Der berühmte Tiefpunkt - Amarylis De Gryse - E-Book

Der berühmte Tiefpunkt E-Book

Amarylis De Gryse

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Beschreibung

Eine junge Frau gewinnt ihren Appetit aufs Leben zurück Spätestens seit Prousts berühmter Madeleine wissen wir, dass Essen nicht nur nährt, sondern auch starke Gefühle und Erinnerungen weckt. Amarylis De Gryse erzählt von Spiegeleiern und Pastasauce, Familienproblemen und Pflegenotstand, vor allem aber von einer jungen Frau, die ihr Leben endlich selbst in die Hand nimmt. Marieke, Ende zwanzig, wohnt seit Tagen in einem Mietwagen am Kanal und trägt dieselbe viel zu warme Jeans. Das liegt daran, dass ihr Freund, der Metzger Blok, sie aus ihrem schicken Reihenhaus geworfen und eine defekte Maschine im Waschsalon ihre Sommerklamotten verschluckt hat. Statt Blok zu vermissen, träumt Marieke von den Hackbällchen ihrer Mutter und bespitzelt ihren Vater, der die Familie verlassen hat, als Marieke noch klein war. Auf der Arbeit im Altersheim wird sie mit den »hoffnungslosen Fällen« in der Gluthitze alleingelassen und mit Billigfraß abgespeist, während die anderen Senior:innen in einen klimatisierten Neubau umziehen dürfen. Als auf dem Servierwagen schon wieder Wurst und Apfelmus warten, hat Marieke es endgültig satt. Gleichzeitig rückt ihr die eigene Vergangenheit immer mehr auf die Pelle: Wie war das eigentlich damals mit der Trennung ihrer Eltern? Will sie überhaupt zu Blok zurück? Und können Pralinen alles wiedergutmachen?

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Seitenzahl: 273

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Amarylis de Gryse

Der berühmte Tiefpunkt

Roman

Aus dem Niederländischen von Ruth Löbner

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Varkensribben bei Uitgeverij Prometheus, Amsterdam.

Dieses Buch wurde mit der freundlichen Unterstützung von Flanders Literature veröffentlicht (www.flandersliterature.be).

 

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe 2023 Arche Literatur Verlag, ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich

© 2020 Amarylis De Gryse

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Isabella Caldart

Covergestaltung: Diek Design/Sarah M. Hensmann, Jemgum,

Coverabbildung: The Gods are in the Kitchen: Joan’s Devil Crab and Parsley Salad der Künstlerin © Kate Pincus-Whitney. Digitalisiert von Cary Whittier, Courtesy of Fredericks &Freiser, NY.

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03790-045-1

 

www.arche-verlag.com

www.facebook.com/ArcheVerlag

www.instagram.com/arche_verlag

Für Sofie

1

Es war irgendwie klar: Man wird aus dem Haus geworfen, wenn sich gerade die Dreckwäsche türmt. Nicht, wenn alles sauber und ordentlich gefaltet im Schrank liegt.

 

Ich bin nackt, und ein Mann klopft immer fester an mein Autofenster, ruft immer lauter: »Hallo, hallo?«, und ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Ich weiß nur, es ist Wochenende und Tag, denn die Sonne scheint rein. Nicht bloß durch die kleinen Ritzen hier und da, sondern auch direkt durch die dicken Badehandtücher, mit denen ich gestern die Fenster verhängt habe.

 

Nach wie vor das »Hallo, hallo?« und das Geklopfe, also schäle ich mich aus der Decke und durchforste das Chaos im Fußraum nach meiner Armbanduhr. Ich ertaste nur Gesternabend: die halb leere Chipstüte, die ganz leere Kekspackung, mein Handy, auf dem ich mir bis spät in die Nacht nackte Leute angeguckt habe. Nackte Leute, die sich mit Gewalt aufeinander stürzen, umeinanderwinden, Zungen, die sich unermüdlich miteinander verflechten, die saugend und leckend versuchen, einander zu fassen zu kriegen, bis der Akku meines Handys schlappgemacht hat. Und ich: lag unter dieser kleinen Fleecedecke hier, zwei Kissen fest zwischen die nackten Schenkel gepresst. Mit aller Kraft, für dieses Gefühl: das Gewicht, die Wärme eines anderen, eines zweiten Körpers. Ich habe nichts gefühlt. Dann zu den Keksen gegriffen.

 

Das kühle Metallgehäuse der Uhr küsst meinen kleinen Finger. Kurz vor sechs. Draußen wird das Klopfen hektischer, und jetzt versucht der Mann, der zu der Stimme gehört, auch noch die Tür aufzumachen, aber ich habe gestern alles verriegelt. Eigentlich dachte ich, ich hätte außer Sicht geparkt. Ich bin sogar noch kurz auf dem Treidelpfad hin- und hergelaufen, wie in den Tagen davor auch schon, von einer Seite zur anderen und wieder zurück, um sicherzugehen, dass ich im Gebüsch am Kanal gut versteckt bin. Ich angele mir meine Hose vom Boden, muss mich total verbiegen, um sie über den Po zu kriegen, und ziehe mir danach schnell das Sweatshirt über.

 

»Bist du da drin, Mädel?«, ruft die Männerstimme.

Eine flache Hand fällt aufs Autodach. Entmutigt, wie mir scheint.

Meine Stimme klingt heiser, als ich antworte, dass ich komme. Ich entriegele die Tür, und draußen steht der Fischer. Mit weit aufgerissenen Augen. Vorsichtig steige ich aus. Nicht auszudenken, wenn ich ihm auf einer Mülllawine bäuchlings vor die Füße rutschen würde! Aber nur die Kekspackung fällt raus. Ich weiß nicht, warum der Fischer jetzt so brüllt, eine Mischung aus Erleichterung und Wut: »Herr im Himmel!« Und dann: »Da liegt jemand im Wasser.«

»Wie jetzt? Tot?«

»Ja.«

Er wartet meine Reaktion nicht ab, dreht sich um und rennt Richtung Kanal. Ich folge ihm auf nackten Füßen, über den Treidelpfad, durchs taunasse Gras, und da, nicht weit vom Ufer, liegt eine Frau mit dem Gesicht nach unten im Wasser.

»Musste vier Mal die Angel auswerfen, ehe ich sie hatte«, sagt der Fischer.

Ich stelle mir vor, wie er sie einholt.

 

Zusammen warten wir auf die Polizei, und als dann ein Beamter erst einen Blick auf meine nackten Füße wirft und dann fragt, wem das Auto im Gebüsch gehört, sagt der Fischer, das wäre unseres und die Handtücher hingen da als Sonnenschutz.

»Kampieren Sie hier?«, fragt der Beamte. »Das ist nämlich verboten.«

»Natürlich nicht«, antwortet der Fischer. Er holt ein Päckchen Tabak aus einer der vielen Taschen seiner Cargohose und dreht sich geschickt eine dünne Zigarette. Seine Hände sind verwittert. Er seufzt Rauch aus und guckt dem abziehenden Beamten hinterher.

»Danke«, sage ich.

»Wird es nicht langsam mal Zeit, nach Hause zu gehen?«, fragt der Fischer, und ich antworte, dass ich arbeiten muss.

»Ich dachte im ersten Moment, das wärst du«, sagt er. Um die Augen hat er Krähenfüße. »Die Bluse, weißt du?«

Ich nicke und schweige, denn ich kann ja schlecht sagen, dass ich das auch dachte.

2

Im Auto ziehe ich meinen BH an und hänge die Handtücher ab. Inzwischen ist es fünf Tage her, dass Blok mich rausgeworfen hat. Nachdem ich den Wagen gemietet und mit meinem Zeug beladen hatte, bin ich hierhergekommen, habe meine wenigen Umzugskartons erst mal im Gras aufgereiht, mich unter einen Baum gesetzt und sie angestarrt. Ich weiß nicht, ob ich dabei an was gedacht habe. Ich glaube, ich habe bloß geguckt. Danach die Rückbank umgeklappt, eine bunte Decke im Kofferraum ausgebreitet, der jetzt mein Bett ist, und vier Kissen gegen die Heckklappe gelehnt. Drei blaue und eins mit einem Hamster in Latzhose. In dem Karton mit den Kissen waren noch zwei Kerzenständer, Kerzen und ein paar leere Bilderrahmen. Die kamen aufs Armaturenbrett. Erst musste ich lachen und dann weinen.

 

Eigentlich ist es ein Glück, dass es noch immer so warm ist hier am Kanal, und in den Wohngebieten erst recht. Nicht auszudenken, wenn dieser ganze Trümmerhaufen im Winter über mich hereingebrochen wäre! Das wäre so richtig schlimm gewesen. Wenn der Kanal zugefroren gewesen wäre. Aber vielleicht wäre dann gar nichts passiert. Wenn Schokolade nicht hätte schmelzen können.

 

Ich bin noch nicht ganz in der Innenstadt, da überfällt mich die Hitze durch die offenen Fenster. Es hätte auch ein Auto mit Klimaanlage gegeben, aber das wollten sie morgen schon zurückhaben. Ich fahre durch den Kreisverkehr, an der Grundschule und am Waschsalon Bermuda vorbei. Da sind gestern all meine Sommerkleider weggekommen. Na ja, weg ist vielleicht das falsche Wort. Ich weiß genau, wo sie sind: ganz hinten, in der vorletzten Maschine.

 

Es gibt kaum etwas Traurigeres als einen Waschsalon. Der perfekte Ort, um ungestört ’ne Runde zu flennen. Als ich gestern reinkam, saß auf einer der unbequemen Bänke ein alter Mann, weißes Unterhemd mit braunem Fleck, und starrte auf den Flachbildfernseher an der Wand. Wahrscheinlich Bratensoße, der Fleck, und ich fragte mich, warum er das Hemd nicht gleich mit in die Waschmaschine gesteckt hatte. Er sah mich an, als hätte er gehört, was ich dachte.

»Wer hier wäscht, hat Vorrang bei den Trocknern«, sagte er. Er zeigte auf ein Schild an der Wand, auf dem genau das stand.

»Weiß ich«, sagte ich. »Ich will ja auch waschen.« Ich lächelte, er nicht.

Er zog die Nase hoch, eher verächtlich als verschnupft, und starrte danach wieder auf den Fernseher: Knutschen ohne Ton. Vor der vorletzten Maschine zog ich das Knäuel muffiger Klamotten aus meinem Pappkarton, entwirrte die Unterhosen und T-Shirts und Sommerkleider und steckte alles einzeln in die Trommel. Vielleicht hätte ich die Wäsche auf zwei Maschinen verteilen sollen, aber ich hatte gerade genug Kleingeld für einmal Waschen und einmal Trocknen. Ich spürte förmlich, wie der Blick des alten Mannes sich in meinen Rücken bohrte. Wahrscheinlich hatte er die Arme missbilligend über dem dicken Bauch verschränkt, ohne dabei den Fleck zu verdecken.

»Kaum was los heute«, sagte ich laut über die Schulter, aber es kam keine Antwort, also gab ich auf, kaufte in aller Stille Waschpulver und Weichspüler am Automaten, steckte dann meine Münzen in den Waschmaschinenschlitz und stellte den Karton auf den Boden.

 

Im Supermarkt gegenüber ging ich in die Fertiggerichte-Abteilung, holte fünf Pakete Nudeln mit Käsesoße aus dem Regal und danach eine Tüte Chips und danach zwei Packungen Kekse und danach ein Glas Oliven. Vielleicht kann ich gleich noch in einem Outdoorladen Gaskocher und Topf kaufen, dachte ich. Die Frau an der Kasse nickte mir freundlich zu, und ihre Armbänder klirrten, als sie meine Nudeln über den Scanner zog.

»Keine Zeit zu kochen? Das kenn ich.« Sie lächelte erst die Nudeln an und dann mich.

»Ja«, sagte ich. Ich bemühte mich zurückzulächeln.

Lächelnd sagte sie mir, wie viel ich bezahlen musste, und als ich meine Karte wieder aus dem wild protestierenden EC-Gerät zog, lächelte sie immer noch. Zahlung nicht möglich. Klar, dachte ich. Wahrscheinlich war das gemeinsame Konto mit Blok schon in dem Moment nicht mehr gemeinsam gewesen, als ich vor fünf Tagen die Haustür hinter mir zugezogen hatte. Ich suchte nach dem Zwanziger in meiner Hosentasche. »Die Nudeln lass ich hier«, sagte ich. »Nein, ich brauche keine Tüte. Nein, ich sammle keine Punkte.«

 

Wäre die Geschichte mit dem Waschsalon so abgelaufen, wie sie sich angefühlt hat, dann hätten mich wogende, schäumende Wassermassen weggespült, kaum dass ich die Türklinke runtergedrückt hatte. Der alte Mann wäre auf die Waschmaschine geklettert, um seinen Film weiterzugucken, während der Waschsalon langsam volllief, aber so war es nicht. Die Tür meiner Maschine klemmte einfach, und der Boden war nass. Der alte Mann rief mir von seiner Bank aus zu, dass ich sie wahrscheinlich nicht richtig zugemacht und wahrscheinlich zu voll geladen hatte.

»Na dann, viel Erfolg«, rief er, und: »Zum Glück hat der Karton schon ordentlich Wasser aufgesogen.«

Erst nachdem ich mich zweimal gegen die Waschmaschine geworfen hatte, schlurfte er in meine Richtung.

»Vorsicht, glatt«, sagte ich.

»Weiß ich. Platz da.« Er schob mich zur Seite, zog zweimal kräftig an der Tür und sagte dann: »Keine Chance.«

Ich nickte.

»Zu viel reingestopft, Kindchen.« Mir kam es vor, als würde er jetzt sanfter klingen. Vielleicht hatte er Mitleid mit mir. Ich wollte sagen: Schon gut, Sie sollen keine nassen Füße kriegen, gucken Sie ruhig weiter Ihren Film, ich mach das hier schon, aber ich sagte nichts und starrte meine unerreichbaren Kleider an.

»Versuch du noch mal«, sagte er.

Und ich zog und drückte und zog. »Meine ganzen Sommersachen sind da drin.«

Die Jeans, die ich anhatte, war viel zu warm, und jetzt verstand ich, warum er sein Unterhemd nicht ausgezogen hatte: In dieser Stadt ist eine kaputte Waschmaschine noch lange kein Grund, oben ohne rumzulaufen.

»Du hast zu viel reingestopft.«

»Wollte Geld sparen.«

»Ist mir klar.«

Ich seufzte.

»Nach Feierabend kommt jemand. Kannst ja warten.«

»Bis heute Abend um elf?«

Irgendwo piepste es.

»Das ist meine.« Er schlitterte davon, zog seine Kleider aus der Waschmaschine, sagte »Viel Erfolg noch« und stiefelte zur Tür raus.

»Wollten Sie nicht noch trocknen?«, rief ich ihm nach.

»Nee, häng ich zu Hause auf, spart Geld.«

Da stand ich nun. Ich versuchte, nicht an die Bruthitze zu denken, die den Asphalt zum Schmelzen brachte, als wäre die Welt zu einem Werbespot für Softdrinks mutiert. So wie der alte Mann schlitterte jetzt auch ich durch die Wasserpfütze und setzte mich da hin, wo er gesessen hatte. Unter dem Fernseher hing ein Schild:

Waschsalon Bermuda übernimmt keine Haftung für Diebstahl

Waschsalon Bermuda übernimmt keine Haftung für Unfälle

Waschsalon Bermuda übernimmt keine Haftung für Beschädigung oder Verlust

Und darunter winzige rote Kugelschreiberbuchstaben, die unentdeckt bleiben wollten: Wenden Sie sich an Nancy, plus Telefonnummer, also wendete ich mich an Nancy.

»Ich bin im Urlaub«, sagte Nancy.

»Oh«, sagte ich. »Aber meine Kleider stecken in der Maschine …«

»Und ich stecke in Spanien, da werden die Kleider wohl warten müssen. Und im Übrigen, wir übernehmen keine Haftung für Verlust und …«

»Aber …«

»… für Unfälle auch nicht.«

»Kommt denn niemand den Waschsalon abschließen?«

»Niemand, der Waschmaschinen aufmachen kann. Das kann nur ich.«

»Und was soll ich jetzt …«

»In drei Wochen bin ich zurück.«

»Und was …«, sagte ich noch mal.

Aber die Stimme von Nancy war schon wieder in Spanien. Ich rief sie ein zweites Mal an. Sofort Mailbox.

»Nancy«, wollte ich nach dem Piepton rufen, »komm und mach meine Maschine auf, du alte Hexe!« Nur hätte mich das meinen Unterhosen und Sommerkleidern auch nicht näher gebracht. Vielleicht würde sie dann nie kommen und meine Maschine aufmachen. Ich gab mich geschlagen und sackte auf der Bank in mich zusammen, und wahrscheinlich lief derselbe Film in Endlosschleife, denn das Pärchen knutschte schon wieder, und ich fragte mich, ob das jetzt der berühmte absolute Tiefpunkt war, über den alle immer redeten, ob ich den gerade erreicht hatte, und vielleicht könnte ich ja, ohne Rücksicht auf Verluste, die Tür des Waschsalons mit dieser Bank hier verbarrikadieren, mich verschanzen, bis Nancy aus Spanien zurückkäme. Den Waschpulverautomaten leer kaufen und alle Maschinen mit meinen letzten Münzen füttern und die Türen verkanten und zugucken, wie das Wasser kommt, wie es schäumt, wie es mir zu den Knöcheln, zu den Knien, wie es mir zum Hals steigt, wie der Schaum mir in Nase und Ohren kriecht, mir die Lungen durchspült, wie ich in kristallklarem Wasser schwebe, gegen das Schaufenster klatsche, von dem sich die Buchstaben ablösen und an mir kleben bleiben, und ich würde weiter dahintreiben, bis alles weiß wäre. Ein sauberer Meister-Proper-Protest.

Blockierte Waschmaschinentür fordert ein Todesopfer, hätte die Schlagzeile gelautet. Ich hätte es tun können.

3

Immer fingen bei mir die Tage allein an. Wenn ich aufwachte, war die Wärme auf seiner Betthälfte längst verflogen. Die einzigen Beweise, dass er hier geschlafen hatte, waren das Kopfkissen, das nach ihm roch, und seine Unterhose neben dem Bett. Immer war es still. Viel stiller als am Kanal. Das Haus ließ die Welt nicht rein. An den dicken Wänden und den Doppelglasfenstern prallte alles ab. Vögel schien es nicht zu geben oder Autos oder Hunde oder Menschen. So still war es.

 

Auch an diesem Morgen stand ich allein auf, ging ins Bad am Ende des Flurs, setzte mich im Halbschlaf aufs Klo und duschte dann in aller Stille. Es war sechs Uhr morgens, Blok war also schon mindestens seit einer halben Stunde in der Metzgerei. Hackfleisch mischen. Würste abdrehen. Solche Sachen. Einen echten Grund, warum das um diese Uhrzeit passieren musste, gab es nicht.

»Würste am Nachmittag abdrehen, kann man machen«, sagte er, »aber der hart arbeitende Teil der Bevölkerung steht früh auf.«

 

Ich ging allein die kühle Steintreppe runter in die Küche und setzte mich an den Tisch. Oft standen die Auflaufreste vom Vortag noch in einer Tupperdose neben dem Kühlschrank. Ich widerstand der Versuchung, mir die geschmolzenen Käsereste in den Mund zu schieben. Diese Zeiten waren vorbei. Ich trank einen Kaffee, aß die Banane, die Blok mir auf den Tisch gelegt hatte, und merkte wieder mal, dass ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte: dass er am frühen Abend nach Hause kommen könnte, ohne Fertigmahlzeit. Dass er sagen könnte: »Heute gab es im Laden keine Reste, magst du uns schnell was zaubern?« Und dass ich dann Kartoffeln schälen würde. Fleisch schmoren mit Zwiebeln und Jus und vielleicht ein bisschen Lauch dünsten, oder Brokkoli garen und dann in Butter goldbraun anbraten. Dass er sich meine Kartoffeln auf die Gabel schieben und sagen würde, wie gut es ihm schmeckte, richtig, richtig lecker, und ich wüsste, es wäre nicht geheuchelt. Denn er würde das Essen regelrecht in sich hineinschaufeln. Nicht bloß vorsichtig darin herumstochern, nein, es sich echt genüsslich mit dem Messer auf die Gabel schieben.

Aber ich wusste, das würde nicht passieren.

 

Die ruhige Männerstimme im Radio-Frühprogramm war mir genauso vertraut wie mein einsames Kauen und der viel zu große Kühlschrank mit dem ungenutzten Eiswürfelspender, den ich immer anstarrte. Meistens brachten sie morgens aktuelle Ereignisse, hier und da mal eine kleine Reportage. Erwachsene, die als Kinder gehänselt worden waren, aber doch ihren Weg gemacht hatten, Mikroplastik, das die Hormone aus dem Gleichgewicht brachte, oder die Frage, inwieweit das Klima auf lange Sicht die Ernte gefährdete, und ich kaute müde meine Banane und konnte der Männerstimme kein Gesicht zuordnen. Vielleicht war das auch besser so. Vielleicht hätte ich ihn mir sonst an unseren schweren weißen Marmortisch fantasiert; nicht auszudenken, wenn ich mir einbilden würde, er säße echt hier und würde Nutellabrote essen und mit vollem Mund über ein Minenunglück in Kolumbien berichten, und wenn ich dann denken würde: Wow, was für ein Talent. Sogar mit vollem Mund ist seine Artikulation noch perfekt. Darum würde ich auch nie mit dem Radio sprechen. Ich hätte zu viel Angst, irgendwann eine Antwort zu erwarten.

 

Als ich aus dem Haus ging und die Tür hinter mir abschloss, hielt die Stille noch kurz an. Als würde auch der Tag nur zögerlich in die Gänge kommen. Jedes Geräusch, das ich machte, klang übergriffig. Das Echo meiner Schritte zwischen den Häuserfronten. Das Rasseln des Fahrradschlosses, als ich es zwischen den Speichen herauszog. Jedes Geräusch war ein Beweis. Dass ich hier war. Mit einem gelben Fahrrad, schon seit fünf Jahren eine Leihgabe meiner Schwiegermutter. Im renovierten Reihenhaus meines Freundes. In einer ruhigen Gegend mit guter Verkehrsanbindung. Ich war hier. Warum wunderte mich das? Ich wusste, wie ich hierhergeraten war. Wenn ich bei der Arbeit gefragt worden wäre: »Mensch, Marieke, dieses tolle Haus, groß und teuer und stilvoll, und dann du, noch so jung, wie hast du das eigentlich hingekriegt?«, dann hätte ich es wie aus der Pistole geschossen erzählen können. »Also, das war so …«, hätte ich sagen können. Und niemand hätte gemerkt, dass ich mich das auch fragte. Wie ich hier gelandet war. Was ich hier zu suchen hatte. Wie ich hier je wieder wegkommen sollte.

 

Ich machte mich immer zeitig auf den Weg, trat kräftig in die Pedale, und am Ende unserer Straße brach dann die Sonne durch und hatte die Morgengeräusche im Schlepptau: die Vögel und den Verkehr, der immer dichter wurde, und, wenn nicht gerade Ferien waren, die Beschwichtigungen der Mütter, die den Erzieherinnen ihre weinenden Kindergartenkinder in die Arme drückten, und die Väter, die sich noch schnell das Hemd in die Hose stopften, bevor sie in ihren Dienstwagen davonrauschten, und die Ehrenamtliche vor der Grundschule. Mit Warnweste und Stoppschild und viel zu viel Energie so früh am Morgen, und die viel zu kleinen Kinder mit ihren viel zu großen Schulranzen, die über den Zebrastreifen schlurften und krähten und lachten, und ich fuhr an alldem vorbei. Ich ließ es so schnell wie möglich hinter mir und versuchte, die Ruhe, die der Radiomann und ich allmorgendlich teilten, noch ein bisschen aufrechtzuerhalten. Mit der ganzen Hektik wollte ich nichts zu tun haben. Ich guckte stur geradeaus, bis das neue Haus vor mir auftauchte. Groß und modern. Lauter Pflanzen im Garten, aber kein Gras. Nur weiße Steine. Kies, an dem man sich verletzen konnte, wenn man einen Spaziergang machte und fiel. Aber hier machte niemand mehr einen Spaziergang, also fiel auch niemand, es sei denn in tiefen, ewigen Schlaf. So friedlich, verehrte Dame, werter Herr, wer wünscht es sich nicht: in Ruhe und Frieden sterben zu dürfen im Seniorenpflegeheim Kleeblatt.

4

Bevor ich am Kanal gewohnt habe, bin ich zur Arbeit immer geradelt. Jeden Morgen habe ich mein Fahrrad im Unterstand vor dem neuen Haus abgestellt und bin zum alten Haus über die Straße rüber, und die ganze Zeit hatte ich nervös die Zeit im Blick, denn seit wir eine Stechuhr haben, will ich auf keinen Fall zu spät kommen. Bea kam dreimal zu spät. Und dann kam Bea heulend aus dem Büro vom Heimleiter. Angeblich hat sie Nachtisch geklaut. Sonntags, als sie alleine eine Elfstundenschicht schob. Angeblich hat der Heimleiter sie ganz zufällig erwischt, als er gerade mit dem Bauunternehmer auf den Parkplatz raus ist. Angeblich hat er angeboten, ihr die Schwesternkittel zum Auto zu tragen, aber das soll er nur gemacht haben, weil der Bauunternehmer danebenstand, hieß es. »Nicht nötig«, soll sie gesagt haben, »nicht nötig.« Aber er hatte ihr die dreckigen Kittel schon aus der Hand genommen, und die waren verdammt schwer, denn überall steckten gestohlene Joghurtgläschen in den Taschen, und da fielen sie auch schon auf den Boden. Angeblich sind sie dem Heimleiter direkt vor die Füße geklatscht. Apfel-Zimt und Kirsch.

 

Jetzt parke ich das Auto beim alten Haus, in einer Ecke, unter ein paar Bäumen, im Schatten, in der Hoffnung, nicht aufzufallen. Um zehn vor sieben loche ich meine Stempelkarte, wie jeden Tag, und gehe dann hoch in die erste Etage. Immer über die Treppe, denn dort begegne ich niemandem. Ich darf ungestört die Stufen zählen, und es darf mir ungestört auffallen, dass meine Sommersandalen stärker hallen als meine Sneaker, und wenn ich meine Schicht antrete, die Hand schon auf der Klinke, atme ich noch mal tief ein, bevor ich die aktuelle Jahreszahl rückwärts in das System eintippe, das die Tür all den Senioren verschließt, die abends Lust bekommen auszubüxen. Langsam atme ich wieder aus und drücke die Tür auf.

 

Da steh ich dann, in der Mitte des Flurs. Rechts runter kommt man als Erstes an der kleinen Wäschekammer vorbei, vor der immer ein Wagen mit vollen Wäschebeuteln steht. Auf der linken Seite Magdas Zimmer, rechts das von Georges, der jeden Tag als Erster gewaschen werden will, damit er anschließend in aller Seelenruhe alleine zum Frühstück zuckeln kann. Meistens endet es damit, dass er in einem fremden Zimmer landet, ich ihn suchen muss und wir doch gemeinsam zum Speisesaal gehen. Der Speisesaal war früher mal größer. Aber dann herrschte akuter Platzmangel. Niemand weiß so genau, wo der herkam oder worin er sich geäußert hat, er war einfach da, meinte der Heimleiter. Also musste der Pflegedienstleiter sein Büro räumen und Zuflucht im Speisesaal suchen. Den teilt jetzt eine graue Trennwand mit einem traurigen Plexiglasfenster in zwei Hälften. Aus dem alten Büro wurde ein zusätzliches Zimmer. Niemand hat sich getraut auszusprechen, dass es auch akuten Zeitmangel gab, lange vor dem Platzmangel schon. Wenn ich gleich mit Georges in den Speisesaal schlurfe, sehen wir Folgendes: zwei runde Tische, an denen alle Bewohner und das Pflegepersonal gerade so Platz finden. Links das große Fenster zur Straße, durch das man den Neubau gegenüber sieht. Rechts das Plexiglasfenster, dahinter das improvisierte Büro des Pflegedienstleiters. Dort stapelt sich der Papierkram, gespickt mit leeren oder halb vollen Kaffeetassen, die ich einsammle, wenn er Feierabend macht. Sitzt er am Computer, fällt ein bläulicher Schimmer auf sein Gesicht. Er wirkt dadurch älter. Hinter seinem Schreibtisch dunkle Aktenschränke, die alles Licht schlucken. Sie sind leer. Aber der Heimleiter sagt, sie müssten hier stehen. Also stehen sie hier. Neben dem Schreibtisch des Pflegedienstleiters der dritte runde Tisch, der früher auf der Seniorenseite der Trennwand stand, als es noch viel mehr Bewohner gab. Jetzt ist das mein Tisch.

 

Den kleinen Fahrstuhl habe ich nur ganz am Anfang benutzt. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie es wäre, jeden Morgen die ersten Worte des Tages bei einem gequälten, durch den engen Raum notgedrungen klaustrophobischen Bauch-an-Bauch-Gespräch mit einer Kollegin wechseln zu müssen, während wir krampfhaft versuchen, Augenkontakt zu vermeiden. Der Fahrstuhl ist gerade groß genug für einen Rollstuhl, und mit ein bisschen Schieben und Quetschen passen noch zwei Pflegekräfte rein, eine rechts, eine links.

Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal einen Ausflug mit den Senioren unternommen habe. Durch den ganzen Staatsakt mit dem Fahrstuhl ist das inzwischen fast ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Man braucht mindestens zwei Leute, die die Bewohner – die meisten im Rollstuhl – nach unten bringen, einen nach dem anderen, hoch und runter, und permanent beten, dass der Fahrstuhl nicht stecken bleibt, das macht er nämlich gerne. Dann unten warten, bis die Mannschaft komplett ist, zwischendurch runterzählen: »Es geht gleich los, oben sind jetzt nur noch fünf«, danach die Rollstühle hektisch in irgendeinen Kleinbus schieben oder in den Garten. Und versuchen, nicht auf die Uhr zu gucken. Versuchen, niemanden anzuschnauzen, denn meistens geht schon so viel Zeit mit dem Fahrstuhl drauf, dass die Zeitplanung vorne und hinten nicht mehr hinhaut, wenn jemand pullern muss oder sein Gebiss auf dem Nachttisch vergessen hat. Sind dann endlich alle unten, ist meistens das Schichtende schon in Sicht, und dann geht die ganze Fahrstuhl-Arie in umgekehrter Reihenfolge wieder von vorne los. Nein. Solche Aktionen. Dazu fehlt mir die Zeit und der Mut.

 

Wenn jemand stirbt, entsteht ein fragiles Gleichgewicht zwischen der Anteilnahme für die Angehörigen und der praktischen, manchmal dringlichen Frage, wie man die Leiche am besten nach unten schafft, in den Keller, wo sie aufgebahrt wartet, mit Kondolenzbuch und Kerze daneben, bis der Bestatter die Sache übernimmt. Meistens versorgen wir den Leichnam noch im Zimmer, und wenn der erste Trauertrupp abgezogen ist, holen wir uns Verstärkung aus den anderen Stationen. Nicht zu schwere Leichen tragen wir auf einer Bahre, mit einem Tuch bedeckt, die Treppe runter. Vorsichtig. Wie wir auch einen empfindlichen antiken Schrank die Treppe runtertragen würden. Sind nicht genug Kollegen da oder ist die Person zu schwer, bedecken wir den Leichnam, fixieren ihn mit Klettverschluss an der Bahre und stellen ihn aufrecht in den Fahrstuhl, zwischen zwei Pflegekräfte.

 

Jeden Morgen trinke ich schweigend eine Tasse Kaffee mit Leen vom Nachtdienst. Seit das neue Haus steht, müssen wir uns den Kaffee selbst kochen. Kaffeemaschine und Wasserkocher standen auf einem alten fahrbaren Nachttischchen auf der Büroseite der Trennwand. Jetzt, wo der Pflegedienstleiter nicht mehr so oft da ist, habe ich das Tischchen auf die Seniorenseite gerollt. Wir bleiben lieber in dieser Hälfte des Speisesaals. Das ist unsere Hälfte. Nachtdienst-Leen müsste eigentlich Übergabe machen, aber das macht sie nie. Meistens hat sie ihren Schwesternkittel schon ausgezogen und wartet mit geschulterter Handtasche auf mich. Niemand trinkt so schnell heißen Kaffee wie Leen. Das kommt davon, wenn man sein ganzes Leben Nachtdienst schiebt, sagt sie.

 

Gleich geht meine Schicht los. Ich bin allein. Wenn ich meinen Pflegewagen von einem Zimmer ins nächste rolle, weiß ich genau, wie viel Zeit ich pro Person mit Waschen und Anziehen zubringen darf. Und ich weiß genau, bei wem ich diese Zeit problemlos einhalten kann und bei wem es ausufert. Vor welchem Zimmer ich erst noch mal tief durchatmen und mir sagen muss: Ich werde nicht schimpfen. Ich werde nicht die Geduld verlieren, weil ich keine Zeit habe für Gemächlichkeit oder Verwirrung oder beides. Ich werde lächeln und danach einfach einen Zahn zulegen.

 

Ich hätte nie gedacht, dass ich die Frauen aus meiner Schicht vermissen würde. Jeden Tag dieselben Themen. Wie viele Stunden sie geschlafen haben. Wie viele Schulden sie noch abbezahlen müssen. Wohin sie reisen wollen, wenn sie endlich in Rente gehen. Dass ihr Mann oder ihr Kind sich erkältet hat und dass eine gute Schwitzkur noch immer die beste Medizin ist. Und immer und immer wieder das neue Haus. Am Anfang hieß es: »Boah, wie schnell das geht, schießt ja wie ein Pilz aus der Erde, das neue Haus«, und je größer das Gebäude wurde, desto größer wurde auch ihre Ehrfurcht: »So ein Prestigeobjekt, unfassbar, dass wir das noch erleben dürfen.« Und dann quasselten sie weiter. Dass schon wieder Mittwoch wäre oder Freitag und dass die Zeit doch wie im Flug verginge, jede Woche verging die Zeit wie im Flug, und ich habe inzwischen meinen zweiten Kaffee intus, und vielleicht quasseln die Frauen jetzt irgendwo im neuen Haus miteinander, aber das ist eher unwahrscheinlich. Alle, die jetzt drüben sind, wurden auf verschiedene Stationen verteilt.

5

In der Küche war es immer dunkel. Vielleicht lag das am Terrakottaboden oder an den Eichenschränken oder daran, dass Mama die Tür zum Wohnzimmer fast immer geschlossen hielt. Trotzdem war die Küche mein Lieblingsort, denn in der Küche kam alles wieder ins Lot. Da konnte die Arbeitsfläche noch so zugemehlt sein, der Tisch mit Zwiebelschalen und Teigresten übersät, da konnte die Béchamelsoße bis auf die Kacheln hinterm Gasherd gespritzt sein, da konnten die Töpfe so qualmen, dass wir im ganzen Haus die Fenster aufreißen mussten – nach ein paar Stunden war wieder Ruhe eigekehrt und die Küche einfach wieder die Küche. Die Arbeitsplatte war sauber, die orangen Salz- und Pfefferstreuer standen ordentlich neben der Kaffeemaschine unter dem Regal mit dem kleinen Radio, den Kräutern und Mamas eingelegtem Gemüse: Essiggurken und Schlangengurken und Silberzwiebeln und sogar Tomaten und Paprika. Das Geschirrtuch hing ausgewrungen über dem Wasserhahn. Die Herdplatten blitzten, als wären sie funkelnagelneu. Der Tisch war wieder sauber.

 

An der Küche hat sich nie was verändert. Wenn ich die Augen schließe, kann ich sie bis ins letzte Detail beschreiben. Man kommt durchs Wohnzimmer rein, allerdings geht die Tür nicht ganz auf. Der Tisch steht im Weg. Der ist rechteckig, graues Resopal mit ausziehbarer Tischplatte, Metallbeine, drum herum die passenden Stühle. Ursprünglich sollte die Küche mit der Familie mitwachsen, nach und nach mit dem Wohnzimmer verschmelzen. Aber wachsen tat nur der Tisch, und das Kommen und Gehen bei den Mahlzeiten entwickelte sich zu einer ausgeklügelten Choreografie. Als wir noch alle zusammen gegessen haben, war die Wohnzimmertür gar nicht in Gebrauch. Wenn Mama uns durch den Spalt zum Essen rief, gingen wir zur Haustür raus, marschierten einmal quer durch die Garage, kamen zur Gartentür wieder rein und setzten uns an unsere festen Plätze. Mama am Kopfende. Rechts Emma und Veerle. Links Liesbeth und ich.

 

Hackbällchen. An die erinnere ich mich noch ganz genau. Mama und ich in der kleinen Küche, und ich weiß nicht, wo meine Schwestern gerade waren. Im Garten vielleicht oder vor dem Fernseher, oder vielleicht saßen sie noch im Bus auf dem Weg nach Hause – völlig egal. Es gab nur Mama und mich. Die Küche gehörte uns. Mama stellte die Tüten auf den Tisch und breitete die Einkäufe aus, als hätte sie einen kleinen Marktstand, an dem nur Zutaten für Hackbällchen verkauft wurden, und dann wurde es ernst. Das wusste ich, weil sie sich den Siegelring vom kleinen Finger zog und ihn auf die Fensterbank legte, neben die Handseife. Der Ring hatte ihrer Mutter gehört. Das erzählte sie mir jedes Mal, wenn sie ihn auszog. Sie hängte mir ihre große dunkelblaue Schürze um den Hals und schlang mir die Bänder zweimal um die Taille. »Gut«, sagte sie und klatschte in die Hände. Das machte sie immer, bevor es losging. »Als Erstes das Brot.« Sie schob mir ein Brettchen mit zwei alten Weißbrotscheiben und einem scharfen Messer hin und sagte: »Ganz kleine Stückchen. Aber vorsichtig.«

Also schnitt ich das Brot so fein, dass man meinen konnte, ich hätte es Krümel für Krümel abgeraspelt, während sie zwei Zwiebeln schälte und klein schnitt und mir erklärte, dass das schnippeln hieß und dass die Zwiebel aus Protest in ihren Augen kribbelte. Sie beugte sich zu mir rüber und zog ein großes, kariertes Taschentuch aus meiner Schürzentasche. Ihr Geschnäuze war so laut, dass wir beide lachen mussten.

»Wie viele Hackbällchen machen wir?«

»Kommt drauf an, wie groß sie werden.«

Während wir uns unterhielten, schälte sie in Windeseile den Knoblauch und rollte mir die Zehen einzeln zu. Dann kam sie um den Tisch herum und zeigte mir, was ich tun musste. Das machte sie oft. Wenn sie mir Kochsachen beibrachte, beugte sie sich über mich, wie der Baum im Garten sich über die Blumen beugt, und unter Mama war es immer warm. Sie nahm das Messer, sagte noch mal, dass ich vorsichtig sein sollte, und machte vor, wie man die Zehen erst in hauchdünne Scheiben schnitt und die Scheiben in dünne Streifen.

»Ist das schnippeln?«, fragte ich, und sie: »Nein, hacken«, und ich muss noch sehr klein gewesen sein damals, denn die Küche war noch groß, und ich konnte darin umherfliegen. Wie ihre starken Arme mich hochhoben und von meinem Stuhl zur Spüle trugen, wo ich mir die Hände wusch, und dann wieder zurück zum Tisch, wo ich das kalte Hackfleisch aus der Packung holte. Ich legte es in die Schüssel mit meinen Brotkrümeln und