Der Anfang nach dem Ende - Raphael Geiger - E-Book
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Der Anfang nach dem Ende E-Book

Raphael Geiger

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Beschreibung

Die griechische Schuldenkrise war die schwerste, die je ein europäisches Land in Friedenszeiten erlebt hat. Ganze Wirtschaftsbereiche wurden vernichtet, das politische System ist implodiert, die gesamte Gesellschaft hat sich in kürzester Zeit verändert. Das hat grundsätzliche Fragen aufgeworfen: zur Rolle des Staates, zum Miteinander, zu den Prioritäten der Menschen. Gleichzeitig blieben alte Fragen, wie die, was überhaupt griechisch ist – jenseits des antiken Erbes.
Raphael Geiger hat überall im Land nach Antworten gesucht. Er erzählt davon, wie eine Krise das Leben von Menschen über den Haufen wirft. Aber auch von ihrem Selbstbehauptungswillen; davon, was Griechenland auszeichnet und liebenswert macht. Ein mühsamer und langwieriger Neuanfang findet hier statt, der durch die Corona-Pandemie seine erste Belastungsprobe erlebt.
»Für Raphael Geiger ist Griechenland wie eine Geliebte, die schon viel durchgemacht hat und doch immer schöner wird. Entspannt, voller Wärme und mit klarem Blick setzt er Hellas ein neues Denkmal.« Linda Zervakis

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Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2020

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RAPHAEL GEIGER

DER ANFANGNACH DEM ENDE

WIE SICH GRIECHENLANDNEU ERSCHAFFEN HAT

Ch. Links Verlag

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Oktober 2020

entspricht der 1. Druckauflage vom Oktober 2020

© Christoph Links Verlag GmbH

Prinzenstraße 85 D, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Coverentwurf: Burkhard Neie, xix,

unter Verwendung eines Shutterstock-Bildes

einer Gipsstatue von Apollos Kopf (747891574)

Karte: Christopher Volle, Freiburg

Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag

ISBN 978-3-96289-099-5

eISBN 978-3-86284-485-2

INHALT

Krise, die

Was heißt das eigentlich?

Der Aufprall

Thessaloniki 2012: Erste Begegnung mit der Krise

Im Athener Frühling

Wie die Griechen Anfang 2015 kurz träumten

Showdown

Wie der Aufstand gegen die Sparpolitik scheiterte

Schuld

Warum Griechenland so tief fiel oder Besuch bei drei Finanzministern

Trauma

Was von der Krise bleibt, und wie viel bleibt

Widerstand

Wie in einem Athener Viertel die alte griechische Leidenschaft neu erwachte

Gestern

Ein Volk sucht sich selbst

Das Denkmal

Über Manolis Glezos, den idealen Griechen

Verbrecher und Sparer

Begegnungen mit den alten und den neuen Deutschen und warum die Geschichte nie zu Ende geht

Eine große Familie

Wie das moderne Griechenland entstand und warum damit die Probleme anfingen

Familiengeheimnisse

Über die vergessene Stadt Salonika und die ungeliebten Nachbarn

Refugee Nation

Ein Volk von Flüchtlingen und Glückssuchern

Europa

Die Griechen auf dem Weg in die Moderne. Und nach Hause

Jeder Tag eine Schlacht

Wer die Helden von heute sind

Morgen

Auftritt: Die neuesten Griechen

Athen

In einer alten Stadt, die sich gerade neu erfindet

Donoussa

Über eine Insel in der Ägäis und den griechischen Traum

Sommer

Eine lange Reise und eine Woche Ende Juli

Epilog in der Coronakrise

Ein neues Land, eine neue Zeit

Anhang

Zeittafel

Literatur

Dank

Karte

Zum Autor

KRISE, DIE

Was heißt das eigentlich?

Ist es zu früh für dieses Buch? Die Frage stellte ich mir, als ich mit dem Schreiben anfing. Es waren die Wochen, als Covid-19 noch eine chinesische Angelegenheit war. Das kleine Land am Rande Europas, über das ich hier schreibe: Griechenland, fand langsam heraus aus seiner quälend langen Krise.

Während ich schrieb, wurde eine Zwischenkrisenzeit daraus. Die Frage ist jetzt: Wie schlimm wird die neue Krise ausfallen? Diesmal ist sie global. Und dieses Buch hier ist vielleicht aktueller als gedacht: Die Coronakrise verändert das Leben der Menschen überall auf der Welt, sie greift in unseren Alltag ein, in unsere Pläne, unsere Freiheiten. Sie stellt die Antworten infrage, an die wir gewohnt waren. Wir spüren, wie eine neue Zeit anfängt.

Genau das ist in Griechenland passiert, in dem langen Jahrzehnt, das mit der Finanzkrise 2008 begann. Andere Länder fanden damals schnell zurück zu Wachstum, zu Stabilität. In Griechenland ging die Krise einfach immer weiter. Die Menschen hier lebten im permanenten Krisenmodus. Kaum eine Biografie ohne Bruch, ohne Suche nach einem Neuanfang.

Für viele stand irgendwann fest, dass es nach der Krise nicht mehr so weitergehen kann wie vorher. Sie stellten sich, gezwungenermaßen, jahrelang ähnliche Fragen, wie sie in Deutschland schon nach wenigen Wochen der Kontaktsperre auftauchten: Was für ein Land soll das hier sein, wenn das alles einmal vorbei ist? Wird danach alles anders?

Die Griechen wurden andere, während sie sich all das fragten. Sie sind heute krisenerfahrener als wir Deutsche, und die eigentliche Frage ist jetzt die: Was können wir von den Griechen lernen?

Dieses Buch ist eine Reise in die griechische Realität. Eine Reise in ein Land, das die schwerste Wirtschaftskrise in Friedenszeiten seit der amerikanischen Depression durchgemacht hat, also seit 1930. Und die griechische Krise war deutlich länger. Sie ist einzigartig: Niemals hat sich ein Industrieland von einem dermaßen tiefen Sturz so lange nicht erholt.

Vor dem Virus betrug die Arbeitslosenquote immer noch 16 Prozent, und die Einkommen lagen um 22 Prozent unter dem Niveau vor der Krise. Die Griechen waren deutlich ärmer als im Jahr 2002, dem Jahr der Euro-Einführung. Damals hatte das Land auf eine Party gehofft, ein Wirtschaftswunder, aber damit war es schnell vorbei. Und das 21. Jahrhundert begann in Griechenland mit dem Kollaps der ganzen Gesellschaft.

Dieses Buch erzählt deswegen, fürchte ich, weniger darüber, wie man mit einer Krise umgeht, sondern mehr davon, wie man es besser nicht macht. Am Ende erzählt es hoffentlich beides. Vor allem hoffe ich, dass es eine Warnung ist: Nach der griechischen Krise sollte niemand mehr das Leid unterschätzen, das eine Rezession auslösen kann. Eine Krise dieser Dimension tötet sogar, weil die Suizide zunehmen und weil die Menschen an behandelbaren Krankheiten sterben. In Griechenland ist die Säuglingssterblichkeit gestiegen, die Lebenserwartung sank.

Auch wenn es vor dem Virus einen ganz zarten Aufbruch gab: Vorbei war diese Krise nie. Ich müsste nur jetzt gerade, während ich am Schreibtisch in meiner Athener Wohnung sitze, aufstehen und hinaus auf den Balkon gehen, hinunterschauen auf unsere Straße und die offenen Mülltonnen gegenüber beobachten. Ganz sicher würde jemand auftauchen, der sich einmal kurz umsieht, ob ihn jemand bemerkt. Ein älterer Mann vielleicht, einer jener Rentner, die jetzt, in den letzten kalten Tagen, in einem alten Wolljackett und Hut durch unser Viertel gehen, womit ihnen das Kunststück gelingt, mit Eleganz ihre Armut zu verbergen.

Er würde sich vorbeugen, seinen Kopf über unsere Mülltonne halten und etwas darin suchen. Solche Szenen wiederholen sich ständig. Es sind Menschen aus der, wie wir sagen, Mitte der Gesellschaft, die von Tonne zu Tonne zu gehen, auf der Suche nach Verwertbarem.

Jedes Mal, wenn ich vor Corona an unserer Bushaltestelle vorbeiging, sah ich die Frau, die in ihr lebte, umgeben von Plastiktüten, in die sie ihren Besitz gepackt hatte. Eine von denen, die irgendwann in diesen Jahren abgestürzt waren, und die es nicht mehr schafften. Die Zeit ging über sie hinweg, die Gesellschaft vergaß sie.

Da saß sie nun, während die Menschen morgens vor ihr in den Bus stiegen, zur Arbeit fuhren, sie saß da, abends, wenn sie wieder zurückkamen, sie starrte vor sich hin, stumm, wie eine Zeugin, die etwas zu sagen hätte, der aber niemand mehr zuhört.

Nein, sie war nie vorbei, die Krise. Die Fassaden sind noch immer zu verrußt, zu viele Läden verwaist, die Gehsteige zu kaputt, die Straßen zu löchrig. So sieht es aus, wenn sich der Staat jahrelang zurückzieht, nur noch das Allernötigste macht. Ganze Viertel von Athen waren sich selbst überlassen, an vielen Ecken wirkte es, als würde sich niemand mehr um die Stadt kümmern. Als hätte es nicht mehr nur am Geld gefehlt, sondern auch an Kraft.

Die Stadt spiegelte wider, wie es in den Menschen drinnen aussah. Sie waren gebrochen. Ein Schatten ihrer selbst. Ich bilde mir ein, die Krise in den Gesichtern zu sehen. Nicht in allen, natürlich. In vielen. In ihren Gesichtszügen liegt eine Schwere. Eine Härte. So sehen jahrelang enttäuschte Menschen aus, die nichts mehr erwarten, die sich verschlossen haben, um sich vor weiteren Enttäuschungen zu schützen. Wer einen Krieg durchgemacht hat, kommt davon nicht mehr so einfach los. Die Erfahrung prägt fürs Leben, der stärkste Mensch kommt dagegen nicht an. In Griechenland ist kein Krieg passiert, sicher, aber was, wenn die Krise die Gesellschaft ähnlich tief getroffen hätte?

Ich lebe in Pangrati, einem zentralen, früher eher unauffälligen Stadtteil. Athener würden sagen: Wenn die Krise irgendwo zu Ende ging, dann hier. Pangrati ist in den letzten Jahren hip geworden. Es begann mit ein paar Cafés und Bars, Restaurants, die Wohnungspreise stiegen, der Trend befeuerte sich selbst. In unserer Straße, in der manche Läden seit Jahren leer stehen, komme ich jetzt am Showroom eines Modedesigners vorbei, gegenüber ist ein Startup eingezogen. Selbst in der grauen Hauptstraße, die ins Zentrum führt, entdecke ich jetzt eine neue Bar, und dann noch eine. Eine Galerie hat eröffnet: die Gemäldesammlung einer Reederdynastie.

Es ist die neue Zeit, die vor Corona anfing, an der Oberfläche erst mal, im Straßenbild. Die Krisenjahre, in denen es nur bergab ging, als niemand noch an eine Zukunft glaubte, sie schienen vorbei. In unserem Viertel zumindest. Für einige zumindest. Oder waren es nur wenige? Oder schon viele?

Jetzt steigt die Arbeitslosigkeit wieder. Corona trifft vor allem den griechischen Tourismus, der vielen im Sommer zu Saisonjobs verhalf. Gerade den Jüngeren. Jenen, die geblieben sind; anders als die über 500 000 Griechen, die irgendwann in den letzten Jahren einen Flieger ins Ausland nahmen. Der griechische Finanzminister hat, anders als der deutsche, keine Bazooka zur Verfügung, die er auf den Tisch legen könnte. Auch er verkündete ein Rettungspaket, aber es fiel kleiner aus. Corona traf auf einen verwundbaren Staat, dessen Rücklagen im März 2020 nur für drei Monate reichten. Danach hätte er vor der Pleite gestanden.

Corona traf auf eine verwundbare Gesellschaft. Auf knapp elf Millionen Menschen mitten in einem Neuanfang. Wie reagiert jemand, der nach einer langen Depression einen neuen Job findet und ihn nach kurzer Zeit wieder verliert? Erlebt er einen Rückfall? Oder kommt er vielleicht besser klar mit dem neuerlichen Schlag, weil ihn die Krise robuster hat werden lassen?

Ein neues Land ist um Athen herum entstanden. Oder es entsteht gerade. Eins, in dem die Menschen danach suchen, wer sie sein wollen. Für was sie stehen wollen. Ständig versichern mir die Menschen hier, die Krise habe ihr Gutes gehabt. Die Jungen zählen die Fehler ihrer Eltern auf, sie sehen klar, was schiefgelaufen ist. So gut wie jeder hier hat sich jahrelang mit den Fehlern, mit den Unzulänglichkeiten des Landes beschäftigt, sich über sie geärgert. Und viele haben sich geschworen: Wir machen es besser.

Irgendwann vergangenes Jahr, in der virenfreien Zeit, ging ich durch die kaputten Straßen in die Innenstadt, wo ich einen Interviewtermin hatte. Zwei junge Gründer wollte ich treffen, die an eine Idee glaubten. Obwohl alles in ihrem bisherigen Leben dagegensprach, an überhaupt irgendetwas zu glauben.

Das Interview fand in einem Dachterrassencafé in Monastiraki statt, dem Viertel unterhalb der Akropolis. Wir saßen in der Sonne und tranken Freddo Espresso, den griechischen Eiskaffee. Wir schauten auf den Parthenon-Tempel und auf die Stadt zu den Füßen des Felsens und sprachen über die Zukunft, die gerade anfing. Die beiden glaubten an diese Zukunft, sie redeten gegen meine Skepsis an. Im Reden waren sie, wie fast alle Griechen, ziemlich talentiert. Eine neue Generation, sagten sie. Eine neue Mentalität. Eine wirkliche Katharsis, eine Reinigung.

Auf dem Hügel neben der Akropolis, dem Areopag, sahen wir die Touristen, kleine Punkte im grellen Licht. In der Antike tagte dort der oberste Rat, das Gericht. Die alten Griechen erfanden hier, um die Akropolis herum, die Rhetorik, die Demokratie. In der Nähe lehrte Aristoteles, dessen Denken den ganzen Westen bis heute prägt. Die fünf Millionen Besucher, die Athen 2019 zählte, kamen wegen dieser Geschichte: weil hier alles begann.

Was beginnt hier jetzt, in Athen, zweieinhalb Jahrtausende später, nach einem Jahrzehnt Krise? Was haben die Griechen uns heute zu sagen, in einer Zeit, in der wir alle eine Krise durchleben, die uns verändern wird?

Davon handelt dieses Buch.

DER AUFPRALL

Thessaloniki 2012:Erste Begegnung mit der Krise

Der Krise begegnete ich in Person von Elissavet Vourtsaki, 45, die sich Veta nannte. Es war nachmittags, die Hitze staute sich in den Straßen von Thessaloniki, das Leben hatte sich verkrochen. Aber Veta war nicht müde, seltsamerweise.

Die Aussicht, ihre Geschichte erzählen zu können, elektrisierte sie. Veta war gewohnt, dass die Leute nichts von ihr hören wollten. Gewohnt, in einer Schlange warten zu müssen, an deren Ende sich herausstellte, dass alles mal wieder umsonst war. Gewohnt, vertröstet zu werden, auf morgen, auf irgendwann. Genauer ließ es sich oft ja wirklich nicht sagen in diesem Sommer 2012, dem vierten Sommer der Krise. Ihrem gefühlten Höhepunkt. Heute wissen wir: Es war nur der erste Höhepunkt.

Veta trug eine weiße Brille, die blonden Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Ihr Körper war schmal geworden. Sie kochte Kaffee, dann gingen wir auf den Balkon. Die Nachbarn hatten die Vorhänge zugezogen, vielleicht schliefen sie. Man hörte den Windhauch von Ventilatoren, sonst nichts. So saßen wir zu dritt vor Veta: eine deutschgriechische Kollegin, die übersetzte, ein Fotograf und ich.

Leukämie also. Gebetet hatte sie: Gott, bitte lass mich nicht krank werden, nicht jetzt. Ihre kleine Firma, sie gestaltete Taufkleider, hatte sie aufgeben müssen. Auf Taufkleider verzichteten die Menschen als Erstes: schön, aber nicht zwingend.

Veta hatte sich vorbereitet. Vor ihr auf dem Tisch lagen ihre Unterlagen. Nachweise darüber, wie viel sie in die Krankenkasse eingezahlt hatte. 335 Euro im Monat waren es zuletzt gewesen, bevor sie krankgeschrieben wurde. Zwei Jahrzehnte lang hatte sie gearbeitet, bis der Krebs sie nicht mehr ließ.

Und jetzt? Hätte sie das System gebraucht. Ein Krankenhaus mit Ärzten, die ihrer Behandlung die höchste Priorität zuweisen. Eine Krankenversicherung, die nicht zögert, die Kosten zu übernehmen. Eine Apotheke, die ihr die verschriebenen Medikamente aushändigt. Alles das eben, was das Gesundheitssystem eines europäischen Landes ausmacht, in dem die Menschen ihr Leben lang Beiträge zahlen, damit ihnen, wenn es einmal ernst wird, schnell geholfen wird.

Veta ging die Papiere durch, wieder und wieder, als müsste sie begründen, dass ihr eine Behandlung zustand. Das war es, was sie in den Wochen und Monaten gelernt hatte: Sie musste sich wegen ihrer Krankheit verteidigen. Es nagte an ihr, und sie wurde immer lauter, je länger sie darüber sprach. Sie sei keine Bittstellerin, sie wolle doch nur, was ihr zustehe. Es sei nicht irgendjemandes Geld, sondern ihres.

Niemand konnte Veta sagen, wo das Geld geblieben war. Fest stand nur: Von der Krankenkasse bekam sie keinen Cent mehr. Die Medikamente und Spritzen, die sie brauchte, zahlte sie aus eigenen Ersparnissen. Ein für sie lebenswichtiges Medikament ließ sich auch gegen Bargeld nirgendwo mehr auftreiben. Es fehlte seit drei Wochen. Veta war im fortgeschrittenen Stadium.

An diesem Morgen war sie um sechs aufgestanden und hatte den Bus Richtung Zentrum genommen, das war jetzt ihr täglicher Weg. Sie stieg an dem Platz aus, der an einer Seite an die Küstenpromenade reicht, umgeben von Hotels, Cafés, Restaurants. Hier verabredet man sich in Thessaloniki im Sommer.

So früh am Morgen war der Platz noch leer, nur vor einem Hauseingang stand schon eine Gruppe von Menschen. Sie warteten darauf, dass sich die Tür öffnete. Dahinter befand sich eine der Sozialapotheken. Wer hier stand, hatte entweder keine Krankenversicherung, oder die Kasse zahlte nicht mehr. Oder es fehlte, wie in Vetas Fall, an einer bestimmten Arznei, weil die Lager der Apotheken leer waren. Die Lieferkette war unterbrochen, das System kollabiert. Die Sozialapotheken versorgten sich mit Hilfe von Organisationen, die sonst in Entwicklungsländern tätig waren. So arbeitete die griechische Sektion von »Ärzte der Welt« nun im eigenen Land.

Vetas Prognose wäre auch in Deutschland nicht gut ausgefallen. Die Leukämie war ihr Schicksal. Aber dass die Krankheit sie gerade jetzt und hier befiel, machte ihr Überleben unwahrscheinlicher.

Sie sprach nicht über den Tod. Vielleicht weil sie uns schonen wollte, vielleicht weil sie ihn selbst verdrängte. Veta redete schnell, laut, fordernd. Veta klagte nicht. Sie klagte an. Wenn sie zwischendurch einen Moment schwieg, stand eine Frage im Raum, auf die Veta keine Antwort fand: Was ist hier eigentlich los?

Ich war zum ersten Mal als Reporter in Griechenland. Als ich im Flieger nach Thessaloniki saß, hatte ich Bilder im Kopf. Von Rentnern, die vor Geldautomaten Schlange stehen. Von Demos gegen die Sparpolitik, von Straßenschlachten, Tränengaswolken. Ich dachte an das Titelbild des Magazins Focus, auf dem eine Aphrodite den Mittelfinger zeigte. Ich dachte an die dröhnende Stimme von Alexis Tsipras, dem jungen Oppositionspolitiker, der gerade in Europa vielen Angst und, wie ich hörte, in Griechenland vielen Hoffnung machte.

Eine Woche würde ich bleiben. Zusammen sollten wir eine größere Geschichte recherchieren, die erklärte, was mit Griechenland gerade geschah. Wir stellten uns ein Vorher-Nachher vor. Dazu suchten wir Griechen, die bereit waren, uns von ihrem persönlichen Absturz zu erzählen, und uns Fotos aus ihrem alten, besseren Leben zeigten.

Es war Juni 2012, die Woche vor der zweiten Parlamentswahl des Jahres. Die erste, gerade fünf Wochen her, hatte zu keiner Regierung geführt. Der Interims-Premierminister, ein Technokrat, hatte gerade einen Brief an den Staatspräsidenten geschrieben: Sollte nicht schnell irgendetwas passieren, würde der Staat in diesem Monat nicht mal mehr seine Beamten bezahlen können.

Vieles erschien auf einmal ungewiss. Konnte Griechenland in der Eurozone bleiben? Gab es einen Weg hinaus aus dieser Krise? Das betraf erst mal die Wirtschaft, ging aber schnell tiefer: Passten Griechenland und das restliche Europa noch zueinander? Wozu gehörte Griechenland überhaupt, zu Westeuropa, wie ich immer gedacht hatte? Oder eher zum Balkan, zum Osten, zum Orient?

Später merkte ich, dass es genau diese Fragen waren, die die Menschen in Griechenland verunsicherten. Sie wussten nicht mehr, wer sie waren. Sie hatten, jeder für sich, den Halt verloren.

Was war geschehen? In der Finanzkrise, die ab 2008 weltweit ausbrach, war Griechenland besonders verwundbar. Auch die Regierung in Athen schickte sich an, die angeschlagenen Banken des Landes zu retten, so wie es die meisten Regierungen taten, allerdings hatten die Griechen weniger Spielraum. Das Land war vorher schon viel höher verschuldet als andere, zum Beispiel Deutschland. Aber die Regierung konnte die Schulden noch bedienen, weil die Wirtschaft jedes Jahr zuverlässig stark wuchs. Griechenland galt als kreditwürdig.

Das änderte sich jetzt: Mit der Finanzkrise brach die Konjunktur ein, die Staatseinnahmen sanken, die Bankenrettung kam erdrückend hinzu. Es war der perfekte Sturm: die Wirtschaft im freien Fall, die Schulden dramatisch steigend. Der Staat konnte es sich nicht mehr leisten, Geld in die Wirtschaft zu pumpen, aber durch die Rezession stiegen die Schulden erst recht.

Schnell war klar, dass es das Land allein nicht schaffen würde. Von den Banken bekamen die Griechen kein neues Geld mehr. Früher, vor dem Euro, wäre der Staat jetzt bankrott gegangen, aber in der Eurozone war ein Bankrott ausgeschlossen. Außerdem hatten auch Irland, Portugal und Spanien massive Probleme. In Europas Hauptstädten fürchteten die Regierenden, dass der ganze Euro scheitern könnte, die Angst vor einem Domino-Effekt ging um. In Panik schufen sie Konstrukte mit unaussprechlichen Namen: erst die EFSF, die »europäische Finanzstabilisierungsfazilität«, später den ESM, den »europäischen Stabilitätsmechanismus«. Ihn gibt es bis heute. Mithilfe von Bürgschaften aller Euro-Staaten soll er Darlehen an notleidende Länder vergeben.

Der Deal war: Wir helfen euch, wenn ihr reformiert und vor allem spart, damit ihr die Schulden auch bedienen könnt. Die EU-Kommission holte zwei Institutionen ins Boot, mit denen sie die betroffenen Länder überwachte: Die Europäische Zentralbank (EZB) und den Internationalen Währungsfonds (IWF). Die EZB sollte als Notenbank vor allem beraten, der IWF kam wohl auf deutschen Druck dazu: Angela Merkel wollte einen neutralen Akteur, der nicht allzu sehr von Politikern beeinflusst war. Die »Troika« war geboren.

Der IWF gab Griechenland einen Kredit, und die Konstrukte mit den seltsamen Namen, erst EFSF, dann ESM, übernahmen Griechenlands Schulden bei den Banken. Von nun an war Griechenland bei seinen europäischen Freunden verschuldet. Und ihnen Rechenschaft schuldig.

Die Vertreter der Troika reisten alle drei Monate nach Athen, stiegen im Hilton ab und ließen sich von den Griechen erklären, wie es mit Reformen und Kürzungen so lief. Die Ergebnisse schickten sie nach Brüssel, zur Eurogruppe, dem Gremium der Euro-Finanzminister. Denen fiel beim Überwachen der Griechen die Schlüsselrolle zu. Wolfgang Schäuble, der deutsche Finanzminister, hatte zwar nicht den Vorsitz, war aber so etwas wie der Doyen der Gruppe. So jedenfalls beschrieb ihn Yanis Varoufakis später. Nur, wenn die Eurogruppe zufrieden war, gab es weitere Kredite.

Schon die Begriffe waren politisch. Die einen bezeichneten das, was die Troika und die Griechen aushandelten, als Rettungsprogramme. Andere sagten Sparprogramme. Ich will mich an den offiziellen Begriff halten: »Memorandum of Understanding«, kurz Memorandum. Jetzt, im Sommer 2012, lief bereits das zweite. Es schrieb der griechischen Regierung im Detail vor, was sie an Reformen und Kürzungen umzusetzen hatte. Seit drei Jahren schon sparten die Griechen, ihre Löhne und Renten sanken, der Staat plünderte die Sozialkassen, um zahlungsfähig zu bleiben.

Das, was da ablief, hieß »innere Abwertung«. Ohne den Euro hätten die Griechen ihre Währung abwerten können, damit wären ihre Waren billiger geworden und das Land wieder attraktiver für Investoren. Aber beim Euro, der Gemeinschaftswährung, hatten sie keinen Einfluss auf den Kurs. Nur die Löhne: Die konnten sie senken. Und genau das geschah.

Die Unterhändler der Troika brauchten in Athen inzwischen Polizeischutz. Sie verschanzten sich im Hotel, während draußen die Lage immer schlimmer wurde.

Die Griechen, mit denen ich in Thessaloniki sprach, hofften längst nicht mehr, dass sich das alles wieder legen würde. Manche scheuten sich nicht davor, laut zu werden, ihre Wut hinauszuschreien. Andere fingen mitten in Interviews an zu weinen. Wenn sie die Fassung verloren hatten, entschuldigten sie sich oft.

Sie wollten kein Mitleid. Vielen ging es um die Schuldfrage, was sie schnell zu dem führte, was sie »System« nannten: den Klüngel aus Regierung, Medien und Oligarchen, der sie, wie sie meinten, in diese Situation gebracht hatte. Daneben machten viele den deutschen Finanzminister Schäuble verantwortlich, der dem Spardiktat ein Gesicht gab.

Wenn es ein Trauma ist, das die Krise bei den Griechen hinterlassen hat, dann wurde es nicht zuletzt durch das Gefühl hervorgerufen, nichts tun zu können. Vetas Geschichte mag extrem gewesen sein, deswegen besuchten wir als Reporter sie, aber ihre Erfahrung war typisch: Sie hatte das Gefühl, ihr Schicksal nicht mehr in der Hand zu haben. Viele, mit denen wir in Thessaloniki sprachen, beschrieben es so: Als hätte man sie, erwachsene Menschen, entmündigt. Die Krise platzte in ihre Leben, unterbrach ihre Biografien, veränderte ihren Alltag, verhinderte Pläne, und sie konnten so gut wie nichts dagegen tun.

Sie lebten mit den Nachrichten. Die Talkshows, die um 23 Uhr begannen und oft drei Stunden dauerten, gerieten zu Wortgefechten. Politiker und Journalisten schrien sich an. Und es war nicht die übliche Show, man merkte: Auch für sie, die Figuren im Fernsehen, ging es gerade um alles.

Jeden Abend zogen Demos durch Thessaloniki, die Griechen suchten ein Ventil. Viele fanden es, indem sie Parolen gegen Wolfgang Schäuble und »die Deutschen« brüllten. Die Krise war eine nationale Kränkung. Aber auch eine persönliche. Die Menschen mussten ihren Kindern erklären, warum sie es sich diesmal nicht leisten konnten, in den Ferien zu den Großeltern aufs Dorf zu fahren. Die Mautgebühren waren zu teuer geworden, die paar Euro zusätzlich konnten sie nicht mehr aufbringen.

Sie strichen alles, was nicht überlebensnotwenig war, was das Leben nur schöner gemacht hätte. Geschenke. Süßigkeiten. Ein Glas Wein. Musikunterricht für die Tochter, für den Sohn eine dritte Fremdsprache. Was nicht sein musste, war nicht mehr drin.

Verheerend für die Psyche der Menschen war aber, dass es so bald nicht besser werden würde, im Gegenteil. Die Zukunft stand ja im Memorandum, das die Regierung unterschrieben hatte: noch mehr Kürzungen. Am Anfang geschah es schockartig: Im ersten Quartal 2011 betrug die Rezession 9,9 Prozent. Jetzt ging es kontinuierlich, Jahr für Jahr, weiter bergab.

Wenn man durch die Stadt ging, konnte man die Krise sehen. Die Tristesse der geschlossenen Läden, jeder für sich eine gescheiterte Existenz. In Thessaloniki fiel die Krise noch härter aus als in Athen, die Löhne waren hier immer schon niedriger gewesen, die Arbeitslosigkeit höher als in der Hauptstadt.

Vor dem Gerichtsgebäude trafen wir einen älteren Mann, der in seinem Auto wohnte. Sein Name war Sokratis Mourmouris. Und auch seine Geschichte handelt davon, was passiert, wenn sich eine private Krise mit der großen Krise überschneidet.

Mourmouris war ein Verlorener, mit dem Schicksal, in einem Land der Verlorenen zu leben. Er sei zu früh in Rente gegangen, erzählte er. Wie er später erfahren habe, hatte er nicht genügend Marken in seinem Rentenheft gesammelt. 20 Arbeitstage fehlten ihm. Seine Frau und er hatten sich schon vorher getrennt, und so fand er sich auf einmal ohne Wohnung und ohne Einkommen wieder. Drei Jahre lang fuhr er in seinem Hyundai durch die Stadt, jede Nacht schlief er woanders.

Eine Rente stand ihm wohl zu, wenn auch eine geringere, und so hatte er geklagt. Doch er wusste: Es konnte Jahre dauern, ehe die Justiz seinen Fall bearbeitet. Irgendwann beschloss Mourmouris, vor dem Gericht zu parken, so lange, bis sich etwas tun würde. So gab er sich wenigstens symbolisch nicht auf.

Mourmouris war ein Bürger, der etwas vom Staat wollte. Langsam und ineffizient war der griechische Staat immer schon gewesen, jetzt aber führte der Stellenabbau dazu, dass die Ämter oft wie eine Satire auf sich selbst wirkten. Und die Bürger wie Ausgelieferte, die sich nur mit Spott zu helfen wussten. Mourmouris schrieb Sprüche auf sein Auto. »Egal, was ihr tut«, stand da zum Beispiel, »es werden Diebe ins Parlament kommen.«

Wut, Apathie, Zynismus. Oft erinnerte mich die Recherche in Thessaloniki an meine Arbeit in Krisengebieten, an die Gleichzeitigkeit der Emotionen, wenn das Leben durchgeschüttelt wird. Mourmouris war Zyniker geworden. Bei Veta war es Wut, wenn sie darüber sprach, wer Schuld hatte. An der großen Krise im Land, und damit auch an ihrer eigenen.

Die Krise, meinte sie, war nicht einfach über Griechenland gekommen. Sie war kein Schicksal, wie ihre Krankheit. Es gab Schuldige, und für Veta saßen sie in der Regierung in Athen. Genauer gesagt: in all den Regierungen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Veta fühlte sich betrogen, nicht nur als Patientin, auch als Bürgerin, die gearbeitet und sich an die Regeln gehalten hatte und dafür jetzt nichts zurückbekam. Darin lag, dachte ich nach dem Gespräch mit ihr, die tiefere Krise: Die griechischen Bürger, die dem Staat immer schon misstraut hatten, und oft zurecht, standen diesem Staat nun in offener Abscheu gegenüber.

Sie lebten zwar nach wie vor in einer Demokratie, aber was hieß das noch? Das Parlament, das sie am Sonntag wählen würden, konnte am Sparprogramm nichts ändern. Die Politiker, die das Memorandum umsetzten, obwohl sie es selbst unsinnig fanden, diskreditieren sich, konnten ihre Wiederwahl abschreiben.

Etwas ging kaputt. Bürger, die Steuern zahlen sollen, wollen im Grundsatz damit einverstanden sein, was mit dem Geld geschieht. Jemand, der vorhat, ein Unternehmen zu gründen, muss an das Gemeinwesen glauben, damit er sich auf das Risiko einlässt. Ein Paar, das überlegt, ein Kind zu bekommen, will wissen, ob es einen Kindergartenplatz bekommt und ob es sich die Gebühren dafür leisten kann. Und es sollte daran glauben können, dass das Kind eine Zukunft hat.

In Griechenland galten diese Prämissen nicht mehr, und es erschütterte die Menschen in ihrem Grundverständnis, Bürger eines Landes zu sein, in dem es möglich ist, mit Arbeit zu Wohlstand zu kommen. Also: Wut, Zynismus. Aber auch eine Tendenz zur Apathie, je länger die Krise dauerte.

Lag dieses Land, in dem Veta in jenem Sommer auf ihre Medikamente wartete, noch in Europa? Manche Griechen hätten vielleicht geantwortet: Kommt darauf an, was Europa heißt – ist es eine Währungsunion oder eine kulturelle? Kommt es aufs Haushaltsdefizit an oder darauf, ob ich mir einen Arzt leisten kann?

Vor der Wahl machte die deutsche Bundesregierung keinen Hehl daraus, dass sie auf einen Sieg der Konservativen hoffte, so wie viele andere europäische Regierungen auch. Die Konservativen der Nea Dimokratia (ND), die vor der Krise an der Macht waren, versprachen vor allem Ruhe und Stabilität. Alexis Tsipras und seine linke Syriza dagegen, die bei der Wahl im Mai zur zweitstärksten Kraft geworden waren, versprachen das Ende des Sparens.

Als pro-europäisch galten die Konservativen, weil sie nicht vorhatten, eine Revolution anzuzetteln. Sparen schien der wichtigste europäische Wert zu sein. Und Tsipras stand dagegen als Populist da, weil er, wie immer mehr Griechen, darin keinen Sinn mehr sah.

Tatsächlich trat er auf wie ein Populist: laut, aggressiv. Er machte Versprechen, die er nicht würde halten können, und befeuerte die Wut auf die Deutschen. Seine Kritik, dass die aktuelle Politik die Krise nur verschlimmere, drang anderswo in Europa nicht durch. In Thessaloniki sahen viele in ihm den einzigen Politiker, der nicht aus dem System kam, nicht korrupt war und der ihnen aus der Seele sprach.

Griechenland lag offenbar so lange in Europa, wie es weiter sparte, seine Zinsen zahlte und damit den Euro behielt. Aber konnte sich ein Land noch europäisch nennen, in dessen Apotheken es an Medikamenten und selbst an Verbandszeug fehlte? Die Wirtschaftskrise war längst zu einer humanitären Krise mutiert. In Thessaloniki sagte mir einer, der sich für Zynismus entschieden hatte: »Wir sind das nördlichste Land Afrikas.«

Europa, schien mir, war dabei, ein Versprechen aufzugeben: dass man sich auf diesem Kontinent gegenseitig hilft. Nord- und Südeuropäer redeten nur noch über Geld, über ihr gemeinsames Geld, den Euro, und wurden sich dabei immer fremder.

An einem unserer Abende in Thessaloniki lud uns Vetas Schwester Vana, eine Lehrerin, in ein kleines Kellertheater ein. Ein paar Lehrer hatten sich mit arbeitslosen Schauspielern verbündet und machten jetzt hier ihr eigenes Krisentheater. Auf der Bühne spielten sie Opfer und Täter der Gesamtsituation. Das Stück hatten sie selbst geschrieben, Vana hatte es als Regisseurin inszeniert, und sie lieferten, wonach die Lage verlangte: eine sehr direkte, harte Satire, fast mehr Kabarett als Theater. Sie hatten etwas zu sagen. Es musste raus.

Nach dem Stück sprangen die Schauspieler von der Bühne und tranken mit uns, es gab Tsipouro-Schnaps aus einer großen Karaffe. Tsipouro ist billig und macht schnell betrunken, das Getränk der Stunde also.

Ich unterhielt mich länger mit Vana und mit einem der jungen Schauspieler, deren Stellen in der Krise als Erste gestrichen worden waren. Es war seltsam: Alle waren wir Europäer, unterhielten uns auf Englisch, auf Augenhöhe, hatten denselben kulturellen Hintergrund. Doch uns unterschied etwas Wesentliches. Ich lebte mit einem doppelten Boden, konnte mich auf ein System verlassen, das mir immer selbstverständlich vorgekommen war. Zu Hause in Hamburg musste ich nur meine Krankenkassenkarte vorlegen, damit ein Arzt für mich Zeit hatte. Der Schauspieler war nicht mehr versichert, wie damals jeder dritte Grieche. Wäre ihm etwas zugestoßen, hätte er selbst für die Behandlung aufkommen müssen. Er hätte es sich nicht leisten können, hätte zur Sozialapotheke gehen müssen, wie Veta, oder zur Sprechstunde einer Hilfsorganisation.

Veta. Sie war eine von den vielen Menschen, denen ich als Reporter in den letzten Jahren begegnet bin. Eine von denen, die mich in ihr Leben vorließen. Ich schrieb über sie und zog weiter, blieb nicht in Kontakt, was ich heute bereue. Ich kann nur hoffen, dass sie noch am Leben ist.

Bei der Wahl damals wurde die ND abermals stärkste Kraft, offenbar hatte der Wunsch nach Stabilität nochmal über die Wut gesiegt. Tsipras’ Syriza allerdings sprang auf knapp 27 Prozent, ihr bisher bestes Ergebnis.

Es wurde ruhiger, zunächst. Aber es war nicht vorbei.

IM ATHENER FRÜHLING

Wie die Griechen Anfang 2015 kurz träumten

Das Schicksalsjahr begann euphorisch. Die Griechen lernten gerade, wieder zu lächeln, schrieb eine Kollegin vom Guardian. Bisschen kitschig, dachte ich, aber als ich wenig später in Athen ankam, verstand ich, was sie meinte.

Die Läden standen zwar leer wie zuvor, die Stadt war immer noch kaputt und verwahrlost, nachts glich das Zentrum einem Obdachlosenlager. Aber der Blick in den Gesichtern hatte sich verändert. Die Starre war weg. Die Apathie. Wenn es so etwas gibt wie ein allgemeines Gefühl, das über einer Stadt liegt, dann war es damals, im Februar 2015, in Athen eine Aufbruchsstimmung.

Es waren die ersten Wochen nach dem Sieg von Alexis Tsipras. 37 Prozent der Stimmen hatte Syriza bei der Parlamentswahl Ende Januar gewonnen und war damit die stärkste Kraft; mittlerweile stand die Partei in den Umfragen sogar bei 47 Prozent. Tsipras, der neue Premierminister, war noch beliebter: Drei Viertel der Griechen standen laut den Demoskopen hinter ihm.

So begann es: mit Sympathie. Um die Syriza-Abgeordneten gab es eine Ekstase. Für viele von ihnen war es das erste politische Amt, es waren Leute aus der Athener Mittelschicht, die morgens mit der Metro ins Parlament fuhren. Saßen sie abends in der Taverne, kamen Menschen zu ihnen und machten ihnen Mut.

Wenn der neue Finanzminister, Yanis Varoufakis, ein Professor und Blogger, von seinem Büro zu Fuß über den Syntagma-Platz hinüber zum Amtssitz des Premierministers ging, bedrängten ihn nicht nur Journalisten und Fotografen, sondern auch normale Bürger. Sie sprachen mit ihm, als wäre er ein Freund. Zeig es ihnen, Yanis, rief einer. Gemeint waren die Gläubiger der Troika, mit denen Varoufakis in Brüssel verhandelte, vor allem aber: die Deutschen mit ihrem Spardiktat. Es war, als würde da gerade ein Boxkämpfer durchs Publikum zum Ring laufen. Und wenn Varoufakis später nach den Verhandlungen in Brüssel vor die Presse trat, schaute das ganze Land zu: Wie war es gelaufen?

Nichts hatte die Wahl verändert am Leid der Griechen. Es war noch zu früh. Doch in diesen Februartagen glaubten die Griechen, dass ihr neuer Premier seine Versprechen würde halten können, unterstützt von Varoufakis. Die beiden würden der Troika schon Zugeständnisse abringen. Etwas würde sich ändern.

Ja, Tsipras und Varoufakis, die beiden griechischen Helden, machten den Troika-Vertretern tatsächlich Sorgen. Jeder konnte spüren, wie verdammt ernst sie es meinten, sie waren laut genug. Mit diesen Griechen zu verhandeln würde kein Vergnügen werden. Sie brachten die Sprache des griechischen Volkes in die Konferenzräume in Brüssel, eine deutliche, drastische Sprache, und genau das war es, was die Griechen an ihrer neuen Regierung mochten. Zum ersten Mal seit Beginn der Krise fühlten sich die Griechen wirklich vertreten.

So begann es: mit Erwartung.

Doch warum hatte Tsipras diesmal gewonnen und nicht schon 2012? In den vergangenen Monaten war es in Griechenland ruhig gewesen. Von einer langsamen Erholung war die Rede, die Wirtschaft war im Jahr zuvor gewachsen, wenn auch nur um 0,7 Prozent. Warum also war den griechischen Wählern gerade jetzt nach dem Bruch, nach einem Aufstand? Warum wählten sie das Wagnis statt Stabilität?

Mit Nikos, einem Fotografen, der aus Korfu stammt, aber seit fast 30 Jahren in Athen lebt, zog ich los. Unser Programm: Ursachenforschung. Wir besuchten Dimitris Koumanias, einen freundlichen Mann Ende 50. In seiner Wohnung hatte er erst seit Kurzem wieder Strom und fließend Wasser. Sie war vollgestellt mit alten Fotos, einige zeigten ihn im Jackett an einem Hotelpool. Es war sein altes Leben, sein Vorkrisenleben, das in sich zusammengefallen war, als wäre es nur eine Fassade gewesen, die er sich selbst aufgebaut hatte. Heute trug Koumanias eine Trainingsjacke, setzte sich aufs Sofa und erzählte uns seine Geschichte, die auch davon handelte, wie schnell man aus der griechischen Mittelschicht abstürzen konnte.

Koumanias hatte jahrzehntelang im Tourismus gearbeitet, hatte auf den Inseln Hotels geleitet. Die Kündigung kam 2012. Seine Frau ging damals in Rente, sie bekam fortan 350 Euro im Monat. Dimitris bekam bezog ein Jahr lang Arbeitslosengeld, 360 Euro. Ihr Sohn verlor seinen Job, zog wieder bei ihnen ein.

Soweit die Einschläge der Krise. Koumanias hielt sich beim Erzählen nicht lange mit ihnen auf, fast jede griechische Familie erlebte Ähnliches. Das erste Jahr bekamen sie irgendwie rum, sie schränkten sich ein, so gut es ging. Nur: Für Dimitris ergab sich kein neuer Job, das Arbeitslosengeld lief aus. Sozialhilfe gab es in Griechenland nicht. Von nun an lebten sie von der Rente seiner Frau; dass sie damit nicht hinkommen würden, war klar. Sie mussten jetzt Entscheidungen treffen, bei denen es um Würde ging. Oder um ihren Verlust.

Waren es Entscheidungen? Hatten sie überhaupt eine Wahl? Sie hörten auf, die Rechnungen zu zahlen. Strom, Wasser. Im Winter die Heizung. Ein paar Monate und Mahnungen später kam kein Wasser mehr aus dem Hahn, die Wohnung blieb dunkel. Sie kauften Kerzen. Wasser holten sie sich von den Toiletten umliegender Cafés. Ihr Auto konnten sie nicht mehr betanken; sie hätten es ohnehin nicht bewegen dürfen, weil sie bald auch die Kfz-Steuer schuldeten.

Immerhin, die Wohnung gehörte ihnen. Wie die meisten Griechen waren sie Eigentümer. Doch der griechische Staat hatte auf der Suche nach Geldquellen eine Immobiliensteuer eingeführt, die Enfia, fällig jedes Jahr im September. Über die Wohnungen und Häuser, dachte die Regierung wohl, würde sie die Leute kriegen, eine Immobilie konnte niemand verstecken.

Es sei denn, jemand war zahlungsunfähig. Als wir Dimitris Koumanias besuchten, betrug die Summe, die er dem Staat schuldete, 11 000 Euro. Steuerschuld war eine Straftat, theoretisch hätte Koumanias verhaftet werden können. Wovor er sich aber wirklich fürchtete, war die Enteignung. Der Staat hätte die Wohnung pfänden können, wie es in anderen Fällen schon geschehen war. Obdachlosigkeit war für Dimitris Koumanias und seine Familie nun eine konkrete Sorge. Aus der Mittelschicht waren sie in kaum mehr als zwei Jahren nach ganz unten gefallen, niemand hielt sie auf, niemand half.

Worum ging es Koumanias, als er Tsipras wählte? Es war nicht der Jobverlust, Krisen passieren in jedem Land. Koumanias ging es darum, dass der Staat ihn, der unverschuldet in Not geraten war, wie einen Verbrecher behandelte.