Taube Klara oder Zufälle gibt es nicht - Wolf Spillner - E-Book
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Taube Klara oder Zufälle gibt es nicht E-Book

Wolf Spillner

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Beschreibung

So kannte Hannes seine Mutter noch nicht: Opas Lieblingstaube Klara hing tot in ihrer Hand. Sicher, resolut war Mutter schon immer, der Kapitän zu Hause, obwohl doch Vater auf großen Schiffen zur See fuhr. Aber Mutter war auch verständnisvoll, lieb und vor allem: hilfsbereit. Nicht einen Augenblick hatte sie gezögert, mit dem Schlitten in der Weihnachtsnacht durch Kälte und Schnee zu ziehen, um den hilflosen Nachbarn Pinkau zu holen, dem andere die Hilfe verweigerten. Doch Klara töten? Omas einzige Gefährtin nach Opas Tod? Gewiss, Mutter hatte sich vor ihr geekelt, vor dem Taubendreck in der Küche, sie fürchtete um Omas Gesundheit und würde Oma am liebsten mit nach Berlin nehmen. - Zwei Weihnachtstage zu Besuch am Jammerfeld - Hannes wird sie nie vergessen. Das Buch erschien 1987 bei: Der Kinderbuchverlag Berlin. Es wurde in acht Sprachen übersetzt und 1991 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 132

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Impressum

Wolf Spillner

Taube Klara oder Zufälle gibt es nicht

ISBN 978-3-86394-118-5 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1987 bei Der Kinderbuchverlag Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2011 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com

Taube Klara

Die Landschaft ist grau und dreckig grün. Die Bäume stehen kahl wie Besen auf den platten Feldern. Wir sind schon über die Elbe gefahren, über die lange Brücke. Schnee gibt es hier nicht mehr. Vielleicht hat es zu Hause in Berlin nicht geschneit. Liegt ja mehr im Süden. Hier im Zug ist es ganz schön warm.

In Groß Proseken gab es noch etwas Schnee. Aber als wir in dem Bus-Wartehaus standen, pingelte schon Regen auf dem Blechdach. Omas Ziehwagen wurde total nass, und ich dachte daran, wie Oma den Wagen allein durch den nassen Schnee zurück zum Jammerfeld ziehen musste. In diesem Dreckwetter. Ich habe gefroren.

Oma band sich ihr Tuch fester und schob sich den Hut unter dem Tuch weiter nach vorn. Ihr Gesicht war noch kleiner als vorher und ihre Augen sehr hell, wie Wasser. Da hat sie es noch mal gesagt.

"Du machst mir bisschen angst, Karin", sagte Oma.

Mutter schob die Schultern nach vorn zusammen. Nicht nur wegen der kalten Nässe. Sie wollte es nicht hören, und ich wünschte sehr, dass der Bus endlich um die Kurve kommen sollte, hinter der Kirche hervor, über die holprige Dorfstraße.

"Der Willi hat eine gute Frau in dir", sagte Oma, "bist auch ein gutes Mädchen. Aber wirst ja gemerkt haben, es möcht besser sein, wenn ich nicht komme!"

Mutter schüttelte nur den Kopf. Ich weiß, sie hat Oma genau verstanden. Dann rollte der Bus heran, und Mutter hat unseren Koffer aufgehoben. Antworten konnte sie nicht mehr.

Mir saß wieder so ein dicker Kloß im Hals. "Oma", habe ich gesagt, "Oma!" Mehr konnte ich nicht.

"Ist ja schon gut, Jungche, ist ja gut!"

Oma nahm mich in ihre Arme. Richtig gedrückt hat sie mich, und ich fühlte ihre spitze Nase an meiner Backe.

"Nun mach schon, Hannes", rief Mutter, und der Busfahrer drückte auf seine Hupe. Der Motor lief sehr laut. Ich konnte kaum verstehen, was Oma sagte. Ich nahm die Skier, die standen noch im Wartehaus.

"Komm auch wirklich wieder, Hannes", sagte Oma. "Und deine Mutter auch!"

Dann fuhren wir los, und ich konnte sie nur noch undeutlich sehen. Die Scheiben waren so bespritzt vom nassen Straßendreck. Oma blieb als dunkler Fleck vor der Wartebude, der sich winkend bewegte, bis der Bus in die Kurve ging. Genau da musste ich plötzlich denken, dass sie ganz und gar weg sein könnte. So wie Opa. Ich will aber nicht denken, dass sie weg ist.

Der Zug schaukelt. Er stuckert, und die Räder tuckern auf den Schienenstößen. Mutter schläft. Sie hat sich in die Ecke gekuschelt, den Mantel halb über sich. Ihr Kopf schaukelt an der Lehne hin und her. Sie sieht richtig lieb aus, wenn sie schläft. Wie auf Befehl kann sie schlafen. Das hat sie sich beigebracht, und das braucht sie auch, wenn sie Nachtdienst hat im Krankenhaus. Aber sie kann auch auf einen Schlag wieder wach sein, und dann ist sie voll da, ohne lange zu blinzeln. Augen auf, und es geht weiter. Mit der Arbeit oder was gerade so anliegt. Willenssache, sagt sie, reine Willenssache.

Über dem Koffer wackeln meine Skier hin und her. Wenn sie runterfallen, knallen sie uns und den anderen Leuten genau auf die Beine. Aber sie fallen nicht. Mutter hat ihre Tasche davorgeklemmt. Kann gar nichts passieren.

Mutter ist perfekt, sagt Vater. Ob er das immer gut findet, weiß ich nicht, denn wenn er von See kommt, ist sie der Käptn zu Hause. Sie ist immer der Käptn, und sie weiß, was Sache ist, egal, was anliegt. Für Oma wollte sie's auch wissen. Und Oma sagt: Du machst mir bisschen angst!

In meinem Campingbeutel steckt der Vogel aus Holz. Eine Taube ist das nicht. Er hat keine roten Augen wie Klara, und Klara ist tot, und Oma weiß das. Wie es dazu kam, weiß ich noch immer nicht. Vielleicht wollte Mutter Klara gar nicht totmachen. Kann ja sein, dass es Zufall war.

Zufälle gibt es nicht, sagt Vater. Alles hat Ursachen! Kein Schiff läuft aus Zufall auf Grund. Wer seinen Kahn auf Grund setzt, der hat nicht aufgepasst. Oder der weiß zuwenig. Und dann, peng, passiert es. Wenn der Hund nicht, dann hätt er den Hasen gehabt, sagt Vater. Wenn der Hund nicht gekackt hätte! Aber solche Sprüche will Mutter nicht hören. Das gehört sich nicht! Also hält sich Vater zurück. Er grient nur ein bisschen und sagt: Wenn der Hund nicht...

Ich weiß genau, was Vater denkt, und Mutter natürlich auch. Es kann schon ausreichen, dass sie sauer ist. Kommt ganz drauf an, wie ihr Dienst war. Was alles passiert ist im Krankenhaus.

Zufall oder nicht - Klara ist tot. Liegt im Müllcontainer am Jammerfeld. Nichts mit weggeflogen oder Habicht! Das kann man Oma nicht erzählen.

Mutter, Mutter! Ich versuche schon wieder, mir vorzustellen, was sie sich so gedacht hat. Wie sie mit der Taube über den Hof kam. Das vergesse ich nicht, und sie soll es auch nicht vergessen. Deshalb habe ich meinen Holzvogel mitgenommen. Ohne rote Augen.

Mutter schläft, und ihr Kopf schaukelt an der Lehne hin und her.

Der Zug ist voll. Auf dem Gang stehen eine Menge Leute mit ihren Koffern. Mutter kann das nicht passieren. Sie hat schon lange vorher Platzkarten bestellt. Da habe ich noch nicht an Weihnachten gedacht. Aber wir haben jetzt Fensterplätze!

Wenn es so voll ist, fahre ich nicht gerne. Dann haben alle nur schlechte Laune, wenn man mal den Gang lang zur Toilette muss. Dabei könnte es gut sein, so mit anderen Leuten im Abteil. Da kann man was lernen. Manchmal ist viel dummes Gequatsche dabei, aber oft ist es auch interessant oder sogar spannend. Ich höre gerne zu. Doch jetzt erzählt keiner was.

Das Mädchen in der Ecke an der Tür strickt. Das wird ein Pullover, hellblau. Ihre Hände sind ganz fix. In der anderen Ecke sitzt ein Mann mit einem Rätselheft. Manchmal pult er mit seinem Kugelschreiber im Ohr. Dann weiß er wohl nicht weiter. Wenn er den Kuli verkehrt rum ins Ohr stecken würde, hätte er schon blaue Flecken. Das passiert aber nicht. Er peilt nur über seine Brille im Abteil umher. Dann wackelt er ein bisschen mit dem Kopf und macht weiter. Kreuzworträtsel sind doof.

Zwischen Mutter und dem Strickmädchen sitzen eine alte Frau und ein alter Mann. Ganz so alt wie Oma sind sie nicht, aber nicht weit davon ab. Der Mann hat weiße Haare. Opa hatte keine weißen Haare. Mehr so wie diese schweren Pferde, schwarz und weiß gestichelt. Schwarzschimmel heißen die, hat Opa gesagt.

Schwarze Schimmel! In der Schule darf man nicht mal weißer Schimmel sagen. Das ist doppelt gemoppelt, meint Fräulein Kruse. Sie hat auch ein Fremdwort dafür. Tautologie! Die Kruse hat keinen Durchblick bei Pferden. Ich auch nicht. Das weiß ich nur von Opa, dass es verschiedene Schimmel gibt, Rotschimmel und Grauschimmel und Apfelschimmel und auch Schwarzschimmel. Weißer Schimmel, das ist kein bisschen doppelt gemoppelt! Und Opa, der hatte echt Schwarzschimmelhaare. Oma hat weiße Haare, dünne weiße Haare mit ein bisschen Gelb drin. Oma ist überhaupt ganz dünn.

Die alte Frau auf der Bank gegenüber ist gar nicht dünn. Ihr Mann auch nicht. Das ist bestimmt ihr Mann. Er hat ein breites Gesicht und kurze rote Finger. Ihre Hand liegt auf seinem Arm. Sie sehen zum Fenster raus. Die Frau tickt auf seine Finger. Dann hebt sie den Arm und zeigt nach draußen. "Nu gugge mal, Albert", sagt sie, "da sinn Rähe uff'm Fälde!" Ich sehe die Rehe auch. Sie grasen wie eine Herde Ziegen auf dem Acker. Acht, nein, neun sind es, und da sind sie auch verschwunden hinter dem grauen Fenster. Der Zug ist ganz schön schnell.

"Das ist aber was", sagt der Mann neben mir. Er ist noch jung und hat lange Haare. Sie hängen ihm auf die Schultern. Er dreht sich zu seinem Kumpel. Der ist kleiner als er und grinst. Die beiden haben eine Flasche zwischen sich stehen. Der Große mit den langen Haaren greift danach und nimmt einen Schluck. Die beiden trinken aus der Flasche mit dem blauen Etikett, seit wir in Schwerin abgefahren sind. Sie machen sich ziemlich breit, die beiden, und der mit den langen Haaren drückt mich in die Ecke. Die Haare sollte er sich mal waschen. Er riecht nicht gut. Wie Pinkau. Der stank auch nach Schnaps. Aber Pinkau ist anders.

Wenn ich die beiden Alten ansehe, muss ich an Oma denken. An Opa auch. Und an Pinkau! An Pinkau, weil es nach Schnaps stinkt. Dabei haben die doch gar nichts miteinander zu tun, dieser Langhaarige und die beiden Alten und Oma und Pinkau. Aber es ist so, und ich sehe zu Mutter hin. Ihr Mantel ist zur Seite gerutscht. Sie hat den Mund ein bisschen offen. Sie sieht ganz jung aus, wie sie so schläft.

Ohne Bier ist das Scheiße", sagt der Langhaarige.

Sein Kumpel ruckt mit dem Kopf in Fahrtrichtung. "Ich kann ja mal zur Mitropa!"

"Du bist total beknackt", sagt der Langhaarige, "wie willste da durchkommen? Ist doch viel zu voll. Nee, lass mal!" Er setzt die Flasche wieder an, und der Schnaps gluckert. "Ääää", macht er dann und wischt sich mit der flachen Hand über den Mund.

Die alte Frau verzieht das Gesicht. Ich kapier auch nicht, wie man Schnaps trinken kann, wenn er gar nicht schmeckt!

Pinkau trinkt, weil er Kummer hat, sagt Oma. Aber wenn er so säuft wie gestern, davon kommt seine Frau auch nicht wieder. Die kommt überhaupt nicht wieder. Mutter meint, das geht mich nichts an. Da habe ich nichts mitzureden. Ich sage ja auch nichts mehr. Ich denke nur, was ich will. Aber das stimmt auch nicht. Eigentlich will ich gar nicht darüber nachdenken. Und doch kommt es so, und angefangen hat es schon vorgestern, als wir zu Oma hingefahren sind, am Tag vor Weihnachten.

Der Bus war voll wie der Zug jetzt. Noch voller vielleicht! Vor dem Bahnhof warteten so viele Leute, dass ich Angst hatte, wir würden nie mitkommen. Als der Bus um die Ecke zur Haltestelle fuhr, fingen alle an zu schieben und zu drängeln. Ich war gleich zwischen den Leuten eingekeilt, und Mutter, die blieb mit dem Koffer ganz hinten. Ich wurde bis zur Tür geschoben, und als ich mich in den Bus quetschte, waren alle Plätze schon besetzt. Die Erwachsenen hatten Fahrscheine und wohl auch Zeitkarten, aber ich hatte nichts.

"Wo willst denn du hin?", fragte der Fahrer mich ruppig.

Ich versuchte, Mutter in dem Gewühle zu sehen, aber das war unmöglich. Sie war immer noch draußen mit dem Koffer und unseren Fahrscheinen.

"Nach Groß Proseken", sagte ich. "Meine Mutter kommt noch!"

"Warum hast du keinen Fahrschein?" knurrte der Fahrer.

"Hat meine Mutter!"

"Na, hoffentlich kommt sie noch mit", sagte er, und da schoben die anderen mich schon weiter, und ich wusste ehrlich nicht, ob Mutter mit im Bus war. Wir fuhren aus der Stadt raus, erst auf der großen Straße und dann auf der Chaussee, auf der noch genauso viel Schlaglöcher waren wie im Sommer. Der Bus stampfte und schlingerte ganz scheußlich. Von den Reifen pfiff der nasse Dreck hoch und schlug über die Scheiben. Ich konnte kaum die dicken Kastanienbäume und später die Apfelallee erkennen. Die Bäume standen am Straßenrand, schräg vom Westwind, der da immer bläst. Der Motor heulte, und ich hielt mich in den Kurven an einer Sitzlehne fest. Nötig war das eigentlich nicht, denn umkippen konnte keiner. Ich wippte auf den Zehenspitzen und versuchte, Mutters blaues Kopftuch irgendwo zu sehen. Aber da war nichts. Vielleicht in Ventschenow oder in Klein Proseken, da würde ich mehr sehen. Dort stiegen die meisten Leute schon aus.

Ich machte mir keinen Kopp. Von der Haltestelle in Groß Proseken über die Straße nach Damshagen und dann rechts zum Jammerfeld konnte ich allemal auch allein finden. Ich kannte mich doch aus seit dem letzten Sommer! Und außerdem, wenn Mutter was wollte, dann wollte sie das, und sie musste einfach im Bus sein!

Der Bus schaukelte ekelhaft, und ich versuchte, die Stöße von den Schlaglöchern abzufedern. Ich stellte mir vor, wie Vater an seinem Diesel auf dem Schiff arbeiten muss, wenn richtig Seegang ist. Dagegen ist so ein Schaukelbus natürlich nur ein Klacks. Aber ich weiß genau, dass ich kein Maschinist auf See werden könnte. Mir wird schon vom Busfahren schlecht. Vater denkt anders darüber. Er versucht mir die Seefahrt schmackhaft zu machen, und er sagt auch, es gibt gar nicht so wenig Seeleute, die immer wieder seekrank werden. Nee, ich bin wohl nicht gut für ein Schiff!

Als der Bus plötzlich bremste, flog ich nach vorn und gegen einen Mann, der sich an der Haltestange unter der Busdecke festhielt. Er drehte sich schwerfällig um, weil es doch so eng war.

"He, was soll 'n das", knurrte er. Aus seinem roten Gesicht starrten mich wässrige Augen an. Das Gesicht kannte ich, aber es war auch fremd. Der Mann beugte sich zu mir runter, und ein süßlich scharfer Geruch, so ein Dunst von Schnaps, kam mir entgegen.

"Hannes", grunzte der Mann, "na, auch mal wieder hier? Lange her, was? Oma besuchen?"

Ich war erschrocken. Es war hässlich, dass der Mann so stank und so schleppend redete. Als hätte er eine ganz dicke Zunge. Ich kannte ihn. Aber ich kannte ihn anders. Das war Pinkau! Der Nachbar von Oma und Opa. Er hattefür Harald und mich die Reuse gebaut und im Augraben mit uns aufgestellt. Opa hatte die Weidenbügel gemacht. Aber Opa war ja nicht mehr. Pinkau war nur noch Omas Nachbar.

Pinkau voll von Schnaps! Und genau damit fing alles an, in dem schlingernden, stoßenden Bus, auf der Straße, noch vor Klein Proseken.

"Zu Oma willste?" Pinkau stieß mit einer Hand gegen mich. Mit der anderen hielt er sich an der Stange fest. Er schaukelte hin und her, und seine Hand mit dem ausgestreckten Finger kreiste und tanzte vor meinem Gesicht.

"Deine Oma ha", sagte Pinkau mit schwerer Zunge. Er holte richtig tief Luft und beugte sich noch tiefer zu mir hinunter. "Deine Omma!" Seine Stimme war schon sehr laut. Sie übertönte den Motor und das Dröhnen der Räder. "Deine Omma, deine Omma Wachtoweit, die hat einen Vogel!" Seine Hand fuhr ruckweise auf und nieder. "Haste schon gewusst?"

Was ist denn mit dem los, dachte ich, der spinnt doch!

"Hat sie, jawoll, hat sie!" Er nickte so, dass die Fellmütze auf seinem Kopf wackelte. "Einen Vogel, wirst das sehen!"

"Halt die Klappe, Pinkau!" Eine dicke Frau, die neben uns auf der Sitzbank Pakete und Beutel auf dem Schoß hielt, drehte ihren Kopf zu ihm hin. "Du stehst wohl wieder unter Strom, was?"

Die Frau hatte ich schon mal irgendwo in Groß Proseken gesehen. Aber ich wusste nicht, wer sie war. Ein breites Gesicht mit roten Backen. Ihr Kopftuch war nass.

Pinkau kniff die Augen zusammen. Er schluckte, und sein Kehlkopf fuhr ruckend im Hals hoch und wieder runter. Dann stieß seine Hand auf die Frau zu.

"Hat sie aber, Berta, hat sie ehrlich, jawoll! Finde ich gut, jawoll, finde ich gut von der Omma!"

Die Leute, die vor uns saßen, drehten die Köpfe. Auch die Frau, die neben der Dicken mit dem Kopftuch saß, wandte sich zu ihm hin.

"Pinkau, du Saufnase, gib endlich Ruhe!" Ihre Stimme klang hoch und keifend.

Die Männer, die hinter Pinkau standen, grinsten. Er ließ seinen ausgestreckten Arm absacken und winkte mühsam und schlenkernd mit der Hand ab. So gut es eben ging, drehte er sich von den Frauen weg. Ich konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, nur seine roten Ohren über dem hochgeklappten Mantelkragen.

So ein Quatsch, dachte ich, was redet der bloß für einen Quatsch! Ich versuchte, hinter den verdreckten Fenstern etwas zu erkennen. Da hoben und senkten sich die Felder nass und schwarzbraun. Gegen die Scheiben schlug der Regen, und manchmal kam ein kleiner schmutzigweißer Fleck auf das Glas. Es wurden immer mehr von diesen Flecken, die sich im Fahrtwind wieder zu Wasser verwandelten. Schneeflocken! Ich hatte mir so doll Schnee gewünscht, und Mutter hatte in Berlin schon gesagt: Pass mal auf, wenn wir in Proseken sind, dann schneit es! Die Wetterkarte im Fernsehen sah auch für Schnee günstig aus.

Weihnachten und Schnee, das war gut! Aber ob ich Skier bekommen würde? Die hatte ich mir schon letztes Jahr gewünscht. Ich bin zwar in der Schule besser geworden, aber große Hoffnung konnte ich auch diesmal nicht haben. Und wie sollten die Skier auch nach Groß Proseken kommen? Dass man sie schicken kann, daran dachte ich nicht. Eigentlich dachte ich immerzu nur über den Quatsch nach, den Pinkau geredet hatte. Ich konnte nicht begreifen, warum er vor all den Leuten so einen Blödsinn über Oma loslassen musste!

Als der Bus in Ventschenow anhielt, stiegen schon eine Menge Leute aus. Pinkau schob sich gleich auf den ersten freien Platz. Sein Kopf sackte ihm auf die Brust, und er schlief. Hinter dem Fahrer entdeckte ich Mutters blaues Tuch, und in Klein Proseken konnte ich nach vorn.

Mutter war froh, als ich zu ihr kam.