Der Anfang vom Ende vom Anfang - Fred Winkel - E-Book

Der Anfang vom Ende vom Anfang E-Book

Fred Winkel

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Beschreibung

Der ANFANG vom ENDE vom ANFANG -- DIE TATSACHEN: Unsere Welt gerät mehr und mehr aus den Fugen. Wir befinden uns in zahlreichen und parallelen Krisen: ein globales Umwelt-Desaster ... weltweit brutale Gewalt und grausame Kriege ... der Zwiespalt von maßlosem Konsum und bitterer Armut ... die Fixierung auf ein unendliches Wachstum. ... Und diese vielfältigen Probleme und Dissonanzen finden eine Spiegelung im täglichen Denken und Handeln eines jeden Menschen: in Egoismus und Gier, Verwirrung und Depression, in Beziehungs-Krisen und Lügen, in subtiler und offener Gewalt. -- DIE PERSONEN: Wir werden in diesem Buch mehreren Menschen begegnen, die mitten im Leben stehen ... die Probleme und Wünsche haben und sich in Krisen befinden, die uns allen bekannt sind. Da ist zunächst Alex, konfrontiert mit einem schweren Unfall und einer Amnesie. Er begegnet Eva, die in großer Verzweiflung ihrem Leben ein Ende setzen wollte. Beide finden zu Joh, einem Mann mit einer bewegten Biografie und der bitteren Erfahrung, sein fünfjähriges Kind an den Tod verloren zu haben. Und da gibt es Ben, ein ehemaliger Philosophie-Professor, der radikal aus seinem Beruf ausstieg und nun auf einem Bauernhof lebt ... und schließlich Felix, ein autistischer Junge, der in seiner Andersartigkeit wortlose Impulse für erstaunliche Klärungen eröffnet. - Sie alle begegnen sich bei ihrer Suche nach einem wahrhaftigen Leben. Sie möchten wahr werden und authentisch leben, jeder für sich und in Kooperation mit anderen Menschen. -- DER PARADIGMENWECHSEL: Wir erfahren in diesem ungewöhnlichen Buch neue Perspektiven, überraschende Verknüpfungen und verblüffende Zusammenhänge. Die Menschen in dieser Erzählung entwickeln sich bei ihrer kreativen Entdeckungs-Reise mit ernsthaft-spielerischer Offenheit zu einem Leben in schlicht-radikaler Wahrheit. Am Ende stehen sie vor dem Anfang: am Beginn eines wahren SEINS, das in Verantwortung und Würde leben darf.

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Seitenzahl: 738

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Fred Winkel

Der

ANFANG

vom

ENDE vom ANFANG

Vom Ende der Illusionen und

vom Anfang eines wahren Lebens

Text und Grafik: © Fred Winkel

Impressum am Ende des Buchs

INHALT

PROLOG

DRAMA & DILEMMA • PERSPEKTIVE

1. AM ANFANG WAR DAS ENDE

KRISE • LEID • VERWIRRUNG

2. RAUM

ANKOMMEN • ANHALTEN • ZUHÖREN

3. AUTORITÄTEN

GEHORSAM • MACHT • ZUSAMMENHÄNGE

4. ICH

EGO • WOLLEN • HABEN

5. KONDITIONIERUNG

ERZIEHUNG • SCHULE • VERANTWORTUNG

6. LIEBE

BEZIEHUNGEN • FAMILIE • VERGNÜGEN

7. GLAUBEN

RELIGION • SCHULD • GOTT

8. TOD

ERFAHRUNGEN • ABSCHIED • GEBURT & TOD

9. GEWALT

AGGRESSION • SPALTUNG • KRIEG

10. DENKEN

REFLEXION • ANALYSE • WISSEN

11. BILDER

BEOBACHTER • WÜNSCHEN • ILLUSION

12. WAHRHEIT

LÜGE • OFFENHEIT • FREIHEIT

13. KREATIVITÄT

ACHTSAMKEIT • SCHÖPFUNG • ALLEIN-SEIN

14. AM ENDE WAR DER ANFANG

PARADIGMEN-WECHSEL • ABSCHIED & NEUBEGINN

EPILOG

MUT & VERTRAUEN

QUELLEN

PROLOG

DRAMA • DILEMMA • PERSPEKTIVE

„Das Leben der Menschheit

ist ein großes Drama und ein noch größeres Dilemma!“

Nicht jeder Mensch mag zu einem solchen Urteil kommen, aber ein aufmerksamer Beobachter wird dieser Aussage vermutlich zustimmen. Die Welt scheint – heute mehr denn je – aus den Fugen geraten, und zwar in allen zentralen Lebens-Bereichen.

Wir befinden uns in zahlreichen, parallelen Krisen: ein globales Umwelt-Desaster mit zunehmenden Katastrophen … weltweit brutale Gewalt und grausame Kriege … der Zwiespalt von maßlosem Konsum und großem Hunger, von extremem Reichtum und bitterer Armut … die Fixierung auf ein unendliches Wachstum mit der Umdichtung von humanistischen Werten zu egozentrischen Zielen.

Und diese vielfältigen Probleme und Dissonanzen finden eine Spiegelung im täglichen Denken und Handeln eines jeden Menschen: in Egoismus und Gier, Verwirrung und Depression, in Beziehungs-Krisen, Neid, Eifersucht und Lüge, in subtiler und offener Gewalt.

Und während wir von einer Katastrophe in die nächste hetzen, stellen wir die Frage:

Was können wir tun? Wie können wir dieses Drama beheben, das Dilemma lösen?

Und schon stehen reichlich Akteure bereit, die uns leise und eindringlich oder lautstark und beschwörend die Lösung präsentieren. Aber wie es aussieht, erschafft jede dieser Lösungen Hydra-gleich zwei neue Probleme.

Können wir tatsächlich nichts tun? – Die Geschichte beweist uns seit einigen tausend Jahren: Trotz Revolutionen und Kriegen, trotz Friedens-Konferenzen und diversen Religionen … trotz unterschiedlicher politischer Systeme und großer philosophischer Gedanken … gab und gibt es immer nur mehr Drama und Dilemma.

Es scheint etwas Grundlegendes mit dieser Spezies Mensch nicht zu stimmen … einem Wesen, das mit Hochdruck daran „arbeitet“, sich selbst auszulöschen … und bei dieser Vernichtung gleich noch einen Großteil von Fauna und Flora mitnimmt.

Aber – so mag eingewendet werden – ist der Mensch nicht auch ein reflektierendes Wesen, mit Vernunft begabt … und da sollte es doch möglich sein, eine Lösung zu finden.

So viele Fragen stehen im Raum: Ist dieses oder jenes politische System richtig? Ist die eine oder eine andere Religion wahr? Welches Verhalten in Politik, Schule, Familie, Beruf, Gesellschaft ist stimmig? Was sind die richtigen Ziele und wahren Werte? Wo finde ich Glück und Liebe? Wer kann helfen? – Diese und ähnliche Fragen werden seit Jahrtausenden gestellt … aber wie es aussieht, sind sie alt und verbraucht und führen nur immer wieder zu Schleifen in sich wiederholenden Kreisen.

Stellen wir vielleicht immer die falschen Fragen und wählen die falschen Werkzeuge? Haben wir uns einer „Moral“ verpflichtet, die den Namen nicht verdient? Haben wir unsere Zivilisation auf einem morastigen Grund aufgebaut? Ist die Lösung derart eingemauert, vergraben, überdeckt, dass die Wahrheit gar nicht gesehen werden kann und soll und darf?

Wenn schon keine direkten Lösungen in Sicht sind, so gibt es aber doch eine logische Kette von Verknüpfungen, Bedingungen und Tatsachen, die zu dem aktuellen Zustand der Menschheit geführt haben. Fragen wir also nach diesen Ursachen und Zusammenhängen.

Da das LEBEN zwar überraschend und chaotisch abläuft, aber gleichzeitig in logischen Abfolgen stattfindet: Können wir unsere Fähigkeit der Reflexion nicht dazu benutzen, die Ursprünge dieses Dilemmas zu sehen, um zu einem neuartigen Denken zu kommen?

Sind wir damit aber nicht wieder im Bereich von philosophischen Betrachtungen … und hatten wir diese nicht schon untauglich genannt? – Ja, es geht nicht um neue Ideen oder Gedanken-Gebäude … sondern um die Realität und um Tatsachen. Wenn wir dieses Mega-Dilemma, in dem sich die Menschheit befindet, effektiv lösen wollen, ist ein Paradigmenwechsel notwendig. Es braucht eine völlig andere Herangehensweise, bei der die WAHRHEIT hinter der „Wahrheit“ aufscheinen kann.

WAHRHEIT ist allerdings keine großartige Idee, kein hehres Ziel oder Ideal, sondern es geht um eine ganzheitliche Verantwortung im alltäglichen Handeln. Dies ist dann ein politisches Agieren im Sinne des griechischen Wortes „Polis“: ein frei-verantwortliches Gestalten in einem Gemeinwesen, in dem der einzelne Mensch, die gesamte Menschheit, die Natur und zukünftige Generationen eingeschlossen sind.

Wir werden in diesem Buch mehreren Personen begegnen, die mitten im Leben stehen … die Probleme und Wünsche haben und sich in Krisen befinden, die uns allen bekannt sind … also normale Menschen, die sich vielleicht in einem Punkt von anderen Menschen unterscheiden: Sie lassen sich nicht mit oberflächlichen Antworten abspeisen. Sie geben nicht auf, sie bleiben bei ihren Fragen: „Wer bin ich? Woher komme ich und wohin gehe ich? Gibt es einen Sinn? Habe ich eine Aufgabe in diesem Leben? Und wenn ja, welche?“

Sie sind bereit, Unwahrheiten aufzudecken und anzuerkennen. Sie sind offen, ihren eigenen Illusionen und Lügen zu begegnen … und machen dabei die Erfahrung, dass ein wahres und verantwortliches Leben möglich ist.

Da ist zunächst Alex, konfrontiert mit einem schweren Unfall und einer Amnesie. Er begegnet Eva, die in großer Verzweiflung ihrem Leben ein Ende setzen wollte. Beide finden zu Joh, einem Mann mit einer bewegten Biografie und der bitteren Erfahrung, sein fünfjähriges Kind an den Tod verloren zu haben. Und da gibt es Ben, ein ehemaliger Philosophie-Professor, der radikal aus seinem Beruf ausstieg und nun auf einem Bauernhof lebt und arbeitet … und schließlich Felix, ein autistischer Junge, der in seiner Andersartigkeit wortlose Impulse für erstaunliche Klärungen eröffnet.

Sie alle begegnen sich bei ihrer Suche nach einem ehrlichen Leben … und es verbindet sie ein gemeinsames Anliegen: Sie möchten wahr werden und authentisch leben, jeder für sich und in Kooperation mit anderen Menschen.

Dieser Prozess beinhaltet die Erkenntnis, dass das Leben in einem weit größeren Zusammenhang stattfindet, als wir uns einbilden oder wünschen. Und dabei geschieht etwas Erstaunliches: Die Fragen nach Leid und Krise, nach Sinn und Glück werden aus neuen und anderen Blickwinkeln betrachtet … und dabei „gelöst“ … oder besser gesagt: Sie lösen sich auf, weil die umfassendere Perspektive die Prioritäten anders setzt.

Dieser „Prozess der anderen Art“ ist in hohem Maße ungewöhnlich. Da wir jedoch alle in „gewöhnlichen Gleisen“ fahren, in eingefahrenen Bahnen denken und handeln, alles Gehörte und Gesehene sofort einpreisen, bewerten, mit Urteilen versehen und stets eine Erklärung und schnelle Lösung anstreben, ist es an dieser Stelle sinnvoll, ein wenig vorzugreifen: Im Laufe der Begegnungen wird mehr und mehr klar, um was es alles nicht geht.

In diesem Buch wird keine alte oder neue Religion oder Esoterik verkündet … es geht nicht um eine andersartige Philosophie oder Psychologie … nicht um Tipps und Tricks zum Erreichen irgendwelcher Ziele … nicht um Analyse oder Hilfe … nicht um mystische Erfahrung oder Meditation … nicht um „Glück“ oder „Liebe“. Es befinden sich keine politischen oder gedanklichen Systeme im Angebot … keine Übungen oder Gebete … und auch keine inspirierend-süßen Nebel-Worte.

„Wie bitte? Um all das geht es nicht? Da bleibt aber nicht mehr viel übrig!“

„Oh, das LEBEN ist vielfältiger als das kleine Kästchen,

das wir uns zusammen-gebastelt haben

und welches wir größenwahnsinnig für das gesamte Leben halten.“

Es geht um Tatsachen, um die Wahrheit hinter den allgegenwärtigen Lügen. Im Mittelpunkt steht die Bereitschaft, ehrliche Fragen zu stellen und Neues … und dabei erstaunt zu sehen, dass dieses „Neue“ gar nicht so neu ist … dass wir es alle kennen, aber in höchst-cleverer Weise vor uns selbst verbergen.

Um Neues sehen zu können, braucht es einen großen Raum, einen nahezu unendlichen Raum … in dem ein spielerisch-experimentelles Erleben möglich wird, bei dem die eingeübte, scheinbar bewährte Art und Weise zu leben, zu denken, zu handeln unterbrochen wird. Dieser Raum ist in unserer Welt praktisch nicht mehr vorhanden, wird permanent zugeschüttet, von außen, von innen, durch andere, durch uns selbst.

Dieser Raum kann nur erfahren werden mit einem Stopp, einem Anhalten … gleichzeitig mit einer schlicht-radikalen Öffnung … und mit dem Zulassen der Möglichkeit, dass ich mich persönlich in einem Feld der Un-Wahrheit eingerichtet habe.

Bei der Arbeit an diesem Buch gab es eine Phase, in der spezielle Pause-Zeichen eingefügt waren, um dem lesenden Menschen einen Hinweis zu geben, das Buch an diesen Stellen für eine Weile aus der Hand zu legen. Aber solche Hinweise sind für erwachsene Menschen unangemessene Vorgaben.

Gleichwohl sei ein Vorschlag erlaubt: Wir laden ein, das Buch immer mal wieder beiseite zu legen und dem Gelesenen nachzuspüren. Und das bedeutet: Nicht analysieren oder „zer-denken“, nicht mit der Kopf-Bibliothek des abgespeicherten Wissens vergleichen, sondern nur nachspüren, was gerade gelesen wurde … und es zulassen, dass sich auf einer tief-bekannten Ebene des Nicht-Denkens etwas öffnet und sozusagen „andockt“ … vielleicht etwas aufscheint: „Oh! Da ist etwas! Etwas Wesentliches! Ich weiß zwar nicht was, aber ich spüre, dass mich das betrifft.“

An dieser Stelle befindet sich gewissermaßen eine „Türe“ zum eigenen Innen-Raum und damit zur Vielfältigkeit des LEBENS! Und dies hat nichts mit Mystik oder dergleichen zu tun, sondern das ist schlichtes und wahres LEBEN.

Und jetzt kommt die große Kunst: Diesen Raum offen lassen! Dieses Anhalten einfach nur genießen … danach gelassen weiterlesen …

Die Menschen in diesem Buch haben sich über mehrere Jahre in mutigem Fortschreiten zu einem Leben in schlichter Wahrheit entwickelt. Am Ende stehen sie vor dem Anfang: am Beginn eines wahren SEINS, das in Verantwortung und Würde leben darf.

In diesem Sinne einige Sätze aus dem letzten Kapitel:

Ben: „Die Menschheit befindet sich in einer nie da gewesenen Poly-Krise, verursacht vom Menschen. Und solange wir so weitermachen wie seit Jahrtausenden gewohnt, erfordern es die zunehmenden Krisen, immer schneller zu reagieren, um die Konflikte und Katastrophen zu entschärfen und abzuschwächen. Das ist jedoch kein Agieren, sondern ein gezwungenes Re-Agieren.“

Joh: „Es geht inzwischen nicht mehr um Stell-Schrauben, Kompromisse oder Oberflächen-Reparaturen, sondern es geht um das Ganze und um einen fundamentalen Paradigmen-Wechsel. Der Schritt, der aktuell für die Menschheit ansteht, ist eine radikale Rückbesinnung … und die beginnt damit, dass ich mich in Eigen-Verantwortung auf mich selbst besinne.“

Alex: „Jenseits des ‚Mainstreams‘ gibt es immer auch die Möglichkeit, anzuhalten und meine Beteiligung an gesellschaftlichen Konventionen infrage zu stellen. Denn am Ende meines Lebens steht die Frage im Raum: Habe ich die volle Verantwortung übernommen, vor mir selbst und vor dem gesamten Leben? Hat mein Tun und Wirken das LEBEN gefördert, unterstützt, geweitet? Oder habe ich dem Leben Destruktivität hinzugefügt?“

Eva: „Um das allgegenwärtige Drama und mein eigenes Dilemma aufzulösen, gibt es keine Abkürzungen oder Tricks, keine Gebete oder Übungen. Bei diesem Prozess mitten in meinem Alltag geht es um eine kreative Entdeckungs-Reise, bei der zwei Entwicklungen parallel geschehen: der „Abbau“ von Lügen und der „Aufbau“ von Wahrheit. Ungewöhnlich ist, dass man beides nicht gewollt oder geplant oder direkt erreichen kann.“

„Halte an und schaue einfach nur ganz wach und verwundert dem zu,

was sich da zeigt … vielleicht in der Art eines Kindes,

das den Kaiser ohne Kleider sieht“, sagte Joh.

„Und wer ist dieser Kaiser?“, fragte Eva.

„Möglicherweise du selbst“, meinte Joh.

Beginnen wir mit dem Ende, um darüber den Anfang zu kreieren.

•••

1. AM ANFANG WAR DAS ENDE

KRISE • LEID • VERWIRRUNG

Am Anfang war das Ende … eine abgrundtiefe Schwärze … Spiralen in unendlicher Dunkelheit … eine Wirrnis aus losen Enden! – Doch da, ein blendender Gedanken-Blitz: Splitterndes Glas wird meine Augen durchbohren … darum schließe sie … fest … ganz fest! Öffne deine Augen nicht … niemals! – Und ein verworrenes Entkommen ins Schwarz … und erneutes Erwachen aus dem Nichts in ein Nichts … unterbrochen von einem Geräusch: ein regelmäßiges, dumpfes Pochen … kreisende Spiralen in unendlicher Dunkelheit. – Und ein erneutes Auftauchen in ein vielfaches Echo von blut-rotem Licht … eine Schale … eine Zange … Papier in der Schale … die Ahnung einer Erkenntnis … ein werdendes Bild … gleich wird es sichtbar … vorsichtige Bewegung … geduldiges Warten … ungeduldiges Wollen … schwindendes Rot-Licht … verschwommene Zeit … blasse Konturen … der erneute Übergang in ein Vakuum von Schwarz. – Und eine tickende Sand-Uhr! Fließende Zeit, doch ohne Anker. – Vergangene Zeit? Wieviel? Kommende Zeit? Wann? – Und erneut … und abermals … die Wiederholung der Wiederholung einer unendlichen Schleife in dem Gewirr von sich wiederholenden Spiralen.

Doch dann ein Wechsel: eine milde Zeitlupe. Keine Gefahr mehr! Denn das war gestern, das mit dem Splitter-Blitz … oder vor 100 Jahren … ist vorbei, schon lange vorbei. Vorsichtig öffnete er die Augen, doch die Schwärze blieb! – Blind? Wie lange schon? Endlich ein schwach-blauer Lichtpunkt … pulsierend … im Rhythmus mit diesem dumpfen Pochen … irgendwie beruhigend … so könnte es bleiben! Doch ein erneutes Gleiten in … und das Aufwachen aus … und eine splitternde Auflösung … und ein luftleerer Raum.

Aber nun die Erkenntnis: Dieser blaue Lichtpunkt ist eine Kontroll-Lampe, gespiegelt in einer Glasscheibe! – Jetzt stürmten die Gedanken von allen Seiten ein: „Ja, ich liege in einem Bett … und es ist Nacht … und das dumpfe Pochen, das ist mein Herz!“ – Und die Erkenntnis explodierte: Es war etwas Furchtbares geschehen! Irgendwie … irgendwas … vielleicht ein Unfall … jedenfalls splitterndes Glas … und eine rasende Bewegung, die mit einem ohrenbetäubenden Knall abrupt zu Ende kam … und überall diese Splitter … diese tausend mal tausend Gedanken-Splitter … unmöglich, sie zu einem Bild zusammenzufügen.

Und da war eine Stimme … dumpf, weit weg: »Hallo Alex!«

Wer war Alex? Wer hatte gesprochen? Er wollte sehen, erkennen. Was war dazu noch mal notwendig? Ach ja, die Augen öffnen! Oder waren die schon offen und da draußen war alles nur tiefes Schwarz? Das gab es schon mal, irgendwann, irgendwie, damals … mitten in einem Wald, verirrt, verwirrt, orientierungslos. Tage? Wochen? Jahre? Die Schwärze nahm wieder zu …

Erneut diese dumpfen Worte: »Hallo Alex! Hörst du mich?«

Diesmal tauchte er aus unendlichen Tiefen auf und ihm war sofort klar: Das mit der Gefahr, das war schon geklärt! Die Augen können geöffnet werden … und er sah ein Gesicht, einen Mann, der mit einem offenen Lachen leise sagte:

»Endlich! Schön, dass du wieder da bist!«

Wer war dieser Mann? Verwirrung!

»Du hattest einen Unfall!«

Also doch!

»Ich bin Mike! Erkennst du mich?«

Langsames Kopfschütteln.

»Aber dass du Alex bist, das weißt du schon, oder?«

Langsames Kopfschütteln.

Er schloss erneut die Augen und versank … in eine milde, alles ausfüllende Leere.

Leises Klopfen, eine Türe öffnete sich.

»Gut, dass Sie kommen«, sagte Mike, »er ist kurz aufgewacht. Aber er scheint sich an nichts zu erinnern. Und er kennt mich nicht, seinen eigenen Bruder.«

»Und kennt er sich selbst?«, fragte der Arzt.

Mike schüttelte den Kopf.

»Gut!«, sagte der Arzt.

»Gut?«, fragte Mike. »Was ist daran gut?«

»Er schützt sich selbst! Amnesie!«

Und als hätte Mike gefragt, antwortete der Arzt: »Kann man nicht wissen, eventuell nur einige Tage, vielleicht deutlich länger. Wir brauchen Geduld. Ich denke aber, sein Gedächtnis wird wiederkommen. – Wieviel Zeit haben Sie? Können Sie eine Weile hier bleiben?«

Mike nickte.

»Sehr gut!«, sagte der Arzt. »Erzählen Sie ihm beim nächsten Aufwachen von gemeinsamen schönen Erlebnissen der Vergangenheit. Lesen Sie ihm etwas vor oder spielen sie Musik, die er mag. Das kann helfen!«

Er wandte sich zur Tür, drehte sich noch einmal um, kam nah zu Mike und flüsterte:

»Vorläufig keine Einzelheiten des Unfalls und vor allem nichts über den Tod von …«

Mike sah ihn groß an und flüsterte ebenfalls: »Kann er uns hören?«

Der Arzt zuckte die Schultern und sagte: »Ich möchte mit Ihnen etwas besprechen. Können Sie nachher bei mir vorbeikommen?«. Mike nickte.

»Als Adresse von Alex haben wir nur sein Elternhaus«, sagte Dr. Dahl. »Hat er da noch gewohnt? Die Eltern haben wir bisher nicht erreichen können.«

»Ja, das ist so …«, sagte Mike, »unsere Eltern haben sich einen Lebenstraum erfüllt. Sie sind vor zwei Monaten, Mitte Oktober mit ihrem Camp-Mobil aufgebrochen zu einer einjährigen Aus-Zeit … zunächst nach Portugal … dann wollten sie spontan entscheiden, wie es weitergeht, wahrscheinlich der Küste entlang nach Norden. Wir haben vereinbart, dass sie sich ungefähr einmal pro Woche melden, um zu hören und zu bestätigen, dass alles ok ist. Der letzte Anruf ist jetzt drei Tage her.«

»Und Sie können ihre Eltern nicht erreichen?«

»Nein, sie wollten frei und unabhängig sein. Und dass Alex dort wohnt, das hängt so zusammen: Meine Eltern hatten Alex angeboten, dass er in dem Jahr ihrer Abwesenheit in dem Haus wohnen kann.«

Dr. Dahl nickte: »Verstehe. Übrigens: Das mit dem Tod seiner Partnerin bei dem Unfall … sprechen sie im Moment bitte nicht an. Wir müssen ihn erst mehr stabilisieren.«

Mike nickte.

Schon einige Tage später war Alex so weit, dass er – vorsichtig und langsam – in den Garten gehen konnte. Und er hatte Hunger, einen Riesen-Hunger, vor allem auf Käsebrote … oder auch Käse ohne Brot … und auf Wissen, auf das Füllen seiner Leere … im Kopf oder im Hirn … oder wo auch immer. Und Alex fragte immer wieder: »Was ist geschehen? Wie kann das sein?«

Dr. Dahl meinte: »Sie haben viel Glück gehabt. Die verschiedenen Airbags haben die herumfliegenden Splitter zum größten Teil abgehalten. Nur einige kleine Schnittverletzungen auf der Stirn und am Hals, außerdem eine Schulterprellung. Die Schnittverletzungen sind in ein paar Tagen verheilt, die Schulterprellung dauert länger, einige Wochen. Vermeiden Sie aber eine Ruhigstellung und Schonhaltung, bewegen Sie die Schulter regelmäßig.

Ansonsten können Sie fast alles machen … na ja … schwere Sachen heben natürlich nicht … und überdies kein Leistungssport. Aber Sie merken das bei Ihren Bewegungen automatisch: Seien Sie achtsam und sobald sich ein leichter Schmerz meldet, lassen Sie diese Bewegung sein. Der Körper sorgt selbst für die Heilung.«

•••

Am Anfang war die Krise … ein flirrendes Ja und Nein … eine tiefe Wirrnis, eine dunkle Leere … und es tat so weh … da drinnen … da draußen … und überall. Unerträglich! Alles so kalt und gelähmt. Am Grunde eines schmalen Schachtes kauernd, tief in die Erde gegraben, unendlich tief … glatte Wände aus feuchtem Stein … unmöglich, da jemals rauszukommen, ausgeschlossen! Ein gelähmtes Starren nach oben … irgendwann gab es immerhin noch die Hoffnung auf einen Ausweg, einen winzigen Lichtpunkt … aber dieses Licht nun nicht mehr sichtbar. – Resignation und Hoffnungslosigkeit: Viel zu schwache Worte! Verzweiflung und Wut: Schon lange nicht mehr! Unendliche Trauer … worüber … nicht fassbar … sinnlos. Der Versuch zu sprechen, um Hilfe zu rufen, zu schreien, zu wimmern … doch kein Laut ist zu hören … vergeblich … verzweifelt … verlassen.

Dort eine Türe … sie lässt sich öffnen … Treppenstufen hinab … weiter hinunter … hallende Gänge … in den Nischen Wachsfiguren mit gefrorenem Lächeln auf blutleeren Lippen … sich widersprechende Wegweiser auf verwitterten Tafeln … und am Ende eine steile, dunkle Wendeltreppe … immer weiter hinab … um nach dem Durchschreiten einer schweren Stahl-Tür genau dort anzukommen, wo der Startpunkt war: auf dem kalten Lehm-Boden dieses engen Schachtes … glatte, feuchte Wände, die sich in unendlicher Höhe verlieren. Und ein Zittern: So alt und müde und lebens-müde! So unendlich müde!

Und ein erneutes Erwachen … der Blick nach oben lässt nun einen Sternen-Himmel erahnen: winzige Lichtpunkte in unendlicher Entfernung … kalt, aber tröstend.

»Ihre Tabletten für heute«, sagte die junge Pflegerin. Wie heißt sie noch? Ich weiß nicht mehr. Sie könnte meine Tochter sein. Vielleicht kann ich diese Tabletten sammeln, und dann …

Oh nein! – Das war gestern … oder vorgestern: diese ganzen Tabletten, die lösten sich so verflucht schlecht auf, und es schmeckte so bitter. Ekelhaft! Oh nein! Ich habe es getan: Ich habe mich getötet! Welch unendliche Scham! Aber es hat nicht funktioniert, irgendwas ist schiefgelaufen … ich wurde gerettet, durch Zufall. Aber ich will doch nicht mehr!

Verworrene Gedanken-Fetzen: Gestern diese hilflosen Blicke von Simon, aber wir sind doch geschieden … und von Eric, aber er hat mich doch verlassen! Was soll das? Lügen! Alles nur Lügen! Auch ich habe gelogen, mit Tränen in den Augen habe ich gesagt: „Es wird langsam besser“. Nein, nichts wird besser, alles nur dunkler und verworrener. Erbärmliche Lügen! Und alles so fremd und taub, so leer und kalt! Und die Menschen so weit weg, unendlich weit!

Vorhin war doch dieses Bild da, etwas Tröstendes. Was war das noch? Ist weg! Alles weg! Und ich bin so müde! – Die Tabletten wirkten, Eva glitt in einen tiefen Schlaf.

Einige Tage später schien die Sonne mild und klar ins Zimmer. Müdigkeit und Verwirrung hatten sich in Müdigkeit und Gelassenheit verwandelt.

»Wie geht es heute?«, fragte die Ärztin.

»Ich … weiß nicht … ganz gut, glaube ich.«

»Das freut mich. Dann haben wir vielleicht das richtige Medikament gefunden.«

»Mein Körper fühlt sich merkwürdig leicht an. Ich höre mein Herz so laut schlagen.«

»Ist das unangenehm?«

»Nein … nur ungewöhnlich.«

»Wie gesagt, das Medikament … aber nicht nur … der menschliche Körper ist ein Wunderding!«

»Ein Wunderding? Gibt es noch andere Wunderdinge?«

»Oh ja, viele. Zum Beispiel die Königin der Nacht.«

»Die Königin der Nacht, wer ist das?«

»Ein Kakteen-Gewächs, sie blüht nur ein Mal im Jahr für einige wenige Stunden, und das außerdem in der Nacht! Große Blüten, die einer Krone ähnlich sehen.«

»Sie blüht nur in der Nacht? So was gibt es?«

»Ja, sogar in der Nähe hier, im botanischen Gewächshaus. Sie blüht aber im Sommer, kann man jetzt leider nicht bewundern.«

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Eva.

»Nun … vielleicht noch sieben Tage hier. In der Zwischenzeit können wir uns gemeinsam um eine gute Anschluss-Behandlung in einer Reha-Klinik kümmern … und daneben die notwendigen Anträge bei Ihrer Krankenkasse einreichen.«

»Was heißt Reha? Wo und wie?«

»Das werden wir alles klären. Ich kenne mehrere Kliniken, die für Sie infrage kommen. Bei der Auswahl haben Sie natürlich ein Mitsprache-Recht. Ich denke, stationär wäre gut … und mindestens vier Wochen.«

»Wenn es mir jetzt besser geht, liegt das doch an den Medikamenten, oder?«

»Wahrscheinlich.«

»Sie wissen ja, dass ich Medikamenten gegenüber skeptisch bin.«

»Wir können die Dosis im Laufe der nächsten Tage langsam reduzieren … und werden sehen.«

»Ich bin so müde.«

»Ja, schlafen Sie.«

•••

Drei Wochen später

Alex war in die Reha-Klinik verlegt worden, sein behandelnder Arzt hieß jetzt Dr. Gramme.

Gesprächs-Therapie, Gedächtnis-Training, Bewegungs-Therapie. Alex hatte schon einiges hinter sich, immer in der Hoffnung der Ärzte, dass etwas dabei sein würde, dass dieses große Vergessen in seinem Kopf auflösen könnte, damit der Fluss der Erinnerung wieder zu strömen beginne. Bisher hatte nichts geholfen. Große Teile seiner Biografie waren einfach weg … insbesondere seine Beziehungen zu Menschen. Es war ihm selbst und den Ärzten ein Rätsel, dass bestimmte Handlungsabläufe und Kenntnisse präsent waren und andere wie ausgelöscht.

So war zum Beispiel sein Wissen der deutschen Sprache voll und ganz da: Lesen, Schreiben, Rechtschreibung, Grammatik: alles kein Problem. Sein englischer Wortschatz war ebenfalls präsent … während sein Französisch – vier Jahre in der Schule – vollständig weg war.

Ausgelöscht waren – nach wie vor – alle Beziehungen, die er vor dem Unfall hatte … so als wären diese Personen nie da gewesen. Im Gegensatz dazu waren viele Abläufe und Handlungen des täglichen Lebens erhalten geblieben … das Zähneputzen oder Schuhbinden machte keine Schwierigkeit, auch zum Beispiel Fahrrad fahren ging wie selbstverständlich. Das mit dem Fahrrad hatte er ausprobiert, in dem Bereich vor der Klinik, der Arzt hatte ihn dazu ermutigt. In dem Zusammenhang gingen sie außerdem alle Verkehrsschilder durch: ebenfalls kein Problem!

Dr. Gramme sagte: »Es gab in der Vergangenheit – selten zwar – schon ähnliche Krankheitsbilder wie bei Ihnen, allerdings in Einzelheiten dann doch wieder anders. Was halten Sie davon, dass wir mal eine Hypnose probieren?«

Alex war einverstanden. Als das ebenfalls keine Ergebnisse brachte, lachte Dr. Gramme ihn an und sagte: »Vielleicht brauchen Sie ihr altes Leben nicht mehr. Sie haben mir ja auch davon erzählt, dass andere Sie als …«, er stockte verlegen.

»Arschloch«, ergänzte Alex.

Dr. Gramme lachte wieder: »Ja, und wer will schon ein Arschloch sein? Was sich in den letzten Wochen gezeigt hat: Sie haben eine hohe Auffassungsgabe und können leicht lernen. Und sehr ungewöhnlich: Sie lesen Artikel und Bücher in einer so großen Geschwindigkeit, dass man denken könnte, Sie würden es nur oberflächlich aufnehmen. Aber es zeigt sich das Gegenteil: Ihnen ist der gesamte Inhalt präsent. Nutzen Sie diese Fähigkeit.«

•••

Es war inzwischen Ende Januar, aber der Winter hatte bisher nicht stattgefunden: deutlich zu mild, wenig Niederschlag und viel Sonnenschein. Schnee war kaum gefallen und wenn, dann war er nicht lange liegen geblieben.

Als neue Therapie stand für Alex die Kreativitäts-Gruppe auf dem Programm: nur einige wenige Patienten … jeder an einem Einzeltisch, mit Papier und Farbstiften.

Der Leiter stellte sich vor: »Ich bitte um die Ansprache mit Vornamen, mein Name ist David.«

Er fuhr mit lauter Stimme fort: »Ihr werdet hier lernen, euch durch Kreativität auszudrücken. Die Aufgabe heute: Malt euren Lebensbaum. Es ist ein Baum mit vielen Ästen und Wurzeln und einer mächtigen Krone, und er symbolisiert Wachstum, Glück und Heilung. Nehmt kräftige Farben, so dass ein positives, farbenfrohes Bild entsteht.«

Alex fing etwas missmutig an, sah nach rechts hinüber zum Nebentisch. Dort saß eine Frau mit geschlossenen Augen … schlank, schmales Gesicht, hohe Wangenknochen, lange dunkel-blonde Haare, schwarze Jeans, weißes Sweatshirt … 30 oder 40 Jahre, schwer zu sagen.

Als David sich jetzt neben diese Frau stellte und fragte: »Darf ich deinen Namen wissen?«, öffnete sie die Augen, sah ihn an und sagte: »Eva«.

»Nun Eva, willst du es nicht ebenfalls mal versuchen?«

»Im Moment nicht«, sagte sie.

»Es ist aber ganz leicht.« Dabei deutete er auf die Farbstifte.

Eva sah ihn mit großen Augen an. David nickte ihr aufmunternd zu und ging weiter.

Sie blieb noch einen Moment sitzen, schüttelte den Kopf, lächelte ein wenig … stand gelassen auf und ging hinaus, ohne ein Wort zu sagen … und ließ David sprachlos zurück.

Nach dem Ende der Mal-Stunde begab sich Alex in die Cafeteria, um einen Cappuccino zu trinken. Dort sah er Eva, an einem Tisch direkt vor der großen Glasfassade. Sie schaute still hinaus in eine sonnige Landschaft: ein Park mit alten Bäumen und weiten Rasenflächen.

Alex setzte sich mit Kuchen und Cappuccino dazu. Sie schauten sich kurz an, nickten sich zu … und so saßen sie eine ganze Weile, ohne zu reden … aßen und tranken ein wenig … und fühlten sich beide sehr wohl.

Es waren vielleicht zehn Minuten vergangen, als Alex fragte: »Warum bist du raus gegangen?«

Eva sah ihn an und sagte: »Kreativität ist etwas völlig anderes. Der Typ hat keine Ahnung.«

Alex nickte und sagte nur »Ja«.

Mehr zu reden war an diesem Tag nicht notwendig. Sie saßen noch eine ganze Weile beisammen … schließlich stand Eva auf, sagte leise »Bis bald« … und Alex nickte.

Wie selbstverständlich trafen sie sich nun täglich nachmittags in der Cafeteria. Ohne dass sie es abgesprochen hätten, gab es lange Zeiten des Schweigens, des gemeinsamen Schauens und Wohlfühlens. Hin und wieder kleine Gespräche. An einem der Tage vergaben sie Schulnoten für die verschiedenen Therapien und Gruppen. Nur eine Therapie bekam von beiden die „Traumnote 1“: die Gruppe „Entspannungsverfahren“, in der es nicht um ein bestimmtes Verfahren ging, sondern wo im Wechsel unterschiedliche Entspannungs-Übungen ausprobiert wurden, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob etwas dabei war, was einem zusagte.

•••

Recht bald, Alex wusste nicht genau warum, hatte er das Gefühl, in Eva einen Menschen gefunden zu haben, den er schon lange kannte, dem er vertrauen konnte. So fragte er eines Tages: »Darf ich dir ein wenig von mir erzählen?«

Eva sah ihn offen an und nickte.

»Ich habe … mein bisheriges Leben verloren«, begann er … erzählte vom Unfall, seinem Aufwachen, von der großen Leere, der Verwirrung und von dieser merkwürdigen Amnesie, die selbst den Ärzten ein Rätsel war.

Eva nickte interessiert, so dass Alex ausführlicher erzählte.

»Mike hatte irgendwann – ich glaube, es war am dritten Tag – etwas gesagt, was mich aufhorchen ließ. Auf meine Frage: „War noch jemand im Auto?“, fing er an zu stottern: „Also … so genau weiß ich es nicht … ich glaube … wichtig ist doch nur, dass du wieder gesund wirst.“

„Sag mal, spinnst du? Gestern haben wir über Vertrauen geredet. Und jetzt eierst du rum und sagst mir nicht die Wahrheit!“.

Mike war rot geworden, stand auf und sagte beschämt:

„Du kannst mir vertrauen! Gib mir bitte zehn Minuten. Ich muss etwas klären.“

Als Mike zurückkam, sah er bedrückt aus.

„Ich hatte Krach mit dem Arzt“, sagte er. „Er hat mir dringend abgeraten. Aber ich habe ihm gesagt: Vertrauen ist wichtiger. Ich hoffe, ich mache jetzt keinen Fehler.“

Und dann erzählte er alles, was er wusste:

„Außer dir war Lisa im Auto … und … ja … die Wahrheit: Sie ist tot.“

„Wer ist Lisa?“

„Deine Freundin oder Partnerin … seit einem Jahr“, sagte Mike.

In diesem Moment fühlte ich einen unwirklichen Schock, mitten in mir, unfassbar. Ich konnte mich an keine Lisa erinnern.

„Und wer war schuld am Unfall?“ fragte ich.

„Es ist noch nicht endgültig geklärt … wie es im Moment aussieht, der Andere.“

„Warum nicht endgültig geklärt?“

„Du kamst von rechts, hattest Vorfahrt. Aber der Anwalt des Anderen versucht, deine Mitschuld zu beweisen. Du hattest etwas Alkohol getrunken, knapp 0,3 Promille, also noch im grünen Bereich. Wenn du zusätzlich zu schnell gefahren sein solltest – es war dort 50 erlaubt – dann hätte der Anwalt eine Chance, deine Mitschuld zu beweisen.“«

Alex wandte sich an Eva und sagte leise:

»Es war so unwirklich, was Mike mir da erzählte: Eine Partnerin, die ich nicht kannte, die nun tot war, weil ich – wahrscheinlich nicht, aber vielleicht doch – einen Unfall mitverursacht hatte … jedenfalls daran beteiligt war. Ich weiß nicht, ob es gut war, dass Mike mir das zu diesem Zeitpunkt erzählte, denn es gab nun einige schlaflose Nächte.

Verstehst du … erstens die Amnesie und zweitens der Tod von Lisa. Zwar trat der Unfall mehr und mehr in den Hintergrund, die Amnesie aber irritierte und beschäftigte mich zunehmend. Immerhin gab es von der Polizei schon bald Entwarnung: Sie hatten alles genau ausgemessen und gingen davon aus, dass ich nicht mehr als 50 km/h gefahren war. Der Anwalt würde trotzdem versuchen, etwas zu finden, was mich belastete. War mir allerdings egal.

Dann gab es einen weiteren Schock: Mike hielt sich an sein Versprechen, mir alle Fragen ehrlich zu beantworten und so kam nach und nach heraus, dass ich scheinbar ein arrogantes Arschloch gewesen war. Mike wusste nicht alles, denn wir hatten in den letzten Jahren nur wenig Kontakt, aber was ihm bekannt war und er mir erzählte, war furchtbar: Da hatte es einem egozentrischen, arroganten Menschen namens Alex gegeben. Ich konnte das gar nicht begreifen. Ich fühlte mich jetzt doch völlig anders.

Einige Tage später hatte ich ein Gespräch mit Dr. Dahl.

„Sie sind ja jetzt einigermaßen stabil, die Medikamente haben wir schon deutlich zurückgefahren. Ich denke, ich kann mit Ihnen Klartext reden. In Ihrem Fall liegt sowohl eine kongrade Amnesie als auch eine retrograde Amnesie vor. Die kongrade Amnesie bezieht sich direkt auf den Unfall, die retrograde Amnesie auf die Zeit vor dem Unfall. Bei Patienten mit retrograder Amnesie gibt es meist schon nach einigen Tagen erste Hinweise darauf, dass die Erinnerung langsam zurückkommt. Das ist bei Ihnen leider nicht der Fall. Das heißt: Wir müssen uns – und Sie müssen sich – darauf einstellen, dass die Erinnerung an die Zeit vor dem Unfall noch längere Zeit nicht wiederhergestellt werden kann.“

„Kann es sein, dass die Erinnerung gar nicht mehr wiederkommt?“

Dr. Dahl wiegte den Kopf: „Mit Sicherheit kann man nichts sagen. Es könnte sein, dass plötzlich ihre gesamte Biografie wieder präsent ist. Darauf zu warten, ist allerdings nicht sinnvoll. Ich würde an Ihrer Stelle davon ausgehen, dass der Gedächtnis-Verlust für die Zeit vor dem Unfall lange anhalten könnte. Deshalb würde ich mich auf das Hier und Heute konzentrieren, viele Gedächtnis-Übungen machen, viel lesen, neues Wissen abspeichern … aber das alles machen Sie ja schon ausgiebig und mit großem Eifer. Gut!

Und man kann das Ganze durchaus positiv sehen: Sie sind jung, erst 22 Jahre alt, körperlich gesund und fit. Sie haben ein neues Leben geschenkt bekommen. Machen Sie etwas daraus.“

„Danke für die klaren Worte.“

Dr. Dahl fuhr fort: „Nun müssen wir darüber reden, wie es räumlich weitergeht. Sie könnten bis Ende des Monats hier bleiben … eine andere Möglichkeit: Ich überweise Sie in eine psychosomatische Klinik … oder drittens: Sie begeben sich in ein familiäres Umfeld. Ihr Bruder Mike war häufig hier, er hat angeboten, dass Sie bei ihm und seiner Familie wohnen können. Und in zwei Wochen ist Weihnachten. Ich halte diese Option für die beste, aber Sie entscheiden. Vielleicht ist es nur vorübergehend. Sie schauen mal, wie es Ihnen dort geht. Natürlich können Sie jederzeit wieder herkommen, wir sind ja nicht so weit weg. Und dann sehen wir gemeinsam weiter.“

„Einverstanden, hört sich gut an.“

Als ich drei Tage später von Mike abgeholt wurde, hofften wir beide, dass dort Erinnerungen auftauchen könnten, denn ich war mehrfach in dem Haus gewesen und kannte außerdem Mikes Frau Sarah und seinen Sohn Lukas. Diese Hoffnung stand groß im Raum, aber wir sprachen nicht darüber, als ob dadurch die Chance vereitelt werden könnte.

Sarah begrüßte mich herzlich und rief etwas überschwänglich: „Na, das werden wir schon wieder hinkriegen. Du kennst mich doch, oder?“ Ich schüttelte vorsichtig den Kopf. Ich kannte diese Frau wirklich nicht und sie war mir obendrein nicht besonders sympathisch.

Schon bald ergab sich eine unbehagliche Situation, denn Sarah war felsenfest davon überzeugt, dass die Erinnerung bald zurückkommen werde. Sie gab sich auch einige Mühe, stellte Bildfolgen zusammen mit alten Familien-Fotos, erzählte mir viele Begebenheiten und Anekdoten, die wir gemeinsam erlebt hatten oder die sie mir früher schon einmal erzählt hatte. Allerdings stieß nichts bei mir ein „Erinnerungs-Aha“ an.

Das frustrierte Sarah zunehmend, sie wurde ungeduldig, und dann verstieg sie sich in die fatale Behauptung, dass ich meinen Gedächtnis-Verlust nur simulieren würde … und sah nun ihre Aufgabe darin, Beweise dafür zu finden.

Die Atmosphäre im Haus wurde bedrückend, geradezu feindselig und belastete auch Mike. Gespräche zwischen ihm und Sarah und zwischen uns dreien brachten keinerlei Klärung oder Beruhigung, denn am Ende sagte Sarah zunehmend spitz: „Wir werden sehen.“

Einen Lichtblick gab es aber doch: Lukas, der fünfjährige Sohn von Mike und Sarah. Die Zeit mit ihm war immer spannend, kreativ, spielerisch, erstaunlich. An einem Morgen flüsterte er mir zu: „Heute scheint die Sonne. Ich will dir ein Geheimnis zeigen. Im Wald. Wir müssen direkt nach dem Mittagessen losgehen. Kannst du Sarah fragen?“

Es war nicht schwer, dafür eine Erlaubnis zu bekommen: ein Spaziergang unter Aufsicht von Onkel Alex an einem sonnigen Dezembertag. – Und was für ein Nachmittag! Dass Kinder derart lebendige und kreative Menschen sind, wie es Erwachsene gar nicht mehr sein können oder wollen … das war für mich eine Offenbarung! Höhepunkt an diesem Nachmittag war die Errichtung eines Staudamms und die Umleitung eines Flusses. Nun gut, aus der Sicht von Erwachsenen war es nur ein Bach, der in der Umleitung von vielleicht 50 Metern neben dem Waldweg herlief … aber es war großartig.

Weihnachten war dann eine Katastrophe … diese vielen Besuche und die merkwürdigen Gebräuche. – „So war das schon immer! Das ist schön!“ – Schön? Diese Hektik? Diese gespielte Fröhlichkeit? Und zu viel Essen und Trinken … Besuche, Gerede, Gelaber … Süße, Falschheit und Lüge.

Und die merkwürdige Geschichte von diesem Jesus. Geboren von einer Jungfrau? Also gezeugt von einem Gott? – Eines meiner „Neu-Lese-Themen“ damals war die griechische Mythologie … und da kam mir einiges auffallend bekannt vor: Zeus, oberster Gott im olympischen Himmel, der mit der menschlichen Königin Alkmene den Sohn Herakles zeugt … der dann auf der Erde verschiedene Heldentaten vollbringt … und nach seinem Tod als Gott in den Himmel auffährt. Erstaunlich viele Parallelen zu dem Leben von Jesus!

Aber so mythologisch-symbolisch wie die Griechen sahen die Christen das sicher nicht. Ihre Geschichten waren Tatsachen, und die musste man glauben … und diese „Wahrheit“ natürlich verbreiten … oder in einem süßen Konsum-Rausch romantische Lieder singen.

Ich stand vor einem Rätsel: Wie können Erwachsene ein solch merkwürdiges Zeug als zentrale Grundlage ihres Lebens nehmen?

Wobei: Ok, vielleicht urteilte ich da zu hart. Über das Christentum und über Religion insgesamt hatte ich noch nicht viele neue Infos gesammelt, ich konnte das nicht richtig beurteilen. Aber eines schien mir klar zu sein: Da stimmte etwas nicht!

Ich habe diese hektischen Weihnachtstage wahrscheinlich nur aushalten können, weil ich mir das alles mehr von außen als Beobachter angesehen habe, kopfschüttelnd, sprachlos und auch interessiert. Darüber hinaus war mir schon am ersten Weihnachtstag klar, dass ich da nicht bleiben konnte und so bald wie möglich wieder ausziehen würde.

Am zweiten Weihnachtstag sprach ich mit Mike darüber, der nickte hilflos: „Ja … verstehe, ist wohl das Beste.“ Und dann fügte er traurig hinzu: „Ich weiß nicht, ob ich mit Sarah weiter zusammenleben kann. Vielleicht wird es eine Scheidung geben.“

Dr. Dahl, den ich am nächsten Tag anrief und ihm die Situation schilderte, hatte sofort die Lösung: „Es gibt eine gute psychosomatische Klinik im Schwarzwald. Ich versuche mal, kurzfristig etwas hinzukriegen, ich kenne einen der leitenden Ärzte.“

Schon zwei Stunden rief er zurück: „Alles klar! Ab übermorgen ist ein Platz frei! Die sind gespannt auf Sie! So einen Fall hatten sie noch nicht! Und die sind gut, ganzheitlich orientiert. Ihr behandelnder Arzt dort wird Dr. Gramme sein.“«

Alex atmete tief ein und aus, lehnte sich zurück und schaute Eva an.

Auch sie atmete tief ein … sagte dann leise: »Stimmig!«

Auf den fragenden Blick von Alex fügte sie hinzu:

»Eine stimmige Geschichte. Daraus kann etwas werden.«

•••

Zwei Tage später war es Eva, die von sich erzählte. Sie saßen wieder in dem gemütlichen Klinik-Café. Am Himmel zogen dunkle Regenwolken dahin, aber der Regen konnte sich nicht entscheiden zu fallen. Hin und wieder flog eine Krähe vorbei und setzte sich auf die Terrasse, direkt vor die Fensterscheibe, denn dort war es etwas wärmer … und schaute mit klugen Augen herein.

»Wir haben Mitte des Jahres 1999 geheiratet, Simon und ich. Zwei Jahre später wurde Eric geboren. Ich war erst 22 und mitten in der Ausbildung zur Lehrerin: Kunst und Deutsch. Simon verdiente als Pharma-Vertreter schon damals so viel, dass wir gut leben konnten.

Und dann lief alles ziemlich normal: Erstes und Zweites Staatsexamen, danach Lehrerin an einer Grundschule. Wir hatten einen großen Freundeskreis, viele Unternehmungen und Partys … so das Übliche: „Welche Probleme gibt es mit den Kindern? – Oh, da kann ich dir einen tollen Rat geben. … Wir haben jetzt ein neues Auto: Audi A8 – Echt? – PS? – 280! – Wahnsinn! … Im letzten Urlaub waren wir in … und im nächsten Urlaub fahren wir nach … Übrigens, der neue Friseur in der Innenstadt ist gut, zwar nicht billig, aber richtig gut! – Erzähl! … Möchtest du noch ein Glas Wein?“

Schon in meinem zweiten Jahr als Lehrerin – also 2003 – fühlte ich mich immer häufiger so müde, zudem antriebslos, lustlos. Mein Hausarzt sagte: „Ganz normal, zu viel Stress, mehr Entspannungs-Zeiten einbauen“ … und gab mir ein Vitamin-Präparat.

Ich habe mir dann ein anderes Entspannungs-Mittel gesucht: Alkohol.

Damals fing es an. Ich habe mir angewöhnt, fast jeden Abend zwei oder drei Gläser Wein zu trinken, am Wochenende auch mehr. Da Simon meistens mittrank, war das völlig ok. Und sobald wir bei Freunden waren oder die bei uns, war die erste Frage immer: „Was willst du trinken? Wein oder Bier?“ Das war so normal, völlig üblich, dass ich damals nie auf die Idee gekommen wäre, dass ich ein Problem mit Alkohol haben könnte. Erst in der Rückschau kann ich sehen, dass ich schon damals darauf bedacht war, genügend Alkohol im Haus zu haben … und in der Garage zusätzlich eine großzügige Reserve … dass ich immer öfter schon am Nachmittag ein erstes Glas Wein trank … dass ich einige Jahre später heimliche Alkohol-Verstecke anlegte, wo ich mich tagsüber ungesehen bedienen konnte … natürlich mit den anschließenden extra-starken Pfefferminz-Drops, damit das keiner mitbekam. Das Fatale war, dass es über Jahre immer so weiterging, sich schleichend aufgebaut hat … man könnte sagen, ohne dass ich es überhaupt gemerkt habe.

Mehr muss ich über die folgenden Jahre gar nicht erzählen, denn die eigentlichen, die wirklichen Probleme begannen erst 2011. Nach vielen heftigen Streit-Gesprächen und Versöhnungs-Zeremonien und nach dem Versuch, das über eine Paar-Therapie wieder hinzukriegen … war uns schließlich klar: Eine Scheidung ist die einzige Möglichkeit. Ich bin damals in ein tiefes Loch gefallen, denn ich hatte noch mit der romantischen Vorstellung geheiratet „Bis dass der Tod euch scheidet“ … und deshalb war das Gefühl von Scham und Versagen über ein heiliges Versprechen, welches ich gegeben hatte, unendlich groß. In dem Jahr fing dann meine „richtige Alkohol-Zeit“ an. Jetzt war es mir egal, was andere von mir dachten, und das konnte auch im Beruf nicht gut gehen. Ich war ja in der Zwischenzeit als Lehrerin auf eine Privat-Schule gewechselt.

Das Ende meiner Lehrer-Tätigkeit hatte dann aber doch nur sekundär mit meinem Alkohol-Konsum zu tun: Mir wurde im Laufe der ersten ein bis zwei Jahre an dieser Privat-Schule klar, dass Kreativität und Kooperation nicht gefragt waren. Die Schule hatte sich von ursprünglich alternativen pädagogischen Ideen zu einer Art Wirtschafts-Unternehmen gewandelt, auf Effektivität und Leistung getrimmt. Von Zwischenmenschlichkeit und ehrliche Pädagogik wurde nur in den Glanz-Broschüren gesprochen. Aber das ist eine eigene Geschichte, kann ich später mal erzählen.

Jedenfalls: Im Jahr 2014 habe ich meine Tätigkeit als Lehrerin beendet. Beigetragen zu diesem Schritt hat sicherlich das, was in den Jahren davor passierte …«

Eva unterbrach sich, weinte tonlos und sagte schließlich:

»Es tut so weh … aber ich möchte … es gerne erzählen …«.

Nach mehreren Minuten fuhr sie fort.

»Im Jahr 2012 hat sich meine Schwester Nora … sie hat sich selbst getötet, im Alter von 29 Jahren … in einem schwer zugänglichen Waldstück … reichlich Alkohol und Tabletten … zusätzlich die Pulsadern aufgeschnitten. Sie wurde erst zwei Monate später zufällig gefunden. Diese zwei Monate waren für mich die Hölle, denn Nora hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen … und wir schwankten ständig zwischen Befürchtung und Hoffnung hin und her. Dass ein Suizid möglich sein könnte, war uns zwar klar, denn es hatte in den Jahren davor schon manche Situation gegeben, in der Nora uns deutlich gezeigt hatte, dass sie in ihrem Leben sehr unglücklich war und in diesem „kalten Irrenhaus“ – wie sie es mal nannte – nicht leben konnte.

Wir hatten ihr immer oberflächlich Hilfe angeboten, aber in Wahrheit haben wir nur eines getan: Wir wollten sie um jeden Preis wieder zurückführen in ein „normales Leben“, also in etwas, was wir unter „normal“ verstanden. Nora war aber anders, sie passte nicht in ein „normales Leben“. Wahrscheinlich hätte es für sie ein anderes Leben geben können, wenn wir sie darin unterstützt hätten. Das wollten wir jedoch nicht wahrhaben. Erst mit der Bestätigung ihres Todes wurde mir schlagartig klar, wie kleinlich, eng und egozentrisch wir mit Nora umgegangen sind. Das hat mich über Jahre … bis heute … schwer belastet.

Ein Jahr später gab es den nächsten Schicksals-Schlag: Meine Mutter erkrankte an Alzheimer. Ich weiß nicht, ob diese Krankheit etwas mit Noras Suizid zu tun hatte, denn nach deren Tod war unsere Mutter völlig verändert. Sie zog sich stark zurück, hatte häufig heftige Schmerzen, die sie selbst und ebenfalls kein Arzt zuordnen konnte … bekam starke Medikamente, Psychopharmaka … bis dann zwei Jahre später die Diagnose gestellt wurde: Alzheimer. Für meinen Vater, der damals keine 70 Jahre alt und körperlich recht fit war, begann eine zunehmend schwierige, dann schwere und schließlich sehr schwere Zeit, denn er wollte sie nicht in ein Heim geben. Es gab viele verstörende Situationen und Begebenheiten. Zum Beispiel hat meine Mutter einmal – natürlich unwissentlich – die Küche in Brand gesetzt und es hätte nicht viel gefehlt und das ganze Haus wäre abgebrannt. Ein anderes Mal war sie zwei Tage und eine Nacht verschwunden und wurde nass und durchfroren an einem Ort, der 15 Kilometer entfernt war, aufgefunden. Für meinen Vater waren die verbalen Ausbrüche besonders schwer erträglich. Meine Mutter hatte zunehmend Phasen, in denen sie ihren Mann nicht mehr erkannte und ihn mit höchst beleidigenden Kraftausdrücken anschrie.

Besonders erschreckend war es für meinen Vater, mitanzusehen, dass eine Frau, die er seit über 40 Jahren kannte und liebte, sich in ein wesenloses Etwas verwandelte. – Das war auch die Zeit, in der mein Vater aus der Kirche austrat, weil er mit einem Gott haderte, der so etwas zuließ. – Aber ich möchte wieder mehr von mir erzählen, denn leider wurde für mich alles immer verworrener.«

Eva unterbrach sich. »Das wird mir heute zu viel! Kann ich morgen weitererzählen?«

»Klar!«

Beide schauten noch eine Weile in den Park hinaus, wo die Dunkelheit die Bäume, Sträucher und Grasfläche langsam in ein einheitliches Grau verwandelte.

Dieses stille, gemeinsame Schauen war beiden wichtig geworden.

Im Laufe des nächsten Tages zogen dunkle Wolkenberge gemächlich dahin, am Nachmittag fiel leichter Regen, von einigen Schneeflocken untermischt.

»Die Scheidung von Simon und mir hat ebenfalls unseren Sohn Eric stark belastet. Er war damals 11 Jahre. Wir hatten ihm die Entscheidung überlassen, zu wem er ziehen wollte, er blieb bei mir. Das ging zunächst recht gut. Simon holte ihn alle zwei oder drei Wochen für ein langes Wochenende ab. Aber Eric bekam selbstverständlich mit, dass meine Probleme und meine Alkohol-Exzesse in den folgenden Jahren zunahmen. Aus heutiger Sicht sage ich: Ich war inzwischen alkoholabhängig und auf dem besten Wege, eine Alkoholikerin zu werden. Das habe ich jedoch damals nicht sehen können und wollen.

Im Jahr 2015 blieb Eric immer öfter und länger bei seinem Vater, schließlich sagte er mir, dass er zu Simon ziehen wollte. Es gab ein heftiges Gespräch, in dem ich ihm Vorwürfe machte und als ich ihm unter Tränen sagte, ich würde ihn brauchen, gab er eiskalt zurück, ich würde da wohl was verwechseln, ich bräuchte nicht ihn, sondern Freund Alkohol.

Das traf mich bis ins Mark. Seinen Auszug am nächsten Tag ließ ich wortlos geschehen. Dieser Schock hielt mehrere Tage an, und er bewirkte etwas: Ich ließ das erste Mal die Erkenntnis zu, dass ich tatsächlich ein großes Alkohol-Problem hatte.

Ich verbrachte einen halben Tag damit, alle Flaschen im gesamten Haus zusammenzusuchen, zusätzlich die in allen Verstecken: Keller, Speicher, Schuppen … leerte sämtliche Flaschen in die Toilette … brachte alle leeren Flaschen zum Container.

In den Tagen danach stand ich einige Male kurz davor, mir neuen Alkohol zu besorgen und weiter zu saufen … und daran sah ich deutlich, wie abhängig ich schon war. Ich lief unruhig hin und her, schlief kaum, kaufte als Ersatzdroge viel Eis … und wusste nicht weiter.

Was jetzt? Ich recherchierte ziellos im Internet zu: Alkohol, Scheidung, Scheidungs-Kinder … dachte darüber nach, mich bei einer AA-Gruppe anzumelden … und ich weiß heute nicht mehr, durch welchen Link ich dann auf einer Seite landete, die mich beruhigte. Es wurde ein Retreat angeboten: „Heilende Meditation mit Vidara“. Ich meldete mich an.

Was soll ich sagen? Wir saßen auf bequemen Kissen im Kreis, eine Gruppe von 10 Personen … und Vidara erzählte uns von Liebe und Güte und dass man das üben kann … und sie uns die zugehörige Meditations-Übung zeigen würde. Nach dem zweitägigen Retreat fühlte ich mich tatsächlich entspannt und gelassen wie schon lange nicht mehr. Andererseits war mir dieses penetrant-lächelnde Reden über göttliche Liebe und Güte doch ziemlich auf die Nerven gegangen. Und der Preis war nicht ohne: 600 Euro für ein zweitägiges Seminar plus Übernachtung.

„Nun ja“, dachte ich, „das war teilweise wirklich gut … ich muss etwas finden, was eine andere Ausrichtung hat.“ Um so etwas zu recherchieren, dafür ist das Internet ja hilfreich. Und damit war ich jetzt in der großen Herde der Suchenden, die von einem Seminar zum nächsten laufen, stets in der Hoffnung, endlich das genau Richtige und Passende zu finden … auf dass sich die große Erlösung in Übungen oder Formeln, helfenden Menschen oder Büchern zeigen möge.

Es war abenteuerlich, auf was ich in den nächsten zwei Jahren alles eingelassen habe: Engel-Seminare, in denen wir angeblichen Kontakt mit Erzengel XY aufgenommen haben … Kauf eines persönlichen, geheimen Mantras für viel Geld … bis mir schlagartig klar wurde: Ich befinde mich in einer äußerst merkwürdigen esoterischen Szene, in der es Gurus und Erleuchtete gibt, die an mein Geld wollen.

Weißt du, ich will das gar nicht völlig abtun, in manchen dieser Gruppen wird es für einige Menschen vielleicht Hilfe geben … ich weiß es nicht. Aber für mich wurde in dem Augenblick vieles klar, als ich in eine Gruppe geraten war, die sich freundlich und warm anfühlte, die jedoch auf subtile Weise und mit „hypnose-artigen“ Wiederholungen Abhängigkeiten schuf. Und im Endeffekt, wenn man praktisch schon drin war, wurden völlig überteuerte Seminare dringend anempfohlen, in denen absurde religiöse Übungen praktiziert wurden … das alles garniert mit einer kruden Mischung aus christlichem und fernöstlichem Gedankengut und aufgesetztem Süßholz-Lächeln.

Wenn ich das gerade recht kritisch beschrieben habe, so konnte ich das allerdings erst am Ende meiner esoterischen Zeit so sehen. Vorher habe ich mich voll darauf eingelassen und hatte bei jeder neuen Gruppe oder Idee immer das sichere Gefühl, zu einer exklusiven Minderheit zu gehören, die genau das „Richtige“ weiß und tut. Das ist wirklich verrückt.

Und ich habe auch einige Menschen kennengelernt, die daran zerbrochen sind … oder solche, die so stark vereinnahmt worden waren, dass sie nur noch wie Marionetten funktionierten … wie fremdbestimmt irgendwelche Lehrsätze mechanisch wiederholten. Bei einigen Gruppen oder Richtungen sage ich heute: „Gefährlich!“

Glücklicherweise habe ich diese Mechanismen und Zusammenhänge am Ende meiner „Eso-Zeit“ deutlich sehen können, aber damit war bei mir nichts besser geworden. Ich hatte mich mal wieder in etwas intensiv hineinbegeben, dabei zeitweise positive Gefühle gehabt … nun brach das alles zusammen. Ich war nahe daran, wieder Alkohol zu trinken.

Jetzt erinnerte ich mich, dass es in meiner späteren Jugend mal eine längere Zeit gab, in der ich häufig in die Natur gegangen war und Natur-Fotos gemacht hatte. Eine gute Kamera hatte ich, und so ging ich im Sommer schon vor Sonnenaufgang in den Wald und habe Morgen-Stimmungen eingefangen. Das fühlte sich ausgesprochen gut an … und führte überdies dazu, dass ich mich mehr und mehr mit Umwelt-Themen beschäftigte … und – weil das eine Tatsache ist – auch mit den zahlreichen Umwelt-Problemen. Ich empfand einen unlösbaren Widerspruch: Einerseits meine zunehmende Verbundenheit mit der Natur und andererseits die unleugbaren Tatsachen, dass wir – als gesamte Menschheit – die Natur zerstören.

Immer öfter saß ich verzweifelt im Wald … habe mich der Erde und Natur verbunden gefühlt und gleichzeitig gesehen, dass die Bemühungen von Umwelt-Verbänden und Gruppen und Einzel-Personen keine wirkliche Chance haben. Das ist alles gut und wichtig, was die machen … aber es ist so, als würde ein Riese einen Riesenhaufen Atom-Plastik-Scheiße irgendwo hinsetzen und Ameisen würden versuchen, den zu entsorgen. Bevor die nur einen kleinen Teil des Haufens entsorgt haben, hat der nächste Riese schon den nächsten Haufen daneben gesetzt. Und den Riesen ist es – im wahrsten Sinne des Wortes – scheiß-egal, was morgen sein wird. Ein Riese will grundsätzlich nur jetzt, in diesem Augenblick, höchste Befriedigung, größten Gewinn … mehr und größer, und noch mehr und noch größer.

Ich kam zu dem deprimierenden Schluss: Der Mensch wird in seinem Größenwahn alles um sich herum zerstören und am Ende zwangsläufig sich selbst. Ich fühlte mich so klein und minderwertig … antriebslos, lustlos, enttäuscht und müde … und irgendwann sah ich keinen Sinn mehr, in dieser kranken Welt mitzumachen. Es folgte ein Suizid-Versuch, in einer Mischung aus Verzweiflung und Gleichgültigkeit … bei dem ich nur durch Zufall rechtzeitig entdeckt wurde. Und jetzt bin ich hier.«

Alex hatte aufmerksam zugehört … schwieg eine lange Zeit … nickte kaum sichtbar … schaute lange hinaus, sah dem leichten Schnee-Regen zu, der nach wie vor fiel … und sagte leise: »Danke!«

•••

Es war Mitte Februar, als Eva unerwartet Post bekam: eine Mail von ihrem Onkel Johannes, genannt Joh, ein Bruder ihrer Mutter. Er schrieb, er hätte gehört, dass Eva zurzeit in einer Klinik sei, und er würde sich gerne ein wenig mit ihr per Mail austauschen.

Onkel Joh! Er musste jetzt deutlich über 60 sein. Eva hatte schon lange keinen Kontakt mehr mit ihm. Sie erinnerte sich gerne an diesen Menschen, er hatte in ihrer Kindheit eine größere Rolle gespielt … seine zurückhaltende und offene Art war ihr in guter Erinnerung geblieben.

Es ergab sich ein reger Mail-Kontakt … sie erzählte ihm vieles … auch, dass sie Alex getroffen hatte. Joh erzählte ein wenig von sich, in dieser feinen, zurückhaltenden Art, die vieles offen ließ, gegensätzliche Dinge oder Positionen nebeneinander stellte, ohne sie in „Richtig“ oder „Falsch“ einzuordnen. Das gefiel Eva.

Und dann ergab es sich fast wie von selbst, dass Joh sie einlud, und nicht nur sie, sondern Alex gleich mit … wenn der denn wollte. Eva fragte Alex, er ließ sich ein wenig von Joh erzählen und fragte dann: »Für wie lange?«

»Joh schrieb: Für eine längere, unbestimmte Zeit!«

»Einverstanden!«, sagte Alex, »ich habe die nächsten Jahre nichts Bestimmtes vor.«

Die Einladung kam sozusagen passgenau, denn in diesen Tagen bat der Chefarzt zum Gespräch und sagte, dass die Zeit in der Klinik für beide langsam zu Ende gehe, höchsten bis Ende März … und jetzt gäbe es ja außerdem dieses neue Problem: Corona, wovon im Moment niemand wüsste, wie sich das in den nächsten Wochen entwickeln würde. In Italien spitze sich die Lage aktuell dramatisch zu, parallel in anderen Ländern … und in Deutschland würde man über einen landesweiten Lockdown nachdenken. Was das für die Klinik bedeuten würde, war ihm völlig unklar.

•••

Am 15. März fuhren Eva und Alex mit Evas dunkel-blauen Golf vom Schwarzwald, vorbei am Bodensee, ins Allgäu. Eva hatte gefragt, ob Alex ein Problem damit habe, nach dem Unfall wieder eine längere Tour zu machen. Alex überlegte kurz und meinte: »Wenn du langsam und aufmerksam fährst, denke ich, kein Problem.«

Und so war die Fahrt sehr angenehm, es gab viel zu sehen und das Wetter war – für Mitte März – ungewöhnlich mild, mit einer strahlenden Sonne. Bei einer längeren Pause in Überlingen waren sie erstaunt, dass schon einige Cafés an der Promenade geöffnet hatten. Sie genehmigten sich einen Cappuccino und Croissants. Auf dem See waren nur wenige Boote oder Schiffe zu sehen … in der Ferne die Auto-Fähren, die im Pendelverkehr zwischen Meersburg und Konstanz übersetzten. Möwen segelten elegant dahin, bisweilen laut kreischend … ansonsten eine gelassene Vorfrühlings-Atmosphäre.

»Bin gespannt«, sagte Alex, »wie das Haus ist und die Umgebung … und natürlich erwartungsvoll, Joh kennenzulernen.«

Eva: »Das Haus kenne ich auch nicht, ich war noch nie da. Wenn ich es richtig verstanden habe, gibt es ein größeres Haus und daneben noch ein kleineres, in dem wir unseren eigenen Bereich haben, mit Wohnraum und zwei Schlafzimmern. Bin also ebenfalls gespannt.«

Sie genossen noch eine Weile schweigend die weite Sicht über den See … in der Ferne die blasse, aber gut erkennbare Berg-Silhouette mit den höchsten Gipfeln des Säntis-Massivs.

•••

2. RAUM

ANKOMMEN • ANHALTEN • ZUHÖREN

Joh hatte die Anfahrt gut beschrieben, dennoch war es nicht einfach, das Haus zu finden, denn es lag abseits einer kleinen Ortschaft, erreichbar über einen gewundenen Weg mit verschiedenen Abzweigungen. 100 Meter vor dem Haus gab es einen Stellplatz mit zwei überdachten Parkplätzen. Den schmalen Weg hinauf gingen Eva und Alex zunächst ohne Gepäck, sie wollten unbeschwert ankommen.

Und dann sahen sie es: ein kleines Fachwerkhaus und daneben ein noch kleineres Häuschen. Beide Häuser hatten zum Garten hin, Richtung Süden, große Fensterfronten … vor beiden Häusern Terrassen, davor ein verwilderter Garten … hier und da Schneereste, direkt hinter den Häusern ein Waldgebiet mit hohen Tannen.

Alex blieb stehen, atmete tief ein und rief: »Wow!« … sah sich um, erblickte ein weites Tal und schneebedeckte Berge … und sagte erneut, diesmal leise: »Wow!«

Eine Schiebetür in der Fensterfront des größeren Hauses öffnete sich. Joh – groß, schlank, kurze grau-melierte Haare, leger gekleidet – trat heraus und lachte: »Willkommen!«

Im großen Wohnraum empfing sie viel Weiß und helles Holz. Eine gemütliche dunkle Couch-Garnitur, bestehend aus drei Elemente – zwei Sessel und ein dreisitziges Sofa – stand im Halbkreis angeordnet vor der großen Fensterfront, zum Garten hin ausgerichtet, mit einem weiten Blick in die Landschaft. Der Fenster-Bereich wurde links und rechts üppig eingerahmt von Pflanzen und Kräutern. Und was Eva besonders gefiel: In einer Ecke stand eine alte Staffelei mit Mal-Utensilien.

»Euer Domizil für die nächste Zeit ist das Haus nebenan, recht klein, aber alles vorhanden. Vielleicht wollt ihr erst einmal ankommen, euer Gepäck hochholen und euch frisch-machen. Ich koche inzwischen Kaffee und Tee. Ihr könnt dann ja rüberkommen«, sagte Joh.

Als Eva und Alex das kleine Nebenhaus durch die Wohnungstür von Norden her betraten, entfuhr es Alex erneut »Wow!«

»Kommt mir gar nicht so klein vor …«, meinte Eva, »wahrscheinlich wegen der großen Fensterfront … man hat den Eindruck, dass es jenseits der Fenster weitergeht … dass die Landschaft zum Zimmer dazu gehört.«

Das Haus war ähnlich eingerichtet wie das Haupt-Haus: Viel weiß, helles Holz, einige große Bilder, abstrakt, sehr farbig. Links und rechts zwei Schiebetüren, die in kleine Schlafzimmer führten. Obwohl diese Schlafzimmer wirklich klein waren – vielleicht sieben oder acht Quadratmeter – vermittelten sie einen anderen Eindruck, denn diese Zimmer hatten ebenfalls auf der Südseite große Fenster mit Schiebetüren, hinaus auf die Terrasse. In den Schlafzimmern gab es außerdem jeweils einen kleinen Schreibtisch mit komfortablem Schwingstuhl.

Der Wohnraum maß wohl 25 Quadratmeter … die gemütlichen Sitzgelegenheiten waren hier ein zweisitziges Sofa und ein Sessel, ebenfalls vor der Fensterfront gegen Süden ausgerichtet. Vervollständigt wurde die Einrichtung von einem Raum mit Toilette und Dusche, einer Kochecke und einem kleinen offenen Kamin.

•••

Eine halbe Stunde später

Joh deutete auf die Sitzplätze und sagte noch einmal »Willkommen!«

In großer Selbstverständlichkeit nahmen Alex und Eva Platz in dem offenen Halbkreis, bedienten sich bei Kaffee, Tee und Gebäck … und schauten hinaus in die Weite: im Tal nur wenige Häuser und Hütten sichtbar, eingefasst von weit geschwungenen Hügeln mit Schneeresten, dahinter hohe schneebedeckte Berge, alles überstrahlt von einer weichen März-Sonne.

Und schon in den ersten Minuten war alles ein wenig anders, schien aus der Zeit gefallen … waren übliche Begrüßungs-Floskeln nicht notwendig. Es fühlte sich natürlich an, minutenlang nicht zu sprechen … nur zu schauen, zu genießen …

Eva dachte: „Merkwürdig: Ein Schweigen, das gar kein Schweigen ist … eine eigenartige Lebendigkeit, die keine weiteren Worte braucht.“

Schließlich fragte Joh: »Wieviel Zeit habt ihr mitgebracht?«

Eva lachte: »Viel! Als ich Alex fragte, sagte er: „Ich habe in den nächsten Jahren nichts Bestimmtes vor.“«

Joh lachte: »Prima! Das ist eine gute Basis!«

Und er fügte hinzu: »Es könnte durchaus sein, dass wir eine ganze Weile hier zusammenbleiben müssen. Also „müssen“ deshalb, weil – so wie ich das sehe – in den nächsten Tagen ein Lockdown in Kraft treten könnte … eine Ausgangs-Sperre für Tage oder sogar Wochen!«

Alex: »Ja, haben wir vorher im Autoradio gehört, ein Lockdown ist wahrscheinlich.«

Eva: »Ich mag mir gar nicht vorstellen, was das bedeutet. In Italien werden zurzeit Geschäfte, Fabriken, Kirchen und Museen geschlossen und es gibt massive Ausgangsbeschränkungen. Unglaublich! Meint ihr, das machen die hier ebenfalls? Das macht mir Angst.«

Joh: »Gewisse Befürchtungen habe ich schon auch, denn wir wissen nicht, was jetzt alles geschehen wird. Aber andererseits gibt es einen positiven Aspekt …«

Eva fragte: »Wie meinst du das?«

Joh zögerte: »Darf ich die Antwort im Moment mal zurückstellen. Ich denke, dass es sinnvoll ist, wenn wir zunächst unser „Agreement“ besprechen. Da wir ja nun wahrscheinlich längere Zeit gut miteinander auskommen wollen, schlage ich einige Regeln vor.