Der chinesische Paravent - Nicola Kuhn - E-Book

Der chinesische Paravent E-Book

Nicola Kuhn

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Beschreibung

Deutsche Kolonialgeschichte in elf Fundstücken Koloniales Erbe als Familiengeschichte - Beutestücke in deutschen Wohnzimmrn Paravent, Teeservice, Speere, Schild und Papagei: Nicola Kuhn stellt Artefakte vor, die viel über die Kolonialzeit erzählen. Von Missionaren, Militärs, Siedlern oder Händlern als Trophäen und Erinnerungsstücke mitgebracht, verbirgt sich hinter jedem Objekt immer auch die Tragödie eines besetzen Landes und seiner Menschen. Die Fundstücke bezeugen die extreme Gewalt wie das vermeintlich friedliche Miteinander, radikale Ausbeutung, doch auch Versuche von Annäherung. Zu Wort kommen auch die heutigen Besitzer, die einen Umgang mit diesem Erbe finden müssen.  Erzählerisch entwirft Nicola Kuhn so ein Panorama deutscher Kolonialherrschaft. Sie ist der Meinung: Nach einem Jahrhundert des Schweigens ist es Zeit, sich ein Bild zu machen. - Welt und Wohnzimmer sind fulminant erzählerisch miteinander verbunden - Nicola Kuhn ist Expertin für Raubkunst und renommierte Journalistin

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Seitenzahl: 495

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Über das Buch

Als die Journalistin Nicola Kuhn über ein Erbstück ihrer Familie schreibt, einen chinesischen Paravent, stellt sie fest, dass sich dahinter eine bislang unerzählte Geschichte verbirgt. Anders als in der Familie tradiert, handelt es sich wohl nicht um ein Geschenk des Kaisers von China an ihren Urgroßvater, sondern um ein Beutestück. Koloniale Objekte wie dieser Paravent finden sich in zahlreichen Wohnzimmern, und die Geschichte ihrer Herkunft liegt im Dunkeln.

Anhand von elf Artefakten aus China, Namibia, Tansania, Kamerun, Palau erzählt Nicola Kuhn von den Geschehnissen, die zum Besitzwechsel führten, und von den Menschen, die sie nach Deutschland brachten. Zu Wort kommen auch die heutigen Besitzer, die einen Umgang mit diesem Erbe finden müssen. Denn dieses Thema beschäftigt nicht nur Politik und Museumsleute, deutsche Kolonialvergangenheit ist kein abstraktes Politikum, sondern fordert eine persönliche Auseinandersetzung. Nicola Kuhn ist der Meinung: Nach einem Jahrhundert des Schweigens ist es Zeit, sich ein Bild zu machen.

Nicola Kuhn

Der chinesische Paravent

Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Vorwort

Kapitel 1: Carl Bödiker – Der chinesische Paravent

Kapitel 2: Ludwig Winter – Das Silbergeschirr aus Kiautschou

Kapitel 3: Max Pechstein – Die Federzeichnung Ausfahrendes Kanu I

Kapitel 4: Carl Oppermann – Die Trommel aus Papua-Neuguinea

Kapitel 5: Hans Meyer – Der Kriegerschild

Kapitel 6: Hermann von Wissmann – Der Papagei Polly

Kapitel 7: Alois Ziegenfuß – Der Schädel einer Hyäne

Kapitel 8: Wilhelmine und Emil Henrichsen – Der »Buschmannrevolver«

Kapitel 9: Reinhold Koblich – Das Foto eines gestürmten Dorfes

Kapitel 10: Walter von Ruckteschell – Die ›Lettow-Mappe‹

Kapitel 11: Lothar Bohlen – Der Nupe-Hocker

Dank

Ausgewählte Literatur

Personenregister

Für Susa,

Jörg, Jan und Josefine

Die Schreibweise von Städtenamen folgt den damals in den Kolonien üblichen deutschen Bezeichnungen, um die zeitliche Einbettung zu verdeutlichen. Begriffe wie »Schutzbrief« oder »Schutztruppe«, die eine kolonialistische Perspektive repräsentieren und über die wahren Umstände hinwegtäuschen, sind zur Kenntlichmachung in Anführungszeichen gesetzt. Bei Zeitdokumenten wurde die damals übliche Schreibweise beibehalten.

Vorwort

Es begann mit einer Kolumnenserie im ersten Corona-Winter. Um wenigstens gedanklich auf Reisen zu gehen, wenn dies schon real nicht möglich war, wählten wir Feuilletonmitglieder des Berliner ›Tagesspiegels‹ jeweils einen Gegenstand in unseren eigenen vier Wänden aus. Mit seiner Hilfe wollten wir zumindest schreibend in die Ferne aufbrechen. Ich nahm mir den chinesischen Paravent vor, der erst wenige Monate zuvor aus dem aufgelösten Elternhaus in unsere Wohnung nach Berlin gelangt war. Das Erbstück meines Hamburger Urgroßvaters mit dem gewaltigen Drachen darauf hatte immer schon meine Fantasie beflügelt und dazu angeregt, sich wegzuträumen. Die Recherche wuchs sich aus, nachdem sich herausstellte, woher der Paravent stammte und welche Rolle mein Urgroßvater vor über hundert Jahren in China und später in Deutsch-Südwestafrika als Kaufmann gespielt hatte. Plötzlich erwies sich das zur vertrauten Einrichtung gehörende Möbel als ein Zeugnis deutscher Kolonialgeschichte, die Perspektive änderte sich radikal. Die Entdeckung kolonialer Verstrickungen meines Urgroßvaters, von denen vorher nie die Rede gewesen war, weckten mein Interesse auch für die Geschichten anderer Familien, die mit einem Erbstück von Generation zu Generation weitergegeben und ebenfalls häufig unvollständig erzählt werden.

Damit wird persönlich, was bisher abgehoben Gegenstand einer öffentlichen Debatte gewesen ist. Museumswelt und Politik beschäftigt der Kolonialismus seit Längerem. Die Diskussion um das Berliner Humboldt Forum, die Rückgabe der Benin-Bronzen, die Entschädigungsforderungen Namibias für den Völkermord an den Herero und Nama, die Versuche der Kommunen, sich den Spuren in Straßennamen, Denkmälern und Gebäuden zu stellen, zeigen mit aller Macht, dass sich die Bundesrepublik inmitten einer postkolonialen Auseinandersetzung befindet. Doch nicht nur im gesellschaftlichen Raum ist das Thema Kolonialismus virulent, sondern auch im privaten Umfeld. Unüberschaubar viele Objekte aus den ehemaligen Kolonien befinden sich als Relikte einer verdrängten Vergangenheit in deutschen Wohnzimmern. Wer brachte sie mit? Woher genau stammen sie? Wie wurden sie erworben? Diese Fragen lassen sich auch zu Hause stellen.

In einem Erbstück verdichtet sich Kolonialgeschichte anders, sie wird zur persönlichen Angelegenheit, die Mikroperspektive geht in die Betrachtung mit ein. Hinter jedem Gegenstand verbirgt sich eine komplexe Historie: Neben der Tragödie eines besetzten Landes und seiner Menschen knüpfen Trommel, Massai-Schild und »Buschmannrevolver« eine Verbindung zur kolonialen Vergangenheit eines Vorfahren, der sich als Militärseelsorger, Siedler, Soldat, Reeder, Missionar, Kaufmann, Zahlmeister, Künstler, Gouverneur oder Geograf betätigte und damit vom perfiden System profitierte. Für dieses Buch traf ich Nachkommen, auf die mich freundlicherweise Museumskuratoren, Wissenschaftlerinnen und Aktivisten aufmerksam machten. Sie erzählten mir von ihren Großvätern und Urgroßvätern, Großonkeln und Urgroßonkeln, die Unternehmergeist, Abenteuerlust, Größenwahn, Wissensdurst, Profitgier, Zivilisationsmüdigkeit, Fernweh, Glaubenseifer und Machtbesessenheit in die Kolonien gezogen hatte. Gemeinsam wählten wir ein Objekt, von dem ausgehend sich die Lebensgeschichte der Vorfahren erzählen ließ. Mich interessierte, wie sie sich in den Kolonien zu Rassismus und Unrecht verhielten, welche Wendung dadurch ihr Leben nahm, was die Folgen ihres Handelns für die lokale Bevölkerung waren. Und ich wollte wissen, welche Position die Angehörigen heute zu dieser Vergangenheit beziehen, wie sie mit dem Erbe in Form eines mitgebrachten Hockers oder Silbergeschirrs umgehen, das einst möglicherweise gewaltsam entwendet wurde.

Nur selten ist die genaue Herkunft eines Objekts überliefert, eine Rückgabe scheint somit in den wenigsten Fällen möglich. Eine Verpflichtung zur Aufarbeitung, wie es sie für die öffentlichen Museen bei unrechtmäßigem Entzug gibt, besteht nicht. Die vorgestellten Artefakte sind kaum als Raubkunst zu identifizieren, schon gar nicht die Fotografien eines Soldaten oder die Bilder von Künstlern, jedoch transportieren sie den weißen Blick. Die Souvenirs aus den Kolonien zeigen das geografische Spektrum des deutschen Imperialismus von China über Ozeanien bis nach Afrika. Zu Hause sollten sie exotisches Flair verbreiten und eine Prise abenteuerlicher Vergangenheit in die biedere Gegenwart wehen. Die einzelnen Kapitel berichten von den sehr unterschiedlichen Begegnungen mit den Menschen vor Ort, die von extremer Gewalt bis zu vermeintlich friedlichem Miteinander reichen, von radikaler Ausbeutung bis zu Versuchen der Annäherung.

Nach dem langen Schweigen über unsere Kolonialgeschichte endet allmählich die große Amnesie. Kleinreden lässt sie sich heute ohnehin nicht mehr. Das Kaiserreich trat zwar erst spät in den Kreis der Kolonialmächte ein, aber 1914, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, besaß Deutschland nach Großbritannien und Frankreich den größten Flächenumfang – mit 2,9 Millionen Quadratkilometern sechs Mal so groß wie das »Mutterland«. Von der Bevölkerungszahl stand das Kaiserreich nach den Niederlanden an vierter Stelle, zu über 13 Millionen Bewohnern kamen 25000 Deutsche hinzu, die meisten lebten in Deutsch-Südwestafrika. Vor Eröffnung des Humboldt Forums 2021 versuchte einer der drei Gründungsintendanten dieses Kapitel deutscher Geschichte noch herunterzuspielen und verwies auf die kurze Dauer deutscher Kolonien von »nur« 34 Jahren gegenüber der 460 Jahre umfassenden Sammlungsgeschichte. Dabei ließ er unerwähnt, dass genau diese kurze Spanne die Phase der »Sammelwut« war, in der die Bestände des kurz zuvor gegründeten Königlichen Museums für Völkerkunde auf eine halbe Million Objekte anwuchsen.

Die Aufarbeitung dieser Zeit zählt heute zu den zentralen Aufgaben in den ethnologischen Museen. Dort gibt es inzwischen ein geschärftes Bewusstsein für die Abertausende Artefakte, die im Wettlauf mit den anderen Kolonialmächten für die nationalen Sammlungen zusammengerafft wurden. Gleichzeitig kommt aus den Herkunftsländern immer vehementer der Ruf nach Restitution. Athens Forderungen auf Rückgabe werden vom British Museum, wo seit 1816 der Elgin-Marbles genannte Marmorfries vom Parthenon der Akropolis ausgestellt ist, zwar immer noch zurückgewiesen, andere Länder aber zeigen eine andere Haltung. Das Musée du quai Branly in Paris setzte 2021 mit der spektakulären Heimkehr von 26 aus dem Königreich Dahomey geraubten Holzstatuen nach Benin ein erstes Zeichen. Ähnliche symbolische Bedeutung gewann ein Jahr später die Restitution von Benin-Bronzen aus deutschen Museen.

Der Umgang öffentlicher Sammlungen mit kolonialen Exponaten hat sich zum Katalysator für eine gesellschaftliche Debatte entwickelt, die auch für Privatpersonen Relevanz besitzt. In den Ausstellungshäusern wird am sichtbarsten um eine Neubewertung des deutschen Kolonialismus gerungen und darum, welche Konsequenzen im Hinblick auf die Artefakte zu ziehen sind. Familiäres Erbe ist zwar eine Privatangelegenheit, aber durch den kolonialen Kontext hat es eine gesellschaftspolitische Dimension. Dieses Buch möchte ein Bewusstsein dafür wecken, damit künftig auch im privaten Umfeld bestimmte Mythen vom »guten« Kolonialisten und Muster weißer Überlegenheit nicht mehr unkritisch weitergegeben werden.

Hier existiert eine Analogie zur Behandlung von Kunstwerken jüdischer Sammler, die nach Enteignung im Nationalsozialismus in öffentliche Sammlungen gelangten. 1998 verpflichteten sich die Museen mit der Washingtoner Erklärung zur Rückgabe geraubter Kunst, die vielen Häusern dennoch bis heute schwerfällt. Der Skandal um die 2012 beim Sohn des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt aufgetauchte Sammlung warf ein Licht darauf, dass sich geraubte Werke in ungeahnter Zahl auch in Privatbesitz befinden. Ihr Verkauf gilt zwar im Handel inzwischen als Tabu, aber es gibt keine weitere Handhabe, auch wenn sich die Beratende Kommission des Bundes für NS-Raubkunst dafür eine Änderung des Eigentumsrechts wünscht. Der Fall Gurlitt animierte so manchen dazu, Geerbtes genauer anzusehen, etwa zu Hause hängende Bilder einmal umzudrehen und nach Hinweisen auf frühere Besitzer Ausschau zu halten.[1]

›Der chinesische Paravent‹ will dazu anregen, dieses Wagnis auch mit Erbstücken aus kolonialem Kontext einzugehen. Einzelne Objekte als Ausgangspunkt zu nehmen, liegt nahe. Sie erschließen einen Kosmos, wie Neil MacGregor es mit seinem Buch ›Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten‹ bewies. Auch die Perspektive dieses Buches ist fokussiert. Dargestellt wird der Kolonialismus aus Sicht der europäischen Akteure und ihrer Nachfahren. Wo es möglich war, habe ich Menschen aus den Herkunftsländern befragt.

Vor allem geht es um transgenerationale Erinnerung und die damit verbundenen Geschichten, die nicht nur trügerisch sein können, sondern häufig bewusst unvollständig weitergegeben wurden, um die handelnden Personen in einem besseren Licht darzustellen oder die wahre Herkunft eines Objekts zu verschleiern. Nachdem die NS-Forschung bereits die Bedeutung des Familiengedächtnisses als Quelle erkannt und sich ihm gewidmet hat, geschieht dies nun auch im Bereich des Kolonialismus. Dazu gehören neben mündlichen Erzählungen und Selbstzeugnissen in Briefen, Tagebüchern und Fotoalben auch Objekte wie Tierfelle, Speere oder Masken. Ähnlich wie bei den familiären Narrativen zum Nationalsozialismus wird in den überlieferten Erzählungen aus den Kolonien des Kaiserreichs die Gewalt häufig ausgeblendet, obwohl die Machtverhältnisse darauf beruhten. Wie schon in der Studie ›»Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis‹[2] aus dem Jahr 2002 müssen die Täter andere gewesen sein. Insofern misstrauen Wissenschaftler zu Recht den Familienerinnerungen, und doch stellen sie eine Ressource dar – »als letzte unberührte ›Bastion‹ kolonialistischer und rassistischer Wissensformationen«, wie sie der Historiker Markus Wurzer in seiner Publikation ›Der lange Atem kolonialer Bilder‹[3] bezeichnet. Es ist also Skepsis angebracht, auch bei den hier gewählten Beispielen. Familie ist ein starkes Band, Loyalität kann hinderlich sein. Zu Wort kommen verschiedene Generationen an Nachkommen, die eine große Bandbreite an möglichen Haltungen gegenüber einem kolonialen Erbe abbilden: von der stolzen Zurschaustellung im heimischen Privatmuseum bis zur Ablehnung und Suche nach Möglichkeiten einer kritischen öffentlichen Auseinandersetzung. In jüngster Zeit hat es mutige Versuche gegeben, gewohnte Narrative zu durchbrechen. 2021 veröffentlichte Katharina Döbler den Roman ›Dein ist das Reich‹ über ihre Missionarsgroßeltern, die in Papua-Neuguinea wirkten. Im Jahr davor schuf die Fotografin Anne Schönharting einen erhellenden Bildband zu den Objekten des heimischen »Afrikazimmers«.[4]

Erbstücke können ein Wegweiser sein, um in der Erinnerung zurückzugehen und Fragen zu stellen. Sie eröffnen die Möglichkeit zu einer eigenen Erfahrung und persönlichen Auseinandersetzung. Gegenstände besitzen eine eigene Biografie, der etwa Provenienzforscher verstärkt seit der Selbstverpflichtung öffentlicher Museen zur Rückgabe von NS-Raubkunst professionell auf den Grund gehen. Bereits in den 1980er-Jahren hatte der Anthropologe Igor Kopytoff ihnen ein eigenes Sozialleben zugeschrieben und damit die Objektbiografie als wissenschaftliche Methode begründet. Für die Besitzer kolonialer Erbstücke mag dies neben den unguten Gefühlen, die sie auslösen können, auch eine tröstliche Perspektive sein: Die Dinge tragen nicht nur koloniales Leid und womöglich von Vorfahren begangenes Unrecht in sich, sondern sie besitzen auch eine Geschichte davor, waren im Herkunftsland einst Gebrauchsgegenstand oder Zeremonialobjekt, und sie haben eine Geschichte danach als Schaustück in deutschen Wohnzimmern.

Wie es weitergeht? Auch hier könnten Museen einen wichtigen Beitrag leisten und Privatforschern als Lotsen bei ihren Recherchen helfen. In den Niederlanden gibt es dafür bereits den Beruf des Archivvermittlers. Die individuelle Erinnerung, eine empathische, ja emotionale Annäherung gilt dort als wichtiger Bestandteil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit. In Deutschland sind die Museen dagegen wesentlich hermetischer, wissenschaftliche Methodiken dominieren. Werden koloniale Erbstücke als Schenkung an sie herangetragen, müssen sie ablehnen, wenn genauere Hinweise auf die Herkunft fehlen und ein Unrechtszusammenhang nicht ausgeschlossen werden kann. Bislang existieren für Privatbesitzer keine Ansprechpartner, wenn sie weitersuchen wollen oder sogar eine Rückführung ins Herkunftsland anstreben. Die bei der Kulturstiftung der Länder eingerichtete »Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland« richtet sich nur an öffentliche Institutionen, das Auswärtige Amt fühlt sich nicht zuständig, ebenso die Botschaften. Hier besteht eine Lücke, denn in der Regierungserklärung ist die historische Verantwortung zwar festgehalten und mit ihr die Aufarbeitung des kolonialen Erbes samt möglicher Rückgaben von Objekten, jedoch nur auf staatlicher Ebene. Für die Nachfahren bestehen solche Verpflichtungen nicht, sie wären ein Übergriff. Über die Verstrickungen der eigenen Familie aber nachzudenken, könnte ein Anfang sein.

Kapitel 1 Carl BödikerDer chinesische Paravent

Ein Hamburger Kaufmann spannt sein Handelsnetz zwischen Asien und Afrika

Eine geheimnisvolle Kraft hat er immer schon ausgeübt, der Drache auf dem chinesischen Paravent in meinem Elternhaus. Wie er das Maul aufreißt, die Zähne bleckt und die Krallen ausfährt, ist er zwar ein Fabeltier, aber doch von ungeheurer Präsenz. Der Schwanz mit den silbrigen Schuppen peitscht zuckend, der Leib bäumt sich auf, um seine Lefzen züngelt es. Im nächsten Moment hätte der Drache zupacken können, so schien es mir als Kind, wenn ich wieder einmal fasziniert vor dem 1,35 mal 1,60 Meter großen Stellschirm stand, der mich um einiges überragte. Den Reiz der Begegnung steigerte umso mehr, dass meine Mutter uns Geschwistern immer wieder gerne erzählte, dass der Stellschirm ein Geschenk des Kaisers von China an ihren Großvater gewesen sei. Der Paravent wurde endgültig zum Eingangstor ins Reich der Fantasie.

Das längst aus der Mode gekommene Möbelstück befand sich seit dem Umzug meiner Großeltern Anfang der 1970er-Jahre aus ihrer großbürgerlichen Wohnung in der Hamburger Isestraße in ein kleineres Appartement bei uns im Neusser Einfamilienhaus. Merkwürdigerweise war mir der Paravent bei meinen Großeltern nie aufgefallen. Vielleicht stand er damals auch in ihrem Schlafzimmer, das ich nicht betreten durfte. Vielleicht nahmen mich aber auch die wie Gebirge großen Möbel in ihrem Wohnzimmer gefangen, der dunkel gebeizte Schreibtisch meines Großvaters als perfektes Versteck, dazu der Garten direkt am Wasser. Als meine Mutter klein war, lag hier das Boot der Familie, um sonntags Ausflüge zur Außenalster zu machen oder weiter zu den Großeltern zu paddeln, deren Villa am Rondeelteich lag. Noch heute verläuft gleich hinter dem zwischen 1907 und 1909 erbauten Haus mit seiner stuckverzierten Fassade der Isebekkanal, an dessen gegenüberliegender Uferseite sich ein Ruderverein an den anderen reiht.

Aus dem feinen Harvestehude also kam der prachtvolle Paravent in mein Elternhaus an den Niederrhein, wohin es meinen Vater beruflich verschlagen hatte – sehr zum Kummer meiner Mutter, einer echten Hanseatin. Der Möbelwagen brachte aus dem Norden außerdem einen Hamburger Schapp, einen gewaltigen Dielenschrank mit zwei gedrechselten Säulen an den Ecken. Dazu gehörte ein Barockgemälde größeren Ausmaßes, auf dem ein Engel Abraham in den erhobenen Arm mit dem Schlachtmesser greift, kurz bevor er seinen Sohn Isaak Gott opfern kann. Diese pompösen Requisiten einer großbürgerlichen Vergangenheit erinnerten meine Mutter nur noch mehr daran, dass sie eigentlich irgendwann in ihre Geburtsstadt zurückkehren wollte, wo ihre Familie mütterlicherseits einst zur besseren Gesellschaft gehörte. Ihrem Großvater hatte dort ein 1896 noch in Bremen gegründetes internationales Handelshaus gehört. In ihren großen Zeiten verfügte die Carl Bödiker & Co. Kommanditgesellschaft über 70 Außenstellen und Filialen in Europa, den USA, Südamerika, Afrika und Asien.

Mit der Auflösung des Elternhauses in Neuss, nach dem Tod meines Vaters, wanderte der Paravent als Erbstück eine Generation weiter und gelangte nun zu mir nach Berlin – wieder in eine Etagenwohnung, diesmal in den zweiten Stock eines Schöneberger Altbaus. Er hatte gelitten an seinem letzten Standort im Esszimmer unserer fünfköpfigen Familie. Einzelne Fäden hingen heraus, an einigen Stellen war die kostbare Stickerei vollkommen verloren gegangen. Aber eindrucksvoll sah er immer noch aus, auch am neuen Platz. Die Augen des Drachen rollten weiterhin bedrohlich. Das Maul mit den scharfen Zähnen angriffslustig aufgerissen, besaß er nach wie vor magische Anziehungskraft – wenn auch auf andere Art als damals für mich als Kind.

Während ich mich mit meinem Paravent intensiver zu beschäftigen begann, schauten sich in der stillgestellten Zeit der Covid-Quarantäne auch viele andere zu Hause um, räumten und sortierten in Kellern und auf Speichern. Nicht nur in Privathaushalten wurde manches Weggelegte, Verdrängte wieder an die Oberfläche befördert. In den Museen nutzten ebenfalls die Kuratorinnen und Kuratoren die Zwangsschließung ihrer Häuser, um die Depotbestände zu sichten, wenn sie nicht ohnehin im Rahmen gezielter Recherchen auf der Suche waren. Die neue Sensibilisierung für die koloniale Vergangenheit des Kaiserreichs ließ nun genauer hinschauen.

Bei meiner Recherche stellte sich heraus, dass der Paravent keineswegs nur ein dekoratives Möbel oder harmloses Objekt war, mit dem sich die Fantasie heiter auf eine Reise schicken ließ. Er barg eine komplizierte Historie, die bereits ihren Anfang mit der Legende vom Geschenk des Kaisers von China nahm. Je älter ich wurde, umso mehr regten sich bei mir Zweifel, wenn meine Mutter wieder einmal erwähnte, wie der Stellschirm in den Besitz ihres Großvaters gekommen war.

Erste Nachforschungen belehrten mich jedoch schnell eines Besseren. Der Paravent mag kein Geschenk des chinesischen Kaisers gewesen sein, dafür tauchte auch später kein Beleg mehr auf. Aber er könnte sich durchaus in kaiserlichem Besitz befunden haben. Wenige Klicks im Internet bestätigten, dass fünf Krallen an den Klauen eines Drachen, wie sie auch der Lindwurm auf dem Paravent besitzt, ein Privileg des Kaisers und seiner höchsten Beamten war. Selbst Prinzen mussten sich mit vier Krallen begnügen. Auch wenn die strengen Regeln bereits im 19. Jahrhundert in Auflösung begriffen waren, wurden sie bei einem so auffälligen Gegenstand wie einem metergroßen Textil mit kostbarer Stickerei trotzdem befolgt.

Ich begann sowohl meinen Urgroßvater als auch den von ihm mitgebrachten Stellschirm mit anderen Augen zu betrachten. Was hatte es mit dem Möbelstück auf sich? Woher genau stammte es? Vor allem stellte sich die Frage: Was hatte Carl Bödiker (1868–1952) eigentlich damals in China gemacht? Der Paravent fing an, eine Geschichte zu erzählen, die mich mitten in die Zeit des Kolonialismus versetzte. Sie handelte vom »Boxerkrieg«, dem vergeblichen Aufstand chinesischer Befreiungskämpfer und schließlich der kaiserlichen Armee gegen die ausländischen Besatzer, sowie den Handelsbeziehungen eines Hamburger Kaufmanns in China, der davon profitierte und mein Urgroßvater war.

Als Kunstredakteurin war ich ohnehin mit den Debatten um koloniale Sammlungsbestände in den Museen befasst. Unbedingte Transparenz, Aufklärung über die Umstände des Erwerbs und Rückgabe, wenn gewünscht, war immer meine Haltung gewesen. Das sollte wie bei der NS-Raubkunst auch für Privatbesitzer gelten, selbst wenn es für sie keine Verpflichtung wie bei den Museen gibt. Nun grub ich selbst nach.

Gleich zu Beginn meiner Recherchen zum Paravent warnte mich mein Onkel Carl-Georg Bödiker schon beim ersten Anruf in Hamburg: »Dein Urgroßvater hat sein Geld mit der Verproviantierung deutscher Truppen verdient. Das hat heute einen Hautgout.« Bei meinem nächsten Besuch umkreisten wir vorsichtig das Thema. Meine Tante Margarethe warf am Kaffeetisch gleich ein, dass diese Dinge aus heutiger Sicht eben ganz anders beurteilt würden. Damals galten halt andere Gesetze. Aus Diskussionen um Kunst aus jüdischem Besitz, die während des Nationalsozialismus entwendet worden war, kannte ich solche Argumente. Auch meine Mutter wollte die Geschäftstätigkeit ihres Großvaters in den Kolonien nicht in Frage stellen. Als seine Lieblingsenkelin, wovon entzückende Sylt-Bilder im Fotoalbum mit ihr als Dreijähriger an seiner Hand zeugen, war sie davon überzeugt, dass ihr »Opapa« als gläubiger Katholik nichts Unrechtes getan haben konnte.[5] Doch so wenig sich die Familie der kolonialen Vergangenheit ihres Vorfahren bisher gestellt hatte, so neugierig und aufgeschlossen blieben meine Mutter, ihre beiden Cousins und ihre Cousine meinen Fragen gegenüber und unterstützten mich bei meinen weiteren Nachforschungen. Für alle wurde es zu einer Reise in die Vergangenheit. Ein Stück kaum aufgearbeiteter deutscher Geschichte tauchte aus dem Dunkel auf, in der unser Vorfahr eine Rolle spielte, die entgegen dem bisherigen Familiennarrativ nicht mehr nur als rühmlich gelten konnte. Bislang hatte Carl Bödiker als überaus erfolgreicher Kaufmann gegolten, als ein geachteter Kommerzienrat und preußischer Generalkonsul. Über die genaueren Umstände seiner Unternehmungen im Ausland wurde nicht gesprochen.

Für den aufstrebenden Geschäftsmann Carl Bödiker bedeutete der Kolonialismus einen Glücksfall. Neue Absatzmärkte eröffneten sich, allein im dicht besiedelten China warteten nach Vorstellung europäischer Handelsunternehmen 400 Millionen Menschen als künftige Kunden. Zugleich wollte man sich die chinesischen Bodenschätze sichern, insbesondere das Kohlevorkommen. Auch das Kaiserreich wollte partizipieren und hier seinen Bedarf an Kohle für die Kriegs- und Handelsschiffe decken. Die »späte Nation« stand im Wettlauf mit den anderen Kolonialmächten und hatte Nachholbedarf an eigenen »Schutzgebieten«, Tsingtau an der Nordostküste Chinas sollte zur Vorzeigestadt gegenüber den anderen Nationen werden.

Deutschland besaß bereits Kolonien in Afrika und Ozeanien: 1884/85 Südwestafrika (heute Namibia), Togo, Kamerun, Ostafrika (heute: Tansania, Ruanda, Burundi, Teile von Mosambik) sowie auf Neuguinea und den benachbarten Pazifikinseln (1886). Die Ausweitung der Kolonialinteressen auf China war von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen. Bernhard von Bülow, der als Staatssekretär im Auswärtigen Amt mit China über die Pachtung der Bucht von Kiautschou verhandelte, prägte in der Reichstagsdebatte vom 6. Dezember 1897 den sprichwörtlich gewordenen Satz: »Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.«[6] Drei Monate später unterschrieb die chinesische Regierung unter Zwang den auf 99 Jahre befristeten Pachtvertrag, durch den das 552 Quadratkilometer große Gebiet als Gouvernement in deutschen Besitz überging.

Zwei Jahre nach der Gründung von Tsingtau, wie die Deutschen den Militär- und Handelsstandort Kiautschou nannten, begann Carl Bödiker dort als Lieferant für die stationierten kaiserlichen Truppen. Von Qingdao aus, so der chinesische Name heute, knüpfte er ein Netz an Handelsniederlassungen, mit dem er Importgeschäfte für Erze, Häute, Felle, Eiprodukte und Bettfedern betrieb. Auf einem Foto im Familienalbum meiner Mutter sieht man ein Geschäfts- und Lagerhaus in Tsingtau mit der Aufschrift »Carl Bödiker & Co. Kommanditgesellschaft« an der Brandmauer. Es ist die einzige Abbildung aus China im gesamten Band. Auf der Straße marschieren japanische Soldaten. Das Datum der Aufnahme ist darunter exakt notiert, der 7. November 1914. An dem Tag gelang es den japanisch-englischen Truppen, nach wochenlanger Belagerung die Stadt zu besetzen. Der Erste Weltkrieg war in China bei den Kolonialmächten angekommen. Am 23. August hatte Japan dem Kaiserreich den Krieg erklärt, nachdem sich der deutsche Gouverneur geweigert hatte, die »Musterkolonie« zu übergeben.

Damit endete die 16-jährige Geschichte des deutschen Pachtgebiets in China, das wie die Kolonien in Afrika und Ozeanien in Vergessenheit geriet, während die anderen westlichen Staaten durch die erst spätere Entlassung der von ihnen besetzten Länder in die Unabhängigkeit mit den Folgen ihrer Kolonialpolitik sehr viel stärker konfrontiert wurden. In Deutschland schob sich zusätzlich die schuldhafte Auseinandersetzung mit dem Holocaust dazwischen, der eigene Kolonialismus wurde dadurch weiter verdrängt. Mit dem Einmarsch der japanischen Truppen endeten abrupt auch die Geschäfte meines Urgroßvaters – sowohl in Tsingtau als auch in Tsinanfu (heute Jinan), der Hauptstadt der Provinz Schantung, Tientsin und Kanton, wo er weitere Dependancen gegründet hatte. Das deutsche Adressbuch von Tsingtau vom Juli 1914 nennt noch seinen Namen und führt weiter aus: »Lager in Lebensmitteln, Getränken, Cigarren, Tabaken etc., Lieferanten für Marine- und Armeebedarf«.[7] Als »Geschäftslokal« sind die Irenestraße und die Deutschlandstraße am großen Hafen angegeben, die mit dem Einmarsch der japanischen Truppen schließen mussten. Der Bau eines weiteren Geschäftshauses wurde unterbrochen, das Vermögen enteignet, das europäische Personal interniert.[8] Mit den Niederlassungen in Tsinanfu und in der britischen Kronkolonie Hongkong erging es der Handelsgesellschaft nicht anders, auch wenn Carl Bödikers Bruder Godehard, der dort wirkte, einen englischen Pass besaß.

Innerhalb von nur knapp anderthalb Jahrzehnten hatte mein Urgroßvater in China ein kleines Handelsimperium aufgebaut. Den Einstieg ermöglichte ihm die Gründung von Proviantstellen für das aus Deutschland entsandte Militär, das gemeinsam mit den anderen westlichen Mächten den »Boxerkrieg« niederschlagen sollte. Für einen ambitionierten Jungunternehmer war dies eine günstige Gelegenheit, das Auslandsgeschäft aufzubauen, während die in der westlichen Literatur als »Boxer« bezeichneten Aufständischen vergeblich versuchten, die ausländischen Besatzer abzuschütteln. Der Begriff »Boxer« geht zurück auf Kampfsportgruppen im Norden Chinas, die Ende des 19. Jahrhunderts den Widerstand auslösten. Selbst bezeichneten sie sich als »Bewegung der Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie« (Yihétuán Yùndòng).

Zunächst wurden christliche Missionare und deren chinesische Anhänger angegriffen, dann auch ausländische Unternehmer und Diplomaten. Auslöser für den Unmut unter der bäuerlichen Bevölkerung waren zu Beginn durch Überschwemmungen verursachte Hungersnöte insbesondere in der zum deutschen Interessengebiet gehörenden Provinz Schantung, gekoppelt mit Steuererhöhungen. Auch der Bau von Eisenbahntrassen zog den Zorn auf sich, denn die enteigneten Landbesitzer wurden oft nicht angemessen finanziell entschädigt und bei der Streckenführung Friedhöfe wie traditionelle Bewässerungssysteme ignoriert. Die Situation eskalierte, als sich 1899 im Kreis Kaumi (heute Gaomi) der Zorn der Bewohner gegen die Landvermesser der Eisenbahngesellschaft gewaltsam entlud. Bei der anschließenden »Strafexpedition« durch das kaiserliche Militär wurden knapp 500 Menschen getötet. Bereits im Vorjahr hatten im Kreis Rizhao im Süden der Provinz deutsche Truppen auf Bitten von Bischof Johann Baptist von Anzer interveniert, der sich nach Übergriffen auf seine Missionare an das Militär gewandt hatte.

Die Ermordung zweier Missionare der Steyler Mission im Jahr 1897 hatte den Deutschen bereits den Vorwand für die Besetzung der Bucht von Kiautschou geliefert. Der Einsatz kaiserlicher Truppen geschah damals keineswegs spontan, der Standort für ein deutsches Pachtgebiet war schon zuvor ins Auge gefasst worden. Das Ostasiatische Kreuzergeschwader zur Durchsetzung deutscher Handelsinteressen im ostasiatischen und südpazifischen Raum existierte bereits, allerdings ohne eigene Stützpunkte. Drei in Wusung bei Shanghai stationierte Geschwaderschiffe unter Konteradmiral Otto von Diederichs nahmen am 14. November 1897 den chinesischen Militärstützpunkt ohne Gegenwehr ein und bezogen mit 700 Soldaten die dortigen Baracken.

War die Okkupation noch gewaltfrei verlaufen, so kam es in den folgenden zwei Jahren bei Zusammenstößen zwischen Militär und Aufständischen immer wieder zu Toten, vor allem unter den Chinesen. Umso mehr Anhänger gewann die »Bewegung der Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie«, die in öffentlichen Anschlägen den Tod der »ausländischen Teufel« und »Friede im Reich« versprach.[9] Ihren Mitgliedern sicherte sie im Kampf Unverwundbarkeit zu, wenn sie die in Wasser aufgelöste Asche von Zetteln mit magischen Formeln tranken.

Im Mai 1900 breiteten sich die Ausschreitungen bis nach Peking aus und gipfelten im Juni in der Belagerung ausländischer Gesandtschaften. Als Gegenwehr schlossen sich die USA, Österreich-Ungarn, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan und Russland zu einer Acht-Nationen-Allianz zusammen, woraufhin sich die kaiserliche Armee auf Befehl von Kaiserin Cixi auf die Seite der Aufständischen schlug. Nach 55 Tagen gelang es den alliierten Truppen, die Belagerung aufzuheben, eine beispiellose Plünderung der Hauptstadt und des Umlands begann. Deutsche Soldaten beteiligten sich mit besonderer Brutalität daran, um zu kompensieren, dass das III. Seebataillon erst nach der Eroberung Pekings eingetroffen war. Schon zuvor hatte sie Kaiser Wilhelm II. bei der Verabschiedung des Ostasiatischen Expeditionskorps in Bremerhaven am 27. Juli mit seiner berühmt-berüchtigten »Hunnenrede« aufgestachelt: »Kommt Ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! […] Wie vor tausend Jahren die Hunnen […]«[10] Chinas Niederlage wurde endgültig besiegelt mit der Unterzeichnung des »Boxerprotokolls« am 7. September 1901, das die Stationierung ausländischer Truppen in Peking sowie Entschädigungszahlungen für die nächsten 39 Jahre vorsah. Die Qing-Dynastie wurde dadurch noch weiter geschwächt, bis sie durch die Xinhai-Revolution 1911 schließlich alle Macht verlor.

Schon zuvor konnten ausländische Geschäftsleute in den rund 80 sogenannten Vertragshäfen, zu deren Öffnung China nach seiner Niederlage in den beiden Opiumkriegen 1839 bis 1842 und 1856 bis 1860 in zahlreichen ungleichen Verträgen gezwungen worden war, unbehelligt von chinesischen Gesetzen Handel treiben. Ausgelöst wurde der Erste Opiumkrieg durch die Beschlagnahmung von Opium britischer Händler. Vergeblich hatte die chinesische Regierung versucht, die Einfuhr aus Bengalen durch die englische East Indian Company zu unterbinden. 40 Millionen Menschen, rund zehn Prozent der Einwohner, gerieten dadurch in Abhängigkeit.[11] Beim Zweiten Opiumkrieg schaltete sich zusätzlich Frankreich ein. China verlor die Souveränität über den eigenen Außenhandel, der chinesische Markt war damit endgültig geöffnet. In den Städten, in denen sich die ausländischen Handelsgesellschaften niederließen, bildeten die Europäer eine regelrechte Parallelgesellschaft, während die chinesischen Bewohner systematisch ausgegrenzt wurden. Die westlichen Staaten hatten sich auf diese Weise im offiziell weiterhin unabhängigen Land koloniale Stützpunkte geschaffen.[12]

Nach Tsingtau kamen die Kaufleute im Gefolge des Militärs. Für Carl Bödiker war der Auftrag der Reichsregierung für die Truppenversorgung das ideale Entree. Vier Jahre vorher hatte der damals 28-Jährige seine auf Verproviantierung von Schiffen spezialisierte Firma gegründet, die außerdem Import betrieb. Das internationale Geschäft hatte er während seiner Ausbildung bei seinem Onkel Wilhelm Anton Riedemann kennengelernt, der Reedereien für Petroleum und Baumwolle in Bremen und Geestemünde besaß.[13]Riedemann war 1890 Mitbegründer der Deutsch-Amerikanischen Petroleum Gesellschaft, der DAPG, aus der später die Esso GmbH hervorging. Der Bremer Reeder war ein Pionier der Tankschifffahrt. Er ließ den ersten Tankdampfer weltweit bauen, der 1886 von Hamburg in die Vereinigten Staaten fuhr und die bisherigen Leckageverluste beim Transport in Holzfässern enorm reduzierte.

Carls Vater Adolf Bödiker – Richter in Hildesheim und Zentrumspolitiker im Reichstag sowie im preußischen Landtag – hatte sich für seinen Sohn vermutlich keine Kaufmannskarriere vorgestellt. Er sah in ihm gemäß der Familientradition wohl eher einen Juristen und hoffte auf eine ähnlich glanzvolle Laufbahn wie die von Carls Cousin Tonio Bödiker, der als erster Präsident des Reichsversicherungsamts zwischen 1884 und 1897 die gesetzliche Unfallversicherung einführte. Carl Bödiker aber entschied sich anders. In der Firma seines Onkels Wilhelm Anton Riedemann übernahm er bald größere Aufgaben und richtete Material- und Proviantlager für die DAPG in Bremerhaven ein. 1892 wurde er in die USA geschickt, um das amerikanische »distributing system« für den Verkauf von Petroleum zu studieren. Dort lernte er den in Europa bis dahin unbekannten Tankwagenbetrieb kennen und führte ihn in Deutschland ein.

Zurückgekehrt, verlobte sich Carl Bödiker ein Jahr später mit Maria Berentzen. Ein Foto von 1893 zeigt das junge Paar: sie 23 Jahre alt, er 25, mit einem eindrucksvoll gezwirbelten Schnurrbart, der zusammen mit einem immer länger wachsenden Kinnbart zu seinem Markenzeichen werden sollte. Beide blicken entschlossen nach rechts, als würde aus dieser Richtung die Zukunft kommen. Im Frühjahr 1894 heiratete das Paar, drei Jahre später machte sich Carl Bödiker mit seiner eigenen Firma für Schiffsausrüstung selbstständig. Zum Durchbruch wurde für ihn die prestigeträchtige Ausstattung der ersten deutschen Antarktisexpedition mit dem Großsegler »Gauß«. Für den Bau des Forschungsschiffes hatte der Reichstag 1,2 Millionen Mark bewilligt, im Sommer 1901 lief es aus. Hauptfinanzier des Unternehmens aber war der seefahrtbegeisterte Kaiser Wilhelm II., Polarexpeditionen und die Entdeckung von unbekanntem Land in der Antarktis bedeuteten internationales Renommee. Wie bei den Kolonien hatte hier ein Wettlauf der Nationen eingesetzt. Für die zweite deutsche Antarktisexpedition von 1911 bis 1912 erhielt Carl Bödiker ebenfalls den Auftrag. In der Zwischenzeit hatten schwedische, französische, belgische Polarforscher seine Dienste in Anspruch genommen.[14]

Carl Bödiker war demnach bei Wilhelm II. und dem Reichsmarineamt, das dem Kaiser unterstand, als zuverlässiger Schiffsausstatter bekannt.[15] Aufgrund seiner Bedeutung als Stützpunkt der Seestreitkräfte war das Reichsmarineamt, anders als sonst in den Kolonien üblich, für das Pachtgebiet von Kiautschou zuständig. Gut möglich, dass Carl Bödikers zufriedenstellende Belieferung der »Gauß« zum nächsten, noch größeren Auftrag führte, als nach Beginn des »Boxerkrieges« ein Unternehmen für die Verproviantierung der deutschen Truppen in China gesucht wurde. Zu den Erinnerungen an ihre Familie, die meine Mutter verwahrt, gehört ein Ordner, in dem sie die private Korrespondenz meines Urgroßvaters mit der kaiserlichen Familie abgelegt hat: nichts Geschäftliches, nur Grüße und gegenseitige Erkundigungen nach dem werten Befinden, Glückwünsche zum Geburtstag. Man kannte einander und nützte sich. Die Verbindung blieb auch nach der Abdankung Wilhelms II. bestehen. Im Ordner befindet sich ein Foto aus dem Jahr 1918, das Carl Bödiker neben der kaiserlichen Karosse zeigt mit dem Vermerk, er habe Wilhelm II. ins Exil nach Doorn begleitet. Fünf Jahre später nahm er Kronprinz Wilhelm an der deutsch-holländischen Grenze bei Bentheim in Empfang bei dessen Rückkehr nach Deutschland von der holländischen Insel Wieringen auf dem Weg zum familieneigenen Schloss Oels.[16] Seine Kaisertreue blieb unerschütterlich.

Nachdem Carl Bödiker1900 den Auftrag für die Versorgung der Truppen in Tsingtau erhalten hatte, machte er sich sogleich auf den Weg nach China, um dort die Proviantlager einzurichten. Die Zeit drängte, die gewalttätigen Auseinandersetzungen dauerten bereits Monate an. Die Erschießung des deutschen Gesandten Clemens von Ketteler am 20. Juni in Peking auf offener Straße durch einen »Boxer« lieferte ähnlich wie die Ermordung der beiden Steyler Missionare drei Jahre zuvor den Vorwand für die deutsche Invasion. Auch Kaiserin Cixi reagierte. Am darauffolgenden Tag erklärte sie den ausländischen Mächten offiziell den Krieg. Die Mobilmachung in Deutschland dauerte dennoch. Das III. Seebataillon brach erst einen Monat später auf. 20000 Soldaten wurden im Sommer 1900 zur Niederschlagung des Aufstandes nach China entsandt. Zu dem Zeitpunkt dürfte Carl Bödiker schon unterwegs gewesen sein. Um schneller vor Ort zu sein, entschied er sich für die Transsibirische Eisenbahn und gegen den sichereren, aber langwierigeren Seeweg. Tatsächlich kam er lange vor Eintreffen des Postdampfers in Tsingtau an, wie es in der Familienchronik heißt.[17]

Als Carl Bödiker sein Ziel erreichte, erlebte er eine Doppelwelt. Der Bahnhof, ebenso die Straßen, Häuser, offiziellen Gebäude wie Schulen, Gericht, Lazarett sahen aus wie daheim, erbaut im wilhelminischen Stil mit roten Giebeldächern – nur versetzt in eine andere Umgebung. Die systematisch im rechten Winkel angelegten Straßen trugen Namen von Mitgliedern der Kaiserfamilie, hießen Friedrich-, Albert- und Kronprinzenstraße. Hier wirkte alles deutsch und befand sich doch Tausende Kilometer vom Kaiserreich entfernt. Innerhalb der vergangenen zwei Jahre war in der Bucht von Kiautschou eine »Musterstadt« hochgezogen worden, die als Ausgangsbasis deutscher Handelsinteressen dienen sollte und deren Hafen als Militärstützpunkt angelegt war.

Entsprechend viel Subventionen – 200 Millionen Mark, mehr als bei jeder anderen Kolonie – flossen in den Bau des neuen Hafens, der Eisenbahnlinie, der Kasernen und einer Kanalisation, die allerdings nur dem »Europäer-Viertel« zugutekam. Das Prestigeprojekt diente auch der Demonstration gegenüber den anderen Kolonialmächten. Ein »deutsches Hongkong«, wie es dem Reichsmarineamt vorschwebte, dem das »Schutzgebiet« anders als bei den anderen Kolonien unterstand, wurde trotzdem nicht daraus. Der Einmarsch der japanischen Truppen 1914 verhinderte dies. Die Stadt Kiautschou selbst, nach der die Bucht benannt war, lag außerhalb dieses Terrains, innerhalb einer 50 Kilometer breiten neutralen Zone rundherum, während Tsingtau am Wasser entstand. Die Stadt war zweigeteilt, sowohl rechtlich als auch von ihrem Erscheinungsbild. Während die Europäer deutsches Recht genossen, unterstand die lokale Bevölkerung einer diskriminierenden »Chinesenordnung«; sie durfte nur im »chinesischen« Viertel leben. Nach Einbruch der Dunkelheit galt für sie ein Ausgehverbot. Waren chinesische Bewohner trotzdem noch unterwegs, so mussten sie eine Laterne vor sich hertragen, um sich kenntlich zu machen.

Während für die Europäer, Amerikaner und Japaner ein großzügiges Wohn- und Geschäftsviertel entstand, ein »Neapel am Gelben Meer«,[18] wie es genannt wurde, lebten die umgesiedelten chinesischen Händler und Handwerker beengt im Stadtteil Tapautau (heute Dabaodao), der im lokalen Stil errichtet worden war. Die für die Erbauung Tsingtaus benötigten chinesischen Arbeiter wurden in zwei weiter entfernten Siedlungen untergebracht. Als Grund für die Trennung zwischen den europäischen und chinesischen Wohnquartieren galt offiziell die Gefahr durch Ansteckung, nachdem in Hongkong und Singapur in den am dichtesten besiedelten Stadtteilen immer wieder die Pest ausgebrochen war, in Shanghai Typhus. Gleichzeitig sollte durch die Abschirmung der chinesischen Bevölkerung das europäische Viertel zu einem besonders angenehmen Wohnsitz gemacht werden. Hotels entstanden, Villen, sogar eine Rennbahn, später auch kulturelle Veranstaltungsorte.

Carl Bödiker könnte sich zunächst in einem der Hotels am Kaiser-Wilhelm-Ufer niedergelassen haben, das auf den ersten Blick der Promenade eines Ostseebads glich. Von dort dürfte der angereiste Kaufmann Standorte für die Proviantlager sondiert haben, aber auch einen Sitz für seine Handelsniederlassung. 1903 ließ er dafür in der Prinz-Heinrich-Straße 144, der heutigen Guangxi Lu, die direkt zum Bahnhof führt und damals Standort vieler Niederlassungen war, jenes mehrstöckige Geschäftshaus aus dem Fotoalbum meiner Mutter bauen, an dem 1914 japanische Soldaten vorbeimarschierten. Bekrönt war es mit einem Spitzdach und zwei straßenseitigen Schmuckgiebeln, Doppelsäulen zierten die Fassade. Im Erdgeschoss befand sich ein Ladenlokal mit großen Schaufenstern für die Auslagen. Die Veranda im Obergeschoss sollte der Durchlüftung und dem Sonnenschutz dienen, bis man merkte, dass sich das Klima nicht wesentlich von dem in Deutschland unterschied, und bei späteren Bauten darauf verzichtete.[19] Der Eingang führte in einen Hinterhof, um den sich wie bei anderen Geschäftshäusern Tsingtaus Nebengebäude gruppierten. Dort dürften auch Lager untergebracht gewesen sein. Als Alleinvertreter in Tsingtau für diverse Brauereien, Winzereien, Spirituosenhersteller, Molkereien und die Gewehrfabrik J.P. Sauer & Sohn hatte die Handelsgesellschaft großen Platzbedarf.[20]

Anlass für den Bau einer repräsentativen Handelsniederlassung war der nächste Großauftrag. 1903 wurde Carl Bödiker der »ganze Kantinenbetrieb für die ostasiatische Besatzungsbrigade übertragen«.[21] Die meisten Soldaten des III. Seebataillons blieben für zwei Jahre. Die Einjährig-Freiwilligen mussten die Kosten für Kleidung, Verpflegung und Unterkunft selbst tragen.[22] Ihre Versorgung übernahm die Carl Bödiker Kommanditgesellschaft. Damit begann auch der systematische Ausbau seiner Dependancen in China. Mit dem Jahr 1903 übernahm der aufstrebende Unternehmer die Bremer Firma Schellhass zusammen mit ihren Niederlassungen in Hongkong, Kanton und Shanghai.[23] Das Unternehmen expandierte schnell. Eine weitere Zweigniederlassung entstand in Tsinanfu, der Hauptstadt der Provinz Schantung. Bödiker richtete überall dort Filialen ein, wo deutsches Militär stationiert war, und organisierte parallel den Export. Das Militär bildete den größten Teil der deutschen Bevölkerung, im Jahr 1907 etwa waren es 3500 Soldaten. Zivilisten gab es nicht einmal halb so viele, während die chinesische Bevölkerung ganz Kiautschous 140000 Menschen zählte.[24]

Auch in Deutschland brach Carl Bödiker zu neuen Ufern auf. Er verließ Geestemünde, wohin er nach Bremen und Bremerhaven mit dem stetigen Wachstum seiner Firma übergesiedelt war, und wechselte endgültig nach Hamburg, um die besseren Umschlagmöglichkeiten des Überseehafens zu nutzen. 1904 bezog er im vier Jahre zuvor erbauten Asiahaus in der Alten Gröningerstraße 24/25, der heutigen Willy-Brandt-Straße 49, ein Kontor. Die asiatischen Motive in der Sandsteinfassade mit Jugendstildekor verweisen noch heute auf den damaligen Handel mit Fernost. Die Hansestadt prosperierte als wichtigster Handelsplatz für Waren aus Übersee. Nicht nur das Unternehmen, auch die inzwischen achtköpfige Familie ging nach Hamburg. An jedem vorherigen Wohnort hatte das Paar Kinder bekommen: in Bremen Maria (geb. 1895) und Rosa (geb. 1896), in Bremerhaven Elly (geb. 1897), Adolf (geb. 1898), der sich später mit seinem Eintritt ins Kloster als Nachfolger für das Unternehmen entzog, und Georg (geb. 1901), der als nächster Sohn nur ungern die Geschäfte übernahm, und schließlich in Geestemünde wenige Monate vor dem Umzug in die St. Benedictstraße 15 in Harvestehude meine Großmutter Irmgard (geb. 1904). 1916 ließ Carl Bödiker nicht weit davon entfernt, nahe der Außenalster eine repräsentative Villa umbauen, im Obergeschoss lagen die Räume für die Familie, und in der Beletage empfing er als Generalkonsul. Das Grundstück reicht noch heute bis zum 140 Meter durchmessenden Rondeelteich, eine geschwungene Freitreppe führt hinauf zum Gartensaal. Auf ihr posierte meine Großmutter an ihrem Hochzeitstag im September 1934 umgeben von der Festgesellschaft, wie eine Fotografie zeigt. Arm in Arm mit dem schmucken Ehemann Curt Weber, der später ebenfalls in die Firma des Schwiegervaters eintrat. Die neue Wohnung des jungen Paars in der Isestraße 123 lag zu Fuß nur eine Viertelstunde entfernt. Dort wuchs meine Mutter mit ihren drei jüngeren Brüdern auf.

Die Villa am Rondeel 15a aber blieb das Zentrum der Familie. Eingerichtet war sie wie damals üblich mit Ölgemälden, schweren Möbeln und dicken Vorhängen.[25] Über den Paneelen des mit Palisanderholz vertäfelten Salons prangt noch heute Wandmalerei. Das große Fenster im Treppenhaus zeigt Carl Bödikers Heimatstadt Hildesheim. Eine Besonderheit der Ausstattung waren die von seinen Geschäftsreisen mitgebrachten Objekte aus China: Truhen, Vasen, Porzellane, filigran geschmiedete Silberfiguren und eben jener Paravent mit dem Drachen. Wann und wo genau er ihn erwarb, lässt sich nicht mehr rekonstruieren.

Einiges spricht dafür, dass er aus den Unruhen des »Boxerkrieges« stammt. Unmittelbar nach der Befreiung der eingeschlossenen Ausländer und chinesischen Christen in Peking durch die Acht-Nationen-Allianz am 14. August 1900 und den grausamen Vergeltungsmaßnahmen gegen verdächtigte »Boxer« begann die Plünderung der Stadt und ihres Umlandes. Die Truppen fielen brandschatzend über kaiserliche Anlagen und staatliche Institutionen her, raubten Anwesen von Prinzen und Beamten, Lagerhäuser und Geschäfte, Tempel, rituelle Anlagen und private Haushalte aus. In Peking und dem Umland fanden regelrechte »Orgien der Plünderung«[26] statt. Hunderte Artefakte gelangten durch die Raubzüge auf direktem Wege oder über den Kunsthandel in deutsche Museen, wo sie noch heute aufbewahrt und ausgestellt werden.[27] Doch nicht nur in öffentlichen Sammlungen, auch in privaten Haushalten finden sich Spuren der deutschen Kolonialgeschichte in China. Viele Soldaten wollten eine Erinnerung an ihren Einsatz mit nach Hause nehmen, deren genaue Herkunft sie wenig interessierte.

Heute lässt sich kaum noch rekonstruieren, was von wem wo während des »Boxerkrieges« entwendet wurde. Die Raubzüge dauerten monatelang. Während deutsche Soldaten auffallend viele Stücke aus Tempeln raubten, plünderten die Truppen anderer Länder eher Palastanlagen oder Residenzen. Die britischen Soldaten durften allerdings ihre Beute nicht behalten, konnten sie aber bei Auktionen der britischen Gesandtschaft ersteigern. Der Erlös wurde anschließend anteilig nach militärischem Rang ausgeschüttet. An den Plünderungen und der weiteren Verbringung von Kunstgegenständen nach Europa beteiligten sich viele, nicht nur Truppenmitglieder. Auch Diplomaten, Händler, Missionare profitierten von den Raubzügen und partizipierten an dem großen Basar auf Pekings Straßen zwischen dem Sommer 1900 und 1901, nachdem der Markt schon einmal Mitte des 19. Jahrhunderts nach dem Zweiten Opiumkrieg mit kaiserlichen Besitztümern geflutet worden war.

Die Stücke gingen auf direktem Weg in den Westen oder kursierten durch Weiterverkäufe erst noch in China. Sogar der letzte Kaiser beteiligte sich an der Veräußerung seiner Sammlungen. Obwohl er 1912 nach Ausrufung der Republik alle Macht verloren hatte, durfte er im Palast wohnen bleiben und stieß bis in die 1920er-Jahre Teile des Inventars ab, um sich über Wasser zu halten. Auch über andere Mitglieder des Hofes dürften Artefakte in Umlauf gekommen sein. Zahlreiche Angehörige der Qing-Dynastie waren nach der Revolution vom Herbst 1911 in die Exterritorialität ausländischer Niederlassungen geflohen, wo sie dauerhaft bleiben wollten. Tsingtau gehörte ebenfalls dazu. Der Stadt kam dies entgegen, versuchte sie sich doch seit einiger Zeit ein anderes Image zu geben als deutsches Kulturzentrum in China und nicht mehr nur Marinebasis und Handelsstandort zu sein.[28] Die Ansiedlung hochrangiger Mitglieder der chinesischen Gesellschaft, darunter Prinz Gong Puwei ab Februar 1912, ein Vetter des chinesischen Kaisers Pu Yi, wurde als Beginn einer neuen Ära angesehen und die strenge Trennung zwischen europäischer und chinesischer Stadt im Januar 1914 aufgehoben.

Gut möglich, dass Carl Bödiker die Drachen-Tapisserie in Tsingtau kaufte oder über ein Mitglied der kaiserlichen Familie erwarb, das nach 1911 in die Stadt gekommen war. Ein direktes Geschenk des Kaisers von China, wie es im Familiennarrativ immer hieß, ist eher unwahrscheinlich, denn Geschenke wurden auf höchster politischer Ebene etwa mit ranghohen Politikern oder Diplomaten ausgetauscht, aber kaum mit Kaufleuten. Einiges deutet darauf hin, dass der Paravent aus einer Plünderung stammt. Die Tatsache, dass der bestickte Stoff um die Hälfte beschnitten ist, spricht für diese Vermutung als Akt der Gewalt. Gleichwohl könnten dahinter auch praktische Gründe oder die Taktik eines Händlers stecken, um auf diese Weise zwei Verkäufe zu tätigen. In all den Jahren war mir dieser Eingriff nie aufgefallen. Der Drache auf dem Paravent erschien mir vollständig, so wie er war. Erst die genauere Beschäftigung mit dem Erbstück und die Befragung von Experten öffnete mir die Augen dafür, dass die Tapisserie in der Mitte geteilt worden war. Das Drachenmotiv taucht in der Regel nämlich paarweise auf. Demnach gehörten ursprünglich auch doppelt so viele, also acht goldgestickte Glücksräder mit sich dazwischen rankenden Rosen zur Darstellung und mindestens noch eine Fledermaus als weiteres Glückssymbol.

Bei meinem Paravent handelt es sich also nur um die linke Hälfte des einstigen Motivs, das um 90 Grad gedreht und dann für den Handel oder auch erst in Europa auf die drei Paneele einer Stellwand montiert wurde. Wer das weiß, erkennt sogleich die Wellen am rechten Bildrand, aus denen der Drache emporgestiegen ist. An der unteren Kante lässt sich nun der abgeschnittene Rest einer Perle identifizieren, die einst von den beiden Drachen umspielt wurde, ein klassisches Motiv in der chinesischen Kunst. Der gewundene Schwanz des Lindwurms auf dem Paravent müsste sich demnach nicht zur Seite schlängeln, sondern nach oben ragen. Auch sonst wurde der Stoff beschnitten. Die Swastika-Reihe verlief vermutlich als Rahmen einst entlang beider Seiten und an der oberen Kante.

Die in den Wellen dargestellten Objekte sind folglich ebenfalls nur noch zur Hälfte erhalten. Ursprünglich gehörten weitere vier dazu, entsprechend der insgesamt acht Glückssymbole des Buddhismus. Geblieben sind als Motive das Rad der Lehre, das Muschelhorn, der Schirm und die Schatzvase. Das aus acht Speichen bestehende Rad repräsentiert den achtfachen Pfad der Selbstverwirklichung und inneren Erleuchtung. Der Klang des Muschelhorns soll aus dem Schlaf der Unwissenheit erwecken. Der Schirm hält die schlechten Einflüsse, Leid und negative Gefühle von Buddha fern. Die Schatzvase steht für Gesundheit, Wohlstand, Reichtum. Als klassische Motive fehlen der unendliche Knoten, die Doppelfische, das Banner des Siegers und die Lotosblüte. Die Verwendung der Glückssymbole macht plausibel, dass die Stickerei aus einem buddhistischen Tempel stammen könnte. Das würde wiederum zur kaiserlichen Herkunft passen, worauf auch die fünf Krallen des Drachen verweisen, denn die von 1644 bis 1912 regierende Qing-Dynastie war dem tibetischen Buddhismus zugetan. Das offensichtlich auf Fernwirkung angelegte Textil könnte in einem der vielen vom Kaiserhaus gestifteten Tempel aufgehängt gewesen sein, aber auch anlässlich des Geburtstags eines Prinzen oder sogar der Kaiserin als Theatervorhang gedient haben. Auch dazu passen die im Himmel schwebenden Symbole für langes Leben und Glück.

Stutzig macht allerdings der kräftige Stoff, auf den die feine Stickerei aufgebracht ist. Die Seidenfäden für die glänzenden Schuppen des Drachen, das nur höchst kompliziert zu applizierende Goldgarn für die zwischen den Wölkchen schwebenden Glücksräder stehen im Kontrast dazu. Das Kölner Museum für Ostasiatische Kunst besitzt ein vergleichbares, wenn auch gröber besticktes Textil, das unbeschnitten ist: Das Drachenpaar auf dem fast doppelt so breiten Wandvorhang (170 mal 310 Zentimeter) weist motivisch erstaunliche Ähnlichkeit mit meinem Lindwurm auf.[29]

Auch beim Kölner Exponat ist die textile Grundlage ein tiefblaues, gewalktes Wollgewebe. Laut Editha Leppich, die dem Museum die Tapisserie schenkte und von 1934 bis 1955 zunächst in Peking, danach bis 1971 in Köln als Kunsthändlerin arbeitete, soll es sich ursprünglich um Uniformstoff und ein Geschenk Frankreichs an den chinesischen Kaiser handeln.[30] Ebenso wie bei meinem Urgroßvater lässt sich nicht nachprüfen, ob es wirklich ein Geschenk – nur in umgekehrter Richtung – war. Ein regulärer Import des Stoffes liegt näher, die Webbreite ist für chinesische Werkstätten zu groß. Wolltuche und Baumwollgarne gehörten zu den in China gefragten Waren. 1867 machten sie etwa 30 Prozent des chinesischen Imports aus.[31] Beide Drachenstickereien stammen offensichtlich aus derselben Werkstatt. Vielleicht hatten mein Urgroßvater und 20 Jahre später Editha Leppich ihre Tapisserien sogar aus derselben Quelle bezogen.

Wann genau Carl Bödiker den Paravent aus China mitbrachte, ist nicht überliefert. Bekannt ist nur seine erste Reise im Jahr 1900, um die Standorte für die Proviantlager für das Militär festzulegen. Vermutlich kehrte er 1911 noch einmal zurück, zumindest laut Bezeichnung unter einem Foto im Album meiner Mutter, das ihn auf der Rückfahrt mit Prinz-Heinrich-Mütze an Deck eines Hochseedampfers zeigt: gerahmt von zwei Männern, die seine Prokuristen sein könnten.[32] Als nach Kriegsende die deutschen Kaufleute den Handel wieder aufnahmen, gehörte auch Carl Bödiker dazu.[33] Sechs Jahre später ging er zusammen mit seiner Ehefrau Maria auf Inspektionsreise zu den Niederlassungen in Übersee. Von der gemeinsamen Fahrt hat sich eine Speisekarte vom 18. November 1924 erhalten für ein zehngängiges Menü »zu Ehren des Generalkonsuls[34] und seiner Gemahlin in Canton«. Die Speisenfolge reicht von Haifischflossensuppe über Vogelnestsuppe mit Taubeneiern, dann gerösteter Entenhaut bis zur Mandelsuppe als Dessert.

Im Fotoalbum meiner Mutter taucht Carl Bödiker bereits 1906 als Fernreisender auf: ebenfalls an Deck eines Dampfers, diesmal jedoch im leichten Leinenanzug statt in fester Wolljacke, die rechte Hand lässig in der Hosentasche. Darunter steht: »Auf der Fahrt nach Deutsch-Süd-West«. China war mittlerweile neben den Auslandsniederlassungen in Rotterdam, Malmö, Wladiwostok und Blagoweschtschensk, den Vertretungen in New York und Buenos Aires für Carl Bödiker nur ein Teil des Geschäfts. Der größte sollte sich in Deutsch-Südwestafrika entwickeln, dem heutigen Namibia. Vier Jahre nachdem Carl Bödiker in die Versorgung deutscher Truppen in Asien eingestiegen war, nahm er hier einen ähnlichen Auftrag für das Militär an. In der Familienchronik heißt es dazu lapidar: »Unter den eingeborenen Herero-Stämmen hatte sich ein Aufstand ausgebreitet, über den die anwesende Schutztruppe nicht Herr werden konnte, sodass das Deutsche Reich Verstärkungen entsenden musste.«

Die Niederschlagung der Aufstände der Herero und Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1908 gilt als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts. Auch hier eilte mein Urgroßvater herbei, kümmerte sich um die Versorgung des Militärs und gehörte zu den Profiteuren des Kolonialismus. Dass er damit wie zuvor in China indirekt am Tod Tausender Menschen beteiligt war, findet in der Familienchronik keine Erwähnung. Heute erschrickt man über diese säuberlich getippten Zeilen, die allein den Geschäftserfolg beschreiben. Carl Bödikers erste Vertretung in Deutsch-Südwestafrika entstand bereits im Herbst 1903 in Swakopmund mit dem Aufstand der Bondelswarts. Als sich die Auseinandersetzungen durch den Krieg der Herero und Nama ausweiteten, kamen weitere Niederlassungen hinzu. Wie in Asien richtete Carl Bödiker nicht nur Proviantlager ein, er gründete auch Handelsfilialen, um Felle, Häute, Hörner und Federn nach Deutschland zu liefern. Als Kaufmann ging er damit einen ähnlichen Weg wie viele Soldaten, die im Anschluss an ihre Dienstzeit in China zu den Kolonialtruppen in Afrika stießen, weil sie in Deutschland keine Arbeit fanden oder das Abenteuer suchten, ja entwurzelt waren.[35]

Auch Lothar von Trotha schlug diese Richtung ein, der beim »Boxerkrieg« die 1. Ostasiatische Infanterie-Brigade kommandierte und im Mai 1904 zum Oberbefehlshaber und Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika berufen wurde, um den Aufstand der Herero niederzuschlagen. Es ist gut vorstellbar, dass Lothar von Trotha meinen Urgroßvater für die Verproviantierung der »Schutztruppen« auch in Afrika weiterempfahl.[36] In seinen Anzeigen verwies das Unternehmen immer wieder auch auf die »Generalstabsmesse Sr. Exzellenz des Herrn Generalleutnant v. Trotha« als Referenz und prominenten Empfänger der Lieferdienste. Die Carl Bödiker Kommanditgesellschaft versorgte jedoch nicht nur das Militär mit Lebensmitteln, Kleidung, Zeltbedarf, sondern bot Rundumpakete auch für »Beamte, Farmer, Ansiedler«: die »Zusammenstellung von Kabinenplätzen und Billets, Einrichtungen von Haushaltungen und Farmbetrieben (Mobiliar, Windmotoranlagen, landwirtschaftliche Maschinen etc.)«.[37] Auch Kommunikation gehörte zum Service. Schon in China hatte »Bödiker’s Familien-Telegraphenschlüssel«, kurz »der Bödiker« genannt, Armeeangehörigen und Privatleuten kostenlos zur Verfügung gestanden, mit dem seit 1902 verknappt nach Hause gedrahtet werden konnte.[38] Bis in die 1920er-Jahre hinein fand er Anwendung.

Nach Niederschlagung des Krieges der Herero und Nama gediehen die Geschäfte der Kommanditgesellschaft weiter durch den Eisenbahnbau und Minenbetrieb. Als 1909 in der Lüderitzbucht die ersten Diamanten gefunden wurden, weilte Carl Bödiker geschäftlich gerade vor Ort und gehörte sogleich zu den Mitbegründern der Vereinigten Diamantengesellschaft. Zurückgekehrt nach Deutschland, übernahm er als Mitglied des Aufsichtsrats deren Vertretung beim Reichskolonialamt.[39] In ihren ersten beiden Geschäftsjahren 1910 und 1911 förderte die Gesellschaft Diamanten im Wert von rund drei Millionen Mark.[40] Ein Jahr später erweiterte das Unternehmen seine Niederlassung in Lüderitz. Dort steht noch heute das von dem Architekten Emil Krause entworfene zweistöckige Gebäude mit Jugendstil-Zierelementen. Oben auf der Fassade hat sich als Schriftzug die Bezeichnung »Bödikerhaus« und das Gründungsjahr 1912 erhalten. Auf einer Fotografie der Frühzeit steht das prachtvolle Geschäftshaus einsam an einer sandigen Straße, die auf weitere Bebauung wartet. Erst in weiter Ferne erhebt sich das nächste Haus aus Stein. Wie in Tsingtau war es sowohl Ladenlokal mit Schaufenstern im Untergeschoss als auch Lager mit Räumen im hinteren Bereich.[41] Im Lokal wurden Waren aller Art für den täglichen Bedarf angeboten. Eine Innenansicht des Ladens in Swakopmund zeigt mit Weinflaschen, Konserven, Lebensmittelschachteln bis unter die Decke gefüllte Regale, hinter der Theke stehen drei Fässer für Eingelegtes.[42] Das Obergeschoss wurde vermutlich zum Wohnen genutzt. Im selben Jahr führt das »Millionäre-Jahrbuch« der Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck unter dem Buchstaben »B« Carl Bödiker mit einem Jahreseinkommen von 100000 Mark auf.[43] Das Geschäft boomte, wie geschaltete Anzeigen plastisch demonstrieren: Die darauf abgebildeten fünf Zeppeline, Matrosen oder wahlweise drei ionischen Säulen werden immer größer entsprechend der vielfachen Umsatzsteigerung seit der Unternehmensgründung im Jahr 1897.

Das Ende kam mit dem Ersten Weltkrieg, das Kaiserreich verlor seine Kolonien, die Überseegeschäfte wurden blockiert, der Markt brach ein. Als China 1917 an der Seite der Alliierten in den Krieg eintrat, war den deutschen Kaufleuten der Handel endgültig verboten, ihre Waren wurden konfisziert. Doch Carl Bödiker erkannte darin erneut seine Chance – wie zuvor beim »Boxerkrieg« und den militärischen Einsätzen in Deutsch-Südwestafrika. Wieder verproviantierte er die Truppen. Vom Reichskriegsministerium erhielt er die Genehmigung, entlang der Westfront Großmarketendereien aufzuziehen, die vom französischen Sedan über St-Quentin bis zum belgischen Ostende reichten.[44] Als Betriebsstelle diente Brüssel. Der Jahresbericht der Kommanditgesellschaft für 1917 informierte stolz darüber, dass die Firma nun auch Flug- und Fahrzeuge bauen ließ, eigene Fabriken zur Herstellung »vom Dörrgemüse bis zum Sprengstoff« betrieb und »im dritten Kriegsjahre, das so viele Betriebe zugrunde gerichtet hat, noch immer mit Gewinn abgeschnitten hat«. Ohne Scheu bekannte sich das Unternehmen dazu, vom Krieg zu profitieren, diente es doch vermeintlich einer guten, der nationalen Sache.

Aus heutiger Sicht sind solche Aussagen ebenso schwer erträglich wie die Vorstellung, dass der chinesische Paravent Raubgut sein könnte. Selbst wenn er nicht aus Plünderungen des »Boxerkrieges« stammt und rechtmäßig erworben wurde, bleibt er untrennbar mit der Kolonialgeschichte des Kaiserreichs und ihren Grausamkeiten verbunden. Die Aktiengesellschaft meines Urgroßvaters wurde 1926 aufgelöst, an ihre Stelle trat die Firma Bödiker & Co. in Hongkong, die in Hamburg nur noch eine Niederlassung unterhielt.[45] Die Leitung übernahm später der zweite Sohn Georg Bödiker, bis das Unternehmen in den 1960er-Jahren endgültig aufgab, weil sich die großen Kaufhäuser ihre Bezugsquellen im Ausland zunehmend auf direktem Wege ohne Zwischenhändler erschlossen. Erlebt hat mein Urgroßvater das nicht mehr. Er starb am 10. Januar 1952 in Hamburg mit 83 Jahren. Sein Enkel Tonio Bödiker, mein Onkel, erinnert sich noch gut daran, wie er als Siebenjähriger von ihm Abschied nahm: aufgebahrt hinter dem chinesischen Paravent im Obergeschoss seiner Villa nahe der Außenalster.[46]

Anfang der 1950er-Jahre mochte diese Art der Inszenierung noch passend sein, demonstrierte der Paravent doch den Unternehmergeist meines Urgroßvaters, die Weltläufigkeit seiner Geschäftsverbindungen, seine Kultiviertheit und eine gewisse Exotik. Für mich transportiert der Paravent neben privaten Erinnerungen heute vor allem koloniale Geschichte und unsere familiäre Involviertheit. Der Blick darauf hat sich geändert, angestoßen durch ein gewachsenes postkoloniales Bewusstsein. Aber auch in China hat sich die Perspektive auf den deutschen Kolonialismus verschoben. In Tsingtau selbst dominierte noch bis vor wenigen Jahren die Meinung, die Stadt habe durch die Deutschen vor allem einen enormen Modernisierungsschub erfahren, etwa durch die von ihnen eingeführte Kanalisierung.[47] Eine jüngere Generation beginnt dies jedoch anders zu sehen. Die in Berlin lebende Autorin Charlotte Ming, 1989 geboren in Qingdao, untersucht gerade für eine Buchveröffentlichung, woran die vor allem positive Einschätzung der deutschen Fremdherrschaft in ihrer Heimatstadt liegt, deren Spuren in Form wilhelminischer Architektur das Zentrum bis heute prägen.[48] Als mögliche Ursachen gelten die stärker in Erinnerung gebliebenen Grausamkeiten der japanischen Truppen und die Unkenntnis der damaligen Diskriminierung durch die Deutschen. Ein anderer Grund ist die dürftige Quellenlage in China, die meisten Dokumente lagern in deutschen Archiven.

Die Demütigung durch die Plünderungen während des »Boxerkrieges« und Zweiten Opiumkrieges wird jedoch nach wie vor empfunden, insbesondere der Raub Tausender Kunstschätze in dieser Phase. Das chinesische Staatsamt für Kulturerbe (NCHA) geht von rund anderthalb Millionen entwendeten Artefakten aus, die sich heute in ausländischen Museen befinden. Experten schätzen die Zahl sogar auf das Zehnfache, wenn man die Objekte in privaten Sammlungen hinzuzählt.[49] Die Repatriierung von chinesischem Kulturerbe gilt mittlerweile als Staatsangelegenheit. Der viele Jahre praktizierte Rückkauf durch chinesische Multimillionäre, etwa auf Auktionen, wird inzwischen offiziell ungern gesehen, gehören sie doch »ohnehin« China. Restitutionsforderungen wie aus afrikanischen Ländern wurden allerdings bislang noch nicht erhoben. Das aktuelle Forschungsprojekt »Spuren des ›Boxerkrieges‹ in deutschen Museumssammlungen« stellt einen Vorstoß von deutscher Seite dar.[50] Wie bei den nach Nigeria restituierten Benin-Bronzen könnte es auch hier zu Rückgaben kommen. Vielleicht findet dann auch irgendwann der einsame Drache von meinem Paravent zurück zu seinem verlorenen Pendant.

Kapitel 2 Ludwig WinterDas Silbergeschirr aus Kiautschou

Ein Gouvernementspfarrer baut die deutsche »Musterstadt« Tsingtau mit auf

Einen Ehrenplatz hat es immer schon gehabt: erst bei der Großmutter in Bad Homburg, in der Anrichte des Esszimmers hinter Glas, dann in dem Zimmer, das sie im Alter bei der Tochter bezog. Als Klaus Hehner das siebenteilige Silbergeschirr nach Auflösung seines Elternhauses zu sich nach Berlin mitnahm, glänzten und blinkten die beiden Krüge, die Tee- und Kaffeekanne, der Trinkbecher, das Zuckergefäß und Milchkännchen zwar nicht mehr, aber einen besonderen Platz in einer Vitrine des Bücherbords erhielten sie auch bei ihm. Daneben stehen zwei dekorative Teller und zwei Vasen, ebenfalls 1919 von den Großeltern aus China mitgebracht, wo Klaus Hehners Mutter noch geboren wurde.

Es kommt nur selten vor, dass der pensionierte Maschinenbauingenieur das Silbergeschirr herunterholt und zur näheren Betrachtung vor sich auf den Esstisch stellt. Bei der Teekanne ist der Griff schon locker, bei einem der beiden Krüge schließt der Deckel nicht mehr ganz. Doch selbst im angelaufenen Zustand entfalten die Gefäße eine Pracht. Ob konisch zulaufend oder bauchig rund, die Behältnisse sind vollständig mit Bildreliefs überzogen. Die beiden Krüge zeigen Kirschblüten, in deren Zweigen kleine Vögel sitzen, dazwischen hockt eine dicke Taube. Die Deckelgriffe sind aus stilisierten Ästen gebildet.

Auch bei der Tee- und der Kaffeekanne bestehen die Deckelgriffe aus zierlichen Zweigen mit Blättern daran. Chrysanthemen schmücken den Korpus der beiden Kannen, während ihre Tüllen und seitlichen Griffe mit Bambusblättern dekoriert sind. Die Zuckerschale zieren Kirschblüten, das Milchkännchen Chrysanthemen, auf dem Trinkbecher ist dagegen eine Szene dargestellt. Zwei Männer führen ein wildes Tier in dicken Ketten ab. Ganz offensichtlich gehören die sieben Teile nicht zusammen, die Punzen auf der Bodenseite der Gefäße bestätigen die unterschiedlichen Hersteller. Gemeinsam ist ihnen allerdings, dass sie für westliche Käufer hergestellt wurden.

Vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts produzierten chinesische Manufakturen das sogenannte Exportsilber in großen Mengen: Tabletts, Tee- und Kaffeeservice, Zigaretten- und Schnupftabakdosen, Kerzenleuchter, Vasen und Pokale. Ihr Material bestand aus eingeschmolzenen mexikanischen Silberdollars, die chinesische Händler als einziges Zahlungsmittel beim Verkauf ihrer Waren wie Tee, Seide und Gewürze aus China akzeptierten. Die Silberdollars waren die Hauptwährung in den Küstenstädten, in Tsingtau bekamen die deutschen Beamten ihr Gehalt in dieser Währung ausgezahlt. Durch die erzwungene Öffnung der Handelshäfen seit dem Ersten Opiumkrieg (1839–1842) boomte das Geschäft mit dem Exportsilber. Die Silberschmiede richteten sich ganz nach den Wünschen der dort ansässigen ausländischen Kaufleute. Dabei kam es zu einer eigenwilligen Mischung aus europäischen Formen und chinesischen Dekoren, ebenso bei den Punzen. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts hatten Seeleute und Kaufmänner den Silberschmieden Beispiele aus Europa als Vorlage mitgebracht, die sie nacharbeiteten und mit figürlichen Szenen aus der Oper oder Mythologie oder mit klassischen Motiven der Tuschemalerei dekorierten: Pflaumenblüten, Chrysanthemen, Orchideen und Bambus als Symbole für die Jahreszeiten oder »Vier edlen Herren«. Sie repräsentieren wiederum die Tugenden des Konfuzianismus: Die Pflaume steht hier für Bescheidenheit, die Chrysantheme für ein angenehmes Leben, Geduld und Nachdenklichkeit, die Orchidee für Schönheit und Genügsamkeit und der Bambus für Ausdauer und Ergebenheit. Da die Kunsthandwerker auch die westlichen Punzen kopierten und mit eigenen Schriftzeichen kombinierten, sind die einzelnen Werkstätten heute teilweise schwer zu identifizieren.

Ebenso wie das für den europäischen Markt produzierte Porzellan mit seinen westöstlichen Dekors veranschaulicht auch das Exportsilber Wege des kulturellen Transfers. Die bis Mitte des 20. Jahrhunderts kunstvoll gearbeiteten Objekte sind nach wie vor begehrt, wenn auch nicht bei chinesischen Sammlern.[51] Internationale Auktionshäuser bieten regelmäßig Einzelstücke aus den Nachlässen einst in China tätiger Kaufleute, ranghoher Beamter und Militärangehöriger, von Eisenbahningenieuren[52] oder Geistlichen an, die sich solche Souvenirs leisten konnten.[53]

Ludwig Winter (1868–1920), Klaus Hehners