Würzburger Dynamit - Alexander Meining - E-Book

Würzburger Dynamit E-Book

Alexander Meining

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Beschreibung

Im Sommer 1888: Während der Hundertjahrfeier König Ludwigs I. explodiert eine Bombe. Rasch wird ein Attentat auf die königliche Familie vermutet. Die Spur führt nach Würzburg zu einer Anarchistengruppe. Georg Hiebler aus dem Innenministerium übernimmt gemeinsam mit seinem Kollegen Iannis Krieger sowie Friedhelm Deschel von der Würzburger Gendarmerie die Ermittlungen. Der Fall scheint schnell gelöst, doch dann besucht der Prinzregent die Residenzstadt am Main, und der eigentliche Attentäter erwartet ihn bereits.

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Alexander Meining

Würzburger Dynamit

Historischer Kriminalroman

Zum Buch

Prinzregent in Gefahr Georg Hiebler, Assessor im Königlich Bayerischen Innenministerium wird Zeuge der Münchner Elefantenkatastrophe des Jahres 1888. Während eines Festakts unter Anwesenheit des Prinzregenten explodiert eine Bombe. Die Tiere laufen Amok. Rasch wird ein Attentatsversuch auf Bayerns Regenten vermutet. Die Spur führt nach Würzburg. Auf Geheiß des Innenministers, Freiherr von Feilitzsch, übernimmt Hiebler gemeinsam mit Iannis Krieger aus dem Ministerium und Friedhelm Deschel, dem Chef der Würzburger Polizei, die Ermittlungen. Durch eine Fotographie kommen sie einer Anarchistenzelle auf die Spur. Und: Hiebler kennt die mutmaßlichen Täter. Der Fall erscheint rasch gelöst, doch dann besucht der Prinzregent die Residenzstadt am Main, und der eigentliche Attentäter erwartet ihn mit einer Tasche voller Dynamit.

Geboren und aufgewachsen ist Alexander Meining in München. Dort begann er Geschichte zu studieren, bevor er zur Medizin wechselte. Mittlerweile lebt und arbeitet er in Würzburg. „Würzburger Dynamit“ ist die Fortsetzung von „Mord im Ringpark“, der 2022 beim Gmeiner Verlag erschienene erste Teil der Georg-Hiebler-Reihe. Erneut ist vor allem das schöne Würzburg des ausgehenden 19. Jahrhundert die Kulisse. Reale Personen und historische Ereignisse bieten hierbei den Rahmen für fiktive Geschichten, bei denen der Schauplatz, die Epoche, die Charaktere und die Spannung im Vordergrund stehen.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Old_Rhine_Bridge_(i.e._Old_Main_Bridge)_and_town,_Wurzburg,_Bavaria,_Germany-LCCN2002696197.jpg

ISBN 978-3-8392-7690-7

Personenregister historischer Personen

Maximilian Freiherr von Feilitzsch (Staatsminister des Innern, Königreich Bayern)

Luitpold von Bayern (Prinzregent, Königreich Bayern)

Prinz Ludwig von Bayern (Thronfolger, Königreich Bayern)

Marie-Therese von Bayern (Prinz Ludwigs Gemahlin)

Carl Hagenbeck (Zirkusdirektor, Hamburg)

Kapitel 1

Georg Hiebler hasste solche Tage. An einem normalen Werktag an der Straße stehen und auf Ereignisse zu warten, die weder lustig noch aufregend waren. Was für ein Unsinn! Mochten die anderen Menschen hier an der Ludwigstraße, im Herzen Münchens, stehen und ihren Spaß haben. Für Hiebler war das alles nur vergeudete Zeit. Viel lieber wäre er in seiner Schreibstube im vierten Stock des Innenministeriums gesessen und hätte Akten gewälzt. Aber nein, der Herr Minister Freiherr von Feilitzsch wollte es so: Jeder Mitarbeiter – vom Assessor bis zum Laufburschen – musste als Teil einer Feierkulisse herhalten. Für viele der Beschäftigten war es eine Belohnung, auf Geheiß des Ministers Akten und Schreibtische zu verlassen. Für Hiebler war es eine Strafe.

Was sollte das überhaupt für eine Feier sein? Ein Centenar? Am 31. Juli 1888 den 100. Geburtstag von König Ludwig I. zu feiern? Hiebler war es fremd, gegen die Monarchie zu hetzen. Im Gegensatz zu den Anhängern der republikanischen oder sozialdemokratischen Bewegungen, die immer mehr Sympathisanten im Deutschen Reich fanden, war Hiebler ein treuer Staatsdiener – ein Beamter des Prinzregenten Luitpold von Bayern. Aber dennoch fragte er sich, was es wohl bringen sollte, den Geburtstag einer Person zu feiern, die seit 20 Jahren tot und seit 40 Jahren kein König mehr war? Eine Vergeudung von Zeit und Ressourcen, sonst nichts.

Stumm schüttelte er den Kopf und blickte sich um. Er selbst stand mit den anderen Angestellten und Mitarbeitern des Innenministeriums auf der Ludwigstraße. Stadteinwärts, unmittelbar vor dem Hofgarten der Residenz, waren zwei Tribünen mit Sitzplätzen aufgebaut. Auf der ersten Tribüne saßen die Honoratioren der Stadt – einflussreiche Geschäftsleute, Vertreter der Kirche, der Bürgermeister sowie einige Parlamentsabgeordnete. Die zweite Tribüne war die Loge des königlichen Hofes. Hier hatte der Prinzregent, ein Großteil der königlichen Familie, mehrere Kabinettsmitglieder sowie die Leibgarde Seiner Majestät Platz genommen.

Am Straßenrand gingen Gendarmen auf und ab, um für Ordnung zu sorgen und den wenigen Platz zwischen Publikum und Festzug freizuhalten. Direkt vor der Tribüne des Prinzregenten hatten sich zwei Fotografen postiert, welche ihre Köpfe unter schwarzen Tüchern begruben und die schweren Holzkästen abwechselnd in Richtung der Ehrengäste oder des Festzuges ausrichteten.

Die Ludwigstraße weiter stadtauswärts in Richtung Siegestor standen dicht an dicht gedrängt zugereiste Gäste und Bürger der Stadt München. All die, welche schon frühmorgens vor Ort waren, hatten einen Platz in der vorderen Reihe oder auf der anderen Straßenseite auf Höhe der Tribünen. Viele der Anwesenden trugen ihre Festtagstracht oder Sonntagskleidung. Die Damen hatten vereinzelt einen Schirm dabei, den sie bei unbeständigem Sommerwetter sowohl als Regen- als auch als Sonnenschutz nutzen konnten. Die Stimmung war heiter und festlich zugleich.

Gegenüber der beiden Tribünen, auf der anderen Straßenseite, um das Reiterdenkmal von Ludwig I. gruppiert, sah Hiebler eine Gruppe Männer mit schmutziger Kleidung und unrasierten Gesichtern, die so gar nicht in das Gesamtbild der feiernden Bevölkerung passen wollten. Hiebler hob kurz die Achseln und spitzte die Lippen.

Denen geht es wohl ähnlich wie mir, dachte er. Trotz Anwesenheit kein Interesse an dem Umzug. Nur, dass ich wenigstens nach außen hin in der Lage bin, Haltung und Contenance zu bewahren, statt mich mit schmutziger Kleidung im Blickfeld des Prinzregenten zu positionieren.

Als ob die Männer seine Gedanken hätten lesen können, verließ in dem gleichen Moment die gesamte Gruppe ihren Platz direkt gegenüber der Hofloge und verschwand in Richtung Briennerstraße. Unter den Männern war eine kleinere, etwas untersetzt wirkende Person mit Halbglatze, die im Gegensatz zu den anderen gepflegt und dem Anlass entsprechend gekleidet war. Der Mann erinnerte Hiebler an Severin Knoll, den Fotografen, den er während seines Aufenthaltes in Würzburg kennengelernt hatte.

Knoll wird wohl kaum den weiten Weg von Würzburg nach München zur Centenarfeier gekommen sein, um dann plötzlich mitten während des Festzuges aufzubrechen, dachte er sich.

Hiebler kramte seine Taschenuhr aus der Westentasche und schaute auf die Uhrzeit. Er hatte nun schon fast zwei Stunden stehend am Straßenrand verbracht. Der Festumzug hatte etwa eine Stunde zuvor begonnen. Im Wechsel mit diversen Blaskapellen zogen die Bäcker, die Müller, die Schäffler und die Metzger an ihm vorbei. Sämtliche Berufsgruppen und Vereine der Stadt München nahmen teil. Es war immer das gleiche Winken der Zugteilnehmer in die Menge, die gleichen Musikstücke der Kapellen und der gleiche Applaus der Zuschauer. Am Ende kam das Defilee der jeweiligen Gruppen vor dem Prinzregenten, bis sie über den Odeonsplatz vorbei links abbogen und in Richtung Hofgarten verschwanden.

Hiebler musste jetzt an den Faschingsumzug denken, den er im Februar unfreiwillig in Würzburg erleben durfte. Auch dort fand er die aufgesetzte Heiterkeit und den Lärm nur lästig. Dass die Menschen nicht ihrer normalen Tätigkeit nachgehen oder sich an stillen und einfachen Dingen erfreuen können? Muss es denn immer laut, bunt und nervig sein, fragteer sich, klappte den Deckel seiner Uhr zu und steckte das Erbstück wieder in die Westentasche.

Was meinte der Minister?, grübelte Hiebler. Bis 13 Uhr dauert der Umzug. Jetzt ist 12.55 Uhr. Am Ende des Zuges tritt noch die Vereinigung der Münchner Kauf- und Handelsleute auf, bis die Veranstaltung durch den Salut der Böllerschützen beendet wird. Dann ist Schluss – endlich!

Er lupfte kurz den Hut, kramte aus seiner Hosentasche ein Taschentuch hervor und wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Dann fuhr er sich durch die Haare, um akkurat den Scheitel von rechts nach links zu ziehen – so, wie er es gewohnt war. Anschließend strich er mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand von der Mitte über seiner Lippe ausgehend nach beiden Seiten den Schnurrbart glatt. »Noch fünf Minuten, dann ist Schluss«, murmelte er leise vor sich hin, gefolgt von einem tiefen Seufzer.

Plötzlich nahm er von der Ferne ein Raunen wahr, das sich immer weiter in seine Richtung ausbreitete.

»Schau, Valentin!«, rief unvermittelt eine junge Dame neben Hiebler. Sie trug ein weißes Sommerkleid und einen ausladenden Hut mit Blumenstickereien. »Schau, da vorne!«, rief sie erneut zu ihrem Begleiter, hielt sich mit der Hand den Hut fest und hüpfte juchzend auf und ab.

Valentin war ein Arbeitskollege Hieblers. Die Dame musste dessen Verlobte oder Gattin sein. Hiebler drehte sich kurz zu den beiden hin und sah sie breit grinsend in Richtung der nächsten vorbeiziehenden Gruppe blicken. Etwas genervt folgte er dem Blick des jungen Paares. Weniger amüsiert als eher verwundert sah er in der Ferne eine Art Karawane in seine Richtung ziehend.

Statt Blasmusik hörte Hiebler jetzt fremdländische, orientalisch anmutende Klänge. Der Gruppe voran gingen Männer mit buntglänzenden Umhängen, Turbanen auf dem Kopf und braun geschminkten Gesichtern. Darunter spielte einer ein Instrument, das vom Aussehen und Klang einer Klarinette ähnelte. Ein seltsames Gequietsche mit einer immer wiederkehrenden Melodie aus wenigen Tönen kam aus dem fremden Instrument. Hinter den Männern trotteten gemächlich mehrere Elefanten. Auf dem Hals von drei der Tiere, sich an deren gigantischen Ohren festhaltend, saß jeweils ein Mann in gleicher Aufmachung wie die vorwegziehenden Personen.

»Das sind … das sind Elefanten. Schau, Valentin, echte Elefanten! Hier in München«, gluckste die junge Dame fröhlich neben Hiebler.

Hiebler starrte jetzt selbst auf die riesigen Tiere, die mit gesenkten Köpfen gemächlich marschierten. Es waren insgesamt acht Exemplare. Vorneweg ging ein Bulle mit langen weißen Stoßzähnen. Es war das größte lebende Tier, das Hiebler jemals gesehen hatte. Der Rüssel des grauen Riesen hing bis zum Boden hinab, die Ohren bewegten sich wie große Fächer langsam im Rhythmus der Schritte. Seine im Vergleich zum gigantischen Kopf winzigen Augen ruhten mit Blick auf dem Boden. Alles Treiben um ihn herum schien dem Tier egal zu sein. Der Bulle strahlte Ruhe und Gelassenheit aus. Er wurde mit lockerem Zügel von einem verkleideten Dompteur oder Tierpfleger geführt. Neben dem Bullen ging eine Elefantenkuh, auf der ein weiterer Dompteur saß. In Zweierreihen dahinter folgten die anderen Tiere. Alle hatten Ketten zwischen den Vorder- und den Hinterbeinen. Hiebler wunderte sich, warum Tiere, die auf ihn friedvoller als eine Herde Schafe wirkten, Ketten tragen mussten. Mit etwas Abstand zu den Elefanten und deren orientalisch gekleideten Wärtern rollte mit gleichmäßig tuckerndem Motor und qualmendem Schornstein eine etwa vier Meter lange Straßenlokomotive hinterher. Die Lokomotive war mit bunten Stoffbahnen geschmückt. Links und rechts war jeweils ein Banner angebracht mit der Aufschrift »Verein der Kauf- und Handelsleute München«.

Das Publikum um Hiebler winkte den maskierten Männern und den Tieren zu, als diese an ihnen vorbeimarschierten. Es waren nur drei bis vier Meter Abstand von Hiebler zu den Kolossen. Er sah die tiefen Falten in der grauen Haut der Tiere und die spärliche schwarze Behaarung am Rumpf. Hiebler bewunderte, wie sich solche Kolosse scheinbar mühelos fortbewegen konnten. Ein einzelnes Bein des Bullen an der Spitze war in etwa so lang und breit wie ein erwachsener Mensch, dennoch wirkte die Bewegung insgesamt leicht und nahezu elegant. Langsam zogen die Tiere vorbei. Die Elefantenwärter winkten freundlich in das entzückte Publikum. Hiebler konnte sich nun ebenfalls ein Lächeln nicht mehr verkneifen. Diese faszinierenden Lebewesen aus unmittelbarer Nähe zu betrachten, beeindruckte ihn schwer. Glückselig sah er jedem vorbeiziehenden Tier hinterher, bis er nur noch die vergleichsweise dünnen Schwänze der in der letzten Reihe gehenden Elefanten gemächlich wedeln sah.

Als die Elefantenkarawane vor der Hofloge ankam, gaben die Wärter kurze Kommandos. Einer der Männer klopfte mit einem Stock kurz auf die Vorderfüße des Leitbullen. Sofort blieben der Bulle und kurz danach die anderen Elefanten stehen. Die Dompteure, die auf den Elefanten saßen, kletterten schwungvoll und geübt herunter.

Als Nächstes wurden die Tiere in Reih und Glied vor der Tribüne positioniert.

Ein Wärter stellte sich vor die Elefanten und hob mit einer schwungvollen Bewegung, wie der Dirigent eines Symphonieorchesters, beide Hände hoch. Er rief ein lautes »Allez!«, woraufhin die Tiere den Kopf in den Nacken legten und ihre Rüssel wie Trompeter bei der Fanfare noch oben streckten.

Ein entzücktes Raunen kam von der Tribüne. Die Kinder der Königsfamilie gafften mit offenen Mündern auf das Geschehen. Der Prinzregent setzte ein breites Lächeln auf und strich sich amüsiert über den langen grauen Bart.

Das Publikum drängelte sich jetzt schweigend und gespannt auf die Straße, um einen besseren Blick auf das ungewöhnliche Ereignis zu erhaschen.

Der Elefantendompteur warf jetzt erneut seine Hände nach oben und rief ein lautes »Allez hopp!«.

Will er etwa die tonnenschweren Tiere vor der königlichen Familie Männchen machen lassen?, fragte sich Hiebler, als plötzlich der Führer der Straßenlokomotive am Ende der Karawane mit einem lauten »Tuuut!« Dampf aus einem Ventil abließ. Es war nicht nur ein ohrenbetäubender Lärm. Nein, dummerweise war das Ventil an der Maschine exakt auf Höhe der Elefanten. Der heiße entweichende Dampf besprühte das Hinterteil einer Elefantenkuh am Ende der Reihe.

Für wenige Sekunden herrschte nun völlige Stille.

Die Elefanten senkten ihre Köpfe.

Schließlich stürzte sich die mit dem heißen Dampf besprühte Elefantenkuh fluchtartig einige Meter nach vorne in Richtung der Tribüne.

Sofort sprangen Gendarmen auf, zogen ihre Säbel und schrien wild auf die Elefantendame ein. Nun wurden die anderen Tiere ebenfalls unruhig. Der große Bulle klappte seine Ohren nach vorne und schleuderte wild den Rüssel hin und her. Mit einer kurzen, aber heftigen Schrittbewegung schaffte er es, die Ketten zwischen seinen Beinen zum Bersten zu bringen. Er lief mit schnellen Schritten in Richtung der Gendarmen vor der Tribüne und gab ein ohrenbetäubendes »Tröööt!« von sich.

Jetzt ging alles rasend schnell.

Die königliche Familie und der Hofstaat wurden hastig von der Leibwache seitlich an der Tribüne hinausgeleitet. Mit ausreichendem Abstand zu den unruhig hin und her schwankenden Elefanten wurde die Gruppe an den Tieren vorbei über den Odeonsplatz in die Theatinerkirche geführt.

Weitere Gendarmen und Soldaten der Leibgarde eilten hinzu und positionierten sich mit gezogenen Säbeln und lauten Rufen zwischen der mittlerweile fast leeren Tribüne und den sich immer wieder aufbäumenden Elefanten. Zusätzlich eilte eine grölende Menschenmenge herbei, um das Geschehen vor der Hofloge besser verfolgen zu können.

Die Dompteure versuchten währenddessen, die Elefanten, welche nun von vorne durch Soldaten und von hinten durch die auflaufende Menschenmenge bedrängt wurden, durch besänftigende Gesten und Kommandos zu beruhigen.

Hiebler blieb wie eingefroren stehen. Er ließ die Menge an sich vorbeiziehen und beobachtete alles von der Distanz aus. Vor der Tribüne sah er seinen Chef, Freiherr von Feilitzsch, wild gestikulierend den Gendarmen Anweisungen geben.

»Haltet die Stellung!«, rief der Minister. »Nicht zurückweichen!«

Plötzlich gab es einen lauten Knall gefolgt von einer staubigen Windböe. Hiebler und alle anderen Anwesenden einschließlich des Ministers duckten sich instinktiv.

Die Elefanten hielten kurz inne.

Dann legten sie los.

Mit einem lauten Trompetenlaut beschleunigte der Leitbulle seinen über zwei Tonnen schweren Körper und raste jetzt direkt auf die Gendarmen zu. Mit wütendem Schwingen seines Rüssels bahnte er sich den Weg. Wie Dominosteinchen fielen die Soldaten zur Seite. Die beiden Fotografen konnten sich noch gerade durch einen beherzten Sprung in Sicherheit bringen. Wer nicht rechtzeitig ausweichen konnte, bekam einen heftigen Schlag und wurde meterweit weggeschleudert. Der Elefantenbulle raste über die hölzerne Tribüne, als ob sie aus Streichhölzern gebaut worden war. Drei weitere Elefanten folgten dem Bullen. Mit Rüssel und Stoßzähnen hebelten sie Bretter aus der Konstruktion und warfen diese wütend durch die Luft. Die Elefantenwärter versuchten unterdessen, die anderen vier Tiere im Zaum zu halten. Sie zerrten heftig an den Zügeln und riefen laut Kommandos. Nun rückte allerdings die Menge von hinten an. Männer und Frauen schlugen mit Stöcken und Schirmen auf die Elefanten ein, was dazu führte, dass die zweite Gruppe jetzt ebenfalls mit lautem Getröte den Führern, die an ihrer Seite schritten, die Zügel entrissen und ohne Fesseln über die Straße trabten. Die Tiere nahmen ihren Weg direkt durch dichtgedrängte Menschenmassen. Männer, Frauen und Kinder schrien wie am Spieß. Im Schlepptau der Elefanten eilten ihnen die Dompteure hinterher. Sie versuchten verzweifelt, die Tiere mit Seilen wieder einzufangen. Vorbei am Reiterdenkmal Ludwig I. und dem Wittelsbacher-Palais liefen die Elefanten in die Jägerstraße. Hier war es glücklicherweise etwas ruhiger. Es gelang den Wärtern, die Elefanten in einen Hinterhof zu treiben, sie dort zu besänftigen und ihnen wieder die Zügel und Fesseln anzulegen.

Anders verlief es mit der in der Hofloge wütenden Elefantengruppe um den Leitbullen. Die Tiere hatten mittlerweile genug Schaden auf der Tribüne angerichtet und trotteten nun in Richtung Hofgarten, die Passanten vor sich her treibend. Von der breiten Ludwigstraße wurde die Menschenmenge in die schmale Hofgartenstraße gedrängt. Die plötzliche Enge hier und die fehlende Möglichkeit, in unterschiedliche Richtungen fliehen zu können, löste Panik unter den Passanten aus. Alle drängten blind nach vorne. Frauen verloren die männlichen Begleiter in ihrer Nähe, Kinder konnten dem Tempo ihrer Eltern nicht mehr folgen und blieben zurück. Wer auf den Boden fiel, auf den wurde keinerlei Rücksicht genommen. Niemand half dem anderen wieder auf die Füße, man lief blindlings einfach weiter.

Manche versuchten, auf Mauern oder Bäume hochzuklettern. Einigen gelang es. Die meisten fielen jedoch über- und durcheinander beim Versuch, sich in Sicherheit zu bringen. Die auf dem Boden Liegenden wurden von nachdrängenden Menschen überrannt. Andere wurden gegen Mauern und Häuserwände gedrückt und drohten zu ersticken. Das Angstgeschrei war ohrenbetäubend.

Vom Hofgarten zogen die Tiere weiter über die Maximilianstraße, die Münchner Prachtstraße, in Richtung Platzl. Eine Passantin vor dem Hofbräuhaus glaubte, sich durch Aufspannen ihres Regenschirmes und lautes Gekreische vor den Tieren schützen zu können. Das Ergebnis war, dass die Elefanten dadurch nur noch scheuer wurden und nun planlos durch enge Altstadtgassen trabten. Die Panik breitete sich immer weiter aus. Dutzende von eigentlich unbeteiligten Passanten ließen sich von der allgemeinen Verwirrung und Unüberlegtheit anstecken und liefen wie kopflose Hühner gackernd durch Münchens Altstadt. Mit lautem Geschrei rannte eine Gruppe Heranwachsender vom Platzl über das Tal zum Viktualienmarkt. »Rette sich, wer kann!«, schrien sie. »Lauft! Schnell, lauft davon! Lauft, so schnell ihr könnt!«

Die Warnung blieb nicht ungehört. Frauen ließen ihre Einkäufe vor den Marktständen stehen und rannten mit aufgerissenen Augen in Richtung Gärtnerplatz.

Mittlerweile hatten sich einige Soldaten vom Leibregiment des Prinzregenten vor dem Markt versammelt, um sich im Kampf dem heranrückenden Feind zu stellen. Als die Elefanten kamen, baute sich ein besonders mutiger Soldat vor dem Leitbullen auf und stach ihm mit dem Bajonett in den Rüssel. Der Elefant packte den Angreifer und schleuderte ihn in hohem Bogen in die Gruppe seiner Kameraden. Ein weiterer Soldat meinte, mit einem Schuss in die Luft endlich für Ruhe zu sorgen. Das Gegenteil trat ein. Die Tiere stürmten mit lautem Getröte an der Leibgarde vorbei durch den Markt, überrannten alles, was im Weg stand, und zertrümmerten mehrere Verkaufsstände.

Weiter ging die Elefantenjagd über den Gärtnerplatz in Richtung Isar. Mittlerweile waren berittene Gendarmerie- und Armeeeinheiten mobilisiert wurden. Das Fußvolk wurde angewiesen, in kleineren Gruppen in Seitengassen oder Innenhöfen Schutz zu suchen, statt panisch der Masse hinterherzulaufen.

Diese neue Strategie war erfolgreich. Die Reiter trieben die Elefanten vom Gärtnerplatz durch die Reichenbachstraße, bis ihnen in der Auenstraße der Weg versperrt wurde. Die Münchner Feuerwehr hatte mittlerweile rasch eine Barriere durch drei Löschwagen aufgestellt, welche von jeweils vier Kaltblütern gezogen wurden. Die Elefanten hatten inzwischen knapp drei Kilometer im Laufschritt absolviert und schienen erschöpft zu sein. Zwischen der Feuerwehr und den berittenen Truppen waren die Tiere nun eingekesselt. Nachdem der Weg nach vorne versperrt war, drehte sich der große Elefantenbulle zu den Soldaten um. Er blutete aus der Wunde am Rüssel, schnaubte und schwang den Kopf hin und her. Dann begann er, in Richtung der Soldaten zu laufen.

Der Bulle kam nicht weit. Drei Offiziere schossen gleichzeitig mit ihren Gewehren auf das Tier. Der Elefant wurde an mehreren Stellen getroffen. Er blieb stehen und schwankte kurz, bis er schließlich wie eine gefällte Eiche zu Boden fiel. Dann bewegte er sich nicht mehr.

Die Soldaten dachten, dass nun die verbliebenen drei Elefanten aufgewühlt zum Gegenangriff ansetzen würden. Die Gewehre wurden erneut angelegt. Jeder erwartete das Kommando zu feuern.

Doch etwas Gegenteiliges geschah: Mit gesenktem Kopf trotteten die Tiere langsam zu dem erschossenen Leitbullen, stellten sich um ihn herum, beschnüffelten ihn und versuchten, dem Bullen durch sanftes Stoßen mit dem Rüssel wieder auf die Beine zu helfen. Man hatte den Eindruck, als ob sie um das Tier trauerten und Abschied von ihm nehmen wollten. Es war eine fast andächtige Situation. Alle anwesenden Passanten, die Soldaten, Gendarmen und Feuerwehrleute beobachteten fasziniert das Geschehen mitten auf der Straße. Schließlich traten zwischen den Reihen der Soldaten drei der Elefantendompteure hervor. Einer von ihnen hatte immer noch den mittlerweile grotesk erscheinenden Turban auf dem Kopf. Die Männer trugen schwere Seile und bewegten sich langsam zu den trauernden Tieren. Widerstandslos ließen sich die Tiere jetzt fesseln und anschließend wie Schafe wegführen.

Die Münchner Elefantenjagd war am frühen Nachmittag des 31. Juli 1888 beendet.

Kapitel 2

Hiebler hatte nie einen Krieg miterleben müssen. Er hatte nicht als Soldat gedient und war nie an der Front. Das, was er jetzt jedoch am frühen Nachmittag dieses trüben Sommertages sah, kam ihm wie die Hinterlassenschaften einer Schlacht vor. Er sah jammernde Verletzte und verzweifelte, ihre Eltern suchende Kinder. Die zuvor zum Festzug sauber gefegte Ludwigstraße war verschmutzt. Zwischen gigantischen Kothaufen als Hinterlassenschaften der Elefanten lagen Jacken, Regenschirme und einzelne Schuhe auf der Straße. Die beiden Tribünen waren nur mehr Fragmente, wobei vor allem die Hofloge nahezu komplett zerstört war. Nicht nur, dass die Holzdielen einzeln rausgerissen waren, zum Teil schienen dicke Fichtenbretter zu Splittern verarbeitet geworden zu sein.

Hiebler selbst hatte die Panik, das Chaos und das Wüten der Elefanten von dem gleichen Platz aus verfolgt, den er fast zwei Stunden zuvor eingenommen hatte. Er hatte sich nicht bewegt, ließ sich nicht von der Menge mitreißen, um näher am Geschehen zu sein. Er war nicht kreischend durch die Straßen gelaufen. Hiebler blieb als stiller und distanzierter Beobachter stehen, bis Ruhe einkehrte und nur mehr ein leises Jammern und Winseln einzelner Personen zu hören war. Kurz dachte er daran, einen Verletzten zu stützen oder ein wimmerndes Kind zu trösten. Dann überlegte er es sich anders. Zu vielen hätte er helfen müssen. Und warum sollte er helfen? Warum jetzt? Andere waren hierfür besser geeignet als er selbst. Sollten sich Ärzte, Sanitäter, Gendarmen, Soldaten oder die Feuerwehr, die alle demnächst eintreffen würden, um die Verletzten und Orientierungslosen kümmern – er wollte es nicht. Hiebler folgte der Trümmerwüste ein kurzes Stück und überquerte den Odeonsplatz. Die Theatinerkirche, der Ort, an dem kurzfristig die königliche Familie Schutz vor den Elefanten gesucht hatte, schien leer zu sein. Der Hofstaat des Prinzregenten war einige Minuten zuvor mit mehreren Droschken ins Schloss Nymphenburg gebracht worden.

Direkt neben der barocken Kirche war in der Theatinerstraße das Innenministerium in einem ehemaligen Kloster des Theatinerordens untergebracht. Hiebler betrat seine Arbeitsstätte in der Hoffnung, in der Schreibkammer unter dem Dach des alten Gebäudes nun endlich in Ruhe seiner geregelten Arbeit nachgehen zu können.

Er wurde das Chaos jedoch nicht los. Nach dem Öffnen der schweren Eingangstür wurde ihm zunächst durch eine Gruppe von etwa zehn Personen vor der Pforte der Weg versperrt. Viele Stimmen redeten, wild gestikulierend, laut und durcheinander auf die beiden Pförtner ein. Hiebler hörte nur einzelne Wortfetzen: »Wer bezahlt mir das?«, »Wo war das Militär?«, »Ich finde mein Kind nicht mehr!«, »Warum hat man die Elefanten nicht gleich erschossen?«, »Hier ist doch die Zentrale des Gendarmeriekorps, unternehmen Sie etwas!«

Er drängte sich genervt an der Menschentraube vorbei und kam in die Eingangshalle mit der großen geschwungenen Treppe. Hier war es nicht besser. Orientierungslos wanderten Menschen jeglichen Alters auf und ab. Hiebler vermutete, dass sie in dem Gebäude des Ministeriums nur unweit vom Geschehen Schutz gesucht hatten, nachdem ihnen der Weg in die Theatinerkirche zuvor durch die Leibgarde des Prinzregenten verwehrt worden war. Die Bänke und Stühle in der Eingangshalle des Gebäudes waren alle belegt, viele saßen daher dicht gedrängt auf den Treppenstufen. Manche weinten hemmungslos, einige vergruben ihr Gesicht kopfschüttelnd in den Händen, wieder andere starrten nur ausdruckslos ins Leere. Hiebler kämpfte sich den Treppenlauf an den kauernden Menschen vorbei nach oben.

Am Treppenabsatz zwischen Erdgeschoss und erstem Stock sah er seinen Kollegen Valentin stehen. Dessen Begleiterin, Frau oder Verlobte, welche etwa eine halbe Stunde zuvor noch fröhlich glucksend den Einzug der Elefanten begrüßt hatte, saß neben ihm auf dem Boden. Den Hut schien sie verloren zu haben, in ihr Gesicht hingen schmutzig verschwitzte Haarsträhnen. Das vormals weiße Sommerkleid war jetzt übersät mit dunklen Flecken. Der Rocksaum war zerrissen.

Hiebler stellte sich vor die beiden, lupfte seinen Hut und begrüßte mit einem kurzen Kopfnicken Valentins Begleiterin. Die Dame quälte sich ein müdes Lächeln ab, bevor sie wieder ins Leere schaute.

»Georg, gut, dich heil und ganz zu sehen«, begrüßte ihn sein Kollege. »Du warst plötzlich weg!«

»Das stimmt nicht«, antwortete Hiebler. »Ich stand die ganze Zeit am gleichen Platz, ohne mich zu bewegen. Ihr wart weg. So wie fast alle. Jeder musste plötzlich losrennen. Wie die Lemminge zur Klippe seid ihr gerannt.«

»Das ging nicht anders! Wir sind gedrückt und geschoben worden. Es war schrecklich«, antwortete Valentin. »Wir konnten nicht einfach stehen bleiben.«

Hiebler sah jetzt den Schweiß, der seinem Kollegen scheinbar immer noch in Strömen trotz der relativ kühlen Temperatur die Stirn herunterlief. Seine Augen waren weit aufgerissen, und die Hände zitterten. Er schien sichtlich geschockt. »Plötzlich fiel dann Helene zu Boden. Gott sei Dank konnte ich ihre Hand halten und sie mühsam wieder hochziehen. Wer weiß, was sonst mit ihr passiert wäre.«

Besorgt blickte Valentin auf seine Verlobte, die weiter regungslos ins Nichts starrte. »So etwas habe ich noch nie erlebt und werde es hoffentlich auch nie wieder erleben – schrecklich, Georg, schrecklich!«

»Wäre jeder an seinem Platz geblieben, wäre nichts passiert«, fuhr Hiebler fort. »Warum sind alle durchgedreht? So, wie ich das mitbekommen habe, die Menschen sogar mehr als zuvor die Elefanten.«

»Wie kannst du so was sagen, Georg?«, fragte Valentin erschüttert. »Wegen dieser Monster sind Frauen und Kinder zu Schaden gekommen. Vielleicht sind sogar welche gestorben!«