 26. September 1890, folgte der nächste Kontakt zu einem Mitglied der königlichen Familie.
Es begann damit, dass Göbele, der Sekretär des Ministers, nach Atem ringend in Hieblers Büro im Innenministerium in der Münchner Theatinerstraße stürmte.
»Herr Assessor Hiebler, äh … entschuldigen Sie bitte: Herr Abteilungsleiter Ritter von Hiebler«, keuchte Göbele, »der Herr Minister hat gerade mit der Hofverwaltung gesprochen. Ich soll Ihnen mitteilen, dass Königliche Hoheit auf dem Weg zu Ihnen sind.«
»Jetzt schnaufen Sie zuerst mal durch, Göbele«, antwortete Hiebler kopfschüttelnd. »Sie sind ja ganz außer Atem. Und dann erzählen Sie mir, um was es geht.«
Göbele atmete einige Male tief ein und aus. Wie immer trug er Ärmelschoner. Über seinen Bauch spannte sich eine Weste. Eine Jacke trug er nicht. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, so langsam und deutlich wie nur möglich zu sprechen. »Die Prinzessin Therese von Bayern ist auf Vermittlung des Herrn Ministers auf dem Weg zu Ihnen.«
»Prinzessin Therese?«, fragte Hiebler erstaunt. »Die Tochter des Prinzregenten, unseres obersten Dienstherrn?«
Göbele nickte.
»Therese will zu mir?«, fragte Hiebler weiter. »Hat der Minister gesagt, worum es geht?«
»Bedaure, nein«, antwortete Göbele. »Es geht um eine vertrauliche Angelegenheit. Mehr weiß ich nicht, angeblich …«, – »Wenn Sie mich vorbei und uns anschließend alleine lassen, kann ich es Herrn von Hiebler persönlich mitteilen«, ertönte plötzlich in Göbeles Rücken eine Frauenstimme.
Göbele zuckte zusammen und drehte sich um. »Selbstverständlich, Königliche Hoheit. Bitte entschuldigen Sie vielmals«, erwiderte er, machte eine Verbeugung und verließ im Rückwärtsgang den Raum.
»Guten Morgen, Herr von Hiebler. Der Herr Innenminister hat mich an Sie verwiesen. Wenn Sie ein paar Minuten Zeit für mich hätten?«, begann Therese, schloss die Tür und schritt langsam näher.
»Aber natürlich, Königliche Hoheit«, erwiderte Hiebler verwirrt. Er wusste nicht, ob er sich verbeugen, Thereses Hand schütteln oder sie mit einem Handkuss begrüßen sollte. Letztendlich machte er eine unbeholfene Geste, die einer Mischung aus allem drei entsprach: eine leichte Verbeugung, einen Schritt nach vorne und ein zögerliches Vorstrecken der rechten Hand.