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Kurz nachdem Katharina Hacker für ihren Roman ›Die Habenichtse‹ im Jahr 2006 den Deutschen Buchpreis erhielt, legte sie einen Band mit Gedichten vor, aus denen intensivste Wahrnehmung spricht: ›Überlandleitung‹ enthält Prosagedichte, mit denen wir wie auf Zehenspitzen die Räume zwischen Imagination und Realität betreten, die Zeiten zwischen Gegenwart und Vergangenheit – auch sprachliches Neuland.
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Seitenzahl: 60
Katharina Hacker
Überlandleitung
Prosagedichte
FISCHER E-Books
Für Gisela und Hermann Freudenberg
über die Mauer hängen die Zweige der Weide
schnurgerade wächst im Hof der Stamm des Ginkgos
vom Fest blieben zwischen den Pflastersteinen
weiße Salzkörner von den Brezeln gerieben
während die Krümel längst Vögel aufgepickt haben
das ist der Anfang denke ich mir
wobei ich Tage schon zähle in den Herbst
in den Winter den Frühling hinein bis in den Sommer
den nächsten wenn zwischen den Steinen
wieder Salzkörner liegen
zwei Hände bilden den Flugkörper nach der
in der Luft steht sich aufschwingt
von oben aus der Perspektive des stillstehenden Vogels
fotografierte ich diesen Weg die scharfkantigen
schwarzen Steine der alten Messestraße nach Leipzig
ein gedrungener Vogel ist es der in seinem Flug
keinem Raubvogel ähnelt eher dem Wort
Wachtel ja er ähnelt einem Wort dem Namen
eines Zugvogels der fast ausgerottet ist
die Farbe platzt ab von den Augen
während der Tag überm Dach den Wind
antreibt und Geruch nach Weihrauch
aus einem Gebüsch steigt Bussardrufe
unablässig tönen und Flugzeuge aller Arten
Passanten sind hier überall promenieren
wie in der Stadt Hunde voran und
leichtes Schuhwerk an den Füßen
während die Landschaft sich vernutzt
unter den täglichen Blicken
werden die Farben von Tag zu Tag
kühner platzen ab von den Augen
unter den Nußbäumen entlang bis zum Haus das Gras
grell ausgeleuchtet von den Scheinwerfern
spätsommermatt kein Laut zu hören von den Nüssen
wie sie fallen unter den Bäumen zum Haus hin
bräunlich die Halme und das Laub auch –
im Traum nur durchs taunasse Gras spätsommermatt
und lautlos fallen die Nüsse lautlos
tragen die Eichhörnchen sie davon
für Adrienne Schneider
Schneetreiben über den flachen Hängen
hauchdünn zwischen den Gräsern den kahlgefrorenen
flach den Boden entlang
die eisigen Kristalle suchen Deckung
und Schutz in den Ausbuchtungen der Feldwege
in denen knöcheltief der Schnee
in Verwehungen zur Ruhe kommt
im Winterwind
(der Brief schon im Briefkasten in der Kälte)
sind die Sterne so deutlich lesbar als stünden sie
mit dem Rücken zur Vergangenheit
über dem Schneefeld im letzten Licht
flattert ein weißer Vogel auf der Stelle
stürzt schließlich herab.
lange behalte ich den hellsten Stern
im Auge ob er sich nicht doch
beweglich in ein Flugzeug verwandeln will
in der Nacht tauen die Ränder der Fußspuren
gefrieren morgens aufs neue
mit jedem Tag wird die Einsamkeit größer
unter den Menschen deren Fußtritte nichts
abbilden als ihre eigene Größe und die
Nachricht bleibt aus die an der Erde haftet
nicht für und nicht gegen uns zeugt
unserer nicht bedarf und nicht unserer Angst
die Überlandleitung quert Äcker und Wege
aufgesprungen hegt das Land
– Eisreste und Pfützen und faulendes Holz –
und spärlich nur Stimmen miteinander
wie Hand in Hand über die Höhe nur zwei
ein Stück weit und wieder zurück
weil’s weiter nicht geht weil’s weiter nicht trägt
unter den Überlandleitungen
fußgroß und nicht größer
aufgehellt wie ein retuschiertes foto
ein re-touchiertes in seiner verlorenen einfalt
eine gruppe menschen in sonntagskleidern
ohne hut aber in feinen schuhen
auf einem feldweg pfützen rechts und links
im winter der nachläßt vereinzelt
schneeplacken auf dem acker während
der hügel sich wölbt wie gewohnt seltsam
altmodisch dies bild einer Sonntagsgesellschaft
digital und in farbe erinnert an august sanders gesellschaft
die strommasten mit großen schritten
treten leise auf
als habe die große Reise begonnen
und zeigten die Füße himmelwärts als fliege
wie aus dem Gebüsch ein Bussard
die Zeit auf und vom Wind abgetrieben
den Hang hinauf dicht über den Sträuchern
und dann doch weiter doch leichter und höher
hinaus ins Freie
auf einem ast singend sitzt das leben
schüttelt die kälte aus dem gefieder
hält sich mit den krallen an
der losen rinde die unbeschriftet ist
abfällt nach dem winter vergeht ohne zeichen
geraten die buchstaben im frühling aufs neue
und die alten weichen die zeilen wachsen
wie die halme sich durch die erdkruste
bohren durch die verhärtung des winters
singend sitzt das leben auf einem ast
schüttelt in der letzten kälte
die flügel während unter den krallen
die neuen buchstaben nachwachsen
zeile um zeile bis das gefieder leicht
in der sonne und gewärmt im hellen licht
für christian strub
aufgegangen sind Unkraut und Saat
nahe der Mauer zwischen Vulkansteinen
wie sie auch den Weg nach Leipzig pflastern
auf den Feldern unterm weggeschmolzenen
Schnee die Mausgänge weitverzweigt
und im Gebüsch ein schwarzer Handschuh
aufgesteckt auf einem Zweig
die Strommasten zeichnen sich
triumphal in den Himmel hinauf
mit Linien weithin und
weiter die Vogelflüge im Frühling
die früchte die blüte die blütenblätter
schlehen- und apfelblüten
das behutsame des todes
und wie einem windhauch
die blüten gehorchen
der kurze Ausschnitt aus dem Zugfenster gesehen
wer da spazierenginge am Bahndamm
mit zwei Hunden
und sogleich empfunden wie dieser Spaziergang
am Bahndamm mit zwei Hunden die Zeit darstellt
Hecken gleiten davon die Landschaft läuft
wie ein Schiff in die Städte ein
die sich an Schornsteine schmiegen
die Schornsteine piksen in die Wolken
der Fluß schaut gleichmütig den Schiffen nach
am Bahnsteig bleiben Passagiere stehen
steigen nicht ein noch aus
der Sommer bricht an und die Zeit ist
ein Spaziergang zwei Hunde rennen
vorneweg und bellen am Bahndamm
aus dem Zugfenster gesehen
mit einem Mal trat über die Ufer der Windstaub
verdeckte den Himmel die Häuser und den Kanal
auch die aufgewühlten Wellen gegen die Schwäne
trieben und Bäume rissen sich von den Blättern
von den Ästen los die ein Stück über
die Wege schlitterten liegenblieben
wie nach Unfällen Autos am Straßenrand
die Böen vergällten das Licht es verblaßte
wendete sich zu Boden verlor
so sehr wir uns duckten gegen den Staub
und ausatmeten es half doch nicht
da über die Ufer der Wind trat
gegen die Augen und ins Gesicht
daß wir uns abwandten davon
die Wiesen dicht an dicht die Schafe kaum zu sehen
und Sommertag wie Sommertage früher
wie Klee Klatschmohn und Schmetterlinge
landen auf dem Weg und ducken sich und täuschen
bevor sie taumelnd weiterfliegen
für ein paar Stunden mißt sich die Zeit an der Erinnerung
und in der Leere bleibt sie stehen