Der Bademeister - Katharina Hacker - E-Book

Der Bademeister E-Book

Katharina Hacker

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Beschreibung

Berlin, Prenzlauer Berg. Ein Schwimmbad ist geschlossen worden, aber durch die Gänge streift ruhelos noch immer ein Mann, der dort sein ganzes Berufsleben verbracht hat: Hugo, der ehemalige Bademeister. Von einem Tag auf den anderen arbeitslos geworden, kann er nicht begreifen, dass nun alles zu Ende sein soll. Nach und nach fügen sich Hugos Erinnerungen zu einem Bild – von sich, seinem Vater und der Geschichte des Bades, das im Nationalsozialismus zu Zwecken benutzt wurde, über die niemand zu sprechen wagte. Ein großer Monolog von beklemmender Intensität.

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Katharina Hacker

Der Bademeister

Roman

Fischer e-books

Tiere kommen auf den Zuruf ihres Namens.

Ganz wie Menschen.

Ludwig Wittgenstein

I

Ich bin der Bademeister, ich habe nie viel gesprochen. Das Schwimmbad ist geschlossen. Seit Wochen steht das Gebäude leer.

Einsturzgefahr! Vor der Schwimmhalle steht ein Schild. Einsturzgefahr! Betreten der Schwimmhalle verboten!

Ein Placken Putz ist aus der Wand gebrochen.

Der Hausmeister hat nicht lange gezögert. Rasch war die Bauaufsicht verständigt, um die Statik der Schwimmhalle und des Schwimmbeckens zu untersuchen. Die Zuständigen haben gleich gesehen, dass der Verfall unaufhaltbar ist, das Becken sich gesenkt hat.

Ich habe nie viel gesprochen, aber in allem, was das Schwimmbad angeht, kenne ich mich besser aus als jeder andere. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht.

 

Sie dürfen sich vom derzeitigen Zustand des Schwimmbads nicht täuschen lassen.

Der beginnende Verfall sollte die Schließung rechtfertigen. Da man die Entscheidung im Herbst getroffen hat, unmittelbar vor dem Winter, ist der Verfall rasch vorangeschritten. Ein Gebäude, das nicht beheizt wird, fängt Feuchtigkeit, und bisher unversehrte Wände beginnen zu schimmeln. Hätte ich nicht in den vergangenen drei Wochen die Öfen geheizt, wären womöglich die Rohre, in denen noch immer Wasser steht, eingefroren und geplatzt. Die Überschwemmung würde sich erst in der Schwimmhalle und dann im Keller ausbreiten und die Heizanlagen zerstören. Das Wasser würde bis auf die Straße laufen. Die Folgen einer Überschwemmung sind unabsehbar.

Ich bin dafür verantwortlich, dass keiner ertrinkt. Das tiefe Becken und der Nichtschwimmerbereich müssen deutlich getrennt sein.

Ein Placken Putz war oberhalb der Kacheln aus der Wand herausgebrochen, der Zustand des Gebäudes und die Statik des Schwimmbeckens mussten untersucht werden. Die Ergebnisse dieser Untersuchung anzuzweifeln, maße ich mir nicht an. Als Bademeister ist man für die Sicherheit der Badegäste und für die Qualität des Wassers zuständig. Ich möchte mich nicht beklagen, dass man es mir unmöglich machte, das Wasser in gutem Zustand zu halten. Die gefallenen Entscheidungen konnte ich nicht abwenden, und ich selbst habe das Wasser abgelassen.

Ich habe nie viel gesprochen, keiner durfte das erwarten, aber was notwendig war, habe ich laut und deutlich gesagt: Achtung Nichtschwimmer! An seiner tiefsten Stelle ist das Becken drei Meter tief.

 

Dem unbeteiligten Auge mag das Volks- und Schwimmbad wie ein altes oder sogar veraltetes Gebäude erscheinen. Es ist fast hundert Jahre alt, Anfang des Jahrhunderts wurde es eröffnet, und in den ersten Jahren lag die Zahl der Benutzer bei dreitausend Badegästen in der Woche. Die Heizanlagen wurden vor fünfzehn Jahren erneuert, und obwohl die Öfen noch bis heute mit Kohle beheizt werden, waren die Luft- und Wassertemperaturen immer angenehm. Nur Böswilligkeit wird behaupten, das Schwimmbad sei heruntergekommen. Mängel, die ich nicht abstreiten möchte, werden durch die Besonderheiten der Architektur und der Ausstattung aufgewogen.

Ich gehe davon aus, dass Sie von solcher Böswilligkeit frei sind. Ich habe nie viel gesprochen und mir während meines Berufslebens die strengste Zurückhaltung auferlegt. Aber es ist notwendig geworden, diese Zurückhaltung zu durchbrechen. Seit Wochen kümmert sich, wie ich bezeugen kann, niemand um die Belange des Schwimmbads. Ich habe Gründe, anzunehmen, dass Sie mich hören und werde Ihnen den Zustand des Bads schildern. Wenn ich mich auch un-rechtmäßig hier aufhalte, können Sie doch an meiner Kompetenz nicht zweifeln. Ich bin der Bademeister, mein ganzes Leben habe ich hier verbracht.

 

Man hat verschiedentlich versucht, mich zu verleumden. Das ist ungerecht. Ich habe nie viel gesprochen, und wenn ich die Angewohnheit habe, mit mir selbst zu sprechen, geht das niemanden etwas an. Keiner ist ertrunken. Wochen habe ich damit zugebracht, schweigend in der Schwimmhalle zu sitzen und das Wasserbecken zu betrachten. Eine dünne Schicht Staub bedeckt die Kacheln, schwärzlicher Staub, in dem meine Schritte Abdrücke hinterlassen haben. Vom Rand sieht man deutlich, wo ich die Treppen hinuntergegangen bin und weiter, durch den Nichtschwimmerbereich und durchs ganze Becken. Die länglichen, türkisen Kacheln sind versetzt angeordnet; unter dem Wasser erzeugte ihre absichtlich ungleichmäßige Färbung den Eindruck eines natürlichen Gewässers. Der Staub erstickt jetzt die Farben, dämpft sie zu einem stumpfen Grau, das durch meine Fußabdrücke unterbrochen wird. Seit fast hundert Jahren gibt es dieses Schwimmbecken, die Fliesen hatten all die Jahre unbeschadet überstanden. Das Material, mit dem sie verfugt sind, hält dem Wasser stand, aber Luft und Staub zerstören es, und die Fliesen lösen sich, klappern, wenn man darübergeht, und zerspringen. Sie müssen alle diese Einzelheiten kennen. Wenn nicht bald etwas geschieht, ist der Verfall unaufhaltsam.

 

Heute früh ist ein zweiter Placken Putz aus der Wand gebrochen. Ich habe das Geräusch gehört. Als es – vor Wochen – zum ersten Mal geschah, war ich gerade einen Augenblick hinausgegangen, der Hausmeister allein in der Halle. An einen Zufall glaube ich nicht mehr.

Erst gab es einen Aufprall, danach spritzte etwas auseinander. Das Geräusch klang nicht viel anders, als wenn ein großer, flacher Gegenstand ins Wasser fällt. Aber das Schwimmbecken ist leer.

Als ich an die betreffende Stelle lief, sah ich aus den Augenwinkeln wieder Bewegungen oben auf der Galerie. Ich weiß nicht, was das bedeutet, doch es gehen hier seltsame Dinge vor. Mein ganzes Leben habe ich alles im Auge behalten und darauf geachtet, dass keiner ertrinkt. Jetzt huschen dort oben, und manchmal auch am Beckenrand, Gestalten hin und her, als wären die Badegäste zurückgekehrt. Mir ist das nicht recht, denn wenn ich rufe, antwortet keiner. Auf der Galerie sitzen sie, auf den Holzbänken mit den hohen Lehnen und beugen sich erwartungsvoll über die Brüstung, als wollten sie mich beobachten. Das Licht in der Halle ist schwach. Ich wage nicht, die Beleuchtung einzuschalten, und die Glasbausteine des Lichtbogens an der Rückseite sind verschmutzt, so wie die Milchglasscheiben im Heizungskeller. Selbst am Tag wird es nicht mehr hell. Der Erdboden unter dem Schwimmbad gibt nach, und das Becken sinkt allmählich tiefer.

 

Die statischen Untersuchungen haben das ergeben, deswegen musste ich das Wasser ablassen. Ohne Widerrede habe ich es getan, obwohl die Beauftragten, die kamen, um die Statik zu prüfen, lange im Büro der Verwalterin Frau Karpfe blieben und nur einen Blick in die Schwimmhalle warfen. Ich kenne die Halle seit fast vierzig Jahren und habe nichts bemerkt, was man mit bloßem Auge bemerken könnte. Noch immer glaube ich nicht, dass sich das Becken abgesenkt hatte. Erst in letzter Zeit macht sich eine Veränderung bemerkbar. Das Gebäude senkt sich mit dem Erdboden.

 

Es würden Irrtümer und Unregelmäßigkeiten von allein ans Licht kommen, glaubte ich. Aber die Jahre sind vergangen, und es wurde kein Bademeister eingestellt. Ich wollte nie Bademeister sein, ich hatte andere Pläne. Bis ein neuer Bademeister gefunden sei, müsste ich bleiben, ließ man mich wissen. In all den Jahren sagte ich nichts dazu.

Ich habe Gründe, anzunehmen, dass Sie mich hören.

Als ich heute das Geräusch hörte, begriff ich gleich, was es hervorgerufen hatte, und ich lief hin, sah den Placken Putz und Farbe, groß wie zwei Köpfe, und in der Mauer über dem Pfeiler klaffte ein Loch. Gerade oberhalb eines der Pfeiler, wie beim ersten Mal, da, wo die Wand nicht gefliest ist, wo ein kleiner Vorsprung den Pfeiler vom Bogen absetzt. Ich erinnerte mich daran, dass der Hausmeister damals den Dreck hinausgetragen hatte, obwohl er sonst mit seinen eigenen Händen nie etwas anrührte und immer mich oder eine der Putzfrauen rief, wenn eine Verschmutzung zu beseitigen war. Für einen Augenblick war ich nicht in der Halle, sondern im Heizungskeller, um Klaus ein Handtuch zu geben, das ein Badegast vergessen hatte, denn im Keller befindet sich der Schrank für Fundsachen. Während ich wartete, bis Klaus seine Hände vom Kohlenstaub gereinigt hatte, schaute ich auf seine zwei Aquarien und sah, dass in dem größeren nur noch sechs Fische hin und her schwammen. Ich habe gestern einen gegessen, sagte Klaus, der meinen Blick bemerkte, und grinste. Nur schade, dass es keine Karpfen sind. Er hat die Verwalterin Frau Karpfe und den Hausmeister nie leiden können. Spitzel sind sie alle beide, ich sage dir, sie haben noch immer Wanzen hier versteckt. Sie sitzen im Büro und hören sich an, was in der Schwimmhalle geredet wird, du solltest besser aufpassen.

Aber ich hatte nie etwas zu verbergen. Warum sollten sie das tun? antwortete ich Klaus jedes Mal. Doch jetzt habe ich gesehen, dass über den Pfeilern die Wand anders gefärbt ist, als hätte sich jemand daran zu schaffen gemacht, und zweimal ist ein Placken Putz an gerade dieser Stelle herausgebrochen.

 

In jahrelanger Übung habe ich gelernt, nicht nur zu sehen, was ich in den Blick nehme, sondern auch alles, was am Rand geschieht. Man kann nicht gleichzeitig dreißig Schwimmer im Auge behalten, ein Becken, das zwanzig Meter lang ist, überblicken, wenn man nicht lernt, die unscheinbarste Bewegung an den verschwommenen Rändern des Sehfeldes wahrzunehmen. Sicher und ohne zu stolpern bin ich um das Becken herumgegangen, habe aus den Augenwinkeln sogar die Eingänge zu den Auskleidekabinen und die Galerie gesehen. Jetzt geraten mir die eigenen Füße ins Blickfeld, und das ist ein Teil der Unordnung, die um sich greift. Früher habe ich Badesandalen, selten nur die weißen Turnschuhe getragen, frühmorgens oder abends, wenn keine Schwimmer mehr im Wasser waren. Inzwischen sind sie vom Kohlenstaub im Keller grau und voller schwarzer Flecken, und am linken Schuh sitzt unterhalb des Knöchels ein Brandloch, weil ein Funke aus dem Ofen gesprungen ist. Immer wieder senke ich den Blick, laufe entlang des Streifens roter Fliesen, der vor dem Beckenrand warnt, verliere das Becken und die Galerie aus dem Blick, sehe nur undeutlich, dass sich dort etwas bewegt, aber auf meine Rufe antwortet keiner.

Seit heute Morgen umkreise ich das Schwimmbad wieder, gehe langsam von Pfeiler zu Pfeiler, unsicher, weil ich außer Übung bin. In den ersten drei Wochen nach meiner Entlassung bin ich durch die Stadt gelaufen. Ich habe wieder leise vor mich hingeredet, die Kinder haben mich ausgelacht, wie früher. Guck dir den an, der führt Selbstgespräche. Ein Selbstredner, hat ein Junge laut gerufen. Sie sind ein Stückchen hinter mir hergelaufen, und die Passanten haben mich angeschaut. Kindern muss man das nicht übelnehmen. Aber die anderen haben mich verleumdet. Der Hausmeister konnte mich nie leiden. Der hält sich für was Besseres, hat er behauptet. Ist ja verrückt, der redet mit sich selbst. Ich habe ihm nichts getan. Mit wem hätte ich denn reden sollen? Wenn ich zu seinem Kiosk komme, begrüßt Cremer mich freundlich. Guten Morgen, Hugo. Guten Abend, Hugo. Dann schweigt er oder liest mir aus einer Zeitung vor. Früher haben wir über seine Tochter Tanja gesprochen. Hast du das gelesen, fragt er mich, obwohl er weiß, dass ich keine Zeitung lese, und will mir vorlesen. Seit dem Tod meiner Mutter habe ich ihn nicht mehr gesehen. Sei doch froh, dass du entlassen bist. War höchste Zeit, dass du da wegkommst. Du kannst ja wieder Bücher lesen, sagte er, obwohl ich ihm erzählte, dass meine Mutter schon vor Jahren meine Bücher in Kisten gepackt hatte. Sie fangen nur Staub, behauptete sie, und ich selbst musste sie hinunter auf die Straße tragen. Die Warntafeln und Hinweisschilder im Schwimmbad kenne ich längst auswendig.

Ich habe jahrelang geschwiegen. Das ist jetzt vorbei. Sie hören ja, dass ich nicht verrückt bin. Seit ich auf dieses Geräusch warte, ist mir die Stille unerträglich. Sogar im Halbdunkel sieht man, wo in der Wand ein Loch klafft.

 

Drei Wochen bin ich durch die Stadt gelaufen. Es ist mein gutes Recht, hier zu sein. Wohin soll ich denn sonst?

Ich hatte den Schlüssel zum Seiteneingang. Ein schmaler, niedriger Gang führt von dort zum Heizungskeller. Ich habe ihn nie zuvor benutzt. Als ich nach Wochen die Schwimmhalle zum ersten Mal betrat, blieb ich wie angewurzelt an der Treppe stehen und starrte im Dämmerlicht aufs Schwimmbecken. Ich hörte Stimmen, Stimmen und Wasserspritzen, und sah die Badegäste einen nach dem anderen ins Wasser steigen. Sie tauchten nicht wieder auf. Erschreckt lief ich zum Beckenrand, stand da mit ausgestreckten Armen, wollte all das rufen, was ein Bademeister rufen muss, um Unglück zu verhindern, aber die Sätze klangen fremd und lächerlich. Einen Moment dachte ich, ich hätte mich getäuscht und große, hohle Plastikpuppen trieben auf der Wasserfläche, doch dann lösten sich kichernd drei Kinder von der Wand, rannten um die Wette und sprangen von der Seite, obwohl Springen von den Seiten verboten ist. Hören Sie? Jemand treibt Schabernack mit mir, um mich lächerlich zu machen. Aber ich lasse das nicht zu. Ich erinnere mich genau an alles, was vorgefallen ist.

All die Jahre habe ich Leute kommen und gehen sehen und wusste ihre Namen nicht. Ich wollte sie nicht wissen und habe das Gespräch mit ihnen nicht gesucht. Keiner ist ertrunken, mein Leben lang, und ich habe niemandem Schaden zugefügt.

Wenn es hier Mikrophone gibt, müssen sie da versteckt sein, wo die Pfeiler in die Bögen übergehen. Dort ist ein schmaler Vorsprung, der den unteren Teil mit den Kacheln von der verputzten Wand abtrennt. Die Wände sind in hellem Gelb gestrichen, das verblasst ist, aber über den Pfeilern sieht man eine Verfärbung. Sie können mich nicht zum Narren halten. Wenn ich mich mitten ins Schwimmbecken stelle und leise rede, hören Sie kein Wort. Man hat beobachtet, dass ich mit mir selber rede. Auch wenn das wahr ist, kann man es mir nicht anlasten. Es ist nicht verboten.

Mein Leben lang habe ich gearbeitet und getan, was mir aufgetragen war. Nach ein paar Jahren versteht man, worauf es ankommt. Niemand kennt das Schwimmbad so gut wie ich.

 

Klaus hat im Heizungskeller zwei Aquarien aufgestellt. Dass in ein Schwimmbad Fische gehören, dass er sich langweilt, behauptete er. Den ganzen Tag nichts als Kohlen, Staub und Gestank, zehn Stunden oder mehr, denn statt zwei Heizer einzustellen, hatte Frau Karpfe nur ihn eingestellt. Mit mir hat sie es ebenso gemacht. Ein neuer Bademeister würde den alten ersetzen, dessen Gehilfe ich war, hieß es zunächst, und später hat man mir versprochen, ein zweiter Bademeister würde sich die Arbeit mit mir teilen, denn ich war täglich vierzehn Stunden hier, von sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends. Ich habe nichts dazu gesagt. Vielleicht hat Frau Karpfe die beiden Gehälter in ihre eigene Tasche gesteckt oder mit dem Hausmeister geteilt.

Als der ihr zutrug, dass Klaus sich Fische hält, drohte sie ihm mit Kündigung, doch unternommen hat sie nichts. Sie wird gewusst haben, warum. Klaus hat auch am Wochenende und überhaupt für zwei gearbeitet. Seit er angefangen hat, im Volksbad zu arbeiten, ist er aus dem Volksbad kaum noch herausgekommen. Es war nicht recht. Die Fische hat er nicht versteckt. Nicht lange vor der Schließung ist er mit einem Eimer in die Schwimmhalle gekommen, um Wasser aus dem Becken zu schöpfen. Für meine Welse, sagte er und grinste. Die Welse kann man essen. Im Werkzeugraum hat er die Sicherheitsventile geöffnet und mit dem heißen Dampf gekocht. Ist mir doch gleich, wenn das verboten ist, hat er laut gesagt. Die Welse haben überlebt, obwohl sie wochenlang nicht gefüttert wurden. Vielleicht liegt das am Schwimmbadwasser, oder sie haben sich gegenseitig aufgefressen. Jetzt geht es ihnen schlecht. Sie schwimmen so langsam hin und her, als wären sie krank, als wüssten sie, dass alles bald vorbei ist. Sehr groß sind sie geworden, seit ich wieder hier bin, und ihre schwarzen Barthaare schleifen auf dem Grund. Wie Totenfische sehen sie aus, und wenn sie sterben sollten, wäre das ein böses Zeichen. Mit Fischen kenne ich mich nicht aus. Das ist nicht meine Schuld. Ich war nur für die Schwimmhalle zuständig, dafür, dass niemand hier ertrinkt. Die Hinweisschilder sind gut sichtbar angebracht: Vorsicht bei Benutzung der Leitern! Gesicht der Leiter zugewandt!

Springen von den Seiten verboten!

Und ich bin niemals krank gewesen, obwohl ich fast vierzig Jahre lang für zwei gearbeitet habe. Frau Karpfe und der Hausmeister können es bestätigen. Was ich tun konnte, habe ich getan. Sehen Sie sich das Schwimmbecken jetzt an eine Staubschicht bedeckt die Kacheln, die Farben sind stumpf und lösen sich auf. Nachts hört man Mäuse fiepen, und auch Ratten habe ich gesehen. Das Wasser in den Auskleidekabinen ist abgestellt, die Duschen hängen wie Metallgespenster, dürre Vogelköpfe auf Stangen aufgespießt. Verschmutzt die Kacheln, Bänke und Garderobenständer fehlen, der Raum geplündert, kahl – wie eine Schlachterei, gerade gut genug für Tierkadaver, mit Abflussrinnen für das Blut. Fauliger Geruch dringt aus den Wasserhähnen, und nachts machen sich Ratten hier zu schaffen, lauern darauf, dass auch ich fort bin und keiner sie mehr stört. Ist es das, worauf Sie warten? Auf einen Grund, das ganze Gebäude abzureißen?

Aber jetzt werde ich nicht mehr schweigen.

 

Es muss sich um einen Irrtum handeln. Das Volks- und Schwimmbad existiert seit Anfang des Jahrhunderts. An drei Seiten zieht sich die Galerie entlang. Zwei breite Bögen tragen fünf schmalere, zwischen denen die Zuschauer auf Holzbänken mit hohen Lehnen sitzen. An der Stirnseite halten steinerne Stützbalken, die mit Löwenköpfen verziert sind, die Galerie, Löwenköpfe mit drohenden Tatzen und spitzen Krallen. Hören Sie? Ich kenne das Schwimmbad genau. Einer muss über das Gebäude wachen. Die Treppengeländer zum Keller und in der Eingangshalle sind aus Schmiedeeisen. Kleine dicke Fische schmücken sie. Oben sind die Wannenbäder. Als das Bad eröffnet wurde, kamen in einer Woche dreitausend Gäste. Es muss eine Täuschung sein: ein ganzes Schwimmbad kann man nicht einfach schließen. Ich bin erst achtundfünfzig Jahre alt. Zehn Jahre könnte ich ohne weiteres noch arbeiten. Einen zweiten Bademeister müsste man nicht einstellen. Dürfte ich die großen Lampen über dem Becken einschalten, wäre alles besser. Man sieht nicht gut im Halbdunkel. Ich gehe um das Becken, als müsste ich weiter darauf Acht geben, dass keiner ertrinkt. Von den Seiten springen streng verboten! Auf der Galerie und längs des Schwimmbeckens sehe ich sie. Sie bewegen sich hastig oder stehen ganz starr, ich kann sie nicht deutlich erkennen. Auf meine Rufe antworten sie nicht. Ich habe laut gerufen, weil ich dachte, dass ich mich täusche, dass sie nicht wirklich hier sind. Aber sie tauchen immer wieder auf, bewegen sich, als wären sie krank oder frören. Ich lasse mich nicht zum Narren halten. Sie müssen antworten! Entweder sie bemerken mich nicht, oder sie tun, als könnten sie mich nicht hören. Ich spreche laut genug. Es sind die Badegäste von früher, und jetzt bereue ich, dass ich ihre Namen nicht kenne. Hören Sie? Ich heiße Hugo.

Seit dieses Geräusch sich jederzeit wiederholen kann, ertrage ich die Stille nicht. Jeder Laut bedeutet weiteren Verfall. Bald wird sich keiner mehr daran erinnern, wie es vorher war. Zwei Schilder fehlen. Die Warnungen reichen nicht aus. Ich habe nie verstanden, warum die Leute schwimmen, aber ertrunken ist mir keiner. Jetzt stünde auf einem Schild geschrieben: Achtung! Wer schwimmt, ertrinkt! Niemand könnte prüfen, ob es stimmt. Gesicht der Leiter zugewandt! Eine der Leitern fehlt, und die anderen zwei reichen nicht mehr bis an den Boden. Das Becken, die ganze Halle sinkt tiefer ein, als wäre unter der Stadt ein leerer Raum, und die Uhr ist stehen geblieben.

 

Es ist so still. Früher hallte alles von Rufen und Geplansche wider, als wäre Wasser Grund zu jubeln. Ich habe das nie verstanden. Manchmal habe ich die Temperatur um drei oder vier Grad gesenkt. Die Erwachsenen zuckten dann zusammen, schauderten und schwammen stumm, während die Kinder nichts merkten und weiter lachten, weiter schrien. Tagtäglich Lärm und das Geplansche. Nie wollte ich Bademeister werden. Jetzt ist es still, ich sehe meine eigenen Füße in Turnschuhen, das leere Becken, ein Schwimmbecken ohne Wasser, ein Bademeister ohne Schwimmbad, und das ist schlimmer als ein Ertrunkener, es ist ein Unding wie die rußbefleckten Turnschuhe, mit denen ich keinen hereingelassen hätte, und häufig stolpere ich. Genau kann ich nicht sagen, wie viel Zeit vergangen ist. Man kann sie nicht mehr messen, so langsam zieht sie sich hin, und ein Tag ist so lang, dass man ihn nicht zu Ende denken kann, ist ebenso lang wie früher Wochen. Die Zeit staut sich zu Wasser, das keinen Abfluss findet, das ganze Becken ist schon voll. Die einfachsten Unterteilungen verschwimmen, nicht einmal die Kacheln lassen sich mehr zählen, eine schwarze Schmutzschicht bedeckt sie, Staub, der stellenweise feucht geworden ist, und nur die Löwenköpfe mit ihren Fratzen sind unverändert, im Maul vielleicht ein Mikrophon versteckt, vielleicht belauscht mich einer und wartet darauf, mich zu verraten. Ängstlich horche ich zur Tür hin, ob sie aufgeschlossen wird, Schritte sich nähern, ob einer kommt und mich vertreibt. Sie müssen das verhindern. Wenn ich weg muss, ist hier niemand mehr.

 

Drei Wochen bin ich durch die Stadt gelaufen. Wie viel Zeit vergangen ist, seit ich wieder hier bin, weiß ich nicht genau. Die Zeit verschiebt sich von einer Dämmerung in eine andere, es wird nicht richtig hell und auch nicht dunkel, weil von den Straßenlampen Licht hereinfällt. Die Tage gehen ineinander über, als wären sie ein einziger Tag, die Zeit nichts weiter als Verfall, Rost, der die Rohre und Eisenstangen zerfrisst, aus der Wand gefallene Brocken, der Staub, der eine trockene Schicht bildet oder feucht wird und schmierig. Ich heize die Öfen, aber der Kohlevorrat nähert sich dem Ende, und bald kann ich nichts mehr tun, um zu verhindern, dass die Rohre einfrieren und durchbrechen. Einen Heizer gibt es nicht mehr. Klaus ist mit den anderen gegangen, die Fische hat er hier gelassen. Manchmal denke ich, es war schon immer so, das Schwimmbad verödet, das Becken leer, und in der leeren Halle nichts als meine Stimme. Im Gang, der Eingangs- und Schwimmhalle verbindet, hängt immer noch der große Spiegel, und wenn ich daran vorbeigehe, ist da nicht viel mehr als ein Schatten, ein Schatten wie andere auch, ein eingefallenes Gesicht, die Augen in ihren Höhlen eingesunken, nur die Nase sticht scharf hervor, und die verdreckten Kleider hängen lose am Körper, der sich duckt und zögert, schließlich hastig weitergeht, ein Fremder, der so die Halle nicht betreten darf. Am Anfang habe ich streng darauf geachtet, jeden Tag zu duschen und mir ein sauberes Hemd anzuziehen. Aber jetzt verlasse ich das Schwimmbad nicht mehr und habe keine saubere Kleidung zum Wechseln.

 

Als ich durch die Stadt gelaufen bin, hat es schon angefangen. Sogar Cremer hätte mich auf der Straße nicht erkannt. Mit dem Geruch beginnt es, Geruch von Müdigkeit und Angst, und bald ist es, als habe der Verfall sich in den Körper eingenistet, ein Fremdkörper zwischen anderen Passanten, zwischen den Leuten, die Grund zur Eile haben auf dem Weg zur Arbeit, auf dem Weg nach Hause, fremd zwischen all denen, die genau wissen, wohin sie gehen. Ein müder Körper, der in sich zusammensinkt, böser Geruch, in Kniehöhe der anderen zuerst, dann das Gesicht in Höhe von Mantelsäumen und Hosenbeinen, endlich in Augenhöhe mit den Schuhen, mit warmen Winterschuhen und dicken Sohlen.

An den Kleidern merkt man es zuerst. Man kann sie nicht mehr sauber halten, der Geruch haftet daran, und bald sind die Sohlen abgelaufen, die Schuhe verkratzt, weil die Füße stolpern, und die Jacke wetzt sich an den Hauswänden dünn, die Hosen wischen den Dreck von Treppenstufen und Absperrgittern, weil man sich anlehnen muss, man kann nicht ohne Unterbrechung laufen, und das Gesicht ist verquollen, als wollte es vor Scham unkenntlich werden. Es geht ganz schnell, dass Kinder einen anstarren, Erwachsene zur Seite schauen, schnell vorbeigehen, als fürchteten sie, sich anzustecken. Man zieht die Aufmerksamkeit auf sich, läuft ziellos wie in großer Eile, und sogar die Zeit verliert ihre Richtung, man läuft im Kreis, kommt immer wieder am gleichen Morgen an, läuft wieder den gleichen Weg, versucht, den Tag abzulaufen, und wieder fängt der Tag von vorne an.

Wenn ich hierher zurückkehre, wird sich alles wieder fügen, glaubte ich. Die Zeit hat ihren festen Platz, eine große Uhr hängt unter den Löwenköpfen, den Stützpfeilern, die die Tribüne halten.

War die Halle leer, hörte man ihr Ticken in der Stille. Aber jetzt ist die Uhr stehen geblieben, und statt ihres Tickens hört man nur die Ratten und Mäuse oder dass ein Placken Putz und Farbe aus der Wand bricht, am Boden zerschellt. Heute Morgen ist es passiert. Die Stille saugt sich wie ein Blutegel in den Wänden fest, und von der Zeit ist nichts mehr übrig; Geräusche des Verfalls und langsame Zerstörung. Wenn ich ein leises Rascheln höre, weiß ich nicht, ob es Mörtel ist, der aus der Wand rieselt, oder ob es die Mäuse sind. Ich habe im Heizungskeller nach Fallen und Gift gesucht, vergeblich. Im Schwimmbad gab es früher kein Ungeziefer. Verschmutzung habe ich nicht geduldet. Jetzt bin ich dagegen machtlos. Aber die Stille, die Stille muss ich nicht ertragen.

 

Ich habe die Badegäste nicht gezählt. Es waren viele, Tag für Tag, und wer etwas anderes behauptet, lügt. Nur die Wannenbäder wurden seltener benutzt als früher, weil inzwischen die meisten eine eigene Badewanne haben. Nun bleiben alle weg, als hätte dieser Ort nie existiert. Was willst du, hat Cremer mir gesagt, als er mich nach dem Tod meiner Mutter besuchte, sie gehen nicht mehr schwimmen, und wenn doch, dann tun sie es woanders. Gerade du, hat er hinzugefügt, musst das verstehen, schließlich bist du selbst nie geschwommen. Und obwohl er recht hat, begreife ich nicht, warum so viele Menschen wegbleiben, als wären sie nicht jahrelang hierher gekommen, als wären all die Jahre verschwunden in dem Augenblick, in dem ein Pappschild vor den Eingang gehängt wird: Das Schwimmbad ist geschlossen.

Du hast recht, antwortete ich. Ich wollte ihm sagen, dass nichts übrig geblieben ist, dass ich am Morgen aufwache, die Hand ausstrecke, um nach irgendetwas zu greifen, nach einem Hemd, den Schuhen, dass ich nach dem Lichtschalter taste, und die Hand bleibt leer. Ich stehe im Dunkeln auf, es kommt nicht darauf an, ich muss mich nicht beeilen. Schon morgens ist die Zeit zu lang, die Stunden bis zum Abend, die Leute auf der Straße, die eilig vorübergehen, als wäre nichts geschehen, als wüsste niemand außer mir, dass man das Schwimmbad geschlossen hat. Sie haben es geschickt eingefädelt, wollte ich Cremer sagen. Einsturzgefahr. Das Becken hat sich gesenkt. Keiner hat protestiert. Hörst du? Auch Klaus hat nichts gesagt. Bevor er ins Schwimmbad kam, war er arbeitslos, das hat er mir selbst erzählt. Was sie ihm versprochen haben, weiß ich nicht. Sie stecken alle unter einer Decke. Ich habe keinen von ihnen wiedergesehen. Klaus hat behauptet, dass der Hausmeister ein Spitzel ist. Dann hat er von einem Tag auf den anderen nicht mehr mit mir geredet. Lass ihn, der ist verrückt, haben die anderen über mich gesagt.

Sie müssen von Anfang an irgendeinen Plan verfolgt haben, erklärte ich Cremer. Das Schwimmbad ist nur der Anfang. Unfug, antwortete Cremer. Das Schwimmbad ist geschlossen. Das ist alles.

 

Ich bin durch die Straßen gegangen und habe gewartet, dass irgendeiner etwas sagt, aber niemand ist stehen geblieben. Es war ein Tag wie alle anderen, zur gleichen Zeit wie jeden Morgen habe ich das Haus verlassen, und hätte ich die richtige Richtung eingeschlagen, so wäre ich pünktlich zur Arbeit gekommen, wenn auch ohne die gehörige Kleidung, denn kein Bademeister steht in Cordhose und Hemd am Beckenrand. Doch ich ging in die entgegengesetzte Richtung, und erst gegen Abend kam ich an Cremers Kiosk. Er winkte mir verärgert zu und streckte mir die Tüte mit zwei trockenen Käsebrötchen entgegen, die er morgens für mich vorbereitet hatte. Was er damit jetzt machen solle, fragte er unwirsch, und wo ich am Morgen gewesen sei. Ich antwortete nicht und nahm die Tüte. Weiter redeten wir nichts an diesem Tag. Keiner blieb stehen und sagte: Sie sind doch der Bademeister, das Schwimmbad ist geschlossen, hören Sie, seit heute ist das Volksbad zu. Nicht einmal die Wannenbäder sind mehr in Betrieb, Cremer hatte nichts davon gehört, er dachte wohl, dass ich noch immer bei den Wannenbädern arbeitete, und Leute blieben stehen, kauften die Zeitung wie alle anderen Tage auch. Cremer winkte mir, ich solle Platz machen, weil ich vor dem kleinen Fenster seines Kiosks stand und störte. Ich nahm die Tüte, ging davon, und wäre es warm gewesen, so hätte ich mich auf eine Parkbank setzen können wie einer, der sein Abendbrot am liebsten draußen isst. Es war der erste Dezember. Den ganzen Tag war ich durch die Stadt gelaufen, war längst durchgefroren, aber es war zu früh, in die Wohnung zu gehen, vor neun Uhr abends kam ich nie zurück. Das zweite Brötchen wickelte ich in die Tüte und steckte es in die Jackentasche, das Erste aß ich im Gehen. Noch war es zu früh, sich nach Hause aufzumachen, und ins Schwimmbad konnte ich nicht. Nie habe ich auf der Straße gegessen, und ich dachte, jeder könnte mir ansehen, dass ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte. Um diese Zeit erwartete meine Mutter mich nicht zurück, sie hätte sich gewundert und mich ausgefragt. Arbeitest du nicht? Wieso bist du schon hier? Ich habe ihr nichts gesagt. Von der Schließung des Schwimmbads hat sie bis zu ihrem Tod nicht erfahren.

 

Den Fischen geht es nicht gut, und von vier Globen, die neben dem Aquarium stehen, ist ein weiterer, zweiter Globus verloschen, nachdem er schon eine Weile geflackert hat. Dass es nur der Stecker ist, hoffte ich und kontrollierte ihn, aber die Glühbirne ist kaputt. Im Heizungskeller gibt es keine Glühbirnen, nur einige Neonröhren stehen im Werkzeugraum. Der Globus hat geflackert wie zur Warnung, so wie meine Stimme früher einen Schwimmer warnte, der weiterschwamm, obwohl er längst erschöpft war, flach atmete, die Augen so angestrengt aufgerissen, als müsste er über einen See hinweg das Ufer finden. Immer habe ich rechtzeitig gesehen, wo ein Unglück geschehen kann. Nach einem letzten Flackern ist der Globus endgültig verloschen.

Draußen ist es dunkel geworden, die Straßenlaternen sind schon an, das stumpfe Dämmerlicht breitet sich im leeren Becken und über den Fliesen aus, die früher noch beim geringsten Lichtschein türkis geleuchtet haben, jetzt matt versinken, als hätte man ihnen die Farbe ausgetrieben, und die Löwenfratzen verschwinden im Schatten unter der Galerie. Wenn ich nicht sage, was hier ist, verschwindet alles, die Löwenköpfe, die Galerie, das ganze Gebäude. Nur meine Stimme ist übrig, um zu sagen, was keiner mehr sehen kann, weil das Schwimmbad geschlossen ist, der Eingang mit einer zusätzlichen Kette zugesperrt. Hören Sie? Ich habe nie viel gesprochen, jetzt muss ich alles aufzählen, so wie man mit der Hand nach einem fremden Gegenstand im Wasser hascht, schließlich den Kescher holt, um ihn gerade noch einzufangen, bevor er auf den Grund absinkt. Immer habe ich darauf geachtet, rechtzeitig herauszufischen, was ins Schwimmbad hineinfällt, bevor es sich mit Wasser vollsaugt, absinkt, sich womöglich auflöst, Schlieren absondert, dem Wasser schadet, das klar sein soll. Von der Qualität des Wassers hängt viel ab.

Jetzt ist das Becken leer. Anfangs habe ich versucht zu fegen. Aber der Staub wirbelt nur auf, und gleich hat sich wieder eine Schicht gebildet. An ein paar Stellen ist es feucht; dort haftet er als ein schwarzer Schmutzfilm, und weil das Licht so schwach ist, täuscht der Anblick. Das Becken sieht aus wie ein tiefer Schlund. Ich muss darauf achten, dass keiner hineinspringt, vom Rand oder vom Sprungbrett, denn er würde sich den Hals brechen und zu Tode kommen, ohne zu ertrinken. Ertrunken ist hier niemand, und es ist verboten, vom Beckenrand zu springen.

 

Es wäre ein großer Aufruhr. Geschrei und Hilferufe, ein Arzt, ein Krankenwagen. Auf einer Trage transportierte man den Ertrunkenen oder Beinahe-Ertrunkenen hinaus, verzweifelt liefe ich hin und her zwischen dem Toten oder in Lebensgefahr Schwebenden und dem Schwimmbecken, das nie ohne Aufsicht bleiben darf, forderte die noch schwimmenden Badegäste auf, umgehend das Becken zu verlassen, und lebenslang hätte ich mich fragen müssen, wie es geschehen konnte und warum ich es nicht verhindert habe. Immer habe ich mich bemüht, umsichtig zu sein, und es ist gelungen. Gleichmäßig, ohne Störung sind die Tage vergangen, nie musste ich laut schreien, weder zur Warnung noch um Hilfe, es hat genügt, die Stimme zu heben, allenfalls zu rufen, es hat genügt, laut und deutlich zu sprechen, um drohende Gefahr rechtzeitig abzuwenden, so dass ein Unglücksfall sich nie ereignet hat. Verstehen Sie: es hat sich nie etwas ereignet, ich habe meinen Ehrgeiz dareingelegt, dass mein Leben ereignislos verläuft, und man kann sagen, es ist gelungen.

Sie können mir nichts anhaben. Mein ganzes Leben lang war ich der Bademeister, und es ist nie etwas geschehen, die Tage sind vergangen, einer nach dem anderen, man ahnt dabei nichts Böses, ich habe mich darum bemüht, dass nichts geschieht.

Erst jetzt begreife ich, dass es umsonst war. Meine Entlas-sung hat es nicht verhindert, und ob etwas geschehen ist oder nicht, entscheiden andere. Solange keiner etwas sagt, ist auch nichts vorgefallen. Wissen Sie denn, was geschehen ist? Man hat das Schwimmbad geschlossen, erst die Schwimmhalle, dann auch die Wannenbäder. Als der letzte Liter Wasser abgelassen war, das Becken leer, die Badegäste schon drei Tage vorher vertrieben, lief ich durch die Straße auf dem Weg nach Hause und sah die Leute vorübergehen, als wäre nichts geschehen. Sie wissen es nicht, dachte ich, aber wenn sie es erfahren, werden sie dafür sorgen, dass man das Schwimmbad wieder öffnet.

Am nächsten Morgen empfing der Hausmeister mich grinsend: Viel Spaß bei den Wannenbädern.

Inzwischen bin ich endgültig entlassen, nicht einmal bei den Wannenbädern braucht man mich. Sie haben eine Regelung gefunden, sagte ich Cremer damals, als er mich fragte, was ich tun würde, nachdem das Wasser abgelassen sei. Dann ist ja alles gut, sagte er gleichgültig, und später bin ich nicht mehr beim Kiosk vorbeigegangen. Erst als ich Rat wegen meiner toten Mutter brauchte, habe ich ihm erzählt, dass ich entlassen bin.

Wenn etwas geschehen ist, muss man sich daran gewöhnen, und nicht viel später ist es schon so, als wäre nichts vorgefallen. Vor ein paar Jahren hat Cremer sich das Bein gebrochen, und seither humpelt er, weil das Bein schief zusammengewachsen ist. Keiner verliert darüber ein Wort, und man könnte denken, er sei so geboren. Es ist so, wie wenn ein Gegenstand ins Wasser fällt: eine kleine Weile sieht man auf dem Wasser Kreise, doch bald hat alles sich beruhigt, das Wasser liegt so ruhig da wie zuvor, und nur wer davon weiß, wird vielleicht einen Gegenstand auf dem Beckengrund bemerken. Und nicht einmal dann muss man ihn herausfischen, denn es genügt, zu schweigen.

 

Ich habe mich täuschen lassen. Man glaubt, dass etwas geschehen ist, aber das stimmt nicht. Wenn einer schwimmen geht, dann ertrinkt er nicht, oder aber er ertrinkt. Selbst wenn er beinahe stirbt, so ist er nicht gestorben, und alles geht seinen Gang. Wer da ist und die Gefahr sieht, schrickt zusammen, und gleich ist er wieder ruhig. Immer ist alles nach kürzester Zeit wieder ruhig. Die Leute glauben, der große Schrecken wäre, dass etwas passiert, dabei ist es umgekehrt. Selbst wenn ein Badegast ertrunken wäre, hätte sich die Ordnung bald wiederhergestellt. Es genügt, dass keiner darüber redet. Ich wäre vielleicht entlassen worden, aber schon nach ein paar Tagen hätte sich keiner mehr damit aufgehalten: ein Badegast weniger, ein neuer Bademeister, ein Kopfschütteln oder Zusammenschlagen der Hände, ein kurzer, neugieriger Glanz in den Augen, das ist alles. Die Leute bleiben trotzdem stehen, weil die Ampel auf Rot schaltet, und wenn ihnen ein Handschuh herunterfällt, bücken sie sich, um ihn aufzuheben. Wer denkt, alles habe sich verändert, täuscht sich. Die Tage vergehen einer nach dem anderen, keiner sagt etwas, und wer weiterhin behauptet, ein Unglück sei geschehen, dem bleibt die Zeit stehen, und kein Tag will ihm mehr vergehen.

 

Die Uhr ist kaputt, und ich werde nicht schweigen. Die Stille ist schrecklich, die Stunden, Tage werden immer länger, sie verlieren die Richtung wie Pferde, die mit geblendeten Augen im Kreis gehen, um Eimer aus einem Brunnen hochzuziehen. Cremer hat es mir aus einer Zeitschrift vorgelesen, als ich ihm erzählte, ich müsste das Wasser aus dem Becken ablassen. Um einen Brunnen gehen die Pferde im Kreis, um die Eimer mit Wasser heraufzuziehen, und weil sie nichts sehen, stört es sie nicht, hat Cremer erklärt und mir ein Foto gezeigt.

Blinde Pferde gehen so im Kreis, aber das Becken ist schon leer, längst ist das Wasser abgelassen. Ich selbst habe es abgelassen, drei Tage hat es gedauert, und zuerst hat man die Veränderung des Wasserspiegels nicht bemerkt, obwohl ich den Abfluss selbst geöffnet hatte, lief ich noch einmal hin, um nachzusehen, denn der Wasserstand schien gleich zu bleiben, und es war kein Laut zu hören. Das Wasser fließt lautlos ab. Die Pferde gehen immer weiter, weil sie es nicht anders kennen, und auch wenn der Brunnen leer ist, halten sie nicht an und ruhen sich nicht aus, und kein Tag unterscheidet sich vom anderen.