Der Bomber (Kunibert Eder löst keinen Fall auf jeden Fall 1) - Jan-Mikael Teuner - E-Book

Der Bomber (Kunibert Eder löst keinen Fall auf jeden Fall 1) E-Book

Jan-Mikael Teuner

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Beschreibung

Kunibert Eders Schnurbart kitzelt, untrügliches Zeichen dafür, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Der Bomber hat 37 Tore in 19 Spielen erzielt. Obwohl der so unsportlich ist, wie Kunibert selbst. Also ermittelt Kunibert, erst recht als die Dorfschönheit Annabelle Lerche vor ihm steht. Die gilt es zu beeindrucken, und daran hält Kunibert fest, auch als sich seine besten Freunde Sandro und Krücke bereits von ihm abwenden. Bis zum entscheidenden Spitzenspiel zwischen dem MTV Hennigsen und dem SV Brauberg hat er schließlich Zeit, dem Bomber das Handwerk zu legen.Echte Männer, richtiger Fußballund wahre Leidenschaft – das gibt esnur noch in der Kreisklasse. Kunibert Eder ist der Ritter des Guten mit der Strahlkraft eines Kartoffelsacks und plötzlich ermittelt er im verzwicktenBetrugsfall in der letzten aller Fußball-Ligen.Trotz aller Widerstände ist Kunibert ein Wadenbeißerund lässt nicht locker, denn Kunibert Eder löst keinen Fall auf jeden Fall.

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Jan-Mikael Teuner

Kunibert Eder – Der Bomber

Roman

adakia Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Richard-Wagner-Platz 1, 04109 Leipzig

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über die Homepage http://www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig. Alle Rechte liegen bei den Autoren.

Gesamtherstellung: adakia Verlag, Leipzig

Covergestaltung: Susan Ullrich

Bildnachweis: ostill/123RF.com

Lektorat: Bianca Weirauch

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

1. Auflage, Oktober 2019

ISBN 978-3-941935-66-2

Für alle, die an Kunibert glauben.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Aufwärmprogramm

Schnurrbartkitzeln

Erste Halbzeit

Anstoß des Ganzen

Mut zur Liebe

Spielzeug

Im Schlachtgraben

Disko

Wegweiser

Halbzeit

Präsident

Date

KHS

Zweite Halbzeit

Auswärtsspiel

Selbstbetrug

Mit der Brechstange

Supermarkt

Flugzeug und Schneemann

Blumenkohlsalat

Nachspielzeit

Endspiel

Im Einsatz

Ansprache

Ergebnis

Abpfiff

Herzschlagfinale

Trikottausch

Nachspiel

Aufwärmprogramm

Stell dir vor, du trittst auf den grünen Fußballrasen. Wichtige 90 Minuten stehen bevor, die wichtigsten deines Lebens. Doch du bist nicht in der besten Verfassung und du hast nicht die geringste Ahnung, was diese 90 Minuten alles bedeuten können. Nur eines bringst du mit: Die Bereitschaft zu kämpfen – solange, bis der Schiedsrichter pfeift und noch weiter, solange, bis die Flutlichtanlage erlischt und noch weiter, solange, bis der Letzte aus deiner Mannschaft aus der Umkleidekabine kommt, den Trikotkoffer in der Hand, und dich darum bittet, das Stück Stoff, das du noch immer am Leib trägst, endlich auszuziehen. Doch du ziehst es nicht aus. Du kämpfst weiter.

Und wenn es dir genauso geht, dann weißt du bereits um Kunibert Eder.

Schnurrbartkitzeln

Das, was Kunibert Eder hatte, war ein dunkelbrauner Schnurrbart. Empfindsam wie die Tasthaare einer Katze und ständig in Alarmbereitschaft wie ein Feuermelder. Allein zu diesem Zweck war sein Borstenkamm mittig über der Oberlippe mit besonders sensiblen Sensorhärchen ausgestattet und mit jenen dünnen verdrahtet, die sich bis tief in seine Nase hinein wanden. In Momenten ungewöhnlicher Vorkommnisse verlangten ihm diese unscheinbarsten seiner Härchen ein solch gewaltiges Niesen ab, dass das Echo erst verhallt war, wenn Kunibert Eder alle offenen Fragen geklärt hatte und der Gerechtigkeit Genüge getan war.

»Kuno«, dachte er sich stets in einem solchen Moment. »Kuno, hier stimmt was nicht. Das ist dein Fall und den wirst du lösen.«

Dabei hatte Kunibert Eder keinen Chef, der ihm sagte: »Kuno, es gibt da eine Leiche. Das ist dein Fall. Finde den Täter.« Und es war auch nicht so, dass eine blonde Frau in Schwarz-Weiß zu ihm in ein verrauchtes Büro hereinkam, ihre von einem Minirock nur spärlich umschmeichelten Beine übereinanderschlug und mit einer Zigarette zwischen den Lippen säuselte: »Herr Eder, ich habe viel von Ihnen gehört. Ich glaube, mein Mann betrügt mich. Finden Sie es heraus.«

Kunibert Eder hatte nicht einmal ein Büro. Und wenn er eines gehabt hätte, er hätte in einem solchen Moment das Fenster aufgerissen und mit entschuldigenden Worten auf das Rauchverbot hingewiesen. Denn überhaupt war Kunibert Eder ein ganz normaler, rechtschaffener Bürger, der seinem Job im örtlichen Supermarkt nachging und am liebsten in Ruhe gelassen werden wollte. Doch dazu kam er nicht. Das Leben hatte ständig andere Pläne mit ihm.

So sollte auch dieser Fall vollkommen unerwartet beginnen – mit der unverhofften Begegnung zweier auf den ersten Blick völlig harmloser Menschen auf einem dörflichen Fußballplatz. Und strenggenommen sollte es diesen Fall überhaupt nur geben, weil sich die Dinge entwickelt hatten, wie sie sich entwickelt hatten, und das setzte die Geburt von einem Dutzend anderer Menschen, die Gründung mehrerer Fußballvereine und die Dramatik ihrer aufeinanderprallenden Wünsche und Absichten voraus. Und diese Umstände, um es schlussendlich auf den Punkt zu bringen, hatten dafür gesorgt, dass Kunibert Eder auf dem Trainingsgelände des Männerturnvereins, kurz MTV, von Hennigsen stand und einer Horde kleiner Jungs dabei zusah, wie sie mit versuchter enger Ballführung um einige Slalomstangen herumstolperten. Das müsste viel schneller gehen, dachte Kunibert in diesem Augenblick, sagte aber nichts, denn hier beim MTV durfte man Kind sein und sich austoben, was im Mindesten auch für die Erwachsenen galt, fuhr er in Gedanken fort und strich sich die Spitzen seines Schnurrbarts zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand zusammen. KTV, überlegte er weiter, als Abkürzung für Kinderturnverein wäre wohl die bessere Vereinsbezeichnung gewesen.

Hier war alles friedlich. Nur in der Ferne – wenn man ganz genau lauschte – konnte man den Alltag mit seinen vorwärtstreibenden Motoren von der Bundesstraße hören, wie ein Motorrad durchs Dorf knallte oder sich ein Wagen auf der holprigen Feldstraße verlor und dem Fußballplatz näherte. Hier im Hennigser Herzen, wo die Blätter im Winde rauschten, die Vögel trillerten und die Kinder spielten, waren sich seine Eltern auf einem Dorffest zum ersten Mal in die Arme gefallen. Warum ihm das gerade jetzt in den Sinn kam, fragte sich Kunibert, während Autoreifen Schottersteine auf dem Vorplatz verdrängten und zwei Türen zuknallten. Kunibert drehte sich zur Seitenlinie um. Eine junge Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand tauchte dort auf.

Das war ja allerhand, dachte Kunibert schon in diesem Moment und setzte sich in seinem gemütlichen Schaukelgang, bei dem sich abwechselnd seine linke und rechte Schulter dem Rasen näherte, in Bewegung. Das war ja allerhand, dachte er noch einmal. Allerhand war das.

Erste Halbzeit

Stell dir vor, der Anpfiff ertönt und du rennst einfach drauf los, wie ein Kind, ungehalten, frei, und du lässt dir und deinen Gedanken ihren Lauf.

Anstoß des Ganzen

»Kunibert«, sagte er leicht außer Atem, als sich ihre Hand in die seine legte und er sie schüttelte. »Kunibert Eder.« Das hatte nun sehr förmlich geklungen, dachte er. »Kuno!«, schob er schnell nach. »Meine Freunde nennen mich Kuno.«

Sehr erfreut, strahlten ihre dunklen Augen, und da hatte er sich auch schon verliebt.

»Annabelle«, ergänzte ihre Stimme. »Aber meine Freunde nennen mich AB.« Sie zuckte mit den Achseln, als könne man da nichts machen. Eybi, es spräche sich englisch aus, so wie der Geheimname einer Agentin, sagte sie und das gefiel Kunibert, denn ein wenig internationales Flair und der Reiz einer Undercover-Dame konnte dem Dorf nicht schaden. Und eine aus Lachgrübchen strahlende Augenweide, wie Annabelle es eine war, erst recht nicht.

»Lerche, Annabelle Lerche ist mein voller Name«, überwand sie den Moment der kunibertschen Sprachlosigkeit und zog hinter ihrem Rücken einen ungelenken Bengel in einem roten Trikot hervor. »Und das hier ist Hendrik. Er würde gerne mitspielen.« Sie deutete auf den Trainingsplatz, auf dem die meisten der Slalomstangen mittlerweile auf dem Boden verteilt lagen. Hendrik wirkte wenig euphorisch und vermittelte eher das Gegenteil von gerne mitspielen. Schnell nahm Kunibert seine Hand aus der Luft, denn die hatte er dort in seiner Aufregung ganz vergessen.

»Kein Problem, sag ich mal so«, sagte Kunibert mal so. »Ich habe das Kinderturnen, also Charly sagt das so, das Kinderturnen nur für ihn übernommen. Der kann heute nicht, musste seine Mutter nach Willerse zum Rommé fahren.«

Sie konnte nicht wissen, wer Charly war und dass Kunibert öfter für ihn einsprang. Trotzdem schaute sie ihn mit ihren großen Augen aufmerksam an, und wahrscheinlich strahlten auch seine, wie er nun von fast kindlich naiver Begeisterung übermannt wurde.

»Das ist sicher in seinem Sinne. Der MTV ist immer an jungen Talenten interessiert.« Kunibert versuchte, sein Bäuchlein unter seinem gelben Baumwollshirt einzuziehen. »Spiele selbst schon länger nicht mehr. Bin ja auch nicht mehr der Jüngste.« Über dreißig, wenn ihn nicht alles täuschte, aber damit wollte er es nicht so genau nehmen, dachte er oder hatte er gerade gesagt, da war er sich selbst nicht sicher. Verlegen strich er sich mit Daumen und Zeigefinger seinen Schnurrbart zusammen und fragte sich, warum er ihr das alles erzählte. Er war bekanntlich nicht der große Erzähler. Er machte lieber, aber auch davon nicht besonders viel.

»Dein Trikot ist schon mal erste Sahne«, wandte er sich an Hendrik. Erste Sahne, dachte er, wer sagte schon erste Sahne? Jedenfalls sei das rote Jersey, probierte es Kunibert nun auf moderne Redensart und in Englisch, das rote Jersey des SV Willerse eine ganz hervorragende Wahl, auch wenn es dem Jungen, so schwadronierte Kunibert weiter, offensichtlich noch zu groß sei. Da werde er hineinwachsen. Andreas »Krummi Krummfuß« Krummbiegel, der überragende Spielmacher des SV Willerse, habe schließlich auch nicht schon am ersten Tag solche exzellenten Stöße geschossen wie jetzt.

Annabelle nickte, Hendrik rang sich ein Lächeln ab.

»Zu blöd, dass Willerse wieder abgestiegen ist«, legte Kunibert nach und bedauerte, dass der große Nachbarverein inzwischen in der Bedeutungslosigkeit der zweiten Liga verschwunden war. Wie seinerzeit der SV Meppen war er nun eine Konstante im Fußball-Unterhaus.

Der SV Willerse, wenigstens diesen Gedanken wollte er zu Ende zu bringen, sei jedenfalls das Beste, was die Region jemals hervorgebracht habe. »Der Aufstieg in die Bundesliga ist mehr als ein Wunder gewesen. Und aus dir machen wir auch einen Krummfuß.« Kunibert klopfte Hendrik auf die Schulter.

Annabelle lächelte und strich sich mit der linken Hand eine braune Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Wie bezaubernd zart und klein ihre Hände doch waren. Und auch an der Ungeschüttelten trug sie keinen Ring am Finger, das fiel Kunibert gleich auf, denn er hatte ein Auge für solche Details. Details waren das A und O im Leben, denn sie waren die Zeichen, die einen führten. Sie würde ihn später abholen, hatte Annabelle da schon gesagt und sich zum Gehen umgewandt.

»Gegen halb sieben!«, rief Kunibert ihr nach. Vielleicht war sie geschieden? Aber einen Ring sollte man nicht wieder vom Finger nehmen, das war Kuniberts feste Überzeugung. Und einer solchen Frau schon mal gar nicht, schwärmte er weiter und beobachtete, wie ihre schulterlangen Haare im Takt ihres Schrittes davon wehten.

Sie ging rund, so rund wie es ihre Formen waren. Und nein, das verbiete er sich, ermahnte sich Kunibert. Wer legte ihm nur solche Gedanken in den Sinn? Vielmehr eleganten Schrittes und wahrhaft elfengleich schwebte Annabelle in Richtung ihres roten Kleinwagens davon.

»Marvin!«, rief Kunibert schnell, denn er wollte ein guter Jugendtrainer sein. »Marvin! Nimm auch mal den linken Fuß.« Eines Tages, stellte sich Kunibert vor, würde Marvin in einer Sportreportage von seinem einstigen Förderer berichten. Der Kuno Eder, würde dieser Weltstar dann sagen, habe ihn immer ermahnt, auch den linken Fuß zu nehmen.

»Ich bin nicht Marvin!«, rief der Kleine zurück.

Vom Parkplatz vernahm Kunibert das Stottern eines anspringenden Motors. Mit seiner kurzen Sporthose, die die Ansätze seiner weißen, untrainiert dicken Oberschenkel offenbarten, hatte er sicher keine Punkte sammeln können. Annabelle, dachte er, warum hatte er sie in Hennigsen noch nie gesehen? Sie hatte es ihm bestimmt gesagt, aber während er selbst geredet hatte, hatte er kaum zugehört. Oder hatte er selbst nur gedacht und gar nicht geredet? Sie kam sicher aus der Nähe, kombinierte Kunibert gewohnt treffsicher weiter. Hendrik, der kleine Junge in dem viel zu großen Willerse-Trikot, kam ihm bekannt vor. Fuhr der nicht immer mit so einem klapprigen Fahrrad durchs Dorf, als wisse er nicht, wohin er solle? Der war so unauffällig, dass es schon wieder auffällig war, und da erst bemerkte Kunibert, dass Hendrik noch immer neben ihm stand.

»Ja, Junge«, sagte Kunibert. Er sagte gerne Junge zu seinen Spielern, das hatte er von seinem alten Jugendtrainer Balu übernommen. Heutzutage sprach man in der Mehrzahl von ihnen. Die Jungs hätten das gut gemacht und alles rausgehauen, hieß es gerne bei Fernsehinterviews in der Bundesliga. Da war der Trainer dann immer ganz stolz auf die Jungs.

»Ja, Junge«, wiederholte Kunibert. Es war immer Balu gewesen, dachte er, der Koloss von Hennigsen, wie der sich über die Dorfgrenzen hinaus großer Beliebtheit erfreute.

»Ja, Junge«, sagte Kunibert ein drittes Mal. In allen Jugendmannschaften von der F-Jugend bis zur B-Jugend, und auch bei seinem erfolglosen Comeback-Versuch in der zweiten Herren. Es war immer Balu gewesen. »Dann geh mal in die Kabine und zieh dir deine Botten an.«

Elf Kinder wolle er haben, würde Kunibert Annabelle später erzählen und schaute den Kleinen beim Spielen zu. Noch spielten die Lütten, man sagte das so, die Lütten, zu siebt auf dem kleinen Feld, aber ab der D-Jugend waren es elf, und dann wäre auch sein Witz verstanden. Oder aber komplett versaut, denn ein Witz war immer schlecht, wenn man ihn anschließend erklären musste.

Jemand tippte Kunibert von der Seite an. Hendrik in dem viel zu großen Willerse-Trikot war wieder neben ihm aufgetaucht.

»Dann wollen wir mal. Und mach dir keine Gedanken, die beißen nicht!« Kräftig und viel zu laut blies Kunibert in seine Trillerpfeife. Alle Kinder versammelten sich um ihn.

»Das hier ist Hendrik«, stellte er den neuen Mitspieler vor.

»Sein Trikot ist viel zu groß«, befand einer der Jungs, der wohl Marvin war.

»So ist das eben«, verteidigte Kunibert. »Krummi Krummfuß war auch nicht gleich am ersten Tag der Krummi Krummfuß, wie ihr ihn heute kennt.«

»Trotzdem ist es zu groß. Soll er zu den blöden Braubergern gehen.«

»Jetzt hör schon auf, Marvin.«

»Ich bin nicht Marvin!«

Marvin, oder wie der freche Junge hieß, stemmte seine Hände in die Hüften. Wahrscheinlich würde er Kunibert nun doch in keiner Sportreportage erwähnen, und wenn, dann nur als den Trainer, der immer seinen Namen vergessen hatte. Den Namen eines Weltstars, der dann bei jedem Frühstück vom Glas eines Schokoaufstrichs grinste.

»Er spielt trotzdem bei euch mit«, entschied Kunibert und teilte zwei Mannschaften ein. »Ihr habt zwanzig Minuten!«

Da strömten die Kleinen auseinander, und auch wenn Hendrik nicht alles so leicht vom Fuß ging, fügte er sich mit einigen Pässen gut ins Spiel ein. Er kämpfte um jeden Ball, denn von den anderen bekam er ihn selten freiwillig zugespielt. Das alles imponierte Kunibert und er musste an Annabelle denken. Woher sie kam und was sie wohl hierher verschlagen hatte? Denn was hatte Hennigsen schon zu bieten? Den kleinen, schrammigen Supermarkt, den heruntergekommenen Tankstellen-Imbiss und den MTV, mit dem nahezu jeder im Dorf außerehelich liiert war. Da musste Kunibert bei Annabelle anders zu punkten wissen. Es sei immer sein Traum gewesen, mit Kindern zu arbeiten, würde er ihr sagen. Und den Traum habe er sich inzwischen erfüllt: im Supermarkt von Hennigsen. Nur seien seine Kollegen alle in seinem Alter.

Was für ein Rohrkrepierer!

Während die Kleinen spielten, legte sich Kunibert noch den einen oder anderen Spruch zurecht, und auch als das Training bereits beendet war und ein Kind nach dem anderen abgeholt wurde. Kunibert schüttelte die elterlichen Hände, redete über dies und das und verabschiedete die Kleinen, doch bessere Gesprächsanfänge für Annabelle wollten ihm nicht einfallen. Nein, dachte er, während er auf der Holzbank vor der Kabine Platz nahm, das Reden sollte er besser ihr überlassen. Inzwischen war nur noch Hendrik als letzter der Jungs bei ihm.

»Deine Mutter scheint es mit der Zeit nicht so genau zu nehmen«, sagte Kunibert. Mit der Zeit nicht so genau nehmen, was für eine wunderbare Haltung das doch war. Nur einen kleinen Jungen stehenzulassen, das war nicht ganz so wunderbar.

»Weiß nicht«, presste Hendrik heraus und stand dort in seinem verschwitzten roten Willerse-Trikot.

»Hast du gar keine Duschsachen dabei?« Die augenscheinlichen Dinge, dachte Kunibert, er musste seinen Blick für die augenscheinlichen Dinge schärfen.

Hendrik schüttelte den Kopf. »Musste alles schnell gehen heute.«

»Aha«, sagte Kunibert. Mit dieser Aussage konnte er doch arbeiten, auch wenn er nicht wusste, in welchem Zusammenhang er sie zu sehen hatte. Aber es gab immer Zusammenhänge. Er strich sich mit Daumen und Zeigefinger von außen nach innen über seinen Schnurrbart. Alles musste schnell gehen heute, wie recht Hendrik doch hatte. Immer war heute, immer musste alles schnell gehen, sicher auch bei Annabelle, die wahrscheinlich mit dem Tele-Fonhörer zwischen Ohr und Schulter und einem weiteren Kind auf dem Arm Hendriks Willerse-Trikot und seine Fußballklamotten aus der Wäsche gesucht hatte. Dann hatte sie ihn ins Auto geschoben und war losgefahren.

Respekt, dachte Kunibert, wie Annabelle so viele Dinge auf einmal bewältigte. Was für eine tolle Mutter sie doch war! Da konnte man das Duschzeug schon mal vergessen.

»Hendrik!«, rief plötzlich eine Frauenstimme. Sofort sprang Kunibert von der Bank auf und sein Herz schlug schneller. Aber das war nur so eine Redensart, denn sein Herz schlug ganz normal.

»Hendrik!«, hörte er die weibliche Aufforderung aus Richtung des Parkplatzes ein zweites Mal. Hinter den verwachsenen Sträuchern konnte Kunibert die Schemen einer großen, blonden und schlanken Frau erkennen. Doch davon, so dachte Kunibert, davon gab es viele. Annabelle jedenfalls war es nicht.

»Meine Mutter«, sagte Hendrik mit einem angedeuteten Kopfnicken und stapfte los.

»Deine Mutter?« Kunibert blickte an sich herunter. Das gelbe Baumwollshirt, die kurze Hose, die Trillerpfeife, die ihm um den Hals baumelte. So konnte er sich ihr unmöglich nähern.

»Sie sind seine Mutter?«, rief er aus sicherer Entfernung.

»Wie, ich bin seine Mutter?«, rief die Frau zurück. Sie lehnte an der Fahrertür eines schwarzen Geländewagens, SUV, pflegten die Leute heute dazu zu sagen. Offenbar waren die Straßen in Deutschland mittlerweile so marode, dass man schweres Gefährt dafür benötigte.

»Ich meine, warum Sie Hendrik abholen. Sie sind seine Mutter, oder nicht?« Kunibert balancierte auf seinen Zehenspitzen, konnte durch das blütenverhangene Gebüsch aber nur das Kennzeichen des Wagens erspähen: WLS für Willerse, BA 404.

»Ja, natürlich bin ich seine Mutter.«

»Das versteh’ ich nicht«, murmelte Kunibert und versuchte, seine Überraschung für sich zu behalten. Doch die Frau, die offensichtlich nicht nur Hendriks Mutter war, war vom lieben Gott auch mit den Ohren einer Luchsdame ausgestattet worden.

»Was gibt es denn daran nicht zu verstehen?«, fragte sie.

»Ja, ach so, doch alles okay.« Kunibert fing sich wieder. »Ich versteh’ schon.«

»Was verstehen Sie?«, fragte die Luchsdame.

»Warum Sie ihn abholen.«

»Was gibt es dort auch nicht zu verstehen?«

»Ja, alles in Ordnung.«

»Das will ich doch meinen. Was verstecken Sie sich da überhaupt hinter dem Gebüsch?«

»Ich stehe hier an der Bank«, wehrte Kunibert ab.

»Ich stehe hier am Auto«, antwortete die Dame.

Und das war auch wieder wahr, andererseits auch egal, wer wo stand. Auf keinen Fall konnte sich Kunibert in seinem unterlegenen Outfit aus der Deckung wagen.

»Aber alles klar jetzt«, rief er zum Abschluss. »Tschüs, Hendrik, ist deine Mutter, ich versteh’ schon.«

»Tschüs.« Hendrik kletterte auf die Rückbank des Wagens und nacheinander fielen die Türen des Wagens zu. Ob Hendrik jemals wiederkommen würde, und mit ihm Annabelle? Erschöpft ließ sich Kunibert wieder auf die Holzbank fallen, als auch schon der nächste Wagen angerollt kam.

Es war merkwürdig, dachte Kunibert, an manchen Tagen saß man nur auf einer Bank und das Leben passierte von allein. Den Besitzer des weißen Kombis, der dort heranjuckelte, wusste er gleich zuzuordnen. Es war Balu, der seinen Wagen nun auf dem Parkplatz zum Stehen brachte und die Fahrertür öffnete. »Hauruck!«, war er hinter dem Gebüsch zu hören, wie er seinen aufwändigen Aussteigevorgang einleitete, bei dem er sich unter Festklammern am Lenkrad und Abstützen am Türrahmen aus dem Fahrzeug wuchtete. »Hauruck! Das haben wir gleich!«

Was machte Balu heute hier? Schließlich war Mittwoch, dachte Kunibert. Ein Mittwoch, an dem nur die erste Mannschaft trainierte, nicht aber die zweite – die trat für gewöhnlich am Donnerstag zur wöchentlichen Übungseinheit an. Balu kam in schmuddeligem T-Shirt, Größe 3XL, Jogginghose und ausgelatschten Turnschuhen um das Gebüsch gebogen und mit jedem Schritt, den der Koloss von Hennigsen nähergewankt kam, wurde Kunibert klarer, dass das nichts Gutes verheißen konnte.

»Na Junge, schon eine Einheit hinter dir?«, fragte Balu und ließ sich neben Kunibert auf der Holzbank nieder.

»Charly hatte keine Zeit.«

»Ja, so kennen wir dich. Immer zur Stelle, der Kuno.« Balu bemühte sich um ein Lächeln, doch seine nicht wenigen Falten, die er sich über die Jahre gutgelaunt ins Gesicht trainiert hatte, wollten ihm nicht gehorchen. Sie hingen alle wie traurige Mundwinkel nach unten.

»Ja, na ja, man tut, was man kann«, gab Kunibert zurück.

Balu stand kurz vor der Rente, aber heute, dachte Kunibert, und das dachte er äußerst ungern, heute sah sein alter Jugendtrainer so aus, als würde er sie nicht erreichen.

»Nicht so bescheiden, mein Gutster«, meinte Balu und wischte sich über seine glasigen Augen.

»Mich wundert eher, was du hier heute machst.« Kunibert hob seinen Blick über seinen Schnurrbart hinweg in Richtung Bundesstraße. Manchmal war es leichter, eine Frage zu stellen, dachte Kunibert, ohne dabei eine Frage zu stellen. »Ihr trainiert erst morgen.«

(13. Minute)

Stell dir vor, du stehst auf dem Fußballplatz und bist wie paralysiert. Zum ersten Mal siehst du den Ball, wie er rollt und lacht, singt und springt – und auch wie er hoppelt und liegt und sich nicht für dich verbiegt.

Mut zur Liebe

Wie ein nicht verbauter Bauklotz lag die Imbissstube »Bei Krücke« auf dem viel zu groß geratenen Gelände der Hennigser Tankstelle. Und obwohl die Bundesstraße, die das Dorf in zwei gleichgroße Hälften teilte, direkt an ihm vorbeiführte, verirrten sich nur selten Gäste in den quadratischen Glaswürfel. Es mochte daran liegen, dass der Schriftzug »Bei Krücke« zunehmend verblasste, vielleicht auch daran, dass die verrußten Scheiben keinen Blick mehr in die Räumlichkeiten zuließen. In ganz besonderem Maße lag es aber daran, dass jeder Neuankömmling wenig einladend begrüßt wurde. Auf dem Tankstellenparkplatz roch es nach ausgelaufenem Benzin und an heißen Tagen steuerte das aufgewärmte Dreckwasser aus der Waschanlage eine empfindlich duftende Geruchsnote bei. Potenzielle Imbissgäste schwenkten häufig mit einer gekonnt unauffälligen Körperdrehung in Richtung des Tankstellenshops um oder gaben vor, sich zunächst einen Überblick über die angebotenen Speisen verschaffen zu wollen. In diesem spätesten aller Momente konnte sich ein hungriger Fahrer zumeist glaubhaft versichern, doch keinen Appetit auf Currywurst mit oder ohne Pommes oder Pommes ohne Currywurst mit oder ohne Ketchup oder Mayo, Hamburger mit oder ohne Käse, Doppel-Cheese, zweiter 250-Gramm-Bulette oder mit Chicken mit oder ohne Pommes oder Kartoffelecken, als Veggie-Variante oder einen Feta-Salat zu haben (um nur einen Auszug aus der Speisekarte zu nennen).

Es bedurfte Menschen ganz besonderen Schlags, die die ländlich duftende Jauchekomposition mit der Muttermilch aufgesogen hatten und die sich von all den widrigen Umständen auf dem Tankstellengelände nicht abschrecken ließen. Es bedurfte jemanden wie Kunibert Eder, der an einem Mittwochabend mit seinem stark beachteten Zweirad zielgenau Richtung Imbiss steuerte. Und da kam er auch schon. Es hätte ein schöner Mittwochabend werden können, dachte Kunibert, während er sein Fahrrad an seiner Stammlaterne anlehnte und einige Zahlen am Schloss an die vorgesehenen Plätze schob. Die ganze Welt bestand aus Zahlen. Preise, Freunde, Körperfett, alles ließ sich mit ihnen ausdrücken. Ob man alleine war oder zu zweit, wie betrunken und wann ein Geschäft zu schließen hatte, fuhr er in Gedanken fort, als im Supermarkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Lichter erloschen. Manni, und damit war sein Chef gemeint, machte pünktlich Feierabend. Kunibert überprüfte noch einmal sein Schloss und ließ seine bessere Hälfte zahlenmäßig abgesichert an der Laterne zurück.

Ein schöner Mittwochabend, dachte Kunibert, als er den schwarzen 3er BMW von Sandro vor dem Imbiss entdeckte. Er stellte sich vor, wie sein bester Freund wie üblich gerade vom Training der ersten Mannschaft des MTV gekommen war. Wie er frisch geduscht, das kräftige, schwarze Haar gescheitelt, in einen Anzug gekleidet, ein eng anliegendes weißes, blaues oder manchmal rosafarbenes Hemd tragend, die erfolgreichen Kundentermine eines Tages am Tresen ausbreitete.

Kunibert betrat den Imbiss. Die Stimmen seiner besten Freunde empfingen ihn. Ein schöner Mittwochabend hätte es werden können, dachte Kunibert.

»Balu hört auf?« Krücke, der seinen Namen seit einer verlorenen Fußballschlacht trug, stand an seinem angestammten Platz hinter dem Tresen und schüttelte den Kopf. »Das glaub ich nicht …«

»Doch«, antwortete Sandro, der sich auf einem der Barhocker sitzend auf die Theke lehnte. »Wenn ich es dir doch sage!«

Kunibert näherte sich dem breiten Rücken seines Freundes, dessen blaues Hemd heute über der Anzugshose hing.

Die drei Stehtische im Imbiss ragten verlassen aus dem Boden, etwas Fett brutzelte wenig erwartungsvoll in der Fritteuse und der Kühlschrank murrte traurig vor sich hin.

»Du kannst gar nicht wissen, was ich glaube.« Krücke verschränkte seine Arme vor der Brust.

»Was glaubst du denn?«, fragte Sandro.

»Dass Balu nicht aufhört.«

»Aber Balu hört auf.«

»Das glaub ich nicht.«

»Du glaubst mir also nicht?«

»Das habe ich so nicht gesagt. Ich glaube nur nicht, dass Balu aufhören wird.«

»Doch, macht er! Deswegen war er grad beim Training und hat mit der Sparte gesprochen.«

Mit der Sparte war die Spartenleitung beim Fußball gemeint. Mit der sprach man dann, wenn es um Fußballangelegenheiten im Männerturnverein von Hennigsen ging.

»Das glaub ich, aber ich glaube nicht, dass er aufhören wird.« Krücke schüttelte wieder den Kopf, Sandro nickte umso stärker.

»Ist aber so!«

»Vielleicht hat er das nur so gesagt, es steht nicht einmal im SocialNett.«

»Ich weiß doch, was ich gehört habe. Balu hört auf«, sagte Sandro. »Dafür brauche ich kein SocialNett oder wie das Ding da heißt!«

»Die Oper ist erst aus, wenn die dicke Frau nicht mehr singt«, erwiderte Krücke.

Kunibert ließ sich neben Sandro auf einen der Barhocker fallen.

»Oh! Noch ein Gast!« Ein mattes Lächeln kroch auf Krückes fahles Gesicht. Ansonsten war seine Blässe kein Umstand mehr, der irgendjemand zu einer Nachfrage bewogen hätte. »Der Himmel schickt dich.«

»Kuno!« Sandro gab Kunibert einen Klaps auf den Rükken. »Wie geht es dir? Du hast auch von Balu gehört, oder?«

»Ja.« Kunibert nickte schwach. »Er will nach der Saison aufhören und mit dem Wohnwagen durch Deutschland fahren. Die Ärzte wissen einfach nicht, was er hat.«

»Da hörst du’s«, triumphierte Sandro.

»Der Herr sei mit ihm.« Krücke seufzte. »Vielleicht muss Balu auch nur zur Ruhe kommen. Dann steht er wieder auf.« Krücke klemmte sich seine langen Haare hinters Ohr, dorthin wo er sich auch sämtliche Knigge-Anweisungen und die zehn Gebote geklemmt hatte. »Vielleicht geht es ihm wie Lazarus.«

»Lazarus?«, fragte Sandro. »Wo hat der nochmal gespielt?«

»Griechenland.« Krücke verdrehte die Augen.

»Ach, beim Rehhagel!«

Krücke schmunzelte in seinen wuchernden Vollbart und stolzierte zum Kühlschrank.

Ein schöner Mittwochabend, dachte Kunibert, wie gerade eine einzelne Kondensträne an der Scheibe hinuntertrullerte und der alte Röhrenfernseher auf seinem Schwenkarm beschämt in den Laden hineinlugte. SV Willerse, zweite Liga, Platz zehn, verkündete er grün auf schwarz von Videotexttafel 283.

An einem anderen Mittwochabend hätte Sandro mit austauschbaren Redensarten wie »Willst du starke Arme, musst du deine Beine trainieren« geglänzt, sie hätten das Bier verköstigt – Kuniberts Opa väterlicherseits, der verträumte Gustav, sagte das so, »verköstigt« – und nicht nur hinuntergekippt. Und schließlich wäre es an der Zeit gewesen, Sandro von der Augenweide zu berichten, wie sie Annabelle eine war. Kurz hüpfte Kunibert bei dem Gedanken an sie sogar das Herz, aber das sagte man nur so, dachte er. Stattdessen kam ihm Balu in den Sinn, mit dessen Geschichte man die Stille für einige Zeit zurückgedrängt, aber nur neue Stille heraufbeschworen hatte. Denn Stille konnte nur durch Stille besiegt werden. Krücke stellte drei Flaschen Bier auf den Tresen.

»Auf Balu!«, sagte er, und die Freunde stießen an.

»Komme ich nicht drauf klar! Komme ich einfach nicht drauf klar!« Sandro stürzte den Inhalt seiner Flasche hinunter. »Warum bestraft Gott jemanden wie Balu, der sein ganzes Leben zu seinem Verein gehalten hat? Am Ende wird man nur verarscht!«