Der Bachstelzenorden - Wolf Spillner - E-Book
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Der Bachstelzenorden E-Book

Wolf Spillner

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Beschreibung

Gäbe es ihn, Hannes hätte ihn verdient: den Bachstelzenorden. Und nicht nur, weil er Stapellauf, Auszeichnung und Fernsehkamera davonlief, um ein Bachstelzennest zu retten. - Eines Tages hält Gustav seine Lok vorschriftswidrig an. Seltsam, denkt er, dass die Vögel nicht nach der Seite davonfliegen, sondern immer gegen die fahrende Lok prallen und sterben. Und er beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. Wolf Spillner hatte als Junge den großen Wunsch, einen Hund zu besitzen. Der erfüllte sich schließlich, doch was dann geschah, ist ihm auch heute noch Anlass, in seinen Geschichten von Menschen und Tieren zu erzählen, von keinen besonderen Menschen und keinen exotischen Tieren, sondern solchen, denen man überall begegnen kann, schaut man nur richtig hin. LESEPROBE: Hinter dem Buschwerk blieb ich stehen. Auf dem flachen Hang gegenüber lag noch ein Hauch vom roten Abendlicht. Vor den ausgeworfenen Sandwällen hockten Wildkaninchen. Ich glaube, mir blieb der Mund offen vor Staunen, so viele waren es. Kleine und große. Die Jüngsten, gerade so groß wie meine Faust, saßen zu zweit oder dritt eng beisammen. Sie sahen wie Spielzeugtiere aus mit ihren kleinen Ohren. Die Kaninchen putzten sich, leckten sich das glatte Fell oder hoppelten langsam und behäbig den Hang hinauf und verschwanden im Blaubeerkraut. Das war eine richtige Kaninchenstadt. Und hier, mitten zwischen den Wildkaninchen sollte der Fuchs wohnen? Ihr ärgster Feind? Das wollte mir nicht einleuchten. Gewiss hatte der Fuchs den Bau nur als Unterschlupf vor Widu genutzt. Aber diese tiefen Röhren unter den Eichen - das waren keine Kaninchenlöcher! Ich stand und rätselte herum. Da klopfte es dumpf und kurz. Dum-dum-dump! Alle Kaninchen streckten sich und hoben die Ohren. Wieder klang es: Dump-Dump-Dump! Dann noch einmal, jetzt sogar ein zweifaches Klopfen. Ich sah, dass zwei starke Kaninchen mit den Hinterbeinen auf den Boden pochten. Und im nächsten Augenblick huschte die ganze Kaninchengesellschaft davon. Ihre weißen Wollschwänze blitzten, und die kleinen graubraunen Fellknäuel sausten zu ihren Röhren. Sie verschwanden darin so plötzlich, als seien sie verschluckt. Ich hatte mich nicht gerührt. Und der Wind kam von den Kaninchen auf mich zu. Sie konnten mich nicht bemerkt haben. War ein Mensch in der Nähe? Ich erstarrte: Knappe zehn Meter vor mir, wo das lichte Gebüsch aus Birkenjungwuchs und Faulbaum die Senke abgrenzte, tauchte ein spitzer Kopf ...

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Seitenzahl: 140

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Impressum

Wolf Spillner

Der Bachstelzenorden

Fünf Erzählungen

ISBN 978-3-95655-332-5 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1979 bei Der Kinderbuchverlag Berlin

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

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Falkengustav

Die E-Lok kommt erst hinter der Brücke zum Halt. Die Bremsen quietschen und pfeifen, und die Drähte über den Bügeln der Stromabnehmer schwingen und zittern. Gustav Magerbrot schiebt die Tür des Führerstandes auf, sieht nach links und nach rechts, klettert zögernd die eiserne Leiter der Lokomotive hinunter und springt auf das Schotterbett. Er starrt unentschlossen zur Brücke zurück. Er bereut schon, den Zug zum Halt gebracht zu haben. Aber er rennt doch los. Die Steine klirren und scheppern unter seinen Schuhen gegen die Schwellen.

Der Zug ist lang - offene und geschlossene Güterwagen. Schwarz glänzende Kohle ist in die Waggons geschüttet, Frachtgut in Kisten gestapelt, und auf drei Spezialwagen funkeln übereinander rote und sandfarbene Skodalimousinen. Der Lokführer hastet stolpernd auf dem Nebengleis zur Brücke. Dass kein anderer Zug kommen kann, weiß er. Und niemand wird ihn hier oben sehen, denn die Straße liegt tief unter den mächtigen Bögen der Steinbrücke im Tal. Vor den letzten Waggons wird ihm die Luft knapp. Das Ende des Zuges steht noch auf der Brücke. Wo das Geländer beginnt, dort mag es passiert sein, bei der Birke.

Gustav Magerbrot muss tief atmen, wischt die Stirn mit dem Taschentuch trocken und zieht sich die Hose hoch, die unter den Bauch gerutscht ist. Er ist klein und dick, und Hast ist ihm ein Gräuel. Er steigt die Böschung hinunter auf die Birke zu. Da stehen das Gras und die Nachtkerzen mit ihren blassen Blüten dicht und hoch, noch feucht vom Tau der Nacht. Er versinkt bis zum Gürtel darin. Hastig sucht er im nassen Grün. Es duftet scharf und streng - ganz fremd für ihn. Er ist mit der trockenen Wärme seiner Lok vertraut und dem leisen Hauch von Maschinenöl. In seinem Führerstand ist es immer peinlich sauber. Er ist sehr genau, und er hält den Fahrplan ein. Monat für Monat hängt sein Bild auf der Tafel der Besten vor dem Bahnhof.

Was bin ich bloß für ein Narr, denkt Gustav Magerbrot. Der Gegenzug muss warten - das gibt Ärger! Aber ist er schon mal losgelaufen, will er jetzt auch weitersuchen. Hier an der Birke muss es doch gewesen sein. Er schiebt das Gras zur Seite und biegt die Zweige der niedrigen Büsche hoch.

Da sieht er ihn.

Er lebt noch!

Seine Augen sind dunkel und rund wie glänzende Tollkirschen und voller Angst.

Hastig greift Gustav Magerbrot zu, zieht aber die Hand sofort wieder zurück. Der Vogel da unter der Birke hat sich auf den Rücken geworfen. Er kickert mit gellender Stimme und schlägt mit gelben, dolchbewehrten Füßen nach seiner Hand.

So ein Teufel, denkt Gustav Magerbrot, zieht die Jacke aus, wirft sie über den Vogel und klemmt sich den Wehrlosen unter den Arm. Er zappelt noch, als er mit ihm auf den Bahnkörper zurückkriecht. Doch er beruhigt sich und rührt sich nicht mehr, als der Lokführer den Zug entlang zu seiner Maschine hastet und pustend die Leiter zum Führerstand hochklettert.

Gustav Magerbrot schiebt die Tür sorgfältig zu, kniet sich auf den Boden und nimmt die Jacke vorsichtig auseinander. Der Vogel sitzt zusammengekauert da. Ein Flügel hängt schräg zur Seite hinunter. Der Schnabel ist krumm und an seiner Wurzel gelb wie Kerzenwachs. Das Gefieder sieht wie Zimt aus.

„Kann dich doch nicht verrecken lassen“, murmelt der Lokführer zur Entschuldigung. Er macht seine alte Aktentasche auf, nimmt die Thermosflasche heraus und greift dann den Vogel rasch und behutsam, ehe er sich wehren kann. Hier in der Lokomotive wirkt er viel kleiner und zierlicher als draußen unter den Büschen. Er ist nicht mal so groß wie eine Taube. In der Tasche hat er bequem Platz, und Luft bekommt er auch genug.

Wurde Zeit, dass ich mich drum kümmere, denkt Gustav Magerbrot und setzt den Zug langsam in Bewegung. Er hat genau neuneinhalb Minuten auf der Strecke gestanden. Der Blick auf die Armbanduhr sagt es ihm. Die verlorene Zeit könnte er vielleicht wieder aufholen. Er kennt seine Strecke. Er weiß, wie er die Kurven angehen muss, versteht sich darauf, die Steigungen aus dem Schwung der Talfahrt so zu nehmen, dass die zweitausend Pferdestärken seiner E-Lok ausreichen, um die Geschwindigkeit auch am Berg noch zu halten. Ohnehin ist die Heimfahrt immer die leichtere Tour der Strecke. Die meisten Kehren zwischen den Bergen liegen hinter ihm, die beiden großen Brücken hat er passiert. Eine knappe Stunde noch, und er ist im Heimatbahnhof. Dann so schnell wie möglich nach Hause! Mit dem Vogel in der Tasche. Der hat sich wohl einen Flügel gebrochen. Ein Wunder, dass er am Leben geblieben ist. Wirklich ein Wunder!

Diese verteufelte Brücke! Immer wieder passiert es hier! Was mochten das für Vögel sein? Sie sind so schön - aber dumm!

Mächtig dumm, hat Gustav Magerbrot gedacht, als der erste Vogel gegen die Lok knallte. Das war vor einem Jahr und Gustav Magerbrot nicht mehr ganz neu auf der Strecke. Die Streckenkenntnis hatte er schon seit dem Herbst. Dreimal war er damals die Tour mitgefahren. Das ist Vorschrift. Sein Lehrer für die Strecke war der Heinert Willi. Ein Fuchs. Der kannte die Tücken zwischen den Bergen noch aus der Zeit, als an elektrische Lokomotiven kaum zu denken war. Er hatte als Heizer Kohlen in den Feuerschlund geschippt und war dreißig Jahre lang auf diesen Schienen unterwegs. Viele Worte machte er nicht. Aber genau das war es, was Gustav Magerbrot gefiel. „Pass uff, nimm e bischel weg - nu gib widder zu!“ Das spuckte der Heinert so nebenbei zwischen seinen Zahnstummeln heraus, kniff die Augen zusammen, schob die Mütze in die Stirn, wenn die Sonne über den Bergrücken blendete, und wies mit hornigem Mittelfinger auf die Vorsignale.

Als sie die Strecke das zweite Mal hinter sich brachten, da hatte er genickt. „Mit dir wird’sch wasch“, hatte er genuschelt. Das war schon ein großes Lob vom Heinert, der einem genau auf die Finger sah. Der fühlte wohl mit dem ganzen Körper, mager und sehnig hinter dem Steuerpult, ob einer die Lok verstand, mit ihr umgehen konnte und das rechte Gespür für Kraft und Geschwindigkeit hatte. Gustav Magerbrot hatte es, er war kein Anfänger mehr. Aber jede neue Strecke ist für den Lokführer erst einmal ein Buch mit sieben Siegeln. Auch wenn es ein Streckenbuch gibt. Da muss jedes Signal gelesen werden, und jeden Baum an den Kurven muss man kennen und wissen, was die nächsten Meter hinter der Biegung bringen, die man noch nicht sehen kann.

Das war im Herbst. Die Wälder an den Bergen brannten im Feuer ihres Laubes, und dunkel standen die Fichten wie ernste Männer zwischen den lodernden Ahornen und rotgoldenen Buchen. Blattherzen von den Birken trieben im Fahrtwind am Zug vorüber, als Gustav Magerbrot allein fahren durfte. Er hatte schon viele Strecken gesehen, war mit der Schnellzuglok auf großen Fahrten quer durch die Republik gebraust bis zur Ostsee hinauf.

Aber nirgends fand er es so schön und schwierig zugleich wie hier im Süden, wo sich die Gleise in Kurven und Bögen am Berghang entlangzogen, wo die E-Lok summend den donnernden Güterzug über die hohe Brücke der Flöha schleppte. Im Tal standen die Häuser wie Spielzeugschachteln mit blauen Schieferdächern, und das Flüsschen blitzte wie klares Silber aus seinem Uferkranz der Weiden und Wiesen.

Das war eine Strecke, auf der Gustav Magerbrot dreißig Jahre fahren wollte wie der Heinert Willi, der seinen Ruhestand Jahr für Jahr vor sich hergeschoben hatte, weil er nicht los konnte von ihr.

Der Winter kam hart und schnell. Im Schnee, im Sturm, im gleißenden Frost der Wintersonne war die Strecke nicht weniger schön. Aber da zeigte sie erst, was an Tücke und Schwierigkeit in ihr steckte. Zweimal blieb Gustav mit seinem Zug auf der Strecke, bis die Schneefräsen das Gleis wieder frei gefressen hatten. „Das gehört dazu“, sagte Gustav Magerbrot, als Paul ihn fragte, ob er denn nicht Angst gehabt hätte. Paul, klein und schwarzhaarig, dick und flink, wollte jede Fahrt genau erzählt haben. Aber Vater Gustav erzählte nicht viel. „Wart’s ab, Magerbrötchen“, sagte er, „setzt dich auf die Hosen und lern, kannst auch Lokführer werden!“

Da war der Paul in der vierten Klasse.

Im April passierte es zum ersten Mal. Auf dem Geländer der Flöhabrücke saßen die Vögel.

Alles ging blitzschnell, und ehe es Gustav Magerbrot richtig wahrgenommen hatte, war es schon vorbei. Die Hände auf dem Steuerpult, starrte er für Sekundenbruchteile auf den zimtfarbenen Rücken und die federstiebenden Flügel des Vogels, der vor der Scheibe hing und seitlich unter der Lok verschwand.

An diesen ersten Aufprall musste er immer wieder denken. Die Vögel waren schön. Aber so dumm! Warum flogen sie nicht zur Seite fort? Das war schon unheimlich - bis zum Mai schlugen sich auf der Brücke fünf Vögel an der Lokomotive zu Tode. Dann waren sie plötzlich verschwunden.Nur selten noch erspähte er einen der Vögel über dem Tal. Sie schienen jetzt niedriger zu fliegen, und er dachte, dass es kleine Raubvögel sein müssten. Acht Wochen lang passierte nichts mehr, und der Lokführer Gustav Magerbrot hatte die Brückenvögel fast wieder vergessen. Wenn sie ihm einfielen, dann glaubte er, es müsse Zufall gewesen sein.

Aber es war kein Zufall. In der ersten Juliwoche flogen wieder Vögel gegen die Lok. Sieben wurden es sogar!

Er fuhr seine Lok und grübelte. Der Heinert Willi hatte ihm die Strecke erklärt. Er hatte ihm die Stelle gewiesen, wo im Frühjahr durch die Schmelzwasser mit Steinschlag zu rechnen war an den steilen Hängen. Er hatte vor den Schneewehen gewarnt, die sich hinter den Böschungen aufwarfen, wenn der Sturm die Schneezäune umfegte. Von den Vögeln an der Brücke kein Wort! Sicher, sie brachten keine Gefahr für die Lok und den Zug. Aber es war doch scheußlich, die Vögel zu töten.

Der Heinert Willi klaubte in seinem Garten die letzten Erdbeeren auf, als Gustav Magerbrot ihn besuchte. „Ja, freilich - dasch isch immer scho geweschen“, nuschelte er. „Da schind scho kleine Habischte, die haben ihre Neschter in den Löchern da. Die Schungen schitschen auf dem Geländer. Muscht dir nischt bei denken, die schind immer da. Kanschte nischt machen!“ Er hielt ihm das Körbchen mit Erdbeeren hin: „Für deine Frau und dasch Paulschen!“

Gustav Magerbrot nahm die Erdbeeren und dankte. Zufrieden war er nicht.

Er ärgerte sich. Was gingen ihn eigentlich die Vögel an? Sie werden immer in die Lokomotiven geflogen sein. Der Heinert musste es ja wissen. Aber jedes Mal, wenn sich die Lok um den Felsen herumschwang und die Brücke über dem Flöhatal vor ihm lag, zuckte er zusammen, sah die Vögel von den Geländern fliegen und bangte vor dem nächsten Zusammenprall. Langsamer konnte er die Brücke nicht befahren. Die Lok hatte es ohnehin schwer genug, die nächste Steigung zu nehmen. Und wohin käme man, wollte jeder Lokführer fahren, wie er wollte - nur weil da ein paar dumme Vögel flogen? Der nächste könnte kommen und um die Blumen barmen, die der Fahrtwind wegreißt! Darum kann sich ein Lokführer nicht kümmern. Für ihn ist Technik wichtig, aber kein Vogel. Sonst sollte er nicht Lokführer werden. Er soll pünktlich fahren und seine Maschine pflegen, dass sie ohne Reparaturen auskommt. Dazu braucht er keine Gefühle und dumme Gedanken.

Aber mach einer was gegen die Gedanken und das Gefühl!

Er schüttelt den Kopf, der Lokführer Magerbrot - angehalten hat er! Auf freier Strecke! Ohne triftigen, amtlichen Grund! Es sind immer noch sieben Minuten, die er aufholen muss - und nur, weil so ein dummer Vogel noch halb mit dem Leben davongekommen ist. Er ist ein ganzes Stück neben der Lok hergeflogen. Knappe sechzig Stundenkilometer, das Dusseltier. Statt abzuschwenken, kommt er vor die Lok, prallt an die Scheibe und stürzt nach rechts hinter der Brücke den Damm hinunter ins Gras unter die Birke.

Nun sitzt der Vogel in der Tasche. Na, der Paul wird aber Augen machen, denkt Gustav Magerbrot. So ’n Vogel ist doch was anderes als ein Wellensittich. Einen krummen Schnabel hat er allerdings auch. Zum Tierarzt wird man müssen. Der Flügel ist bestimmt hin. Und Futter? Der Heinert Willi meinte, das wären Habichte. Die fressen doch Fleisch! Darum soll sich das Paulchen kümmern!

Der Gegenzug wartet schon hinter der nächsten Blockstelle. Der Schrankenwärter tippt mit der Hand an den Mützenschirm, als Gustav Magerbrot vorüberdonnert. Aus der stehenden Lokomotive hebt der Lokführer vier Finger. Vier Minuten Verspätung noch! Die wird er nicht mehr aufholen. Der Vogel hat den Fahrplan über den Haufen geworfen.

„War was?“, fragt der Einsatzleiter auf dem verrußten Bahnhof.

Gustav Magerbrot schüttelt den Kopf und klemmt seine Tasche unter den Arm. „Schlechter Tag heute“, knurrt er, „ich fühle mich nicht gut!“ Da sagt er nichts Falsches. Der Einsatzleiter sieht ihn an, wie er da steht, mit kleinen Schweißperlen über der Nase und den braunen Augen.

,,Du bist doch nicht krank, Gustav?“

„Nein, nein - übermorgen geht’s wieder. Hab ja erst mal Freischicht!“ Er macht, dass er wegkommt.

In der Straßenbahn hält Gustav Magerbrot die Tasche fest auf den Knien. Die Bahn ist voll, die Menschen drängen und stoßen sich, aber er denkt, dass alle nur auf seine Tasche starren. Er hat noch immer ein schlechtes Gewissen. Er fühlt sich wirklich nicht gut. Wenn er nur wüsste, was das eigentlich für ein Vieh ist, das er da nach Hause bringt.

„Oi, ein Turmfalke“, ruft Paul, als sein Vater die Tasche auf dem Küchentisch öffnet. „Wo hast du den her?“

„Ist gegen die Lok geflogen.“

„Und da hast du angehalten?“ Paul staunt seinen Vater an.

„Ja“, brummelt er, „hat vier Minuten gekostet!“

„Mann, Vater!“

Frau Magerbrot steht mit ängstlichem Gesicht hinter Paul und sieht sich misstrauisch den Vogel an. Der sitzt still auf dem Tisch und lässt den linken Flügel hängen. „Wenn der nun unsere Küken frisst?“

„Aber Mama!“ Paul dreht sich um, und der Falke macht einen Klecks auf den Tisch. „Turmfalken fressen doch keine Küken - die fangen Mäuse! Nur Mäuse! Die sind unheimlich nützlich!“

„Woher hast du deine Weisheit“, staunt Gustav Magerbrot.

„Na, vom alten Seemann, ich meine von Herrn Seemann, unserem Biolehrer!“

„Dann frag ihn mal, wie wir ihn füttern sollen.“

Paul grinst. „Wen?“

„Den Lehrer natürlich nicht, du Schlaukopf! Den Falken hier!“

„Dürfen wir ihn denn behalten?“

Frau Magerbrot schüttelt den Kopf.

Gustav Magerbrot zuckt die Schultern. „Ich dachte! Der kann sich doch allein nicht helfen, oder? Aber Mäuse, wo sollen wir Mäuse hernehmen?“ Er sieht hilflos aus.

„Wir setzen ihn in die leere Karnickelbucht, und dann fahre ich zum Seemann und frage ihn. Der weiß das!“

„Zu Herrn Seemann, Paul-Heinrich! Merk dir das endlich mal!“

„Ja, Mutter!“ Paul greift sich den Falken und trägt ihn durch den Garten zum Kaninchenstall. Der Vogel schickert leise vor sich hin. Sehr scheu ist er nicht. Er springt auf den Holzklotz, den Paul in den Kaninchenstall legt. Paul findet den Vogel sehr schön. Was für starke Krallen er hat! Da möchte man keine Maus sein.

Er macht die Tür vom Kaninchenstall sorgfältig zu und fährt zur Siedlung. Im letzten Haus wohnt der alte Seemann. Alle sagen alter Seemann. Ist doch nichts Schlimmes bei! Alt ist er, weiße Haare hat er und Seemann heißt er - Seemann ist er nie gewesen. Immer Lehrer. Der ist in Ordnung! Der weiß auch, dass sie ihn alten Seemann nennen. Soll Mutter sich bloß nicht so haben!

„Ein Turmfalke?“, fragt Lehrer Seemann erstaunt. Er klopft sich die Erde von der Hose, hält sich dann die Hand aufs Kreuz und stöhnt. „Das verflixte Unkraut!“ Er steht mitten im Möhrenbeet. „Da möchte ich gleich mitkommen, aber du siehst ja - mehr Unkraut als Möhren!“

Paul überlegt. „Kann ich nicht weitermachen, Herr Seemann, und Sie sehen sich mal den Vogel an? Mutter hat schon Angst, der könnte unsere Küken fressen. Kann er das?“

„Nein, das kann er nicht“, Lehrer Seemann schmunzelt. „Schönen Dank für dein Angebot - komm, wir fahren zusammen!“

Dann stehen sie vor dem Kaninchenstall. „Ein junger Turmfalke, tatsächlich“, sagt der Lehrer, „woher haben Sie ihn?“

„Von der Flöhabrücke - ist gegen die Lok geflogen“, antwortet Gustav Magerbrot. Er zieht die Stirn in Falten. Mehr möchte er nicht sagen, aber der Lehrer fragt: „Gibt’s da noch mehr?“ „Eine ganze Menge! Aber wenn es so weitergeht, dann gibt es bald keine mehr!“

„Das verstehe ich nicht, Herr Magerbrot!“

„Sie sitzen auf den Brückengeländern. Wenn ich um die Kurve auf die Brücke komme, fliegen sie los. Immer geradeaus, immer vor dem Zug her. Und dann knallt es! Wieder einer weniger! Jetzt um diese Zeit ist es ganz schlimm. Das sind wohl die Jungen, die noch nicht so schnell fliegen können. Wenn die Viecher doch nach rechts oder links wegfliegen würden, aber nein, immer vor der Lok her!“

„Könnt ihr nicht langsam auf die Brücke fahren?“, fragt Paul.

„Nein!“ Das sagt Gustav Magerbrot kurz und knapp. Man kann nicht weiter fragen.

Der Lehrer überlegt. Er fährt dem Falken vorsichtig über den runden Kopf und streicht den Flügel zur Seite. Der Falke springt vom Holzklotz und kickert. Hell und scharf klingt die Stimme durch den Garten. „Der Flügel ist gebrochen - ich meine, der Vogel sollte in den Tierpark kommen. Vielleicht ist er noch zu retten!“, sagt der Lehrer.

„Och“, macht Paul, „der ist so schön!“

„Eben deshalb, Paul. Da hat er bessere Pflege als hier. Vielleicht kann er dann wieder fliegen und freigelassen werden. Findest du das nicht schöner?“

„Das stimmt schon“, gibt Paul zu, „aber wenn er wieder an die Brücke fliegt, was denn dann?“

„Ja, da liegt der Hase im Pfeffer - nicht nur für ihn!“

Lehrer Seemann sieht Gustav Magerbrot fragend an. „Ist Ihnen das schon öfter passiert?“

Pauls Vater nickt. „Ich fahre ja die Strecke noch nicht lange. Anderthalb Jahre erst. Aber es hat schon zwölfmal geknallt!“

„Und wie viel Züge fahren dort?“

Gustav Magerbrot hebt die Schultern. „Genau weiß ich das nicht, aber hundert werden es wohl sein pro Tag - die Nacht natürlich mitgerechnet.“

„Und was könnte man machen?“, fragt der Lehrer. Er hat ein bestürztes Gesicht, ganz ratlos sieht er aus.

„Da kann man sich vorstellen, dass viel mehr Falken umkommen, nicht wahr?“