Der Duft von Eis - Yoko Ogawa - E-Book

Der Duft von Eis E-Book

Yoko Ogawa

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Beschreibung

Die junge Ryoko reist von Tokio nach Prag, um mehr über den Tod ihres Geliebten zu erfahren. Hiroyuki war ein begabter Parfümeur, der in seinem Labor außergewöhnliche Düfte komponierte. Am ersten Jahrestag ihrer Beziehung schenkte er Ryoko ein selbst kreiertes Parfüm namens »Quell der Erinnerung«, am Tag darauf trinkt er eine Flasche reines Ethanol und stirbt. Ryoko kann erst um ihn trauern, wenn sie seine Tat versteht. Bei ihren Recherchen findet sie heraus, dass Hiroyuki, der nie viel Aufhebens um seine Person machte, ein ganz anderer Mensch war als der, mit dem sie ihr Leben teilte. Ein brillanter Eiskunstläufer, der auf Kufen mit verbundenen Augen die schwierigsten Muster nachzeichnen konnte. Und ein genialer Mathematiker, der in wenigen Stunden komplexe Aufgaben löste, für die ein Professor mehrere Tage braucht. Fünfzehn Jahre zuvor war Hiroyuki nach Prag gereist, um an einem internationalen Mathematikwettbewerb teilzunehmen. Dort muss es zu einem Zwischenfall gekommen sein, der Hiroyukis Leben für immer veränderte.

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Seitenzahl: 261

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Yoko Ogawa

Der Duft von Eis

Roman

Aus dem Japanischen von Sabine Mangold

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert im Rahmen des Programms »Neustart Kultur« der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel

»Koritsuita Kaori« bei Gentosha, Tokio.

© Yoko Ogawa 1998

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2022

Alle Rechte vorbehalten

Yoko Ogawa wird durch das Japan Foreign-Rights Centre vertreten.

Umschlagmotiv: recep-bg / Getty Images

Umschlaggestaltung: Robert Gigler, München

eISBN 978-3-95438-154-8

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

1

Mein Anschlussflug von Wien-Schwechat nach Prag hatte fünf Stunden Verspätung. Niemand, den ich fragte, gab mir Auskunft, womit dies zusammenhing. Entweder reagierte man mit unwilligem Schulterzucken oder man überschüttete mich mit einem Wortschwall, den ich nicht verstand.

Das Gate in der Sektion C befand sich ganz hinten im Terminal. Es war ruhig dort, fast menschenleer. Es gab keine Hintergrundmusik, kein erregtes Stimmengewirr von Passagieren erfüllte die Halle, und die gelegentlichen Lautsprecherdurchsagen waren kaum hörbar.

Die Kaffeebar machte gerade zu. Der junge Mann, der mir vorhin ein Sandwich zubereitet hatte, wischte nun mit einem Mopp den Boden. Die Leuchten über dem Tresen waren ausgeschaltet, und die glänzend polierten Gläser standen aufgereiht auf einem Geschirrtuch.

Draußen herrschte bereits finstere Nacht. Die orangegelben Leitlichter der Befeuerung leuchteten verschwommen. Eine Maschine war gerade dabei abzuheben. Langsam schrumpfte sie zu einem Punkt, den die Dunkelheit verschluckte.

Eine alte Frau lag zusammengekauert auf einer Bank, ihre Tasche diente ihr als Kopfkissen. Gegenüber saß eine chinesische Familie und aß krümelnd Mondkuchen. Das Baby an der Brust der Mutter fing an zu schreien. Alle warteten auf das Flugzeug.

Ich versuchte nachzurechnen, wie lange es her war, dass ich Japan verlassen hatte, und wie viele Stunden ich bereits ohne Schlaf war. Aber es gelang mir nicht, da ich nicht wusste, ob ich die sieben Stunden Zeitunterschied hinzufügen oder abziehen sollte. Ich hatte den Überblick verloren. Mein Verstand war vor Müdigkeit wie betäubt.

Rechenaufgaben waren seine Stärke gewesen, egal welcher Art. Sei es, den Geburtstag von jemandem nach dem westlichen Kalender zu ermitteln, die Kosten einer Reise auszurechnen, den Punktestand beim Bowling zu notieren, auf fehlerhaftes Wechselgeld im Taxi hinzuweisen …

Hiroyuki wusste stets die richtige Antwort. Während ich noch herumstammelte, hatte er schon die richtige Zahl parat. Dabei war er nie besserwisserisch oder eingebildet, fast immer schien es, als wollte er sich dafür entschuldigen. Als würde er mir sagen: Du warst so verzweifelt, da ist es mir einfach herausgerutscht. Verzeih mir, dass ich mich eingemischt habe.

58, 37400, 1692, 903 … Seine Antworten bestanden lediglich aus Zahlen. Ohne weitere Bedeutung. Trotzdem genoss ich den Moment, wenn er sie mir zuflüsterte. Ihr unerschütterlicher Klang gab mir Sicherheit. Ich konnte mich darauf verlassen, dass er in diesem Moment ganz bei mir war.

Plötzlich donnerte es, und ein Blitz zuckte an der Stelle, wo das Flugzeug gerade verschwunden war. Dann fing es an zu hageln.

Zuerst glaubte ich, die Fensterscheiben der Wartehalle würden zerspringen. Uns umgab ein furchtbares Getöse, als ginge alles zu Bruch. Die alte Frau schreckte hoch, das Baby ließ überrascht seinen Schnuller aus dem Mund fallen. Alle starrten nach draußen.

Die Hagelkörner glitzerten wie Glasscherben. Wenn man genau hinsah, erkannte man die unterschiedlichen Formen, die sich in der Dunkelheit abzeichneten. Unzählige Körner prasselten gegen die Scheiben und zerbarsten.

Plötzlich bemerkte ich unsere Maschine, die neben dem Terminal zum Stehen gekommen war. Auf dem Rumpf stand »CESKY« geschrieben. Wann mochte sie gelandet sein? Ich erhob mich und ging zum Fenster hinüber. Etliche Gepäckwagen schlängelten sich heran.

Es hagelte mächtig auf Propeller, Räder und Tragflächen. Die Tür glitt hoch, und die Gangway wurde herangeschoben. Ein Donnergrollen ertönte, noch lauter als zuvor, woraufhin das Baby wieder anfing zu schreien.

Unter den Hagelkörnern wirkte die Maschine ganz klein. Wie ein verletztes Vögelchen.

Auf der Informationstafel blinkten nun endlich die Lämpchen für das Boarding.

Ich war gerade im Wohnzimmer beim Bügeln, als der Anruf aus der Klinik kam. Eine Krankenschwester teilte mir mit, dass Hiroyuki gestorben sei.

»Wie? Was soll das heißen?«, fragte ich die unbekannte Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Er hat sich an seinem Arbeitsplatz das Leben genommen. Er hat reines Ethanol getrunken.«

Ich fand es seltsam, dass eine mir fremde Person so ausführlich Auskunft über Hiroyuki geben konnte. Ihr Benehmen erschien mir taktlos und unangemessen.

»Bitte kommen Sie so schnell wie möglich in die Notaufnahme. Sie finden uns im Erdgeschoss, direkt neben dem Westeingang.«

Reines Ethanol. Das war sogar mir ein Begriff. In der Parfümerie stand es ganz unten im Regal. Ich habe Hiroyuki immer ganz genau beobachtet bei seiner Arbeit, deshalb erinnere ich mich an jedes noch so kleine Detail. Es war eine große braune Glasflasche mit rotem Deckel. Mit ihrer bauchigen Form wirkte sie plump und schwer. Sie war mit einem weißen Etikett versehen. Ich war mir sicher, dass erst ein paar Milliliter verbraucht waren.

»Sie kommen doch, oder?«, drängte die Schwester.

Ich kehrte zum Bügelbrett zurück, wo ich gerade Hiroyukis weißes Oberhemd hingelegt hatte.

Mir war klar, dass ich sofort aufbrechen musste. Ich hätte mein Portemonnaie in die Jackentasche stecken, mir ein Taxi rufen und unverzüglich ins Krankenhaus fahren sollen.

Trotzdem bügelte ich das Hemd. Meine Hände bewegten sich wie von selbst. Sorgfältig glättete ich die Falten am Kragen, als wäre dies eine überaus wichtige Angelegenheit, die es zu beenden galt. Obwohl der Träger des Hemdes gar nicht mehr lebte.

Die Leichenhalle befand sich im Untergeschoss. Auf dem Linoleumboden quietschte jeder Schritt, als ich den langen, schmalen Gang entlanglief. Mir war nichts Besonderes an Hiroyuki aufgefallen, als ich mich am Morgen von ihm verabschiedet hatte. Da war ich mir ganz sicher. Die Tasche mit seinen Arbeitsutensilien in der Hand, hatte er kurz in den Garderobenspiegel geschaut, um den Sitz seiner Krawatte zu prüfen, bevor er mir beim Gehen zuwinkte.

Am Abend zuvor hatten wir noch gefeiert. Vor genau einem Jahr waren wir zusammengezogen. Ich hatte ihm sein Lieblingsgericht zubereitet, Hackbraten, und für den Nachtisch einen Apfelkuchen gebacken. Er schenkte mir ein Parfüm, das er eigens für mich hergestellt hatte. Seit Langem hatte er mir dies versprochen. Aber immer, wenn ich ihn daran erinnert hatte, wandte er den Blick ab.

»Das ist nicht so einfach, wie du denkst. Ich muss dich erst näher kennenlernen.«

Er taufte den Duft »Quell der Erinnerung«. Der schlanke durchsichtige Flakon war schmucklos und hatte eine asymmetrische Form. Im Glas waren ein paar Blasen sichtbar. Wenn man ihn gegen das Licht hielt, sah es aus, als würden die Blasen in dem Parfüm schwimmen. Im Kontrast zur Schlichtheit des Flakons war der Verschluss fein ziseliert. Dort war eine Pfauenfeder eingraviert.

»Der Pfau ist ein Bote des Gottes der Erinnerung«, sagte Hiroyuki, als er den Flakon öffnete und mein Haar zurückstrich, um mir einen Tropfen hinters Ohr zu tupfen.

Es war unvorstellbar, dass er sich nach unserem denkwürdigen Abend das Leben genommen hatte. Dieser Gedanke kreiste unaufhörlich in meinem Kopf herum. Falls er schon länger die Absicht gehabt hätte, dann wäre es doch rücksichtsvoller gewesen, das Parfüm gar nicht erst fertigzustellen, um mir nicht dieses kummervolle Andenken zu bescheren.

In der Leichenhalle war es kalt und eng. Es gab kaum genug Platz für die anwesenden Personen, die um die Bahre, auf der Hiroyuki lag, herumstanden. Außer mir waren Reiko, die Geschäftsführerin der Parfümerie, und ein junger Mann zugegen, der mir unbekannt war. Als sich unsere Blicke trafen, öffnete Reiko den Mund, um etwas zu sagen, brachte jedoch nur ein unverständliches Gestammel heraus. Mit einem Seufzen verfiel sie wieder in Schweigen.

Ich berührte Hiroyukis Gesicht. Seine Züge waren so sanft, dass ich gar nicht anders konnte. Es war kaum zu glauben, dass dies das Gesicht eines Toten war, eines Menschen, der verwesen würde, sobald man ihn sich selbst überließ.

Dann brach es aus Reiko heraus.

»Es tut mir so leid! Ich war den ganzen Tag unterwegs und hatte Hiroyuki gebeten, solange auf die Parfümerie aufzupassen. Als ich zurückkehrte, fand ich ihn am Boden liegend. Ich hätte nie gedacht, dass er so etwas macht. Wäre ich doch früher zurückgekommen! Zuerst glaubte ich, er erlaubt sich einen Scherz mit mir. Aber als ich ihn ansprach und ihn schüttelte, reagierte er schon nicht mehr. Vor ihm lag die leere Ethanol-Flasche. Als ich sie sah, fing ich unwillkürlich am ganzen Leib zu zittern an. Ich konnte nichts dagegen ausrichten. Mir blieb einfach die Luft weg, als hätte ich das Zeug selbst getrunken … Aber Hiroyuki wirkte, als hätte er überhaupt nicht gelitten. Ich schwöre! Mit geschlossenem Mund und den gesenkten Lidern sah er aus, als würde er selbstversunken einen Duft in sich aufnehmen, genau so, wie er es bei der Arbeit immer getan hat. Es war, als hätte sein Herz unbemerkt aufgehört zu schlagen bei dem Versuch, sich an ein bestimmtes Parfüm zu erinnern …«

Reiko redete ohne Unterlass. Wie Tränen fielen die Worte aus ihr heraus. In der Leichenhalle war nur ihre Stimme zu hören.

Hiroyukis Wangen waren warm. Seine Haut fühlte sich genauso an wie immer, wenn ich ihn berührt hatte. Aber ich verstand, dass dies eine Illusion war. Tatsächlich war sie schmerzhaft kalt. An meinen Händen war immer noch die Wärme seines Hemdes spürbar, das ich gebügelt hatte.

»Wieso nur hat er so etwas getan?«, fragte ich.

Reiko erzählte mir später, dass ich keine Träne vergossen und nur diese Worte gemurmelt hätte. Ich selbst konnte mich nicht daran erinnern.

»Ich bin froh, dass Sie gekommen sind«, sagte Reiko zu dem jungen Mann.

Es war Hiroyukis jüngerer Bruder.

»Wenn niemand aus der Familie da ist, nur Ryoko-san und ich, das wäre doch trostlos gewesen. Bei solchen Gelegenheiten muss man so viele Angehörige wie möglich um sich versammeln. Er war so allein … in dieser stillen Ecke der Parfümerie. Ihn umgab nur der Duft, den er gestern geschaffen hatte.«

Unfähig, die Stille zu ertragen, hatte Reiko erneut das Wort ergriffen.

»Quell der Erinnerung«, murmelte ich.

Sie hörte mich jedoch nicht.

Ich fragte mich, wie man es anstellen könnte, Hiroyukis Körper in diesem Zustand zu bewahren. Mir war natürlich bewusst, dass man ihn nicht mehr zum Leben erwecken konnte. Darum ging es nicht. Ich wollte ihn mir einfach nicht als ein Häufchen Asche vorstellen. Der Gedanke, dass sein Körper verschwinden würde, erschien mir am schlimmsten. Davor hatte ich mehr Angst als vor dem eigenen Tod. Sollte sein Leichnam ruhig erkalten. Mir reichte es, mit der Hand seine Wange zu berühren, um mich aufrecht zu halten.

Zunächst benötigt man sauberes, feines Seidentuch. Groß genug, damit noch ein Stück übrig bleibt, wenn man es ein paar Mal herumgewickelt hat. Und Myrrhe. Das Wichtigste. Vom Namen dieses Duftstoffs leite sich das japanische Wort für »Mumie« ab, hatte Hiroyuki mir irgendwann einmal erklärt. Myrrhe habe antiseptische und konservierende Eigenschaften und werde seit dem 4. Jahrtausend vor Christus als Weihrauchopfer den Göttern zu Ehren verbrannt.

Warum wir über Mumien gesprochen hatten? Ich weiß es nicht mehr. Er konnte viel über Dinge erzählen, die ich nicht kannte. Es waren ausnahmslos Geschichten, die mit Aromen und Düften zu tun hatten. Geschichten, die mich beeindruckten, erfreuten und nachdenklich stimmten.

Dann wird das Blut abgelassen, und die Organe werden entfernt. Dabei kann man nicht sorgfältig genug vorgehen. Es muss alles entfernt werden, von der feinsten Schicht Hirnhaut bis zur kleinsten Darmfalte. Dann wird die Leibeshülle mit Myrrhe ausgestopft. Die Haut muss perfekt gedehnt und gespannt werden, ohne die ursprüngliche Gestalt zu verändern. Nicht zu vergessen das Innere der Wangen. Zum Schluss wickelt man die in Myrrhe getränkte Seide um den Leichnam und wartet, bis er vollständig imprägniert ist. Es gibt nichts zu befürchten. Bei Lenin und Eva Perón wurde es auch so gehandhabt.

Ob es in der Parfümerie auch eine Flasche Myrrhe gab? Wieso hat Reiko sie nicht mitgebracht? Das Einzige, was wir dringend brauchten, war Myrrhe …

»Wir hatten vereinbart, zweimal im Jahr miteinander zu telefonieren«, sagte die unbekannte Stimme.

Überrascht blickte ich auf. Meine Hand ruhte immer noch auf Hiroyukis Wange.

»Am Todestag unseres Vaters war ich an der Reihe, er meldete sich an Mutters Geburtstag. Sonst hätten wir es bestimmt vergessen.«

Der junge Mann, der neben Reiko stand, sprach langsam und besonnen, während er sich an der Kante der Bahre festklammerte. Er neigte den Kopf, das fahle Licht fiel auf sein Profil.

Er war das Ebenbild seines Bruders. Man hätte meinen können, es wäre Hiroyuki höchstpersönlich. In diesem Moment fühlte ich mich brüsk in die Gegenwart zurückgeworfen. Meine Finger, die Hiroyukis Wange berührten, waren starr vor Kälte.

Ein jüngerer Bruder? Wieso gab es überhaupt Geschwister? Über seine Familie sprach er nie, er hatte nur kurz erwähnt, dass niemand mehr lebte. Das war’s. Alle tot. Seine lakonischen Worte sprachen für ihn selbst. Stets saß er im gläsernen Labor der Parfümerie, als wäre dies sein angestammter Platz, schon lange Zeit vor seiner Geburt. Reglos saß er da, um sich allein den Düften zu widmen.

Wäre das Licht nur ein wenig besser gewesen, hätte ich die Gesichtszüge seines Bruders noch deutlicher erkennen können.

Hastig wandte ich den Blick ab.

Hiroyukis Lippen waren feucht, sein am Morgen frisch gewaschenes Haar duftete. Und seine Nase hatte selbst in diesem trübseligen Licht nichts von ihrer schönen Form eingebüßt.

»Heute ist Vaters Todestag. Ich wäre an der Reihe gewesen. Vielleicht hat er absichtlich diesen Tag gewählt, damit ich rechtzeitig davon erfahre«, sagte der junge Mann, ohne aufzusehen.

Ich löste meine Hand von der Wange. Reiko fing an zu weinen. Ein kalter Luftzug drang in die Leichenhalle, obwohl es kein einziges Fenster gab.

Vielleicht hing sein Todestag ja tatsächlich mit seinem Bruder zusammen und nicht mit dem mir versprochenen Parfüm. Vielleicht wollte er am gleichen Tag sterben wie sein Vater.

Ich merkte, dass ich eifersüchtig war. Diese unpassende Gefühlsregung verstörte mich zutiefst und bereitete mir großen Kummer. Denn nun wurde mir mit Schrecken bewusst, dass ich Hiroyuki endgültig verloren hatte.

Am Flughafen in Prag empfing mich ein junger Mann mit kindlichen Gesichtszügen. Er stand vornübergebeugt, beide Hände in den Taschen seines abgewetzten Lederblousons vergraben. Als er mich erblickte, lächelte er schüchtern und gab mir die Hand. Er hatte eine muskulöse, wohlproportionierte Figur und trug an beiden Ohren einen goldenen Ohrring.

»Es tut mir leid, dass Sie warten mussten. Mein Flug hatte große Verspätung«, entschuldigte ich mich.

Den Kopf gesenkt, nuschelte er etwas Unverständliches.

»Ich hatte schon befürchtet, Sie hätten die Geduld verloren und seien weggegangen. Ich hätte gar nicht gewusst, was ich hier mitten in der Nacht allein anfangen würde. Haben Sie vielen Dank!«

Der junge Mann nickte vage, knöpfte seinen Blouson zu und bedeutete mir mit einem Blick, dass wir aufbrechen sollten. Er hatte lockiges Haar, kastanienbraun wie seine Augen.

»Sagen Sie, Sie sind doch der Fremdenführer vom Cedok-Reisebüro, nicht wahr?«, erkundigte ich mich auf Englisch.

Aber seine Antwort, vermutlich auf Tschechisch, war genauso einsilbig wie zuvor. Es klang nach einer Entschuldigung oder Beschwichtigung, ich solle mir keine Sorgen machen.

»Ich hatte ausdrücklich um einen Führer gebeten, der Japanisch versteht. Sie verstehen nicht einmal Englisch, oder? Kein einziges Wort.«

Statt einer Antwort griff er nach meinem Koffer und nahm mir die Reisetasche aus der Hand, als wolle er damit zum Ausdruck bringen, ich könne ihm getrost folgen.

»Es ist ärgerlich, wenn ich mich nicht verständigen kann. Ich brauche einige Informationen, bevor ich bestimmte Personen aufsuche, mit denen ich mich verabredet habe. Dies ist keine Vergnügungsreise für mich. Ich hatte mich mit dem Reisebüro darauf verständigt, dass wir uns im Laufe des Tages treffen, um den Ablaufplan für meinen einwöchigen Aufenthalt festzulegen. Natürlich habe ich nicht damit gerechnet, dass der Flug sich dermaßen verspäten würde. Wird sich morgen jemand um mich kümmern, der dafür besser geeignet ist?«

Obwohl ich wusste, dass er kein Wort von dem, was ich sagte, verstand, musste ich zum Ausdruck bringen, dass mir die Situation Sorgen bereitete. Meine Nerven lagen blank, vermutlich wegen des Schlafmangels.

Der junge Mann hörte mir aufmerksam zu, als würde er alles verstehen, und fixierte dabei einen Punkt in der Luft. Auf seinem Gesicht machte sich ein stummes Lächeln breit. Er verfrachtete mein Gepäck behutsam auf die Rückbank eines Lieferwagens. Mir blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls zu lächeln.

Offenbar hatte es auch in Prag geregnet, denn sämtliche Straßen waren nass. Das Laub, der Asphalt und die Schienen der Straßenbahn waren mit schimmernden Wassertropfen benetzt.

Als wir uns dem Stadtzentrum näherten, wirkte die Szenerie immer noch wie ausgestorben. Ich sah ein stattliches Gebäude, das von hohen Bäumen und einer Backsteinmauer umgeben war – vermutlich ein Krankenhaus –, sowie eine schäbige, halb verfallene Tankstelle. Der dunkle Waldabschnitt, die Bushaltestellen, der Brunnen im Park, der Lebensmittelladen, das Postamt, sie alle schienen tief zu schlafen.

Der Lieferwagen bog an mehreren Kreuzungen ab, bevor er das Tempo beschleunigte. Auf der Rückbank polterten mein Gepäck und ein schwarzer Kasten, der wohl dem jungen Mann gehörte.

»Wie heißen Sie?«, fragte ich ihn vom Beifahrersitz aus.

Ich wiederholte die Frage zweimal auf Englisch. Seine Augen funkelten mich charmant an, bevor er wieder in die Fahrtrichtung schaute.

»Mein Name ist Ryoko. Ry-o-ko. Verstehen Sie?«

Diesmal tippte ich ihn auf die Schulter. Er zuckte zusammen und wand sich, als wäre er kitzlig.

»Ry – yoko.«

Es klang unbeholfen, aber offenbar hatte er verstanden, was ich wollte.

»Und Sie?«

»Jeniak.«

Er setzte den Blinker und drehte das Lenkrad. Wegen des Motorengeräusches konnte ich ihn nicht richtig verstehen.

»Je-ni-ak«, wiederholte er mit sanfter Stimme.

Was für ein schwierig auszusprechender Name, dachte ich. Ich war so müde, dass ich ihn mir wohl kaum merken würde.

Plötzlich zeigte er nach draußen. Ich schreckte auf und presste mein Gesicht ans Fenster. Die Moldau war zu sehen. Der breite, ruhig dahinfließende Fluss verschmolz mit der Dunkelheit. Vor uns lag die Karlsbrücke, und auf dem Hügel darüber thronte die Prager Burg, als würde sie dort oben Wache halten.

Brücke und Burg waren wundersam beleuchtet. Obwohl die Scheinwerfer kein besonders grelles Licht warfen, kamen die fein gearbeiteten Reliefs der Türme und die Silhouetten der Heiligenfiguren, die die Brückengeländer säumten, gut zur Geltung. Es wirkte wie eine Landschaft, die in der Tiefe des Raums entstand, dort, wo nicht einmal die Dunkelheit hingelangte.

Er fuhr langsamer, damit ich genug Zeit hatte, mir alles anzuschauen.

»Jeniak«, wiederholte er abermals.

»Ja, ich weiß. Ein sehr schöner Name«, erwiderte ich.

Das Hotel befand sich in einer schmalen Gasse, ein paar Minuten Fußweg von der Teynkirche am Altstädter Ring. Es war ein altes, dreistöckiges Gebäude, nur am Empfang leuchtete eine einzelne Glühbirne. Bei jedem Schritt auf der steilen Treppe knarzte es. Der karmesinrote Läufer war abgewetzt und voller Flecken.

Im Zimmer setzte ich mich aufs Bett und holte »Quell der Erinnerung« aus meiner Tasche. Ich hielt den Glasflakon gegen das Licht, um zu prüfen, ob er die lange Reise unbeschadet überstanden hatte.

Das bloße Schütteln der Flasche reichte aus, um den Duft wahrnehmen zu können. Es war der Duft von Tau auf einem Farnblatt in einem tiefen Wald – oder des Windes, der nach einem Regenschauer in der Abenddämmerung weht. Der Duft einer Jasminknospe in dem Augenblick, als sie aus dem Schlaf erwacht.

Aber vielleicht war es auch nur die Erinnerung an den Duft jenes Abends, als Hiroyuki mir das Parfüm hinter dem Ohrläppchen aufgetragen hatte, die zu mir zurückkehrte. Ich konnte nicht genau sagen, woher der Duft kam.

Das Zimmer mit der hohen Decke erschien mir viel zu groß für eine einzelne Person. Das Mobiliar bestand lediglich aus einem einfachen Bett, einer Kommode und einem Kleiderschrank, sonst war der Raum leer. Die verzogene Tür des Kleiderschranks stand halb offen. Die Vorhänge waren opulent gemustert und üppig drapiert, jedoch von der Sonne ausgeblichen.

Mit den Fingerspitzen zeichnete ich die Gravur der Pfauenfeder nach. Nach Hiroyukis Tod habe ich den Verschluss kein einziges Mal geöffnet, aus Angst, sein Inhalt könnte sich verflüchtigen, bis am Ende nichts mehr übrig wäre.

Ich hatte noch genau den Moment vor Augen, als er mir das Parfüm hinter dem Ohr auftrug. Zuerst hat er den Flakon fachmännisch geöffnet, mit einer geschickten, eleganten Geste, wie er es immer tat, egal um welches Gefäß es sich handelte. Es konnte die weiße Verschlusskappe eines Duftwassers sein, der Pipettenaufsatz einer Blumenessenz oder der rote Deckel von reinem Ethanol.

Dann gab er einen Tropfen Parfüm auf seine Zeigefingerkuppe und strich mit der anderen Hand mein Haar hinters Ohr, um die wärmste Stelle an meinem Körper zu berühren. Ich schloss die Augen und verharrte reglos. So konnte ich den Duft wahrnehmen und Hiroyukis Nähe spüren. Ich hörte sein Herz schlagen, spürte den Hauch seines Atems auf meiner Stirn. Sein Zeigefinger würde für immer feucht bleiben.

Den Flakon umklammernd, ließ ich mich aufs Bett sinken. Ich wusste, dass ich Schlaf bitter nötig hatte. Aber ich wusste nicht, wie ich einschlafen sollte. Sosehr ich mich auch bemühte loszulassen, ich wurde von tausend Gefühlen heimgesucht, die sich alle um ihn drehten. Ich bildete mir sogar ein, ihn tatsächlich berühren zu können, wenn ich nur ein wenig den Kopf neigte und mir hinters Ohr fasste. Seinen Zeigefinger nehmen zu können, ihn über meine Wange zu streichen oder in den Mund zu nehmen. Dabei war es nur der Flakon, den ich in der Hand hielt.

Mein Koffer stand immer noch ungeöffnet mitten im Zimmer. Unbekannte Geldscheine, die ich gerade gewechselt hatte, lugten aus meiner Jackentasche. Die Jalousien an den Fenstern waren heruntergelassen, und auch wenn ich angestrengt lauschte, drang kein Laut ins Zimmer. Mir wurde bewusst, dass ich an einem fernen Ort war.

2

»Stöbern Sie ruhig alles durch. Sie sollten wissen, dass Hiroyuki lediglich die Schubladen im Schreibtisch und den Aktenschrank benutzt hat«, sagte Reiko.

»Vielen Dank«, kam es wie aus einem Munde von Akira und mir.

Bei unserer ersten Begegnung in der Leichenhalle hatte ich gedacht, die Brüder sähen sich zum Verwechseln ähnlich, aber nun, bei näherer Betrachtung, fielen mir doch einige Unterschiede zwischen den beiden auf. Akira war schlanker und größer als Hiroyuki, er trug sein Haar länger, bis über die Ohren, und sah mich immer direkt an, wenn wir miteinander sprachen, ohne je den Blick schweifen zu lassen.

»Also, ich kümmere mich um die Vitrinen und du schaust im Schreibtisch nach«, schlug Akira vor.

Er behandelte mich wie jemanden aus der Familie. Mir war nicht ganz wohl dabei, denn ich war ja nicht mit Hiroyuki verheiratet gewesen und hatte auch nicht gewusst, dass er Geschwister hatte. Aber Akira sprach so vertrauensvoll mit mir, als würde er mich schon eine Ewigkeit kennen. Die fehlende Scheu unterschied ihn von seinem verstorbenen Bruder.

Wir gingen gemeinsam Hiroyukis persönliche Sachen durch, in der Hoffnung, irgendwelche Hinweise auf seinen Tod zu finden. Reiko hatte ihre Parfümerie in einem Mehrfamilienhaus eingerichtet, genauer gesagt in einer Wohnung, die sechzehn Tatamimatten maß. Das Labor auf der Ostseite war vor Sonnenlicht geschützt und mit einer Glaswand abgetrennt, während der übrige Teil mit einem Schreibtisch und einem Sofa ausgestattet war und als Büro diente. An den Wänden standen Einbauregale, in denen dicht an dicht Parfümflakons aufgereiht waren. Hier sah es aus wie in einem ordentlich aufgeräumten Chemielaboratorium.

Meine Suche blieb erfolglos. In den Schreibtischschubladen befanden sich lediglich belanglose Dinge: Stecknadeln, Klebstoff, ein Kalender, diverse Buntstifte, Stößel und Mörser, ein Französisch-Wörterbuch, ein Handspiegel, Filtertüten, ein Zettel mit einem Zahnarzttermin, ein Botanik-Lexikon, Kräuterbonbons …

Sämtliche Utensilien waren sorgfältig verstaut. Es gab keine Unordnung, nichts Auffälliges. Alles lag seelenruhig da. Wie ein Sediment der Zeit.

»War mein Bruder immer so ordentlich?«, fragte Akira, während er einen Ordner aus dem Aktenschrank durchblätterte.

»Ja, das war er«, erwiderte Reiko.

»Er hat bestimmt nicht angefangen aufzuräumen, nachdem sein Entschluss feststand. Das wäre mir aufgefallen. Er besaß eine bemerkenswerte Gabe, Dinge zu sortieren. Von den vierhundert Duftnoten der Parfüms bis hin zur einzelnen Büroklammer. Habe ich nicht recht?«

Reiko wandte sich an mich.

»Das stimmt«, pflichtete ich ihr bei.

»Als Kind war er nie so. Unsere Mutter wurde immer schrecklich böse, wenn sie schimmeliges Schulbrot in seinem Schulranzen fand.«

Mein Herz schlug jedes Mal schneller, wenn Akira etwas aus Hiroyukis Vergangenheit erzählte. Ich wusste in diesen Momenten nicht, ob ich neugierig lauschen oder mir die Ohren zuhalten sollte. Und ich stellte mir die Frage, wer von uns beiden mehr über ihn wusste. In mir kam erneut Eifersucht hoch, so wie neulich in der Leichenhalle. Meine Seele durfte auf keinen Fall noch weiter in Aufruhr geraten.

Ich kramte sämtliche Dinge hervor, die Hiroyuki so ordentlich weggeräumt hatte, und verstaute sie in einem Karton. Es war, als würde das Sediment zerbröseln. Aber ich musste unbedingt den Grund für seinen Tod erfahren.

»Das war mir gleich aufgefallen. Deswegen habe ich ihn auch eingestellt«, sagte Reiko, die Akira bei der Durchsicht der Akten half.

»Als Parfümeur muss man sich viele unterschiedliche Düfte merken können. Insgesamt gibt es rund vierhunderttausend verschiedene Gerüche auf der Welt. Deshalb muss man in der Lage sein, jeden noch undefinierten Duft mit einer bildlichen Assoziation und einem Namen zu verknüpfen. Dann muss man sie in Gedächtnisschubladen ablegen und bei Bedarf wieder hervorholen. Insofern war er mit seinem außergewöhnlichen Talent zur Klassifizierung genau der Richtige.«

»War mein Bruder denn auch ein guter Parfümeur?«

»Er hätte es werden können. Er war auf dem besten Weg dorthin. Schließlich war er noch Anfänger.«

Reiko seufzte und öffnete einen weiteren Aktenordner.

Hiroyukis Ordnungssinn war mir gleich aufgefallen, als wir zusammengezogen sind.

Er hat sämtliche Dinge sortiert und verstaut, nicht nur seine Kleidung und die Bücher, sondern auch meine Arbeitsunterlagen und Kosmetikartikel. Dazu hatte er mehr als zehn Tage gebraucht.

»Sag mir bitte, wenn es Dinge gibt, die ich nicht anfassen soll.« Er hatte sich bei mir erkundigt, aber ich ließ ihm freie Hand.

Denn tatsächlich war seine Methode durchdacht und machte das alltägliche Leben einfacher. Und die Ernsthaftigkeit und Begeisterung, mit der er die Aufgabe in Angriff nahm, waren beeindruckend.

Wenn er vor den Gewürzen stand, die ich über der Spüle aufbewahrte, oder vor dem Toilettenschränkchen, nahm er die Dinge kurz in Augenschein, um deren Größe und die Menge einzuschätzen, und machte sich erst an die Arbeit, nachdem er sich einen genauen Plan zurechtgelegt hatte. Er stellte die Lotionen um, sortierte den Nagellack nach Farben, verstaute die Kopfschmerztabletten im Erste-Hilfe-Kasten, teilte die Gewürze in drei Kategorien ein und tauschte den Aufbewahrungsort von Oliven- und Rapsöl.

Nie machte er mir Vorwürfe, wenn ich Dinge herumliegen ließ. Ihm war nicht wichtig, dass alles aufgeräumt war, sondern dass alles seine Ordnung hatte.

Mit zusammengekniffenen Lippen und konzentriertem Blick ordnete er die Dinge genau so, wie er es geplant hatte. Als würde ihm die Aufgabe zufallen, die ganze Welt zu ordnen.

Dank seines Ordnungssinns war die Durchsuchung seiner Habseligkeiten im Nu abgeschlossen. Wir konnten weder ein Testament finden noch irgendwelche Aufzeichnungen, Briefe oder Telefonnummern. Es gab auch kein Tagebuch, sondern lediglich einen Kalender mit beruflichen Notizen. Mir wurde schmerzhaft bewusst, dass Reiko unsere einzige gemeinsame Bekannte war.

Ich blätterte das Wörterbuch Seite für Seite durch. Ich überprüfte jeden eingetragenen Termin im Kalender und probierte die Telefonnummer auf dem Zettel der Zahnarztpraxis. Alles war vergeblich.

»Ich würde gerne prüfen, was da drauf ist, wenn du einverstanden bist?«, sagte Akira, der eine Handvoll Disketten in der Hand hielt.

»Ja, nur zu.«

Wir setzten uns zu dritt vor den Computer und starrten gebannt auf den Bildschirm. Es erschienen Fremdwörter, Zahlen und chemische Formeln.

»Das sind Rezepturen«, erklärte Reiko.

»Da steht nichts, was nach einer Nachricht aussieht?«, vergewisserte ich mich.

»Ich glaube, er hat sich die Rezepturen zu Studienzwecken notiert.«

Die Chefin bediente die Tastatur. Lange Listen mit Inhaltsstoffen und Mengenangaben füllten den Bildschirm.

»Das sind keine selbst kreierten Düfte. Er hat lediglich die Zusammensetzung von anderen Parfüms analysiert.«

Als sie auf der dritten Diskette zu den letzten Zeilen scrollte, tauchten plötzlich Satzfragmente auf dem Monitor auf. Wir stießen alle drei einen überraschten Schrei aus.

»Wassertropfen, die aus Felsspalten fallen. Kalte, feuchte Luft in einer Grotte.« Akira las die erste Zeile laut vor.

Ich fuhr fort: »Ein verschlossenes Archiv. Staubpartikel im Licht.«

»Ein über Nacht zugefrorener See im Morgengrauen.«

»Der sanfte Schwung einer Haarsträhne.«

»Verblichener, aber noch weicher Samt.«

»Was soll das bedeuten? Wollte er ein Gedicht schreiben?«

Ich ging noch einmal zum Anfang zurück und las aufs Neue Wort für Wort.

»Das glaube ich nicht. Es sind wohl eher Beschreibungen von Düften.«

»Also nur berufliche Aufzeichnungen?«

»Aber Assoziationen zu Gerüchen sind eine sehr intime Angelegenheit. Sie sind tief mit dem Erinnerungsvermögen einer Person verknüpft. Insofern können diese Beschreibungen Aufschluss über Hiroyukis Gedankenwelt geben.«

Wir beschlossen, die Passagen auszudrucken und mitzunehmen.

»Es ist nachvollziehbar, dass Sie wissen wollen, was geschehen ist. Aber versuchen Sie nicht, etwas Unmögliches zu realisieren«, sagte Reiko zum Abschied an der Tür.

»Ja«, erwiderte ich, den Pappkarton in Händen.

»Akira-kun, auch Sie sind hier jederzeit willkommen. Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Ein über Nacht zugefrorener See im Morgengrauen.«

Mit leiser Stimme wiederholte er die Zeile aus Hiroyukis Notizen.

Ich begleitete Akira bis zum Hotel. Er logierte dort seit Hiroyukis Beerdigung. Er komme aus einer Kleinstadt am Setouchi-Binnenmeer, erzählte er mir, wo er allein mit seiner Mutter lebe, seit Hiroyuki das Elternhaus verlassen hatte.

Die Mutter war zu gebrechlich und wollte sich die Reise nach Tokio nicht mehr zumuten. Der Vater, einst Professor für Anästhesie an einem Universitätsklinikum, war zwölf Jahre zuvor an einem Hirntumor gestorben. Hiroyuki war damals achtzehn, er selbst vierzehn gewesen. Seit seinem Fortgang sei sein Bruder nicht nach Hause zurückgekehrt, sagte Akira, jedoch hätten sie den Kontakt nie abreißen lassen. Beide hielten sich an ihre Verabredung, zumindest zweimal im Jahr miteinander zu telefonieren, und manchmal trafen sie sich zu einem gemeinsamen Essen.

Nach dem Abitur hatte Akira eine Stelle in einem Baumarkt angenommen. Seine Aufgabe bestand darin, Geräteschuppen zu montieren, Ziegelsteine und Humus auszuliefern sowie die Akkus in elektrischen Motorsägen auszuwechseln.

Ich erfuhr von ihm lauter Dinge, von denen ich bislang nie gehört hatte.

»Wie lange kannst du bleiben?«, fragte ich ihn.

»Der Trauerurlaub für Angehörige beläuft sich auf fünf Tage, also muss ich nicht sofort zurück«, erwiderte er.

Wir tranken Kaffee in der Hotellobby. In den fensterlosen Raum, in dessen Mitte eine kitschige chinesische Vase stand, drang kaum Licht.

Das Sofa war so weich, dass ich sofort Rückenschmerzen bekam.

»Hat Hiroyuki dir von mir erzählt?«

»Nein, kein Sterbenswörtchen. Ich weiß nicht, warum.«

Mit Bedauern schüttelte er den Kopf. Dabei fielen ihm die Haare in die Stirn.

»Aber das betraf nicht nur dich. Er hat anfangs nie erwähnt, wo er wohnt. Und über seine Arbeit hat er auch nie gesprochen. Es ist kaum zu glauben, oder?«

»Doch, schon … Ich habe ja auch erst nach seinem Tod von dir erfahren.«

Als ich meine Tasse hob, bemerkte ich, dass sie leer war, und stellte sie auf den Tisch zurück.

»Er ist nie redselig gewesen, sondern hat immer den Eindruck vermittelt, dass er nicht über sein Privatleben sprechen möchte. Wenn wir uns getroffen haben, war ich es, der die meiste Zeit geredet hat. Ich habe mich über meinen Chef beklagt, die Ergebnisse von Baseballspielen vorhergesagt, ihm von Streitigkeiten mit meiner Freundin berichtet und so weiter … Immer nur belangloses Zeug. Mein Bruder hat sich alles angehört und manchmal gekichert oder zustimmend genickt. Ansonsten blieb er stumm.«

»Aber sonst habt ihr euch gut verstanden, oder?«

»Tja, diese Frage stelle ich mir auch. Hast du Geschwister?«

»Ich habe eine jüngere Schwester. Sie ist nach ihrer Hochzeit nach Malaysia gezogen. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.«