Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nach dem Tod ihres Mannes zieht die depressive zweiundfünfzigjährige Marion Wobrich von Norddeutschland in eine niedersächsische Kleinstadt des Harzes. Doch anstatt die ersehnte Ruhe genießen zu können, fühlt sie sich in dem Haus am Waldrand beobachtet und von einem mysteriösen Anrufer in Angst und Schrecken versetzt. Zeitgleich ereignen sich in ihrem unmittelbaren Umfeld schreckliche Vorfälle, die sie an den Rand des Wahnsinns treiben. Wenn Psychoterror dein Leben bestimmt und du niemandem mehr vertrauen kannst, gibt es kaum Möglichkeiten dieser Hölle zu entrinnen. Entweder lässt du dich auf das gefährliche Spiel ein, oder aber bringst dich selber um.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Der
Anrufer
Psychothriller
von
Renate Gatzemeier
Copy-Right Text: Renate Gatzemeier
Am Mönchberg 17 A 37115 Duderstadt
Copy-Right Bilder: Renate Gatzemeier
E-Mail: [email protected]
Telefon: 01754290513 Homepage:
http://autorinrenategatzemeier.jimdo.com/
Die Personen und die Handlung sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit ist rein zufällig und nicht gewollt.
Liebe Leser,
ich habe meine Leidenschaft zum Schreiben erst mit 59 Jahren entdeckt. Seitdem nutze ich jede freie Minute, um meine vielen Ideen zu Papier zu bringen. Zunächst waren es nur kleine Geschichten aus dem alltäglichen Leben, aber mittlerweile habe ich mein Lieblings-Genre gefunden und schreibe in erster LinieThriller.
Für meinen Heimatort Fuhrbach ist inzwischen auch das bezaubernde Märchen „Bebike“ entstanden, dass man beim Fuhrbacher Fan-Shop käuflich erwerben kann unter …
http://td-dud.de/produkt-kategorie/fuhrbach/
Die Autorin Renate Gatzemeier wurde am 30. April 1951 in Herzberg am Harz geboren. Seit Anfang der achtziger Jahre lebt sie mit ihrem Ehemann im beschaulichen Ferienort Fuhrbach,
der einen Ortsteil der mittelalterlichen Kleinstadt Duderstadtdarstellt.
Ihre eBooks sind bei allen üblichen Buchhändlern soforterhältlich.
Die Taschenbücher hingegen müssen oftmals erst bestellt werden.
Der Krach in der Wohnung über Marion nahm stetig zu. Er war kaum noch auszuhalten. Aus dem anfänglichen Schaben war ein heftiges Poltern geworden. So, als würde jemand Möbel rücken. Obwohl sie sich bereits Ohrenstöpsel in die Ohren gepfropft und das Kissen über den Kopf gepackt hatte, wurde der Lärm immer unerträglicher. Sie versuchte die nervenraubenden Geräusche zu ignorieren, wälzte sich im Bett hin und her, fand jedoch keine Ruhe. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und in ihrem Schädel schien ein Presslufthammer am Werk zu sein. Wütend schlug sie die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett. Diesmal nicht so leise wie vorhin. Mit den Füßen angelte sie nach ihren Hausschuhen und streifte sich eine am Stuhl hängende Strickjacke über. In der Küche setzte sie Kaffee auf
und steckte eine Zigarette in Brand. Während das koffeinhaltige Getränk röchelnd in die Kanne lief, schaltete sie an der Haustür die Außenbeleuchtung ein und warf einen Blick durch die Butzenscheiben nach draußen auf den Hof. Außer ihrem Kleinwagen war weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen. Noch während sie ihren Gedanken nachhing, klingelte das Telefon im Wohnzimmer. Hastig eilte sie dorthin. Unterwegs stolperte sie über eine Teppichkante und fiel der Länge nach zu Boden. Obwohl sie sich dabei den Kopf am Tischbein stieß, rappelte sie sich so schnell wie möglich wieder auf, um dem schrillen Ton ein jähes Ende zu bereiten. Ihre Hände zitterten und ihr Körper bebte, als sie den Hörer von der Gabelnahm.
„Ja, Hallo, wer ist da?“, flüsterte sie und presste die Muschel fest an ihr Ohr.
Doch statt des erwarteten Keuchens
war nur ein Klicken zu vernehmen, bevor ein langgezogener Ton das Ende des Anrufesankündigte.
„Neeeeeiiiiiiin! Du verfluchter Idiot!“, schrie sie. „Was bildest du dir eigentlich ein wer du bist? Du kannst doch nicht mitten in der Nacht hier anrufen und dann einfach wieder auflegen, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Wir waren doch schon ein ganzes Stück weiter. Die Zeit des Schweigens sollte endlich der Vergangenheit angehören, du gottverdammter Scheißkerl!“ Schluchzend umschloss sie mit beiden Händen den Hörer derart fest, dass die Handknöchel weiß hervortraten und sie von einem Weinkrampf geschüttelt zu Boden sank. Kleine schwarze Punkte tanzten vor ihrem geistigen Auge auf und ab. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in Armen und Beinen aus. Als es nahezu unerträglich wurde, gab sie dem Drängen ihres Körpersnach
und gestattete sich eine gnädige Auszeit.
23:50 Uhr
Marion Wobrich saß auf der Couch ihres Wohnzimmers. Die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, betrachtete sie nachdenklich das knisternde Feuer im Kamin ihrer ebenerdigen Räumlichkeiten. Ab und zu nippte sie an dem Rotweinglas das vor ihr auf dem Tisch stand. Trotz der angenehmen Raumtemperatur begann sie allmählich zu frösteln und zog die Jacke enger um dieSchultern.
Zusätzlich griff sie nach der am Fußende des Sofas liegenden Wolldecke, um sie über die Beine zu wickeln. Vor zwei Wochen erst war sie in die neue Wohnung eingezogen, die sich im Erdgeschoss eines alten Zweifamilienhauses befand. Die Zimmer über ihr wurden von dem alleinstehenden Besitzer als Zweitwohnung genutzt für den Fall,
dass er sich einmal in dieser Gegend aufhalten sollte. Es handelte sich um einen älteren Herrn, der irgendwo in Norddeutschland lebte und den sie bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Die Vermietung der Wohnung erfolgte über eine renommierte, Hamburger Immobilienkanzlei, deren Dienstälteste Maklerin ihr dieses einsam gelegene Anwesen empfohlen hatte. Das Haus befand sich etwas außerhalb von Fuhrbach, einem Ortsteil von Duderstadt. Nach dem tödlichen Verkehrsunfall ihres Ehemannes Maximilian hatte die zweiundfünfzigjährige Marion nach reiflicher Überlegung alles hinter sich gelassen und war von Hamburg ins südliche Niedersachsen gezogen. Aus Liebe zur Natur und der damit verbundenen Ruhe hatte sie sich für das Untereichsfeld entschieden, umin
dieser malerischen Umgebung noch einmal von vorn zu beginnen. Ein Wohnsitz auf dem Land war schon seit jeher ihr ganz persönlicher Traum gewesen.
Das Leben könnte trotz der Trauer um ihren Mann auch für die leidgeprüfte Marion einigermaßen angenehm sein, wäre da nicht die ständige Sorge um den geheimnisvollen Anrufer, der sie seit Freitag belästigte und der sie nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Obwohl er bislang nicht ein einziges Wort mit ihr gesprochen hatte glaubte Marion zu ahnen, dass es sich am anderen Ende der Leitung um einen Mann und keine Frau handeln musste. Sie spürte seinen stickigen Atem ganz dicht an ihrem Ohr und glaubte seine körperlichen Ausdünstungen förmlich riechen zu können. Allein der Gedanke daran, dass er sie durch die großen Fenster heimlich beobachtenkönnte,
verursachte ihr eine Gänsehaut. Womöglich schaute er sogar während der Anrufe aus dem in der Nähe gelegenen Wald mit einem Nachtsichtfernglas zu ihr herüber und weidete sich an ihrer Angst. Viel schlimmer aber noch als das war die Vorstellung, ihn hinter einem der Büsche des weitläufigen Gartens versteckt zu wissen. Zu Marions Leidwesen verfügte das Wohnzimmer mit dem integrierten Wintergarten nämlich weder über Jalousien noch über Stores. Die schweren Übergardinen hatte sie wegen des modrigen und verqualmten Geruches am vergangenen Freitag in die Reinigung gegeben, aber aufgrund des dazwischenliegenden Wochenendes würden die Vorhänge erst am Mittwoch wieder abholbereit sein. Bis dahin musste sie sich noch in Geduld üben und zusehen wie sie mit der puren Nacktheit der Fenster zurechtkam. Das Wohnzimmer warder
größte und hellste Raum der ganzen Etage. Ihn gedachte Marion während der Übergangszeit als einzigen zu beheizen, da er ihren anheimelnden und wohlfühlenden Lebensmittelpunkt darstellte. In den ersten Tagen genoss sie den Ausblick durch den Garten zum nahegelegenen Wald, der bei Tageslicht unglaublich imposant wirkte, abends jedoch durch den zunehmenden Mond, welcher durch die Baumwipfel fiel, eher gespenstisch und bedrohlich wirkte. Dennoch mochte sie die Abgeschiedenheit und die damit verbundene absolute Stille. Hin und wieder konnte sie das Blöken von Schafen oder Kühen auf den angrenzenden Weiden hören, die sich auf ihre Weise bemerkbar machen wollten. Gelegentlich eilten auch Wanderer vorüber, die sich miteinander unterhielten und von denen sie nur Wortfetzen aufnehmen konnte. Ein bisschen Abwechslung tat gut, aberdie
ersehnte Ruhe siegte letztendlich über den Wunsch nach menschlicher Nähe.
Das nächste Haus lag etwa zweihundert Meter von diesem Grundstück entfernt und wurde angeblich von einem kinderlosen Ehepaar mittleren Alters bewohnt. Der Mann und seine Frau betrieben neben ihrem eigentlichen Beruf einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb aus Freude an genau dieser Arbeit. Bei ihnen wollte Marion sich künftig die frische Milch und das Gemüse aus biologischem Anbau besorgen. Alles andere konnte sie im sechs Kilometer entfernten Duderstadt erledigen, wo sich auch ihre neue Arbeitsstelle befand. Zum Glück besaß sie einen Kleinwagen, der sie innerhalb kurzer Zeit von A nach B brachte, ohne dass sie auf den Bus angewiesen wäre. Am ZOB gab es genügend Parkplätze, wo sieihren
Wagen gegen eine geringe Gebühr abstellen konnte.
Marion schaute nervös auf die Wanduhr, deren Zeiger sich unaufhörlich vorwärtsbewegten. Das leise Ticken, welches sie bislang als beruhigend empfunden hatte, ging ihr bereits seit gestern fürchterlich auf die Nerven. Wie so einiges andere auch stammte die antike Uhr mit dem Pendel aus dem Nachlass der verstorbenen Vormieterin Luise Findler. Marion war für jedes Teil dankbar gewesen, das sie nicht kaufen musste, sondern zu einem günstigen Preis übernehmenkonnte.
Im Nachhinein ärgerte sie sich darüber, die schweren Fenstervorhänge nicht selber gewaschen zu haben, denn dann würden sie jetzt vermutlichschon
wieder an Ort und Stelle hängen. Doch diese Einsicht kam nun zu spät und ließ sich im Nachhinein nicht mehr ändern. Mittlerweile war es dreiundzwanzig Uhr fünfzig. Wenn sich der Anrufer an seinen Zeitplan der vergangenen Tage hielt, müsste er in etwa zehn Minuten von sich hören lassen. Beim ersten Mal am Freitag hatte das Telefon exakt um einundzwanzig Uhr geklingelt. Am darauffolgenden Samstag um zweiundzwanzig Uhr und am Sonntag um dreiundzwanzig Uhr. Da sich der Anrufer heute bislang noch nicht gemeldet hatte, rechnete sie diesmal um Mitternacht fest mit seinemAnruf.
Sie grübelte darüber nach was er mit der Zeitverschiebung wohl bezwecken könnte. Warum zögerte er das Telefonat tagtäglich eine Stunde hinaus? Gedachte er sie peu á peu auf eine bestimmte Uhrzeit vorzubereiten, oder wollte er sie mit den zeitlichen Abständen in Sicherheit wiegen, um
dann plötzlich zu einer völlig anderen Uhrzeit anzurufen? War es seine Absicht sie nur zu verunsichern, oder steckte etwas ganz anderes dahinter und er wollte sie in den Wahnsinn treiben? So sehr sie auch darüber nachdachte, ihr fiel keine plausible Erklärung ein.
Außer den neuen Arbeitskolleginnen kannte hier in Fuhrbach und Duderstadt doch kaum jemand eine Frau namens Marion Wobrich und schon gar nicht deren Telefonnummer die zwar im Telefonbuch stand, aber noch unter dem Namen der Vorbesitzerin Luise Findler. Im Zeitalter von Handys empfand Marion ein Festnetz im Grunde genommen als vollkommen überflüssig, zumal sie in der Regel kaum Anrufe erhielt. Dennoch wollte sie den Anschluss für Notfälle erst einmal behalten. Immerhin hatte sie ihr Handy schon des Öfteren verlegt und eserst
nach einigen Tagen durch Zufall wiedergefunden.
Mit dem festen Vorsatz, den mysteriösen Anrufer heute unbedingt zum Reden bringen zu wollen, wartete sie nahezu sehnsüchtig auf das Klingeln des Telefons. Er musste ihr endlich sagen wer er war und warum er sie belästigte. Sollte er entgegen aller Erwartungen doch noch immer nicht zu einem Gespräch bereit sein, müsste sie ihm eben eindringlich und nachhaltig zu verstehen geben, dass er mit dieser Form von Psychoterror bei ihr nichts erreichen würde, auch wenn in Wahrheit genau das Gegenteil der Fall war.
Trotzdem Marion sich auf diesen Anruf gut vorbereitet hatte, beschlich sie bei dem Gedanken daran ein ungutes Gefühl. Ihre Nervosität nahm mitjeder
weiteren verstrichenen Minute zu. Natürlich konnte sie den Telefonhörer auch einfach neben den Apparat legen und so tun, als wäre die Welt in Ordnung. Aber dann würde sie nicht erfahren wer darauf aus war sie psychisch derart unter Druck zu setzen.
Das Feuer im Kamin war allmählich heruntergebrannt und spendete kaum noch Wärme. Dadurch wurde es im Raum immer dunkler, denn neben dem wärmenden Effekt handelte es sich gleichzeitig auch noch um Marions einige Lichtquelle während der letzten Tage. Aus Furcht gesehen zu werden verzichtete sie vorübergehend auf eine zusätzliche Beleuchtung. Von Unruhe befallen rutschte sie auf dem Sofa hin und her, bevor sie sich zu einer aufrechten Sitzposition entschloss. Ihr Puls beschleunigte sich mit jeder weiteren Sekunde und ihr Blick glitt immer wieder zur Uhr. Nervös griffen
ihre Finger nach dem Glas mit dem letzten Schluck Rotwein, als das Telefon zu klingeln begann.
Erschrocken stellte sie das Rotweinglas schnell zurück auf den Couchtisch und stieß dabei vor Aufregung dermaßen unglücklich gegen die Tischkante, dass der Kelch klirrend zerbarst und der Inhalt sich auf dem cremefarbenen Tischläufer entleerte. Fassungslos starrte sie auf den blutroten Fleck der sich immer weiter ausbreitete. Das erneute Schrillen des Telefons veranlasste sie dazu, den gläsernen Stil kurzentschlossen neben dem Rest des kaputten Glasesabzulegen.
„So ein Mist, ausgerechnet jetzt muss mir das passieren“, fluchte sie laut vor sich hin und wischte die Finger hastig an dem Läufer ab, bevor sie mit zitternden Händen den Hörer von dem altertümlichen Telefon nahm, das noch über eine Schnur verfügte. Festpresste
sie ihn an die Ohrmuschel und lauschte wie gebannt den gleichmäßigen Atemgeräuschen die von einem Rasseln begleitet wurden. Es kam ihr vor, als sei eine Ewigkeit vergangen, bis sie sich selber flüsternhörte.
„Ja? … Wer ist da?“ Marions Nerven waren zum Zerreißen gespannt und ihre freie Hand suchte auf dem Tisch nach der Schachtel mit denZigaretten.
Tiefes, regelmäßiges Ein- und Ausatmen war zu hören, ganz nah an ihrem Ohr. So, als würde sich jemand in einem Tiefschlaf befinden oder gar neben ihr sitzen.
„Bitte, so sagen Sie doch endlich einmal etwas.“ Ihre Stimme klang
flehentlich. „Warum quälen Sie mich mit diesen widerlichen, unsinnigen Anrufen? Was erhoffen Sie sich davon? Was wollen Sie von mir und wer sind Sieüberhaupt?“
Es war ihr zwischenzeitlich gelungen eine Zigarette aus der Schachtel herauszuziehen. Fahrig drehte sie diese zwischen den Fingern, bis der Tabak im vorderen Bereich heraus bröselte und sich mit dem Rotwein auf dem Läufer vereinigte. Angewidert betrachtete Marion das Szenario, bevor sie einen erneuten Vorstoßwagte.
„Wenn Sie nichts zu sagen haben oder nicht mit mir reden wollen, warum rufen Sie dann eigentlich immer an?“ Entgegen ihres guten Vorsatzes ruhig und gelassen zu bleiben, spürte sie stetig wachsende Unruhe, die mit einem Zittern des gesamten Körpers einherging. Ihr Herz begann zu rasen und kleine schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen auf und ab. Sie erinnerte sich kurzfristig an ihren hohen Blutdruck und dass die Ärzte meinten, sie dürfe sich nicht unnötigaufregen.
Anstatt die Zigarette wie vorgesehen zu
rauchen, lag sie nun völlig zerknickt inmitten von Tabakkrümeln und Scherben in einer dunkelrotenTunke.
Ärgerlich wischte sie mit dem Handrücken darüber hinweg und erschrak, als sie merkte, dass sie sich dabei an den Glasfragmenten geschnitten hatte. Ein kleiner Splitter steckte in der Haut des oberen Handgelenkes und verursachte ein blutendes Rinnsal. Erstaunt registrierte sie wie das Blut langsam aber stetig vom Gelenk nach vorn über den Mittelhandknochen zwischen dem Mittelfinger und dem Zeigefinger hindurch bis auf den Tischläufer tropfte. Es kitzelte ein wenig. Der Splitter glitzerte im Schein des flackernden Feuers wie einRubin.
Das Atmen am anderen Ende der Leitung war heftiger geworden. Es glich eher einem Keuchen, einem Schnauben, als einem normalen
Atemgeräusch. Aufgewühlt hielt Marion die Luft an und presste den Hörer so fest an ihr Ohr, dass es von dem Druck zu schmerzen begann.
„Bitte sagen Sie mir doch endlich, warum Sie mich tagtäglich anrufen, aber wieso Sie nie wirklich mit mir sprechen. Was habe ich Ihnen denn getan, dass Sie so ein makabres Verhalten an den Tag legen?“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:
„Wollen Sie Geld? Wollen Sie Liebe, oder sind Sie einfach nur krank im Kopf? Sie ekeln mich an und wenn Sie nicht aufhören mich auf diese Weise zu schikanieren, dann werde ich die olizei einschalten, worauf Sie sich verlassen können!“ Wütend hatte sie den letzten Satzherausgeschrien.
Doch statt einer Antwort erhielt sie nur ein höhnisches Lachen, bevor der Unbekannte am anderen Ende der Leitung das Telefonat abrupt beendete.
Verunsichert stierte Marion die Muschel an, aus der soeben der erste andere Laut als nur ein Atemgeräusch zu vernehmen gewesen war. Auch wenn es sich lediglich um diabolisches Gelächter gehandelt hatte, ließ es ihr das Blut in den Aderngefrieren.
Gleichermaßen missmutig und nachdenklich schmiss sie den Hörer zurück auf die Gabel. Mit zitternden Fingern zündete sie sich eine weitere Zigarette an und zog gierig daran, wobei ihre Nasenflügel unaufhörlich vibrierten. Doch schon nach wenigen Zügen drückte sie den Glimmstängel im Aschenbecher vorzeitig aus. Noch aufgewühlt von dem Anruf eilte sie zur Vitrine, um sich ein neues Glas und die angebrochene Flasche Wein zu holen. Vorsichtig schenkte sie die rote Flüssigkeit ein und trank bereits im Stehen einen ordentlichen Schluck davon. Nebenbei grübelte siedarüber
nach wem aus ihrem früheren Leben wohl bekannt sein dürfte, wohin sie nach dem tragischen Unglück umgezogen war. Es gab nicht viele Menschen die darüber Bescheid wussten.
Natürlich kannte der ehemalige Hausverwalter ihre aktuelle Adresse, da er sich bereit erklärt hatte, die restlichen Möbel aus der alten Wohnung in ihrem Auftrag zu verkaufen und den Erlös an eine Stiftung für krebskranke Kinder zuüberweisen.
Auch die nette Maklerin aus ihrer alten Heimatstadt Hamburg, der sie diese behagliche Wohnung zu verdanken hatte, wusste von dem geplanten Umzug. Marion musste bei dem Gedanken an die freundliche Dame lächeln, die damals durch Zufall von ihrem Wunsch nach einer geeigneten Immobilie erfahren hatte und Marion in ihrer einstigen Apotheke direkt auf
dieses Thema ansprach. Geschäftstüchtig wie die Maklerin war, führte sie natürlich diverse Fotos des Anwesens und der Umgebung mit sich, sodass Marion regelrecht überrumpelt wurde und bereits nach kurzer Bedenkzeit zusagte.
Obwohl sie vermutlich aus der Lebensversicherung ihres verstorbenen Mannes Maximilian eine beträchtliche Summe Geldes kassieren würde, verschwendete sie vorerst keinen Gedanken daran und lebte weiterhin in bescheidenen Verhältnissen. Das Leid, welches der Tod des geliebten Gatten mit sich gebracht hatte, war sehr groß gewesen und sie konnte es nur schwer verwinden. Seither litt sie an depressiven Phasen und befand sich in psychotherapeutischerBehandlung.
Oh, dachte sie und reckte ruckartig den Hals in die Höhe. Jetzt hätte ich doch beinahe vergessen, dass natürlichauch
mein alter Hausarzt und der Psychologe über meinen Umzug Bescheid wussten.
Der Gedanke an die beiden Mediziner ließ sie hart auflachen.
Es wäre traurig, wenn die nichts Besseres zu tun hätten, als einer verschrobenen Alten wie mir per Telefon Furcht einzujagen. Nicht einen einzigen Gedanken sollte ich daran verschwenden, denn das ist völlig absurd. Somit bleiben nicht mehr allzu viele Möglichkeiten übrig. Ja, gut, beim Einwohnermeldeamt habe ich mich angemeldet und ein Konto bei der Volksbank habe ich mir auch eingerichtet, aber die jeweiligen Mitarbeiter kannte ich bis dato nicht einmal vom Hörensagen. Wenn ich diese Leute verdächtige, dann muss ich mich vor jedem anderen Menschen auch in Acht nehmen und stets das Schlimmstebefürchten.
Kopfschüttelnd blieb Marion neben dem Kamin stehen und schaute aus dem Fenster in die Finsternis. Wie erstarrt bemerkte sie rein zufällig ein dunkles Etwas durch den Garten huschen. Für einen Hund oder eine Katze zu groß, glich es eher einem Menschen in geduckter Haltung. Erschrocken drückte sie ihren Körper fest an die Wand und tastete gleichzeitig nach dem Schalter für die Außenbeleuchtung der Terrasse. Licht flammte auf und erhellte einen Teil des angrenzenden Gartens, der wie ausgestorbenwirkte.
„Gespenster“, murmelte sie leise vor sich hin. „Ich habe Halluzinationen und sehe mittlerweile schon Geister draußen herumschwirren. Lieber Gott im Himmel, lass das alles nur einen schrecklichen Albtraum sein, aus dem ich am Morgen erwache und mich des neuen Tages erfreuen kann. Ich muss die Türen und Fenster noch einmal
prüfen, ob sie auch wirklich alle verschlossen sind.“
Mit wild pochendem Herzen eilte sie im Dunklen zur Haustür und rüttelte an der Klinke.
Gott sei Dank, sie ist natürlich zu, genauso wie ich es in Erinnerunghabe.
Auch hier schaltete sie für einen Augenblick die Außenlampe ein und schielte durch die verglasten Butzenscheiben nach draußen. Außer wehenden Blättern, die der Wind durch die Gegend trieb, war weit und breit nichts Auffälliges zu entdecken.
Erleichtert atmete Marion auf. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie sogleich noch die Verriegelung der Terrassentür und der Fenster kontrollieren könnte, auch wenn diese Prozedur gleich nach ihrer Rückkehr von der Arbeit schon einmal erfolgt war.
Noch aufgewühlt von dem soeben Erlebten drehte sie den Schlüssel im Schloss der Tür zur Terrasse sicherheitshalber ein zweites Mal um. Alle Fenster außerhalb der Stube waren ordnungsgemäß geschlossen und auch die Übergardinen zugezogen. Lediglich im Wohnzimmer blieb ihr der Ausblick erhalten und einem stillen Beobachter derEinblick.
Gleich morgen werde ich eine neue Telefonnummer beantragen, dachte sie, damit diese scheußlichen Anrufe ein für alle Mal ein Ende haben. Bis dahin sollte ich besser gar nicht mehr ans Telefon gehen, um mich nicht unnötig aufzuregen. Eigentlich brauche ich doch nur den Stecker aus der Wand zu ziehen und schon kehrt Ruheein.
Vielleicht hat der Anrufer es ja auch gar nicht auf mich abgesehen, sondern will meine Vorgängerin sprechen und weiß überhaupt nicht, dass ich jetzt hier
wohne. Warum eigentlich nicht? Immerhin ist es Luise Findlers Telefonnummer die der Unbekannte gewählt hat und welche die alte Dame vermutlich seit Ewigkeiten besaß.
Natürlich, so und nicht anders muss es sein, er meint gar nicht mich, sondern sie.
Bei dem Gedanken an eine harmlose Erklärung lief es Marion gleichermaßen heiß und kalt den Rücken hinunter.
Wieso war sie bloß noch nicht eher darauf gekommen. Schließlich hatte sie sich bislang ja noch nie mit ihrem Namen gemeldet, sondern immer nur mit Ja, bitte? oder Hallo, wer ist da? Woher also sollte der Anrufer wissen wer am anderen Ende der Leitung ist? Ihr Herz raste vor Aufregung und sie nahm sich vor, dieses Missverständnis gleich beim nächsten Anruf aufzuklären. Einigermaßen besänftigt suchte sie ihr Schlafzimmer aufund
legte sich ins Bett. Von Müdigkeit übermannt ließ der erlösende Schlaf nicht lange auf sich warten.
10:30 Uhr
„Sag mal, Marion, ist mit dir alles in Ordnung?“
Sanft berührte die zweiundfünfzigjährige Matilda Kaim den Arm ihrer Arbeitskollegin und betrachtete sieprüfend.
„Ja, es ist alles gut. Mir fehlt nur ein bisschen Schlaf.“ Versonnen lächelnd warf Marion ihrer Kollegin einen kurzen Blick zu. „Ich bin zu Hause immer noch am Auspacken und Einräumen“, versuchte sie ihre Nervosität zu erklären.
„Das finde ich aber merkwürdig.“ Matilda schaute verdutzt. „Vor einer Woche hast du mir doch schon gesagt, dass du schneller als erwartet mit deinem Umzug fertig geworden bist.
Was stimmt denn nun eigentlich?“
„Du hast ja recht“, ächzte Marion. „Im Grunde genommen hatte ich ja auch bereits alles verstaut. Allerdings wurden mir noch ein paar Kartons nachgeliefert und nun bin ich am Überlegen wohin mit dem ganzen Zeug. Immerhin habe ich von der verstorbenen Frau Findler derart viel Kram übernommen, dass ich mein eigenes Geschirr gar nicht mehr unbedingt benötige.“ Die Lüge war Marion nur zögerlich über die Lippen gekommen, aber sie traute sich nicht die Wahrheit zu sagen, welches Problem sie in Wirklichkeitbedrückte.
„Wenn du magst, dann helfe ich dir gerne beim Auspacken und Unterbringen oder von mir aus auch beim Verkauf der Sachen auf dem Flohmarkt. Ich weiß schließlich wie es ist umzuziehen, denn mein letzter Wohnungswechsel ist ja auch nur eine Woche länger her als deiner.“ Während des Sprechens richtete Matildaihren
am Hinterkopf befindlichen Haarknoten, dessen blauschwarze Farbe durch den Deckenstrahler wie Lack glänzte.
„Nein danke, das ist wirklich nicht nötig“, wehrte Marion ab. „Ich
verfrachte die Kisten erst einmal in den Keller. Aber du darfst auch ohne etwas zu tun gerne mal auf ein Glas Rotwein bei mir vorbeikommen.“ Blitzartig war ihr eingefallen, dass es durchaus von Vorteil sein könnte, wenn sie abends nicht allein sein würde. Ihr war klar, dass sie auch heute noch ohne ihre sichtschützenden Übergardinen auskommen musste. Und vielleicht ließe sich Matilda sogar zu einer spontanen Übernachtungüberreden.
„Oh ja, das wäre großartig.“ Matildas Augen strahlten vor Begeisterung.
„Dann sehe ich endlich einmal deine Wohnung und kann mir ein Bild von deinem Lebensstil machen.“