Der Bronzeschatz - Eduard Štorch - E-Book

Der Bronzeschatz E-Book

Eduard Štorch

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Beschreibung

Der Roman aus der Bronzezeit gehört zu den eindrücklichsten Geschichten von Eduard Štorch. Er erzählt nicht nur von längst vergangenen Zeiten. Die Spannung begleitet uns diesmal von den ersten Zeilen bis zum Ende. Seine Zeitlosigkeit verbirgt sich jedoch im Protagonisten, der sich von den anderen unterscheidet: Er sticht nicht durch Schönheit und Tapferkeit hervor, auf den ersten Blick ist er ein Krüppel – Knirps, ein aufgeweckter, neugieriger und mutiger Junge, der einen langen und gefährlichen Weg gehen muss um zu beweisen, dass eine Person nicht nur nach dem Aussehen beurteilt werden kann. Auf seiner Reise sucht er das Glück, vor allem aber will er den Namen seinen zu Unrecht des Mordes angeklagten Vaters reinwaschen. Eduard Štorch (* 10. April 1878 in Ostroměř; † 25. Juni 1956 in Prag) war ein tschechischer Schriftsteller, Pädagoge und Archäologe. Nach Abschluss des Realgymnasiums in Hradec Králové besuchte Štorch die dortige Lehrerbildungsanstalt. Danach wirkte er als Schulrat zunächst in Nordböhmen und Ostböhmen. Von 1903 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1938 unterrichtete Štorch in Prag. Bei Lubor Niederle studierte Štorch Archäologie. Daneben galt sein Interesse auch der Ethnographie und Biologie. 1935 verfasste Štorch zusammen mit Karel Čondl ein dreiteiliges Geschichtslehrbuch für die Bürgerschulen. Das sehr fortschrittliche Werk mit dem Titel „Praktisches Geschichtsbuch für die Bürgerschule“ wurde vor allem von der katholischen Kirche scharf angegriffen und führte 1936 zu einer förmlichen parlamentarischen Anfrage des Senators und Katecheten Alois Roudnický (ČSL) an die tschechoslowakische Regierung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts publizierte Štorch eine Reihe von Büchern zur Ur- und Frühgeschichte Böhmens und Mährens. Später verarbeitete er diese Thematik in Jugendbüchern. Bekanntheit erlangte Štorch im deutschsprachigen Raum vor allem durch die in mehreren Auflagen erschienenen Erzählungen „Die Mammutjäger“, „Der Bronzeschatz“ und „Abenteuer am großen Fluß“. In Lobeč, dem Schauplatz seines Romans „Minehava“ fand er seine letzte Ruhestätte.

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Seitenzahl: 266

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Eduard Štorch

Der Bronzeschatz

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Bronzeschatz

 

 

 

 

 

 

 

Eduard Štorch

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright: Chiara-Verlag im vss-verlag

Jahr: 2022

 

 

Lektorat/ Korrektorat: Annemarie Werner

Übersetzung: Franz Groß

Covergestaltung: Hermann Schladt

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

Gedruckt in Deutschland

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzuläßig.

DIE MOLDAU

 

Steter Tropfen höhlt den Stein. Hunderttausende Jahre hat der große Fluss, die Moldau, das Gestein seines Bettes benagt und Erde und Schlamm nach Norden fortgeschwemmt.

So wurde jenes Plateau freigelegt, das heute Letna genannt wird. Der gewaltige Fluss stieß etwas weiter auf harte Quarzfelsen, wich ihnen in großem Bogen aus, nahm aber dann wieder seinen Lauf nach Norden. Damals bevölkerten die ersten Urmenschen die Landstriche West- und Südeuropas und vielleicht verirrte sich auch eine Schar wilder Jäger bis in unsere Gegenden. Wieder vergingen fünfzigtausend Jahre.

Tiefer grub die Moldau ihr Bett und spülte Gestein und Sand fort. Das Flussbett senkte sich, der Wasserspiegel fiel — anfangs langsamer, dann aber um so rascher, je mehr Wasserläufe sich zu einem gewaltigen Fluss vereinigten, bis sich dieser schließlich alle hundert Jahre um je einen Dezimeter senkte.

Heute hat sich die Moldau bereits mehr als hundert Meter in ihr ursprüngliches Flussbett eingeschnitten.

Als die Jäger der Urzeit hier Rentierherden verfolgten und rie­sigen Mammuten nachstellten, floss die Moldau noch zwanzig Meier über ihrem heutigen Bett. Und als sich in dem schönen Kessel, in dem heute Prag liegt, in einer Landschaft voll Inseln, Flussarmen und üppiger Vegetation, die ersten sesshaften Be­wohner in ärmlichen, kleinen Siedlungen niederliessen, glitzerte der Moldauspiegel immer noch acht Meter über seinem heuti­gen Stand.

Rastlos aber nagte der Fluss an seinem Bett weiter, Dezimeter um Dezimeter grub er sich von Jahrhundert zu Jahrhundert in sein hartes Lager ein. Hier weideten die Menschen der Steinzeit ihre Herden und pflanzten auf ihren bescheidenen kleinen Fel­dern ihr dürftiges Getreide und ihren Flachs.

Jahrhunderte und Jahrtausende versanken in den Schoß der Zeit. Die mahlende Kraft des strömenden Wassers ließ den Boden des Flusses um weitere Meter fallen. Der Spiegel des großen Flusses war kaum noch fünf Meter über seinem heutigen Niveau — kaum vier — kaum drei Meter noch ...

Die an den Ufern des herrlichen Flusses sesshaften Stämme wurden zu jener Zeit von Händlern aufgesucht, die aus südli­chen Ländern prächtige, goldgelbe Bronzearbeiten brachten. Die Frauen träumten von Bronzearmspangen und -nadeln. Die Männer gaben alles her, um ein ersehntes Bronzemesser, einen Speer, einen Dolch oder gar ein schweres Schwert aus Bronze zu bekommen; denn diesen kam keine der alten Stein­waffen gleich, mochte sie noch so gewissenhaft verfertigt worden sein.

Die menschliche Kultur war um einen Schritt vorangegangen. Die Steinzeit endete und in Mitteleuropa trug die Bronzezeit den Sieg davon.

Die Moldau rauschte, sie sang den Menschen der Bronzezeit ihr uraltes Lied. Mehr als zweieinhalb Meter hartes Gestein noch müsste sie ausspülen, um moderne Menschen im Jahrhundert des Dampfes, der Elektrizität, des Rundfunks und der Flug­zeuge an ihren Ufern zu erblicken ...

Was wird sie wohl zu sehen bekommen, bis ihre Wasser einst ein weiteres Meter unter ihrem heutigen Niveau dahinfliessen werden?

Wird sie glückliche Menschen vorfinden, die in Frieden und brüderlicher Liebe leben?

DIE BÄREN

Einige kleine Siedlungen säumten den Fluss der bewaldeten Hö­henrücken. Wald und Wasser boten den Bewohnern des Tal­kessels, in dem heute Prag liegt, ein hinreichendes, wenn auch bescheidenes Dasein. Ihre kleinen Flachs-, Weizen-, Gerste- und Hirsebeete zeugten von ihrer primitiven Landwirtschaft. Auf den Wiesen weideten da und dort magere Rinder; der Ruf der Hir­ten, die eine verirrte Kuh suchten, schallte durch den tiefen Wald.

Der Kaltbach war ein kleines Rinnsal mit klarem Wasser, schmackhaften Forellen und leckeren Krebsen. Dort, wo er in die Moldau mündete, schmiegten sich ein paar Hütten an sein Ufer. Sie gehörten dem Stamme der Bären; ihre runden, mit Lehm beworfenen Katen waren über ein großes Stück Land ver­leih. In einem entfernter liegenden Teil der Siedlung wohnte auch der Häuptling des Stammes, der Starke Bär, am Bach selbst vertrat ihn Schiefmaul, der Priester, Zauberer und Geister­beschwörer (Schamane) des Bärenstammes. Die Hütten dieser beiden Männer waren die größten, waren viereckig, trugen ein Dach und waren aus starken Baumstämmen gebaut.

Vergeblich hätte man hier jenen Bären, der Vogelsteller genannt wurde, in seiner Hütte oder bei der Beratungseiche gesucht. Auch auf seinem Feld arbeitete er nicht, und bei seinem Vieh auf der Weide war er gleichfalls nie zu erblicken.

Der Vogelsteller war immerzu im Walde. Ganze Tage und oft auch des Nachts weilte er bei seinen Vogelherden. Wenn der Häuptling den Stamm zur Beratung zusammenrief, kamen nicht immer alle Männer, aber Vogelsteller fehlte fast jedes Mal. Ver­geblich wärmte sein zweites Weib, das schöne Rotkehlchen, mit heißen Kieselsteinen den dünnen Brei und umsonst bereitete sie die in Honig eingelegten Eichhörnchen zu, Vogelsteller erschien nicht zum Abendbrot. Aus allen Hütten ringelte sich eine blau­graue Rauchsäule zum Himmel, es verbreitete sich der Duft gebratenen Fleisches, nur in Vogelstellers Hütte gab es kein Wild und der Rost seines Herdes lag im Winkel. Dabei war es dem ganzen Stamme gut bekannt, dass der Vogelsteller ein ausgezeichneter Jäger war, der soviel Beute aus dem Walde hätte bringen können, wie er nur wollte.

Rotkehlchen müsste denn auch aus den benachbarten Hütten manches bissige Wort einstecken. So hatte der unfreundliche Brummbär ihr im Vorbeigehen zugerufen, die Familie Vogler habe heute wohl bald zu Abend gegessen. Rotkehlchen blitzte ihn mit drohenden Augen an, lief auf den Hügel jenseits des Baches und ließ das Tal entlang Voglers Pfiff erschallen.

Sie bekam jedoch keine Antwort.

Vogler war wohl wieder so in seinen Vogelfang vertieft, dass er gar nicht wüsste, wie die Zeit dahineilte und dass sich die Män­ner vor der Beratungseiche schon zu dem üblichen Abend­plausch auf ihre Steinsitze niederliessen.

Ungeduldig warf Rotkehlchen den Kopf zurück und ging wieder in ihre Hütte.

„Wo bist du, Knirps?“ schrie sie, um den Sohn der verstorbenen ersten Frau des Voglers herbeizurufen.

„Der Bub ist schon wie der Vater“, sagte Rotkehlchen zu sich selbst. „Ununterbrochen steckt er im Wald. Daheim sieht man ihn nur beim essen!“

„Knirps, wo bist du wieder, du unsteter Geist?“

Aus dem Gestrüpp kam die unscheinbare, etwas verwachsene Gestalt eines Knaben. Er war zwar nicht bucklig, aber mit sei­nem schwachen, kurzen Körper und den langen Armen sowie dem auf dem Rumpf fast ohne Hals aufsitzenden kleinen Kopf unterschied er sich sehr unvorteilhaft von der übrigen gesunden Jugend des Stammes. Darum nannte ihn auch niemand anders als „Knirps“ und es ist wohl nicht verwunderlich, dass er von jedermann spöttische und unfreundliche Worte zu hören bekam, wo doch nicht einmal Rotkehlchen, seine eigene neue Mutter, für ihn ein gütiges Wort hatte. Sie hatte ihm schon oft vor­geworfen, dass sie sich für einen solchen Krüppel wie ihn schäme. Und mehr als einmal hatte er bereits hören müssen, dass Rot­kehlchen ihn in den Wald zu den Wölfen treiben werde, wenn ihr ein eigener Sohn geboren würde.

Knirps näherte sich langsam der Stiefmutter. Lächelte er? Schnitt er eine Grimasse? Das war schwer zu sagen, denn Knirps zeigte immer die Zähne. Manchmal sah das wie ein bitteres Lächeln aus, in diesem Augenblick aber drückte sein Gesicht eher kindische Freude aus. In seinen Augen strahlte sieghafte Befriedigung.

Er trieb einen Ziesel vor sich her, den er mit einer Schnur an einem der Hinterbeine angebunden hatte. Mit einer Rute wies er ihm die Richtung des Weges.

„Du meinst wohl, dass wir an einem Ziesel genug zum Abend­essen haben?“ schrie Rotkehlchen den Knaben spöttisch an. Knirps blieb ganz ruhig und zog, ohne die Schnur loszulassen, aus seinem Bast-ränzel einen zusammengerollten Igel heraus. Er legte ihn vorsichtig auf die Erde und strich sich mit der Hand über den Schenkel, als wollte er die von den spitzen Stacheln schmerzende Haut streicheln.

„Rotkehlchen, das war ein Spaß mit den beiden!“ begann der Knabe zu erklären.

„Ich will nichts wissen von deinem Spaß“, fuhr ihn Rotkehlchen an. „Wieder bringst du neues stinkendes Viehzeug nach Hause! Ich werf’ euch das alles hinaus ... Und du schau, dass du weiter­kommst, lauf’ zum Vogelherd und hol den Vater...“

Knirps legte den eingerollten Igel und den sich windenden Zie­sel in sein Bastränzel; dann ging er in den Wald seinen Vater suchen.

Er durchwatete den seichten Bach und eilte auf einem kaum bemerkbaren Pfad den Berg hinan. Unter einem Felsblock, nicht weit hinter einem Buchendickicht, begegnete er dem Vater. Der Vogler trug einen geflochtenen Käfig, der mit einem Stück groben Zeugs zugedeckt war.

„Hast was gefangen, Vater?“ fragte er den Mann.

Vogler lächelte und sagte kein Wort.

Knirps hatte aber bereits erraten, dass es heute eine gute Jagd gegeben haben müsse und der Vater wohl etwas besonders Sel­tenes gefangen habe. Er wollte einen Zipfel der Decke vom Käfig lüften, der Vater nahm aber das Vogelbauer in die andere Hand. „Der Vater will sich gewiss erst daheim damit rühmen!“ dachte Knirps und zappelte mit kleinen Schritten neben dem Erwach­senen her.

Knirps war auf seinen Vater, den berühmten Vogelfänger, stolz. Niemand in der Sippe verstand es so wie er, Vögel in Schlingen, Netzen und im Garn, mit Pfeilen oder Schleudern zu erbeuten. Sein Vogelleim, den er unter geheimnisvollen Zaubersprüchen aus Mistelzweigen zubereitete, war weit und breit der beste. Selbst der Häuptling holte ihn vom Vogler. Knirps verstand es auch, aus Kiefernharz Leim herzustellen, was war aber sein Leim gegen Vaters Mistelleim! Knirpsens Leim trocknete bald ein und hielt dann nicht einmal einen Käfer fest, während des Vaters Mischung lange feucht blieb und nicht einmal einen Dornhäher oder einen Star losließ.

Vater konnte noch eine Menge anderer wunderbarer Dinge, er war wirklich der beste unter allen Jägern. Während diese im Winter die von ihnen aufgestellten Fallen meist leer fanden, brachte Vogler immer eine Beute heim. Man sagte im Stamme, Vogler besitze einen gewaltigen Zauber, mit dem er das Wild in seine Fallen locke. Der Vogler müsste über solches Gerede nur lachen. Dem Buben aber verriet er, was für ein Geheimnis dahinter steckte, dass das Wild wie blind in seine Fallen lief. „Ich koche Abfälle und verdorbene Fische und mische Hasen­fett, etwas — aber nicht viel! — Bibergeil sowie den Inhalt der Harnblase einer Wölfin dazu. Damit bestreiche ich die Falle und fange dann sogar einen Fuchs!“

Knirps erriet schon selbst, dass der Geruch dieser Flussigkeit die Reste der menschlichen Ausdünstungen verdeckt, die auf der Falle und an allem haften bleiben, was der Jäger berührt; auch seine Spuren in der Umgebung der Falle sind dann nicht erkennbar. „Ja, der Vater ist gescheit! Einen Jäger wie ihn findet man nicht wieder. Wenn ich doch auch alles das lernen könnte!“

Knirps störte die Stille nicht. Er trat vorsichtig auf und brach auch nicht ein Zweiglein. Es war nicht zu hören, dass hier zwei Menschen schritten. Dies gebot die Jagdsitte und der Vogler war daran gewöhnt.

Knirps konnte nun seinen Gedanken nachhängen.

Wenn er groß sein würde, wollte er irgendwohin in die weite Welt wandern und im Walde unter Tieren und Vögeln leben ... Niemand sollte seine Lieblinge dann hinauswerfen. Er erinnerte sich an die Stiefmutter und überlegte, ob sie wirklich ihre Dro­hung wahrmachen und ihm seine Tiere aus der Hütte verjagen werde. Da würde ihn das ganze Leben nicht mehr freuen. Er war ja an seine kleinen Gefährten schon so gewöhnt! Für den Häher war ihm schon ein schönes Marderfell geboten worden, aber er gab ihn dafür nicht her. Sein Häher war so zahm, dass er seinen Käfig offenlassen konnte; das Tier hüpfte dann in der Hütte herum und las die Eicheln vom Boden auf, die Knirps ihm zuwarf. Manchmal müsste Knirps über ihn unbändig lachen, wenn sich der Häher seinen kleinen Kropf vollstopfte, bis die letzte Eichel so aus dem Schnabel herausschaute, dass er ihn gar nicht recht schließen konnte. Er war ein unersättlicher Fress­sack. Der Häher hüpfte dann hübsch in den Winkel, wo er in einem Riss der Wand seine geheime (Knirps allerdings gut be­kannte) Vorratskammer hatte, in die er alle Eicheln fallen ließ. Dann presste er sie mit dem Schnabel in die Öffnung und hüpfte sofort wieder herbei, um Knirps anzubetteln ... Wenn er ihm nicht gleich etwas gab, suchte der Vogel selbst in der Hütte herum und prüfte mit seinem Schnabel alle Ritzen. Die kleinen, um die Feuerstelle herumliegenden Äste wendete er hin und her, schleppte sich mit ihnen ab und durchstöberte die Felle, bis ihm Rotkehlchen etwas nachwarf. Da verbarg sich der Häher rasch, bis er nach einer Weile wie eine Katze leise zu miauen anfing. Knirps antwortete ihm mit einem Pfiff. Da zwitscherte der Häher wie ein Star, kam aus seinem Versteck hervorgekrochen, sträubte seine Haube und breitete den Stoß aus. Knirps warf ihm eine Eichel zu und der Häher rollte sie am Boden umher und spielte mit ihr wie ein kleines Kind. Doch gab er dabei scharf acht. Kaum hob Rotkehlchen einen Fichtenzweig auf, um ihm damit eins zu versetzen, hörte man ein „Schrrr, schrrr“ und der schlaue Häher huschte noch rechtzeitig davon und ließ sich auf einem der an der Wand hängenden Käfige nieder; dort fühlte er sich in Sicherheit.

Ja, sein Häher wusste gut, wer ihm ein Leid zufügen wollte und wer ihn liebte. Vor Knirps fürchtete er sich nicht, und wenn der Junge beim Abendessen sein Schüsselchen in die Hand nahm, kam der Vogel sofort nach einem Bissen zu ihm geflogen. Als ihm der Vater einmal eine junge Weihe heimbrachte und Knirps sie fütterte, fand der Häher an ihr solchen Gefallen, dass er beim Füttern half. Er lernte, die junge Weihe auf ihren Ruf hin selbst zu füttern, als sei sie sein Junges. Knirps wurde damals vor Freude halb närrisch; er wollte ohne Unterlass nur mit seinen Vögeln spielen und sie füttern. Solange der Vater daheim war, war Knirps mit seinen Tieren sicher, aber das war eben das Unglück, dass der Vogler fort im Walde war!

Die Weihe besaß Knirps auch nicht mehr! Rotkehlchen sagte, sie sei davongeflogen, doch Knirps glaubte das nicht und irrte viele Tage in der Siedlung und am Waldesrand umher. Dort rief er seinen verlorenen Vogel, fand ihn aber nirgends …

Auch einen jungen Wolf hatte er gehabt... Schon das zweite­ Mal! Den ersten hatte er mit dem Vater in der Falle gefangen. Als er ihn heimbrachte, grub das Tier seine Zähne in alles, was es erreichte, und machte einen furchtbaren Lärm. In der Nacht zerbiß es dann die Schnur und lief davon. Der zweite junge Wolf, den er selbst gefangen hatte, während der Vater die alte Wölfin erschlug, war weniger wild und hätte sich wohl gut zäh­men lassen. Knirps gab sich mit ihm viel Mühe und fütterte ihn reichlich. Und das war für das Tier verhängnisvoll; es fraß so gierig, dass es sich überfraß und einging ...

Seit diesem Vorfall wollte Knirps keinen Wolf mehr. Später, wenn er erwachsen ist und viele Felle erbeutet hat, wird er sich bei den Händlern einen kleinen Hund kaufen, ja, so einen Hund, wie ihn der Schamane Schiefmaul besitzt. Der Hund wird über­all mit ihm umherlaufen, wird mit ihm essen und schlafen... Und die Buben werden ihn nicht mehr so ärgern, sie werden sich vor seinem Hund fürchten.

So war Knirps im Geiste bei seinen geliebten kleinen Tieren.

In der Nähe hörte man einen Vogel zirpen.

Der Vogler blieb augenblicklich stehen.

„Das war ein Gelbbrüstchen“, flüsterte Knirps, aber schon duckte er sich geschickt, um einem Kopfstück des Vaters zu ent­gehen.

„Nein, nein, kein Gelbbrüstchen, ein Zaunschlüpfer, wollte ich sagen“, verbesserte er sich sofort.

Vogler spuckte aus.

Knirps sah, dass er wieder falsch geraten hatte.

„Junge, ich hänge dich mit den Beinen auf die Buche dort!“ machte der Vater, als ärgere er sich. „Du merkst dir doch gar nichts und lernst auch nichts! Man muss sich schämen, so ein großer Bengel, und erkennt den Würger nicht!“

„Nun ja — ein Würger!“ verteidigte sich der Junge. „Der täuscht einen jeden . . .“

„Einen Dummkopf höchstens, wie du einer bist!“ tadelte der Vogler entrüstet. Aber man hörte seiner Stimme an, dass er sich nicht im Ernst ärgerte. Von dem Würger lässt sich wirklich auch mancher alte Vogelfänger täuschen. „Was wird aus dir werden, Knirps?“ sagte der Vater mehr zu sich selhst und wandte sich dann dem Knaben zu.

„Zur Arbeit taugst du nicht, zur Jagd bist du zu schwach, hast keine Kraft, und jetzt verwechselst du den Würger mit dem Gelbhrüstchen! Musst fleißiger lernen, sonst wirst du im Leben nie deinen Mann stellen. Zeig mal, wie die Eule heult !“ Knirps ließ ein gedehntes Heulen hören.

Der Vogler schien ziemlich zufrieden zu sein, meinte aber den­noch: „Du müust den Ton mehr durch die Nase gehen lassen!“ Dann prüfte er Knirps weiter: „Wie macht’s der Igel?“

Das kannte Knirps gut. Er machte einen Schnarcher und stöhnte und klagte fast wie ein kleines Kind.

„Wie schreit der Hase, wenn er sich in der Schlinge gefangen hat?“

Knirps quiekte klagend wie ein wirklicher Hase.

„Wie macht’s der Dachs?“

Knirps grunzte nun wie ein Schwein und brummte dann so ge­schickt, dass der Jäger darauf geschworen hätte, er höre einen aufgebrachten Dachs.

Dann musste Knirps noch zeigen, wie der Taubenfalke, der Blau­specht und der Eisvogel pfeifen und wie das Rebhuhn oder die Ente rufen.

Der Vogler blinzelte und Knirps wusste, dass er die Prüfung gut bestanden hat. Aber sie war noch nicht zu Ende.

Jetzt begann nämlich der Vogler zu pfeifen und zu zischen, als spielte er auf der Flöte, und Knirps müsste raten, welcher Vogel das wär.

„Das ist der Pirol“, sagte er voll Selbstvertrauen.

Der Vogler stellte eine neue Aufgabe. „Tschek, tschek, tschek!“ erscholl es durchdringend.

„So ruft die Grasmücke, wenn sie eine Gefahr wittert“, erriet Knirps sofort.

So hätten der Vogler und sein Sohn sich wohl noch lange unter­halten, denn sie waren in ihrem Element. Über den Vögeln hätten sie alles vergessen

Nach einer Weile aber meinte Knirps: „Rotkehlchen — hm! — dass du so lange nicht kommst!“

Der Vogler schnalzte mit der Zunge, sagte jedoch nichts. In seinen zugekniffenen Augen leuchtete es nur auf.

Daheim — ach ja, daheim . . .

Immer und überall bildete der Gleichklang der Seelen die Grund­lage des Familienlebens. Doch in des Voglers Hütte gab es ein solches Einvernehmen nicht. Er hatte zwar eine junge, freundlich lächelnde Frau, alles, was wahr ist — ihr besonderes Kennzeichen bildeten Grübchen auf den Wangen — und er müsste seinerzeit um sie bei ihren Eltern ein volles Jahr dienen, ihnen den bestenTeil der Beute übelassen, für sie Arbeiten verrichten, Bäume fällen, ein Boot aushöhlen und alle möglichen anderen Dienste leisten, ehe er Rotkehlchen in seine Hütte nehmen durfte.

Drei Jahre war das nun her — wie die Zeit vergeht . . . Als wäre es heute, sah Vogler die junge Frau, die damals vor Heiterkeit strahlte. Und sie war auch nicht mit leeren Händen zu ihm ge­kommen. Sie bekam damals eine vollständige Ausstattung, die ihr Vater am Tage der Hochzeit in Voglers Hütte brachte; drei Steine zur Errichtung einer Feuerstelle, mehrere Tongefäße, die die Braut selbst geknetet und verziert hatte, ein Bronzemesser, zwei Holzlöffel und einen großen, schön flach geschliffenen Mahlstein aus Granit zum Mahlen der Getreidekörner.

Ja, damals war es in des Voglers Hütte lustig. Er war zufrieden und dachte gar nicht mehr an seine verstorbene, erste Frau.

Aber Rotkehlchen war auch zu fremden Händlern freundlich und tat mit ihnen schön, was sie doch nicht sollte. Und man sagte über sie, sie lüge, was noch ärger war. Bedauernswert ist der Mann, dessen Weib seine Familie dadurch in Schande bringt, dass sie nicht die Wahrheit spricht! Und so brachte das schöne Rot­kehlchen über Vogler, den berühmten Jäger und Vogelsteller, mit der Zeit wirklich Schande.

So erzählte Rotkehlchen einmal, jemand habe ihr einen Topf Milch ausgetrunken, und deutete dabei an, dass das wohl des Nachbarn Weib gewesen sei. Das hatte in der Nebenhütte zuerst eine Tracht Prügel und so viel Lärm zur Folge, dass es bis an das jenseitige Ufer des Großen Flusses zu hören war. Erst nach der Bestrafung begann Großmaul, der Mann der Nachbarin, nachzu­forschen, ob es wirklich wahr sei, dass sein Weib dem Rotkehl­chen die Milch weggetrunken habe. Und siehe da ! Es zeigte sich, dass sein Weib völlig unschuldig war; sie hatte nämlich während der fraglichen Zeit mit anderen Weibern weit auf den Feld­beeten gearbeitet. Was Rotkehlchen gesagt hatte, war also frei erfunden.

Der verprügelten Frau konnte die Tracht Schläge natürlich nie­mand mehr abnehmen, aber der gute Ruf Rotkehlchens hatte da­mals stark gelitten. Und das quälte den Vogler sehr. Er sprach dann auch bei den Zusammenkünften der Männer nicht mehr so beherzt wie früher. Er verlegte seinen Sitz beim Beratungsfeuer aus der vorderen Reihe mehr in den Hintergrund, und wenn er zur Sippe sprach, senkte er die Augen.

Vogler versuchte alles damit aus der Welt zu schaffen, dass er Rotkehlchen über den Winter gegen das Weib des Niesenden Bi­ber von der befreundeten nahen Bibersippe austauschte. Doch auch das half nichts. Als im Frühjahr beide Weiber zu ihren ursprünglichen Männern zurückkehrten, erzählte Rotkehlchen über den Niesenden Biber alles mögliche schändliche Zeug. Und daraus entstanden wieder Verdrießlichkeiten, denn die Biber be­schwerten sich bei dem Häuptling, dem Starken Bären, über Rot­kehlchen, die ihren Ruf untergrabe. Damals wurde Rotkehlchen so verprügelt, dass sie beinahe lahm blieb, aber der Vogler war nun noch ärger daran als früher. Er glaubte Rotkehlchen nichts mehr und verbrachte lieber ganze Tage lang im Walde, um nicht wieder irgendeinen neuen Tratsch zu hören und das lügenhafte Weib strafen zu müssen...

Bei der Beratungseiche loderte das Lagerfeuer.

Alle Männer saßen auf ihren Steinsitzen und der mächtige Zau­berer Schiefmaul begann den versammelten Bären etwas zu er­klären. Leise schlüpfte der Vogler in seine Hütte.

Knirps band noch den Igel und den Ziesel an einen Baum neben der Hütte, warf Holz ins Feuer und zählte seine kleinen Tiere ... Spät abends noch sangen die Bären am Lagerfeuer und ein Stück weiter saßen im Dunkeln auf einem Baumstamm der Schamane Schiefmaul mit dem Vogler. Sie sprachen leise in kurzen Sätzen ihre Gedanken aus. Und dann vereinbarten sie, ihre Weiber aus­zutauschen.

Schiefmaul war mit seinem Weibe, das Krausköpfchen genannt wurde, unzufrieden, weil sie jähzornig war und gleichfalls gerne log. Dem Priester tat es sehr leid, so ein Weib zu haben. Er ließ sich nichts anmerken, überlegte aber schon lange, wie er Kraus­kopf loswerden könnte, obwohl sie flink und besonders bei der Herstellung und beim Nähen von Webstoffen sehr geschickt war. Es gab kein zweites Weib im Stamme, das so gewandt aus den Rückensehnen des Hirsches lange Fäden herzustellen verstand. Am meisten ärgerte sich der Zauberer, als sich Krauskopfs Be­hauptung, sie werde bald einen Sohn bekommen, als leeres Ge­rede erwies. Schiefmaul fürchtete damals, er werde im Stamme an Ansehen einbüßen. Jetzt aber sandte ihm der Große Geist selbst den Vogler mit seinen Klagen über Rotkehlchen über den Weg. Der schlaue Schamane ergriff sofort die Gelegenheit und bot dem Vogler den Tausch ihrer Frauen an.

„Du müsst mir nur fünf Fuchsfelle zugeben“, sagte er, „und Krausköpfchen gehört dir. Dann kannst du bei deiner Hütte ein paar Pflöcke einschlagen, und die Frau wird dir prächtige Stoffe weben; du hast ja meinen gestreiften Kittel gesehen.“

„Gut, Schiefmaul, ich bin einverstanden“, antwortete der Vogler, der sich durch die Worte des Zauberers gewinnen ließ. „Aber ohne jede Zugabe. Das Weib des Vogelstellers würde zu sehr gedemütigt, wenn es nicht als gleichwertiges Tauschobjekt betrach­tet würde. Wisse, Schiefmaul, dass Rotkehlchen im Rufe steht, dass ihr unter unseren Weibern keines an Behändigkeit und an Frische der Wangen gleichkommt. Ich gebe nichts zu.“

„Nun denn, es sei, lieber Vogler! Hier ist meine Hand. Kraus­köpfchen gehört dir und Rotkehlchen ist von dieser Stunde an mein.“

Beide Männer reichten einander die Hand und trennten sich. Vogler machte um die beratenden Männer einen Bogen und be­trat die Hütte des Zauberers.

Schiefmaul beschwor beim Beratungsfeuer noch die wilden Tiere und die bösen Geister, damit sie dem Vieh des Stammes keinen Schaden zufügten. Die Bären gingen heute lange nicht ausein­ander und begannen zu tanzen, wobei sie ein paar kleine Schritte vorangingen, mit den Füßen aufstampften und wieder zurück­traten. Der Zauberer verließ die Versammlung bald und begab sich in die Hütte des Voglers.

Am frühen Morgen bekam dann die Siedlung am Bache ein hei­leres Schauspiel zu sehen: Vogler zog Krauskopf aus der Hütte des Zauberers in seine eigene und der Schamane zerrte Rotkehl­chen aus der Kate des Voglers. Beide Weiber kreischten, bis die ganze Siedlung auf den Beinen war. Doch schien es, dass die Frauen das wahrscheinlich nur darum taten, um die Aufmerk­samkeit auf sich zu lenken. Insgeheim schmeichelte es beiden, dass sie von den Männern in deren Hütten geschleppt wurden; als nämlich genügend Zuschauer zusammengelaufen waren, hör­ten beide Weiber zu schreien auf und liessen sich fast widerstands­los in die neuen Hütten führen. Als sie dann dort noch ein paar Schläge bekamen, wurden sie ganz zahm; sie fügten sich in ihr Schicksal und begannen den neuen Männern, ihren Herren, ruhig zu dienen.

Besonders das hübsche Rotkehlchen söhnte sich bald mit ihrer neuen Lage aus und tanzte fleißig um ihren jetzigen Mann her­um,lobte seinen Jagdhund und sah voll Verehrung seinen Zauber­künsten und rituellen Tänzen zu. Fast jeden Tag brachte jemand irgendeine Opfergabe in die Hütte des Priesters. Dabei bat er meist um eine Medizin oder um ein Amulett, ein Zaubermittel, und so ging es Rotkehlchen natürlich gut. Nicht einmal der Häuptling erhielt einen so großen und schönen Anteil an der Jagdbeute wie der allgewaltige Schamane, dessen Zaubereien ja die Erfolge der Jäger zu verdanken waren, wie er durch seine Künste genau so das völlige Misslingen aller Unternehmungen herbeiführen konnte.

Der herrschsüchtige Schamane war geehrt und gefürchtet und ein Abglanz seiner Würde fiel auch auf sein Weib. Darum fand Rotkehlchen Gefallen an ihrer neuen Stellung und sagte jedem, der es hören wollte, dass es bei Schiefmaul ganz etwas anderes sei, als es bei Vogler gewesen. Doch dauerte es nicht lange und der Zauberer erfuhr, was in der Sippe gemunkelt wurde — dass es nämlich Rotkehlchen bei ihm schlecht gehe, dass sie oft Hunger habe, da er sie angeblich aus Geiz von all den guten Sachen nicht einmal kosten lasse, und dass das arme Weib die ganzen Nächte hindurch weine.

Schiefmaul wüsste sofort, wo die Quelle dieser und vieler anderer üblen Nachreden zu suchen sei, und er erzürnte sich über das Weib. Und als ein paar Monate vergangen waren, wurde ihm Rot­kehlchen wegen ihrer Lügen ganz zuwider. So gab es in des Zau­berers Hütte beinahe jeden Tag erregte Zänkereien und auch in der Siedlung selbst entstanden Streitigkeiten, als Schiefmaul er­mittelte, wer den Klatsch weitertrug. Es kam zu Zank und Un­ruhen, und das alles nur um Rotkehlchens willen, die ihren Mann ununterbrochen schlecht machte.

Einmal besserten am nahen Moldauufer Händler einen lecken Nachen aus und hielten sich etwa einen halben Monat hier auf. Die Bären hockten nun tagelang um das Lager der Händler her­um und sahen neugierig der Arbeit der gewandten Männer sowie ihrer Diener und Sklaven zu. Abends erzählte dann jeder beim Beratungsfeuer, was er gesehen und aus dem Gespräch der frem­den Händler aufgefangen hatte.

Manchmal baten die Händler auch die Bären um Hilfe; einmal benötigte man Werg, Pech oder Bast, dann wieder müssten einige Föhren oder Eichen gefällt werden, und die Bären leisteten be­reitwillig ihre Dienste. Auch Zauberer Schiefmaul kam an die Reihe, seine Kunst zu zeigen.

Ein Ruderer der Händler wurde nämlich bei der Instandsetzung eines Floßes von einem Unfall betroffen. Die schweren Baum­stämme klemmten ihm das Bein ein und richteten es bös zu. Die Händler verbanden ihm das Bein, legten kalte Umschläge auf, der Ruderknecht riss in der Nacht aber alles herunter. Er brüllte vor Schmerz. Sein Weib, die Einäugige Ziege, kam dann aus dem Zelt herausgestürzt und lief in die Bärensiedlung, um den Zau­berer zu holen.

Dieser kam und ließ den kranken Bootsknecht aus dem Zelt zum Feuer tragen. Dort begann er ihn mit seinen geheimnisvollen Zaubermitteln zu behandeln. Zuerst vertrieb er den bösen Geist, der den Unfall des unglücklichen Mannes verschuldet hatte, durch Schreien, durch Schläge mit einem Prügel und durch Fußtritte. Dann entnahm er seinem Hexenbeutel einige Zaubermittel, die ihm für die Behandlung dieses Falles geeignet schienen.

Er nahm also eine Maulwurfpfote zwischen die Finger und bestrich mit ihren Krallen das verletzte Bein, damit sich der Schmerz in die Erde verkrieche. Darauf fuhr er mit dem Schwanz eines großen Fisches über die Wunde, damit der Schmerz ins Wasser steige und mit diesem davonschwimme. Endlich machte er die gleichen Bewegungen mit einem Rabenflügel, damit der Schmerz davonfliege, und schließlich wischte er mit einem Bü­schel Heu den Fuß ab und warf es ins Feuer, damit die Flam­men den Schmerz ganz und gar vernichteten.

Diese seine Hexereien begleitete der Priester mit kreischendem Gesang, mit unverständlichem Murmeln, wilden Sprüngen und Tänzen. Von Zeit zu Zeit schlug er mit seinem Prügel um sich, als wollte er jemanden vertreiben. Die Zuschauer ersahen daraus, dass der böse Geist immer noch versuchte, den Kranken anzu­fallen. Der wachsame Zauberer aber war auf der Hut: er ver­sperrte dem Geist den Weg zu dem vor ihm liegenden armen Mann.

Der unglückliche Ruderknecht griff in seinem Schmerz nach dem blau unterlaufenen und stark geschwollenen Fuß, der Schamane aber blies ihm jedes Mal ins Gesicht, so dass der Bedauernswerte auf sein Lager zurückfiel. Diese Behandlung des Zauberers dauerte sehr lange; schließlich fiel der Patient ermüdet in einen unruhi­gen Schlaf.

Alle Anwesenden bewunderten die allgewaltige Zauberei des Scha­manen.

Dieser kam dann jeden Tag mit immer neuen Zaubermitteln zu dem Kranken. Der schrie nun nicht mehr, aber sein Bein war beinahe schwarz.

Die Einäugige Ziege, ein unschönes, aber heiteres und fleißiges Weib, bemühte sich, dem mächtigen Zauberer durch Beflissen­heit und Geschenke ihren Dank abzustatten. Schiefmaul nahm die Beweise der Dankbarkeit von Ziege selbstgefällig entgegen und hörte erfreut ihre Schmeicheleien.

Die Händler begaben sich bald auf ihre weitere Fahrt und der verunglückte Ruderknecht blieb in seinem Zelt am Moldauufer mit seinem Weib allein. Der Zauberer doktorte ohne Unterlass an ihm herum, bis er eines Tages um das Zelt herumzulaufen be­gann und zornige Schreie ausstieß. Er ärgerte sich, weil der böse Geist gesiegt hatte.

Alle wüssten nun, dass der unglückliche Ruderknecht sein Leben ausgehaucht hatte.

Die Bären begruben ihn unweit des Zeltes unter einer Eibe. Sie banden den Toten in hockender Stellung fest zusammen, so dass er die Knie bis an den Kopf angepresst hatte. Das war der sicher­ste Schutz vor dem Geist des Verstorbenen, da er in dieser Lage nicht aus dem Grabe steigen und herumspuken konnte.

Ziege beweinte drei Tage lang den Dahingegangenen, wie es die Sitte verlangte. Mit verkohlten Holzstöcken bemalte sie sich das Gesicht und zerriss den Kittel, den sie am Leibe trug. Damit be­wies sie, dass ihr nun an der Welt nichts mehr liege. Der Zau­berer legte alle Gaben, die er für die fruchtlose Behandlung er­halten hatte, auf das Grab und gab noch ein Lamm und einige Brotfladen dazu. Dabei sagte er leise: „Treib keinen Spuk mit mir, bleibe im Grab, komm nicht heraus!“

Alle bewunderten des Zauberers Edelmut. Der Geist des Toten wird sich mit so reichen Opfergaben gewiss zufriedengeben und wird die Vorübergehenden ungeschoren lassen.

Am darauffolgenden Tage jedoch nahm der Zauberer sein Lamm zurück und ließ nur die vier Füße des Tieres am Grabhügel liegen.

Der vereinsamten Ziege aber sagte er: „Der Geist deines Mannes kann aus diesen Pfoten leicht ein ganzes Lamm machen.“ Dann briet er in seiner Hütte das Lamm auf dem Rost.

Am Abend holte der Schamane auch das Brot, obwohl es schon von Ameisen benagt war. Ein paar Bröselchen streute er über das Grab, damit der Geist des Verstorbenen zufrieden sei, denn einem Geist war es jetzt gewiss alles eins, ob er nur einige Brösel oder ein ganzes Brot bekam.

Schließlich trug Schiefmaul auch alle übrigen Opfergaben weg und ließ statt ihrer auf dem Grabe nur deren Nachbildungen aus Holz oder Lehm zurück. Und so blieben auf dem frischen Grabe nur ein Speer aus Ton, ein aus Weidenruten geflochtener Armreif und ein aus einem Stück Holz ausgeschnittenes „Bronzemesser“. Der Geist war aber scheinbar ganz zufrieden, denn er erschien bei niemandem, um Spuk zu treiben.

Der Zauberer führte die jetzt vereinsamte Ziege in seine Hütte und hatte nun zwei Weiber und gute Zeiten. Zwei Frauen—-zwei Dienerinnen. Während die eine kochte, konnte die andere in den Wald nach Holz gehen; wenn die eine Getreide mahlte, machte die andere aus Ton Geschirr. Und beide bedienten den Zauberer.

Eines Tages tauchte in der Bärensiedlung ein junger Jäger aus der Sippe der Hirsche auf, die am Ziegenberg ansässig waren. Er kam in einem Nachen und sagte, er sei müde und hungrig. Die Bären gaben ihm Milch und Brot, und als er abends die Siedlung nicht verließ, ließen sie ihn im Lager übernachten. Rotkehlchen lieh ihm drei Wolfsfelle und der Fremdling schlug hinter der Be­ratungseiche sein Nachtlager auf.

Am nächsten Tag machte der Jüngling einen Rundgang zwischen den Hütten, plauderte überall eine Weile, verbeugte sich schließ­lich vor dem Zauberer und sagte: „Mein Vater schickt mich, ich »oll mir eine Frau suchen.“

Der Schamane antwortete: „Es kommt öfters vor, dass ein junger Mann seine eigene Hütte errichten will...“

Der Hirsch stellte sich mit dem Rücken gegen die Sonne und blickte dem Zauberer fest in die Augen: „Die Stammesältesten sagen, es sei ungerecht, dass der eine zwei Weiber hat, der andere über nicht einmal eine finden kann.“

Schiefmaul schwieg eine Weile und sagte dann ruhig, ohne den Jüngling anzusehen: „Hab ich denn nicht genug Fleisch, um zwei Weiber zu sättigen, und genug Felle, um sie prächtig zu kleiden? Wer gibt denn ein Weib einem jungen Manne, der nur von seinem Anteil an der Jagd lebt und sich mit dem bekleidet, was unter der Beratungseiche übrig bleibt, wenn die Jäger die Beute ver­teilt und sich entfernt haben? Erwachsene Männer können ihre Weiber haben, die Jugend aber möge vorerst heranwachsen.“ Darauf wandte sich der Zauberer mit einer stolzen Gebärde von dem jungen Jäger ab.

Am Nachmittag kehrte Schiefmaul von einem entfernteren Teil des Flusses mit einem Körbchen Wildenteneier heim. Als er von der Anhöhe herabstieg, hörte er aus dem Lager kreischende Schreie. Es schien ihm, als sei es die Stimme seines Weibes Rot­kehlchen.

Bevor er noch zu den Hütten kam, sah er am Flussufer den frem­den J äger, der das sich wehrende Rotkehlchen in seinen Nachen zerrte. Rotkehlchen war mit einem Riemen gefesselt, dessen sie sich zu entledigen suchte, um so den Anschein zu erwecken, als widersetze sie sich ihrem Entführer.

Schiefmaul war sehr erregt. Welche Beleidigung war das für ihn von so einem Grünschnabel! Die Entführung ihres Weibes ließen sich nur schwache Männer gefallen, die in der Sippe kein An­sehen mehr genossen. Schiefmaul hätte niemals auch nur im ge­ringsten daran gedacht, dass jemand eine solche frevlerische Tat gegen ihn wagen könnte. Sein Mund wurde noch schiefer und seine Augen blitzten unheilverkündend.

Er warf das Körbchen fort und sprang rasch in sein langes, aus einem Pappelstamm ausgebranntes und ausgestemmtes Boot. Alle Leute liefen aus der Siedlung ans Ufer und schauten diesem Schauspiel zu. Der junge Hirsch ruderte tapfer, aber Schiefmaul stakte sich mit einer Stange kraftvoll weiter, und die Entfernung zwischen den Booten verringerte sich.

Der fliehende Entführer verließ sich anscheinend auf seine Ret­tung in den unteren Stromschnellen des Großen Flusses. Un­mittelbar vor den Inseln strömte der Fluss nämlich wild zwischen den Klippen dahin und bildete gefährliche Wirbel. Dort waren schon viele Boote gekentert, aber der Jüngling war ein sehr guter Ruderer und wagte es, die rauschende Strömung ungefährdet zu durchfahren. Auch war sein Nachen gewiss besser als das Boot des Zauberers. Die geringste Unvorsichtigkeit des Verfolgers hätte hier genügt und das lange und schmale Boot wäre umgekippt und zerschellt. Darum strengte sich der junge Hirsch gewaltig an, um mit seinem leichten, aus Baumrinde hergestellten Boot die gurgelnden Stromschnellen zu erreichen, ehe ihn der wütende Zauberer einholte.