Der eigene Weg - Beate Winkler - E-Book

Der eigene Weg E-Book

Beate Winkler

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Beschreibung

Tom Treppin ist Professor für Neurochirurgie - und er ist stumm. Als bei seinen Söhnen kurz nach der Geburt eine Gehörlosigkeit diagnostiziert wird, scheint der Weg zur Cochlear Implantation selbstverständlich. Doch in Tom wehrt sich alles gegen die Operation und die übliche Frühförderung. Wird es ihm trotz seiner Stummheit und Zurückhaltung gelingen, seiner Frau, ihrer Familie und den ärztlichen Kollegen seine Motivation verständlich zu machen?

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Tom hatte sich nie Kinder gewünscht, in dem Glauben, für keinen Menschen wirklich da sein zu können. Doch seine Frau Kathrin wird ungeplant schwanger und sie bekommen Zwillinge. Der Neugeborenenhörtest ergibt völlig unerwartet, dass die beiden Jungen gehörlos sind. Neben der Trauer über die Behinderung birgt dies eine Chance für Tom und Kathrin. Sie scheinen die idealen Eltern für ihre Kinder. Selbst mit einer Behinderung groß geworden, kennen sie das Anderssein, aber noch viel mehr ist es Toms Sprache, die Gebärdensprache, die seinen Jungen ein Aufwachsen in einer anderen Normalität ermöglicht, in einem Zuhause mit einer ihnen gemäßen Sprache. Tom möchte seinen Kindern diese heile Welt erhalten, sie nicht in eine Normalität zurechtbiegen, und möchte eine Cochlearimplantation unbedingt verhindern. Durch seine Stummheit und seine Zurückhaltung, mit anderen Menschen in eine Diskussion einzutreten, scheint es fast unmöglich, dass er seinen Weg gegen alle Widerstände durchsetzen kann.

Beate Winkler, 1973 in Hamburg geboren, studierte Medizin in Lübeck. Ihre Weiterbildung zur Kinderonkologin absolvierte sie in Tübingen und Würzburg. Seit 2015 lebt sie mit ihren zwei Söhnen in ihrer Heimatstadt. Sie arbeitet weiterhin als Ärztin und schreibt in ihrer Freizeit. 2016 erschien die Trilogie »Viersamkeit, Flucht in die Zweisamkeit, Aus der Einsamkeit«.

Mir fielen meine eigenen gemischten Gefühle beim Kennenlernen von Ildefonso und seiner sprachlosen Welt ein. Einerseits wollte ich ihm sofort Sprache beibringen und zu einem Teil meiner eigenen Welt machen – in der Annahme, dies sei der einzige Weg zu einem »glücklichen und nutzbringenden Leben«. Andererseits […] empfand ich Respekt vor der Einzigartigkeit seiner Gedanken und Ansichten […] und fragte mich, ob ich eigentlich das Recht hätte, ihn zu verändern, damit er mir ähnlicher würde – vor allem dann eine brisante Frage, falls mir kein Erfolg beschieden war und ich ihm nur vermitteln konnte, dass ihm, gemessen an den anderen Menschen, etwas fehlte.

aus: Ein Leben ohne Worte von Susan Schaller

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

I

Tom, ich habe Wehen. Sie bringen mich gleich in den Kreißsaal. Kannst du kommen?

Als er die Kurznachricht auf seinem Handy sah, war sie schon zwei Stunden alt. Er hatte im OP gestanden. Wie all die letzten Wochen hatte er noch vor dem Umziehen als erstes schnell nach dem Handy gegriffen, immer in der Angst, etwas verpasst zu haben.

Jetzt war es so weit. Vor zwei Stunden. Er stand starr, in seinen grünen OP-Klamotten, das Handy zitterte in seiner Hand. Sie war seit zwölf Wochen da oben in der Frauenklinik. Zwölf Wochen der Angst, dass die Kinder zu früh kommen würden, die Zwillinge. Zwölf Wochen der getrennten Betten. Jetzt waren sie reif genug, durften kommen, die Gefahr schien gebannt. Er schüttelte sich ein wenig, schlüpfte aus den OP-Sachen und in seine weiße Arztkluft. Das OP-Programm war beendet für heute, er würde einfach gehen. Nur ein paar Schritte, nur einmal über die Straße, dann wäre er bei ihr. Hoffentlich war alles gut, war er noch rechtzeitig, um ihr zur Seite zu stehen.

Er trat aus der Kopfklinik, die Sonne war so grell, dass er kurz geblendet die Augen schloss. Ein paar Schritte, der Zebrastreifen, der Eingang der Frauenklinik, unter alten gewölbeartigen Mauern, im Schatten. Er nickte dem Pförtner einen Gruß zu, sprintete die Treppen in den zweiten Stock hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

An der Kreißsaaltür eine Klingel, eine Gegensprechanlage. Es würde nicht gehen. Er nutzte das Weiß seiner Kleidung, das ihn als Kollegen ausgab und drückte einfach den Türöffner, die Türen rauschten auf. Der Flur, viele Zimmer. Wo sie wohl war? Wie es ihr ginge? Ob alles gut war? Die Kinder…

Plötzlich stand sie vor ihm, eine ältere Hebamme, grauer Kurzhaarschnitt, eine etwas stämmige Figur, ein freundliches Gesicht. Ihre Hand an seinem Arm. Sie blickte auf das Namensschild an seinem weißen Hemd.

»Sie sind Herr Professor Treppin, oder? Ihre Frau wartet schon auf Sie. Sie ist in Kreissaal fünf. Kommen Sie mit, ich bringe Sie hin.«

Er nickte und setzte einen fragenden Blick auf. Sie lachte ihn an.

»Nein, keine Sorge, Sie sind nicht zu spät. Ihrer Frau geht es gut, die Kinder sind noch nicht da.«

Sie schob ihn fast zur Tür hinein. Er stockte kurz im Eintreten, umriss die Situation mit einem Blick. Kathrin, sie lag auf dem Bett, ihr Gesicht hatte sich ihm zugewandt, sie lächelte ihn an. Sie sah erschöpft aus, nassgeschwitzt. Ihre Hand schwebte in der Luft. Sie hatte auf ihn gewartet, er hatte sie zwei Stunden allein gelassen.

»Tom, wie schön, dass du da bist.«

Es war keine Spur eines Vorwurfs in ihrer Stimme, einfach nur die Erleichterung, nicht mehr allein zu sein. Langsam ging er auf sie zu, nahm ihre Hand, ein Streichen darüber. Er trat näher, seine Hand an ihrer Wange, ein fragender Blick.

»Tom, es ist alles gut. Es geht mir gut. Du bist rechtzeitig. Warst du im OP?«

Er nickte. Plötzlich verzog sie vor Schmerzen das Gesicht, sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf ihr Atmen. Seine eine Hand auf ihrem Scheitel, mit der anderen hielt er ihre Hand, die seine kräftig drückte.

Die Wehen kamen alle paar Minuten, mit einer großen Regelmäßigkeit. Er stand einfach bei ihr, stand ihr bei, in seiner Stille. Er sah ihre Erschöpfung, zwischendurch ihr Lächeln, dass ihn rückversicherte, dass sie in Ordnung war. Die Hebamme sprach mit Kathrin, gab ihr ein paar Tipps, verbreitete Ruhe und Sicherheit. Auch Kathrin schien ruhig und entspannt, in den Wehenpausen, die immer kürzer wurden. Schließlich kamen die Wehen Schlag auf Schlag. Die Worte brachen aus ihr heraus.

»Oh Gott, Tom, ich freue mich so. Endlich.«

»Sie dürfen jetzt pressen.«

»Ja«, sie klang erleichtert.

Er stand weiter neben ihr, ganz ruhig stellte er seine Hand zur Verfügung, die sie in ihrem Schmerz fast zerdrückte. Er hielt sie in seinem Blick, er sah ihren Schmerz, der Körper, der sich darunter aufbäumte.

»Weiter, weiter, weiter!«

Sie keuchte: »Ich kann nicht. Ich kann nicht mehr.«

»Doch, Sie machen das wunderbar. Weiter so. Luftholen, machen Sie eine Pause.«

Sie holte tief Luft, er sah auf ihren schmerzgeplagten Körper.

»Pressen, weiter, weiter, weiter, ja, gut, das Köpfchen kommt schon, weiter, weiter. Pressen, pressen!«

»Nein, ich…«

»Okay, eine kurze Pause. Dann der Endspurt, beim nächsten Mal schlüpft das Erste. Atmen sie durch.«

Kathrin schloss die Augen. Er tupfte ihr den Schweiß von der Stirn, die Hand an ihrer Wange, die Aufforderung an sie, ihn anzusehen. Sie kommunizierten in Blicken.

Kathrin.

Ich kann nicht mehr.

Sein Lächeln, aufmunternd: Doch, du schaffst es.

Die nächste Wehe überfiel sie mit einer ungeahnten Wucht. Auf dem Gesicht der Hebamme ein wissendes Lächeln. Diese Wehe würde es sein, sie würde das erste Kind hervorbringen.

»Weiter, weiter, weiter, noch ein bisschen, ja, ja, jetzt, es kommt. Machen Sie weiter, jetzt nicht aufhören.«

Sie presste, und presste, und presste, bis ihr Gesicht blau anlief. Sein Arm wie selbstverständlich in ihrem Rücken, ihre Hand in seiner. Plötzlich holte sie Luft, entspannte, ein Lächeln.

Ein Schrei.

Die Hebamme lachte: »Ein Junge! Herzlichen Glückwunsch.«

Sie wandte sich an den Mann in Weiß, der so still seiner Frau zur Seite gestanden hatte.

»Wollen Sie die Nabelschnur durchschneiden?«

Er warf ihr einen Blick zu. Was für eine Frage, er war Chirurg. Die Nabelschnur durchtrennen, die seine Frau und das Kind verbanden? Er schüttelte sachte den Kopf.

Sie bekamen das Kind, den Jungen. Ihr Körper gönnte ihr eine Pause, um das erste Kind anzuschauen, in den Arm zu nehmen, zu liebkosen. Er sah still auf seine zwei, es war ein Wunder, ein kleiner Mensch, perfekt, alles war dran. Seine Frau strich vorsichtig über die Beinchen, mit denen er ein wenig strampelte.

»Tom, schau«, sie sah zu ihm hoch, Tränen in den Augen. Er strich über ihr Haar, dann glitt seine Hand zu dem kleinen Wesen, die Wange, der Arm, diese winzigen Finger.

Plötzlich verzog sie wieder das Gesicht.

»Oh, es geht weiter. Tom, nimm ihn. Pass gut auf ihn auf.«

Sie kämpfte mit ihren Wehen, er saß auf dem Stuhl neben ihrem Bett, das erste Kind in seinem Arm, in Tücher gehüllt, damit es nicht auskühlte. Außerdem hielt er weiter ihre Hand. Als das zweite Mal die Presswehen einsetzten, legte er das kleine Bündel in ein bereitstehendes Bett und stand ihr wieder zur Seite, sein Arm in ihrem Rücken. Irgendwann war es geschafft, das zweite Kind war heil zur Welt gekommen.

»Na, noch ein kleiner Mann. Oh, du bist ein bisschen stiller, was? Hier, herzlichen Glückwunsch! Sie haben es geschafft«, die Hebamme sagte es mit einem warmen Lächeln, »sie haben das wunderbar gemacht, sehr tapfer. Wie sollen die zwei denn heißen?«

Kathrin warf Tom einen Blick zu, griff nach seiner Hand: »Alexander und Gregor.«

»In der Reihenfolge?«

»Ja.«

Sie warteten noch auf die Nachgeburt. Die Kinder wurden ihnen kurz entzogen, untersucht und warm verpackt.

»Hier, Ihre zwei, Alexander und Gregor. Sie werden aufpassen müssen, die beiden nicht zu verwechseln. Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Ich lasse Sie jetzt mal. Genießen Sie Ihren Nachwuchs.«

Sie waren allein, zu viert. Sie rutschte auf dem Bett mühsam ein wenig zur Seite.

»Tom, kommst du zu mir?«

Er legte sich zu ihr, an ihre Seite. Sein Arm um ihre Schultern, ihr Kopf legte sich erschöpft an seine.

»Hier, nimmst du Gregor?«

Sie hatte beide Kinder in den Armen, Alexander rechts, Gregor links, fast zwischen ihnen. Sie schob ihn ein Stück zu ihm. Er löste vorsichtig seinen Arm von ihrer Schulter und nahm das winzige Etwas, das ihn aus großen, dunklen Augen ansah. Er vertiefte sich in das kleine Gesicht, die dunklen Haare standen noch feucht zu Berge, die Augen so groß und ernst. Vorsichtig warf er einen Blick zu dem anderen, der in ihren Armen lag. Fast munter schien dieser sich umzublicken. Sie hatten die gleichen Formen, Augen, Nase und Mund, die gleichen Farben, die Augen so dunkel wie die Haare. Sie sahen sich ähnlich, zum Verwechseln ähnlich, dennoch, der Blick. Er wusste, dass er sie nie würde verwechseln können.

Seine Frau strich immer wieder voll Bewunderung über die wohlgestalteten Beine des Kleinen, sie kitzelte es an der Fußsohle, er zog das Beinchen zurück und brachte sie zu einem Lachen, es quoll aus ihr heraus, das ganze Glück, das ihr Herz flutete, als er so fraglos seine Beinchen bewegte, die wohlgeformt, ganz unauffällig waren. Sie schob die Handtücher ein wenig zur Seite, sie musste es sehen, immer wieder, es war so schön.

»Tom, was haben wir nur für ein Glück«, sie sagte es leise, lugte noch einmal vorsichtig nach den Beinchen, bevor sie fast verschämt die Handtücher wieder darüberbreitete. Dann lehnte sie sich wieder an. Den Kopf an seine Schulter, ein Seufzer: »Ich bin so müde. Nimmst du ihn?«

Sie reichte Tom gerade noch den Kleinen, schlief dann ein, rasch, sicher rascher als die anderen Frauen, die unendliche Erschöpfung flutete ihren Körper. Er verharrte, sein Arm um seine Frau, das Wertvollste, das er hatte, seine Rettung. Zwei kleine Wunder, die auf seinen Beinen lagen. Auch sie waren eingeschlafen, die Gesichter einander zugewandt. Sie waren sich so ähnlich, es war wie damals, zwei so gleiche Wesen. Als er sie betrachtete, seine zwei Kleinen, verschwamm sein Blick. Kathrin schlief, er erlaubte sich ein paar Tränen, als ihn die Bilder übermannten.

Sie saßen gemeinsam auf dem Krankenhausbett aneinander gelehnt. Die zwei Jungen lagen schlafend in dem Bettchen. Sie waren klein, der dunkle Haarschopf lugte kaum unter den Decken und Tüchern hervor, in die sie eingepackt waren, damit sie nicht auskühlten. Es klopfte.

»Ja?«

Beide sahen erwartungsvoll zur Tür, eine junge Schwester.

»Ich würde gerne Ihre zwei Jungen zur U2 abholen. Schlafen sie?«

»Ja, aber das macht nichts«, Kathrin sagte es mit einem Lächeln.

Der Blick der Schwester wanderte durch den Raum blieb kurz an Kathrins Rollstuhl hängen.

»Ich könnte die Jungen schon mitnehmen. Wollen Sie gleich nachkommen? Wir haben gerne die Eltern dabei bei der Untersuchung.«

Kathrin lachte ein wenig: »Ich weiß. Ja, machen Sie nur. Wir kommen gleich.«

Sie schmiegte sich noch einen Moment an Tom, sah dann mit einem Lächeln zu ihm auf und wechselte in ihre Sprache.

»Würdest du mir helfen, Tom?«

Er strich nur über ihren Arm, ein kurzer Blick. Er stand auf, für ihn war so leicht, was ihr so schwerfiel. Kathrin rückte auf dem Bett nach vorne, nutzte ihre Hände, um ihre Beine über die Bettkannte zu bekommen. Sie saß dort aufrecht, sah ihrem Mann zu, wie er den Rollstuhl an die Bettkante schob. Er sah kurz auf, griff ihr unter die Achseln und hob sie hinüber. Wie oft hatte er es gemacht in den letzten Wochen. Er wusste, dass sie es nicht mochte, die Abhängigkeit, das gar nicht laufen können. Sie hatte nicht gedurft, die drohende Frühgeburt der Zwillinge hatte sie die letzten Wochen an das Bett gefesselt. Sie hatte es klaglos ertragen und das Bett gehütet, wie ein Vogel das Nest. Jetzt trug sie nicht einmal ihre Schienen, keine Schuhe, ihre verformten Füße nur in Socken. In ihrem Rollstuhl war sie beweglich, die Hände an ihren Rädern sprach sie: »Also, Tom, gehen wir? Du kommst doch mit?«

Wieder nur sein Nicken. Er ging den langen Flur neben ihr her, wusste, dass sie nicht geschoben werden mochte. Er hielt ihr die Tür zu dem Kinderzimmer auf, sicher, versiert und rasch bewegte sie sich in dem großen Raum, dem zahlreiche Fenster ein helles Licht gaben. Es stand eine ganze Galerie von Kinderbettchen, diesen Plastikschalen auf Rädern, die die Kinder hier beherbergten, an einer Seite des Raums. Eine Mutter saß auf einem großen Stuhl, ein Stillkissen vor dem Bauch, das Kind darauf fast verschwindend klein an ihrer großen Brust. In der Mitte des Raums vier zusammenhängende Untersuchungsplätze, Wärmelampen.

»Oh, da sind Sie ja schon, Frau Dr. Treppin. Ich sage dem Arzt Bescheid, nur noch einen Moment.«

Seine Frau war bekannt, nach den vielen Wochen, die sie hier verbracht hatte. Alle mochten sie, in ihrer lustigen, freundlichen Art.

»So, jetzt sind wir soweit. Sie sind schon fast auf dem Weg nach Hause«, der Arzt stand vor ihr, sah auf sie herunter. Tom stand hinter Kathrin, hinter ihrem Rollstuhl, seine Hand auf ihrer Schulter.

»Wer soll denn den Anfang machen?«

»Fangen Sie doch mit Alexander an, er war schließlich der erste.«

Der Arzt guckte in das Bettchen, die Jungen lagen einander zugewandt, ruhig, schlafend. Der Arzt beugte sich lächelnd, ein wenig kopfschüttelnd darüber: »Sie sind sich so ähnlich, Sie werden aufpassen müssen, sie nicht zu verwechseln. Wer ist denn Alexander?«

»Nein, wir können sie schon jetzt unterscheiden. Sie gucken unterschiedlich«, Kathrin sah mit einem Blick zu ihm hoch, er nickte ein kurzes Einverständnis, »Alexander ist schon jetzt lebhafter. Er liegt auf der rechten Seite.«

Der Arzt nahm den Erstgeborenen und deponierte ihn auf der Wickelkommode: »Möchten Sie ihn auskleiden?«

»Nein, ich komme nicht gut hin, die Wickelkommode ist zu hoch. Magst du, Tom?«

Er machte sich daran, strich dem kleinen Mann über seinen dunklen Schopf, entblätterte die Decken um ihn, den Strampler, das Leibchen. Der Arzt redete im Hintergrund mit Kathrin. Er hörte kaum zu. Das Kind erwachte langsam, sah mit großen dunklen Augen in die Welt um sich herum. Der Vater strich vorsichtig über seine Wange, seine Hand glitt tiefer, reflexhaft schloss sich die kleine Hand um den dargebotenen Zeigefinger.

»Sie machen das richtig gut. Sind Sie im Training? Es sind doch Ihre ersten Kinder, oder?«

Er nickte nur, löste seinen Finger vorsichtig aus der festen Umklammerung und überließ dem Arzt das Feld.

»Tom, ich muss ein bisschen näher ran. Ich sehe so nicht gut.«

Er schob sie, versuchte sie günstiger zu positionieren. Sie saß zu tief, um wirklich etwas sehen zu können. Sie streckte sich im Sitzen, schließlich wanderte ihr Blick aus dem Fenster, enttäuscht. Der Arzt versuchte es wett zu machen, er redete während der ganzen Untersuchung mit dem Kind. Voller Lob, wie gut alles sei, rückversicherte er sie. Tom sah schweigend zu.

»Alles dran, alles wunderbar. Sehen Sie, er kann sogar schon laufen«, er sagte es mit einem schelmischen Grinsen, als er den Kleinen hochhob und den Schreitreflex auslöste. Kathrin und Tom wechselten einen kurzen Blick.

»Na, da kann er schon mehr als ich«, sie konnte es nicht lassen. Ihre locker dahin geworfenen Worte führten zu einer Röte im Gesicht des Untersuchers.

»Entschuldigen Sie, es war nicht so gemeint.«

Kathrin lachte: »Alles gut. Ich habe Sie nicht falsch verstanden«, dann plötzlich leise und vorsichtig, wie es gar nicht ihre Art war, »wir sind sehr froh, dass es so ist, dass sie meine Behinderung nicht geerbt haben.«

Es war kurz still. Kathrin und ihre Ehrlichkeit, sie war oft so offensiv, dass es die anderen sprachlos machte. Sie hatte eine angeborene, schwere Gehbehinderung, wie ihr Vater. Die Sorge der letzten Wochen war nicht nur die Angst vor einer zu frühen Geburt gewesen.

Der Arzt fasste sich: »Nein, wirklich, alles bestens, er ist ein Prachtkerl. Jetzt nur noch das Neugeborenenscreening, die kleine Blutentnahme an der Ferse, Sie wissen es ja. Hüftschall und Hörtest, die bekommen wir auch heute noch hin. Er hat schon gut zugenommen. Eigentlich sollte der Entlassung morgen nichts im Wege stehen. Zumindest Alexander, der Große, hat die Prüfung schon bestanden. Nun noch ein paar Erklärungen…«

Er leierte die Sätze zum plötzlichen Kindstod, der optimalen Schlafumgebung hinunter, einen Sermon, den er mehrmals pro Tag loswurde. Zuvor hatte er Alexander in Decken gehüllt und Kathrin gereicht, eine nette Geste, so hatte sie ihn wieder, konnte ihn sehen. Sie hörten kaum zu, Kathrin hatte die Worte oft genug selbst zu jungen Eltern sagen müssen. Ihre Hand war unter den Decken an Alexanders Beinchen, die ein wenig strampelten. Er sah seine Mutter mit großen Augen an, sie blickte mit einem Lächeln zu Tom auf. Der Arzt sah auf den Zweiten herunter: »Na, der kleine Mann hier lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, oder?« Tatsächlich war viel los in dem Kinderzimmer, mehrere Neugeborene weinten, meldeten Hunger an oder wehrten sich mit einem entsetzten Schrei gegen den Schmerz, den der Piks zur Blutentnahme in ihrer Ferse auslöste. Gregor schlief ruhig in seinem Bettchen in dem ganzen Chaos.

»Wie heißt denn ihr zweiter?«

»Gregor.«

Er hielt ihn schon in den Armen und sah zu dem jungen Vater, der die Hand auf der Schulter seiner Frau ruhen hatte, mit dem Blick aber dem Arzt gefolgt war: »Möchte der Papa nochmal?«

Tom zog kurz die Stirn kraus. In diesem Zimmer war er in wenigen Sekunden von dem neurochirurgischen Oberarzt zu einem unerfahrenen Vater mutiert, dem man kaum das Auskleiden seiner Kinder zutraute. Er ging auf den Arzt zu und nahm seinen Sohn. Der Kleine war aufgewacht und schaute seinen Vater mit großen Augen ganz still an. Kathrin hatte Recht, sie guckten unterschiedlich, schon jetzt. Tom hielt einen Moment inne, das Baby strahlte eine Ruhe aus, die auf Tom übergriff, vorsichtig wieder sein Finger an seiner Wange. Für einen Moment waren sie ganz für sich, ihre Blicke ineinander verwoben. Kathrin stupste ihren Mann an: »Tom?«

Er sah zu ihr herunter, löste sich aus der Trance, in der Gregor ihn gefangen gehalten hatte.

»Sie warten. Gib ihn kurz her.«

Die Worte in ihren Händen waren begleitet von einem Lächeln in ihrem Gesicht. Der Arzt war ihren Gesten mit einem fragenden Blick gefolgt. Tom machte sich auf, legte Gregor unter die Wärmelampe und entkleidete ihn. Die zwei, Vater und Sohn, hatten sich im Blick, die ganze Zeit. Mit einem lautlosen Seufzer strich Tom über Gregors Wange und gab auch ihn frei für seine Untersuchung. Kathrin war mit Alexander in ihren Armen beschäftigt, es war gut, lenkte sie davon ab, dass sie nicht wirklich der Untersuchung beiwohnen konnte, weil sie zu tief saß.

Toms Augen folgten der Untersuchung, das Abhören, ansehen, anfassen, schließlich Greifreflex, Schreitreflex, in die Augen leuchten. Der Arzt warf schlussendlich einen etwas kritischen Blick in die Kurve.

»Also, auch hier alles bestens. Er ist nur noch am Abnehmen, er hat sein Geburtsgewicht noch nicht wieder erreicht. Wie klappt es mit dem Stillen?«

»Im Moment pumpe ich noch ab, Alexander schafft es schon ganz gut an der Brust. Gregor braucht noch ein bisschen«, Kathrin sagte es locker dahin. Tom warf einen Blick auf den dünnen kleinen Körper und versuchte, die Angst, die in ihm hochkam, zu unterdrücken.

»Na gut. Sie sind ja vom Fach. Wenn sie gut auf seine Gewichtszunahme aufpassen, lasse ich Sie morgen alle nach Hause gehen.«

Kathrin sah freudestrahlend zu Tom hoch. Er konnte es nicht beantworten, nur ein stiller Blick zu ihr. Ihre Stirn legte sich kurz in Falten.

»Ach, Tom, wir kriegen es schon hin, oder? Ich möchte so gerne nach Hause.«

Er nickte.

»Also, gut. Ihnen noch einmal herzlichen Glückwunsch. Nehmen Sie Ihre zwei Prachtkerle mit ins Zimmer. Die Schwester würde sie nochmal holen zum Hörtest und zum Hüftultraschall.«

Sie gingen. Kathrin fuhr, Tom schob die zwei Kleinen in ihrem Bettchen. Sie mochten nicht allein schlafen, schienen sich immer wohler zu fühlen, wenn sie zu zweit waren.

Das Leben gönnte dem jungen Paar noch ein paar Stunden der Normalität, dieses besonderen Gefühls, dass sie wirklich Eltern waren, von Zwillingen, zwei gesunden Jungen. Es war wie ein Wunder. Wie hatte er sich gegen den Versuch, Kinder in die Welt zu setzen, gewehrt. Wie weh hatte er ihr immer wieder damit getan, mit seiner Angst, dass sie zusammen eine Katastrophe produzieren würden. So hatte er es immer wieder genannt, eine Katastrophe, ein Kind, das nicht laufen kann wie Kathrin und nicht sprechen wie er selbst. Wie sollte ein Mensch solche Einschränkungen aushalten? Es schien Tom nie fair, dieses Risiko einzugehen. Kathrin hatte darüber gelacht, über seine Angst, aber ihn manchmal ernst angesehen und seine Worte in das Gegenteil verkehrt. Tom, wir zusammen, vielleicht kommt etwas Wunderbares dabei heraus. Haben wir nicht auch ein Recht? Ein Recht auf Kinder, auf Nachwuchs, auf etwas von uns, das weiter leben wird über uns hinaus? Letztlich waren die zwei Kinder nicht geplant, es war passiert, die Natur hatte sie zu dem gezwungen, wovor er so viel Angst hatte. Sie waren einfach entstanden. Kathrin hatte die Schwangerschaft, mit allen Widerständen, die sie ihr entgegensetzte, geduldig ertragen. Es waren nur ein paar Wochen und ihr ohnehin schwieriges Laufen versiegte, ihre Beine versagten ihren Dienst und sie landete im Rollstuhl, dem ihr verhassten Gefährt. Sie musste eine Menge Abhängigkeit ertragen, nach wenigen Wochen die ihr so wichtige Arbeit niederlegen. Sie brauchte Hilfe bei allem, nicht einmal allein auf die Toilette kam sie. Er half ihr gerne, wusste aber, dass sie es nur mit einer Verachtung ertrug, die Verachtung ihres eigenen Körpers, nicht seiner Hilfe. Für beide war fast eine Erlösung, als die vorzeitigen Wehen in der vierundzwanzigsten Woche es waren, die sie ans Bett fesselten. So schien sie es besser zu ertragen, als sich ihrer Behinderung unterzuordnen. Sie musste in die Klinik, die Angst, die drohende Frühgeburt. Die andere Angst, die Beine, nahm ihnen der Ultraschall. Beide Kinder hatten normal geformte, normal lange Beinchen, sie sahen in der Sonographie ihre Bewegung, die jedes Mal ein Lächeln auf ihr Gesicht zauberte. Wirklich geglaubt, dass alles in Ordnung sei, hatte Kathrin es erst nach der Geburt, als sie ihre Kinder sehen konnte, wie sie strampelten, als sie sie berühren konnte, kitzeln und sie zogen das Füßchen weg.

Heute hatte ihnen der Kinderarzt bestätigt, dass alles in Ordnung war. Tom konnte sich nicht satt an ihnen sehen, an den zwei kleinen Wesen, die zwischen ihren Beinen auf der Bettdecke lagen. Sie waren wach, sahen sich in der Umgebung um, ohne dass ihre Augen sie schon wirklich wahrnehmen konnten.

Der stille Genuss, den die beiden an ihren Kindern hatten, wurde unterbrochen von einem Klopfen. Eine Schwester steckte den Kopf zur Tür herein: »Können Sie die Jungs vorbringen ins Kinderzimmer? Hörtest und Orthopäde.«

»Ja, mein Mann bringt sie gleich.« Kathrin drückte beiden einen Kuss auf die Stirn, bevor sie sie Tom reichte und er sie wieder zusammen in ihr Bettchen legte. Alexander rechts, Gregor links, so lagen sie gern.

Tom schob die beiden durch das Halbdunkel des Flurs bis zum Kinderzimmer, klopfte vorsichtig und trat, den Wagen vor sich schiebend, ein. Eine Schwester sah auf, sie war noch ganz jung, er kannte sie nicht.

»Oh, noch mal für den Orthopäden? Wer ist denn das?« Noch in ihrer Frage hatte sie das Bett in der Hand. Als von ihm keine Antwort kam, sah sie unvermittelt hoch. Sie schmunzelte: »Ich brauche nur den Namen.«

Er seufzte in sich hinein und wies auf das Schild an dem Bettchen. Ihr unverwandter Blick: »Treppin? Und wer ist wer?«

Er zückte den Block, es gab keine andere Möglichkeit. Auf den ersten kleinen Zettel schrieb er Alexander und deponierte ihn auf dem entsprechenden Baby, dann Gregor für das zweite. Die Schwester sah ihn komisch an, verwirrt, dann grinste sie.

»Okay, ganz praktisch. Wir lassen es so, dann verwechseln wir sie nicht. Ich bringe sie ihnen nachher zurück. Wird so eine halbe Stunde dauern. Die Zimmernummer?«

Wieder deutete er auf das Namensschild an dem Körbchen.

»222, ja, alles klar. Bis später.«

Tom ließ den Blick noch einen Moment auf seinen beiden Nachkommen ruhen, verließ das Kinderzimmer und begab sich zurück zu seiner Frau. Kathrin lag auf dem hochgestellten Bett, wie er sie verlassen hatte. Ein Buch in der Hand, aus dem sie aufsah, als sie ihn an der Tür hörte. Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln. Er ging zu ihr, hockte sich auf die Bettkante, nahm leise ihre Hand. Sie musterte ihn. Er war so schweigsam gewesen in den letzten Tagen. Er war immer still, redete nur, wenn sie zu zweit unter sich waren. Die Kinder hatten seine Hände sprachlos gemacht, als würden selbst diese kleinen Wesen ihre Zweisamkeit, das große Vertrauen, das sie zueinander hatten, die Sicherheit, die sie ihm gab, irgendwie stören. Sie strich über seine Hand, ein vorsichtiger Blick: »Tom, bist du okay?«

Seine Antwort war nur ein Nicken.

»Komm mal her«, sie rutschte auf dem Bett zur Seite, wollte ihn so gerne bei sich haben. Er blieb sitzen, wo er war. Sie sah ihn rätselnd an: »Tom, es ist alles so wunderbar. Wir haben zwei gesunde Jungen. Morgen dürfen wir alle zusammen nach Hause. Wie habe ich diesen Tag in den letzten Wochen herbeigesehnt.« Sie legte eine kurze Pause ein, musterte ihn erneut. Schließlich formten ihre Hände kleine Gesten, eine leise Frage: »Tom, freust du dich? Geht es dir gut?«

Wieder nur ein Nicken, die Spur eines Lächelns auf seinem Gesicht.

»Du kannst es noch gar nicht so ganz glauben, oder?«

Er wandte den Blick ab, ein Schulterzucken. Er war so starr, so in sich gekehrt. Die letzten Wochen waren für beide anstrengend gewesen. Auch sie hatte Ängste ausgestanden, ihren Körper und die Abhängigkeit, die er ihr auferlegte, immer wieder im Stillen verflucht, ihn gleichzeitig innerlich angefleht, die Kinder zu halten, sie wachsen und reifen zu lassen. Es war ihr vergönnt gewesen. Sie war so erleichtert, so freudig, dass es ihr fast wehtat, ihren Mann so still zu sehen. Sie wusste, dass er so war, dass er schlecht aus sich herauskommen konnte, solche Schwierigkeiten hatte, seine Gefühle zu zeigen. Manchmal war er so weit weg, dass sie kaum an ihn herankam. Manchmal blieb es fast so schwierig wie am Anfang für sie, ihn zu verstehen. Er blieb ihr rätselhaft. Einer Eingebung folgend rutschte sie ein wenig auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn. Sie flüsterte in sein Ohr: »Tom, es ist etwas Wunderbares entstanden. Aus uns, nur von uns beiden.«

Zögerlich erwiderte er ihre Umarmung, legte seine Arme um sie, den Kopf mit einem Seufzer der Erschöpfung an ihre Schulter. Etwas wurde weicher in ihm, ein Stück der Starre, die ihn gefangen gehalten hatte in den letzten Tagen, seit es vorbei war, diese Phase der Angst, dass doch noch etwas schief gehen würde, löste sich. Wie hatten ihm diese Arme gefehlt, die ihm Sicherheit gaben, die ihn hielten. Er hatte in den letzten Wochen funktioniert, war seinem Rhythmus gefolgt, früh aufstehen, essen, arbeiten gehen, er machte alles, was von ihm erwartet wurde. Er arbeitete manchmal bis tief in die Nacht, abends war er allein zu Hause, selten ein paar Töne am Klavier, um die Einsamkeit, die Stille, die das Haus wieder ergriffen hatte, seit Kathrin nicht da war, zu vertreiben. Er hatte seit Wochen kaum geschlafen, das Bett war leer und kalt ohne sie. Diese Wochen, sie hatten ihn zurückgeworfen in die Zeit, bevor es Kathrin gab, in seine Leere, die Kälte und Einsamkeit. Der einzige Lichtblick waren seine Besuche bei ihr gewesen, er hatte sie aus dem Bett in den Rollstuhl gehoben, sie waren rausgegangen, den Klinikmauern entflohen immer wieder, nur sie zwei. Es waren diese wenigen Stunden, die er mit ihr gehabt hatte in den letzten Wochen, die ihn hatten durchhalten lassen, die ihn daran erinnerten, dass sein Leben anders geworden war, dass es ein Leben für ihn gab. Im Hintergrund lauerte immer seine Angst, dass den Babys etwas passieren würde, oder noch schlimmer, noch viel schlimmer, ihr. Ohne sie, sein Leben wäre nichts, er konnte nicht leben ohne sie. Sie hatte ihn gerettet, vorher, zehn Jahre hatte er kein Leben gehabt, nur Einsamkeit, der Rhythmus der Tage, eine äußere Hülle, die ihn zusammengehalten hatte.

Ihre Schulter wurde feucht, ein Beben in seinem Körper, sie kannte es, sein leises Weinen. In den letzten Wochen hatte er keine Tränen gehabt. Er war bei ihr gewesen, ohne viele Worte zu machen. Noch schweigsamer als sonst, sie hatte von ihren Sorgen, ihren Ängsten erzählt, er hatte sie schweigend angenommen, ein Streichen über ihren Arm, ein Blick. Er hatte ihre Ängste gesammelt, aber über seine eigene große Angst nie geredet. Sie hatte die zunehmende Starre in ihm bemerkt, über die Wochen, in seinen Augen die Verzweiflung gesehen, war aber kaum in der Lage gewesen, sich seiner Sorgen noch zusätzlich anzunehmen. Er hatte es gewusst und sie nicht belästigt, versucht, ihr einfach zuzuhören und ihr Mut zu machen, mit einem Blick und ein paar wenigen Worten. Jetzt da die Kinder da waren, die Kleinen und ihr Körper alles gut überstanden hatten, war in ihr nur Freude und Erleichterung, auch ein wenig Stolz, dass sie es hinbekommen hatte, dass ihr Körper diese zwei Wesen in ihr hatte wachsen und gedeihen lassen, ihnen die Obhut geben konnte, die sie so gerne geben wollte.

Sie strich über seinen zitternden Rücken, leise sprach sie auf ihn ein: »Tom, weine nicht, oder vielleicht doch für einen Moment, wenn es dir gut tut. Morgen gehen wir nach Hause. Wir beginnen unser Leben als Familie«, sie rückte ein wenig von ihm ab, zwang ihn, sie anzusehen und setzte ihr Mut machendes Lächeln auf, »Tom, ich hoffe, es sind Freudentränen?«

Unter seinen Tränen musste er lächeln, nur sie schaffte es. Sie riss ihn heraus, aus seiner Verzweiflung, aus seinen Tiefen. Er setzte sich auf: »Entschuldige.«

Für einen Moment zog er sich ins Bad zurück, in dem Einzelzimmer, das ihr zum Glück vergönnt gewesen war. Kurz betrachtete er sein nasses Gesicht im Spiegel, ein wenig kaltes Wasser, die Tränen verdünnen, durchatmen. Es war gut gewesen, sich einmal kurz an sie anzulehnen, einmal loszulassen, nach all den Wochen. Jetzt wollte er für sie da sein, für sie und die beiden Kinder, wollte er versuchen, sich mit ihr zu freuen, die Erleichterung zuzulassen, die Wahrheit an sich heranlassen, dass einmal einfach alles gut gegangen war. Als er zurückkam, musterte sie ihn: »Geht es dir jetzt besser?«

»Ja.«

»Wenn wir morgen nach Hause gehen, Tom, nach all den Wochen hier, sollten wir wenigstens eine Karte schreiben, vielleicht etwas schenken? Schokolade kommt doch auf den Stationen immer gut an. Könntest du etwas besorgen?«

Sie wechselte in das Praktische, das Leben, in das, was zu tun war. Weg von den Fragen, wie es ihm ginge. Gut, leichter.

»Ja, ich gehe nachher los. Ich werde zu Hause noch etwas vorbereiten müssen, bevor ihr kommt.«

»Ach, Tom, ist doch ganz egal. Wir machen es zusammen, wenn wir zu Hause sind.«

»Nein, ja… Ich muss wenigstens noch etwas zu essen besorgen.«

»Tom«, sie guckte ihn fragend an, »hast du gar nicht normal gegessen in den letzten Wochen?«

»Nein, war einfacher. Aber wenn du kommst, macht es wieder Sinn, etwas zu kochen, ein Essen auf den Tisch zu bringen«, er zögerte ein wenig, dann fügte er hinzu, »darauf freue ich mich.«

Sie lächelte, darauf freue ich mich, schön, diese Worte in seinen Händen zu sehen. Es war viel mehr als die Freude, zusammen zu essen, sie wusste, dass er etwas anderes meinte, dass seine Worte bedeuteten, dass er sich auf ihr nach Hause kommen freute.

»Tom, hast du eigentlich schon mit deinem Chef gesprochen? Bekommst du frei?«

»Ja, erstmal acht Wochen.«

Sie würde ihn brauchen zu Hause. Es wäre sehr schwierig für sie ohne ihn klarzukommen. Plötzlich gab es zwei Kinder zu versorgen und sie müsste zusehen, wieder auf die Beine zu kommen, das Laufen erneut zu lernen, wie sie es so oft hatte machen müssen, als Kind, nach den Operationen. Ihr graute davor. Sie hatte fast ein halbes Jahr keinen Schritt mehr getan, nicht mehr tun können. Es wäre wie ein Neuanfang, es würde schwierig werden. Schon einmal hatte sie das Laufen mit ihm gemeinsam wieder geübt, es hatte schon einmal diese Phase in ihrem gemeinsamen Leben gegeben, als sie furchtbar abhängig gewesen war von ihm, nach einem Sturz und der Verletzung ihrer Hand. Nachdenklich sah sie auf die rötliche Narbe in ihrer linken Handinnenfläche und strich darüber. Tom registrierte es, wie er immer alles wahrzunehmen schien. Er nahm ihre linke Hand, ein Blick in ihr Gesicht: »Kathrin, wir machen es zusammen. Wie damals, wir nehmen es gemeinsam in Angriff, dein Laufen.«

Sie stöhnte ein wenig, verdrehte dann lachend die Augen.

»Puh, wahrscheinlich wird es furchtbar. Aber ich werde trainieren. Ich möchte diese Abhängigkeit nicht, möchte wieder auf meinen zwei Beinen stehen. Zu Hause, okay? Ich schnalle die Schienen an und dann – mal sehen. Irgendwie muss es einfach gehen.«

Woher sie nur immer den Mut nahm, ihre Kraft und Energie schien ihm manchmal schier unendlich.

»Sag mal, Tom, die Kinder sind jetzt aber schon lange weg. Hatten sie nicht gesagt, so eine halbe Stunde? Es ist mindestens eine Stunde her. Magst du nicht mal gucken gehen?«, sie sagte es so dahin, ohne einen Hintergedanken.

Er nickte.

Wieder lief er über den im Halbdunkel liegenden Flur zum Kinderzimmer. Die Tür. Es war ruhig in dem großen Raum, die vielen Bettchen mit den kleinen Wesen hatten nach den Testungen offenbar wieder den Weg zurück in die Zimmer ihrer Mütter gefunden. Nur noch seine Kinder waren da. Sie lagen beide auf einem Untersuchungstisch, eine Frau hielt die Testapparatur an das Ohr des einen, ganz konzentriert stand sie über dem ruhig daliegenden Kind, die Stirn ein wenig in Falten gelegt. Als er leise näherkam, fuhr sie ihn fast wütend an: »Seien Sie leise. Ich brauche Ruhe hier. Sonst funktionieren die Tests nicht.«

Er schüttelte innerlich den Kopf, ihre Stimme war das einzig Laute in diesem Raum, äußerlich reglos blieb er an die Wickelkommode gelehnt stehen, seine Hand an dem Köpfchen des zweiten Jungen, der sich gerade keinem Test unterziehen musste. Sein Daumen fuhr über die Stirn des Kleinen, der zu ihm sah, ganz ruhig.

»Sind es Ihre?«

Er nickte und blieb ruhig stehen. Ihre Kinder waren wohl die letzten gewesen, in der langen Reihe der zu testenden Babys. Die Frau konzentrierte sich wieder auf den anderen Sohn, es war Alexander, dem sie das schwarze Etwas, das aussah wie ein einseitiger Kopfhörer auf das Ohr drückte. Sie schüttelte den Kopf, schaltete das Gerät für einen Moment aus. Vielleicht würde ein Neustart helfen, manchmal taten die Geräte nicht das, was sie sollten. Sie wechselte auch das Ohr, das Baby ließ es kommentarlos geschehen. Es war merkwürdig, sie bekam kein Signal. Doch das Gerät? Auf beiden Ohren kein Signal. Andererseits waren die Tests bei all den anderen Kindern problemlos gewesen. Sie seufzte: »Darf ich mal? Ihr zweites?«

Der Vater sah sie kurz an und reichte ihr das zweite Kind. Die gleiche Prozedur, wieder ein ruhiges Kind. Die Frau lächelte, jetzt würde es klappen, das andere würde sie einfach morgen nochmal testen, manchmal war noch Fruchtwasser in den Gehörgängen. Nur noch ein paar Minuten, sie musste fertig werden, war eigentlich schon über ihre Arbeitszeit, sie musste ihre Tochter aus dem Kindergarten abholen. Nur noch schnell dieses Kind. Sie setzte den Kopfhörer auf, drückte die Taste, die die Töne aussendete und wartete auf das Signal, das PASS, das sie ihre Arbeit heute beenden lassen würde. Es wurde ein REFER. Wieder? Wie bei dem anderen. Das zweite Ohr, sie betete innerlich fast für ein PASS, sie musste so dringend los. Fast ungeduldig drückte sie das schwarze Etwas an das linke Ohr, die Taste, die Antwort, ein REFER. Sie warf dem Vater, der auf einen undefinierbaren Punkt in dem Raum sah, einen kurzen Blick zu, sah nochmal auf der Karte mit den Angaben nach. Der Vater war so merkwürdig still, wenn sie darüber nachdachte, hatte er noch kein einziges Wort von sich gegeben. Sie linste auf die Karte. Fast in einer Erwartung, es war nur eine Ahnung. Eine familiäre Hörstörung? Das Kreuz war bei nein. Naja, viele machten diese Kreuze nicht konzentriert. Sie linste nach seinen Ohren, kein Hörgerät. Sie dachte zurück an den Moment, als er das Zimmer betreten hatte, sie ihn zu unfreundlich angefahren hatte, weil er sie in ihrer konzentrierten Arbeit gestört hatte. Er hatte ihre Worte unkommentiert gelassen, ein wenig anders geguckt, als man es tat. Er guckte intensiver, so wie es all die schwerhörigen und gehörlosen Patienten taten, die sie in ihrem Alltag traf.

Als sie ihn am Unterarm antippte und er zusammenschreckte, war seine Reaktion so typisch, dass sie sich sicher war. Er musste gehörlos sein, seine Kinder waren es auch, es war nicht der Apparat, der nicht funktionierte, es waren die Ohren der Kinder, die die Töne nicht wahrnahmen. Fast erleichtert atmete sie auf. Sie hatte verstanden, sie machte gute Arbeit, es war ihr wichtig, keinen Fehler zu machen. Sie blickte den Mann, der sie aufmerksam ansah, fest an, sprach langsam: »Sind Sie gehörlos?«

Er sah sie kaum erstaunt an, zu häufig war es schon passiert, wenn er nicht antworten konnte. Alle dachten, wenn man nicht reden kann, kann man auch nicht hören. Taubstumm, das alte Wort, das auf so viele Gehörlose heute nicht mehr zutraf, dank der Logopädie und all der Technik, die aus fast keinem Hören immer noch etwas zaubern konnte. Eine Möglichkeit bot auf einen Spracherwerb. Er schüttelte nur den Kopf und legte einen Finger vor seine Lippen.

Sie runzelte die Stirn: »Sie sind… stumm?«

Ja, sein Nicken. Und eine Frage im Blick. Was ist los? Er zückte nicht seinen Block, er stellte die Frage nicht, wartete nur ab. Längst hatte er bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Hatte die Unruhe, die die Untersucherin beschlichen hatte, wahrgenommen, er hatte ein feines Gespür für die Menschen und ihre Stimmungen, nahm sie oft mehr wahr, als die Worte, die die anderen darüberlegten, die er ohnehin nicht beantworten konnte.

Die Frau warf einen Blick auf die beiden Kinder, dann auf ihre Uhr. Sie musste so dringend los, sie würde es jetzt hinter sich bringen. Das hier waren nur Patienten, sie musste zu ihrer Tochter, sie konnte es auch schnell machen: »Ihre Kinder«, sie zögerte dennoch, konnte die Empathie, die Trauer, die ihr bei schlechten Befunden immer wieder hochkam doch nicht ganz zur Seite schieben, »der Hörtest ist auffällig, bei beiden. Wir müssen morgen weitere Tests machen. Meist bestätigt es sich nicht, meist ist es nur Flüssigkeit in den Gehörgängen. Wir gucken morgen nochmal, ja? Machen Sie sich nicht so große Sorgen.«

Er hörte ihre Worte, aber noch viel mehr sah er ihr Gesicht, ihre Mimik, die etwas anderes ausdrückte, eine Trauer, eine Sorge, er sah ihre Haltung und glaubte ihr mehr als ihren Worten. Er suchte ihren Blick, sie hielt ihm nur für einen Moment stand. Da wusste er, was sie wirklich dachte.

Seine Kinder waren taub.

Erneut konsultierte sie ihre Uhr: »Ich muss los. Meine Tochter wartet im Kindergarten auf mich. Entschuldigen Sie. Nehmen Sie Ihre Kinder mit. Morgen machen wir weitere Tests. Es wird schon werden.«

Sie sagte es mehr zu sich, wollte nicht mit einer schlechten Nachricht aus diesem Arbeitstag scheiden. Der Vater nickte nur, nahm seine Kinder, eins nach dem anderen und legte sie in das Bettchen. Er zeigte keine Reaktion.

»Ich muss jetzt wirklich. Bringen Sie die Kinder zu Ihrer Frau? Schließen Sie einfach die Tür.«

Sie ging. Das Kinderzimmer war leer ohne ihre Stimme. Seine Jungen gaben keinen Ton von sich, lagen in ihrer Welt in ihrem Körbchen. Er schob es ein wenig zum Fenster, ins Licht, das der Sommertag hineinschickte und betrachtete sie. Die zarten Züge, die Gleichheit, sie sahen so vollkommen aus. Es waren keine Worte in seinem Kopf, keine Worte des Bedauerns, der Trauer, der Angst oder der Wut. Er sah nur auf sie herunter, auf seine zwei Söhne.

Schließlich schob er das Körbchen, ebenso wie auf dem Hinweg, das vierte Mal an diesem Tag über den Krankenhausflur. Seine Frau würde warten, sich wundern, wenn er zu lange ausbliebe. Er dachte nicht darüber nach, was er ihr sagen würde. Er schob seine Kinder, zurück in das Zimmer von Kathrin, wie es ihm die Frau aufgetragen hatte.

Er öffnete die Tür, wieder ihr Aufsehen, der freundliche Blick, das Lächeln: »Na, da seid ihr ja endlich. Alles gut?« Sie sagte es so dahin, es war keine wirkliche Frage, die Antwort gab sie implizit selbst vor durch den Tonfall, den sie den Worten gab, durch die Mimik, mit der sie sie untermalte. Er schob weiter, bis er an ihrem Bett angelangt war.

»Sind sie wach? Gibst du sie mir?«

Er machte es, kommentarlos hob er vorsichtig erst Alexander, dann Gregor aus dem Bettchen und reichte sie zu ihr herüber. Er warf ihr einen scheuen Blick zu, nahm das Bild in sich auf, wie sie da saß, ihre Zwillinge in den Armen, Alexander rechts, Gregor links, ihr liebender Blick auf den beiden kleinen Geschöpfen, es war ein Bild des Glücks. Er würde es in seinem Gedächtnis festhalten wie ein Foto.

Unsicher, was richtig wäre zu tun, zu sagen, wandte er sich ab und sah aus dem Fenster. Von hier oben im zweiten Stock, aus dem Fenster an der Stirn des Flurs sah man in einen Garten. Alles war grün, die Rosen blühten, der sommerlichen Jahreszeit entsprechend. Eine fast flirrende Hitze draußen.

»Tom, komm doch her zu uns. Was stehst du da, in zwei Metern Entfernung.« Sie nutzte ihre Stimme, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, ihre Arme besetzt mit den zwei Kindern. Langsam ging er zu ihr, er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, sie würde sofort wissen, dass etwas nicht stimmte. Wie in Zeitlupe setzte er sich zu ihr auf die Bettkante, wieder ein Blick auf seine zwei Jungen.

»Tom, die Tests waren doch in Ordnung? Oder ist etwas?«

Langsam sah er auf, traute sich ihren Blick zu suchen, ihm wortlos standzuhalten. Sie las in seinem Blick, war es so gewohnt, dass ihm die Worte schwerfielen, dass sie ihn enträtseln musste. Nur sein Blick. Plötzlich holte sie tief Luft.

»Nein, Tom, der Hörtest? Er war nicht in Ordnung?«, und leiser, »bei wem?«

»Bei beiden.«

Es war nicht so erstaunlich, sie waren eineiige Zwillinge, sie glichen sich. Sie hatte den Mut weiter zu fragen, wie sie ihn immer gehabt hatte. Nie hatte sie aufgehört, ihm Fragen zu stellen, alles aus ihm heraus zu fragen, alles was wehtat.

»Tom, erzähl. Was ist herausgekommen bei dem Hörtest? Ein bisschen pathologisch oder mehr?«

»Morgen wollen sie noch eine Untersuchung machen.«

»Tom, was hat sie genau gesagt?«

Er hatte diese Gabe, er konnte komplette Gespräche in ihrem Wortlaut abspeichern und wiedergeben. Er könnte den Block zücken und alles aufschreiben, was sie gesagt hat, genau, so wie Kathrin es haben wollte.

»Es waren nicht die Worte, Kathrin.«

Sie musterte ihn einen Augenblick. Sie beide wussten es, dass es so oft nicht die Worte waren, welche die Wahrheit transportierten, sondern das unausgesprochene Drumherum.

„Ich verstehe.“

Wieder trafen sich ihre Blicke. Sie verstand, er wusste, dass die Wahrheit zu ihr durchgedrungen war.

Die Testungen am nächsten Tag änderten nichts an dieser Wahrheit. Sie wurde sehr präsent, als ein Oberarzt der HNO-Klinik nachmittags das Krankenzimmer betrat. Es war ein ungewöhnliches Verhalten. Ein bereits grauhaariger, schlanker Mensch steuerte primär auf Tom zu.

»Herr Professor Treppin, wir kennen uns ja«, mit einem freundlichen Nicken zu ihr, »Frau Dr. Treppin nehme ich an?«

»Ja, nehmen Sie doch Platz.«

Er blieb zunächst stehen.

»Mein Name ist Haubitz, Oberarzt in der HNO«, er zögerte ein wenig, nahm schließlich doch Platz auf dem Stuhl, den Tom ihm vom Tisch zog, »ich habe leider keine guten Nachrichten für Sie. Bei beiden Kindern war gestern das Hörscreening pathologisch. Frau Fischer ist unsere beste Kraft, sie kam heute Morgen gleich zu mir und hat mir davon berichtet. Deshalb haben wir heute bei beiden eine BERA gemacht. Sie bestätigt leider das Ergebnis. Beide Kinder haben eine schwere Hörstörung.«

Tom hatte sich zu seiner Frau auf das Bett gesellt. Er saß neben ihr, hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, in ihren Armen die schlafenden Jungen, sein Arm wie ein Schutz um seine Familie. Beide schwiegen.

»Frau Fischer hatte gestern schon etwas angedeutet, oder?«

Tom beschränkte sich auf ein Nicken. Kathrin musterte den erfahrenen Oberarzt.

»Herr Dr. Haubitz, eine schwere Hörstörung, können Sie es näher benennen? Sie wissen, dass wir beide Kollegen sind. Ein anderes Fach, aber die Zahlen. Wieviel Dezibel Hörverlust? Wie schlimm ist es? Sind sie schwerhörig? Gehörlos?«

Der Arzt rieb sich kurz die Augen, die Falten in seinem Gesicht waren so deutlicher, er wirkte plötzlich alt: »Gehörlos.«

Nach dem einen Wort legte er eine Pause ein. Er war ein gestandener Kollege, hatte ausreichend Kommunikationserfahrung, dass er wusste, dass es wichtig war, die nackte Wahrheit stehen zu lassen, sie nicht mit Worten zu verschleiern, sie nicht unnötig abzumildern, nur um sich selbst das Gespräch zu erleichtern. Die Eltern mussten die Wahrheit erfahren, sie verstehen, es gab nur diesen einen Weg, auch wenn er hart war. Er musterte die beiden, mit ihren Kindern. Sie saßen dort einträchtig auf dem Bett, erstmal wirkte alles so normal. Er sah ohnehin normal aus, alles war gut, bis er sprechen musste, und es nicht konnte. Ihre Beine, die sie kaum trugen, waren unter der Decke versteckt. Er wartete auf ihre Reaktion. Es wäre vielleicht anders als bei Eltern, die ganz gesund waren, die noch nie Kontakt zu Menschen mit einer Behinderung hatten. Sie waren die Sorgen gewohnt, das Anderssein. Und sie waren beide Ärzte, sie kannten das Leid.

Beide blieben ruhig, sie starrten auf ihre Kinder. Er zog sie ein wenig näher zu sich und nahm Haubitz in den Blick. Auch sie sah auf, ihre Augen waren feucht.

»Was raten Sie uns?«

»Die Empfehlung wäre ein MRT vom Kopf zu machen, wenn sie ein wenig größer sind. Wir könnten in der Narkose die BERA nochmal genauer wiederholen. Wir brauchen das MRT als Vorbereitung für die Cochlear Implantation. Es ist eine kleine Operation, Sie wissen es vielleicht. Ein elektronischer Innenohrersatz. Normale Hörgeräte würden wir erstmal anpassen, es wird aber nicht reichen. Die Empfehlung ist die Cochlear Implantation im Alter von sechs bis zwölf Monaten durchzuführen. Viele Kinder kommen damit exzellent klar, zeigen einen guten Spracherwerb, können auf eine normale Schule gehen. Aber ich möchte ehrlich sein, es gibt auch Kinder, bei denen es nicht so gut hilft. Es hängt sehr an dem Kind und der Familie.«

Er blieb fair in seiner Aussage, es machte keinen Sinn, diesen Eltern etwas vorzumachen, ihnen unnötige Hoffnungen zu machen. Sie würden ohnehin an die Informationen kommen, die sie brauchten.

»Ich würde vorschlagen, dass Sie erstmal mit den Kindern nach Hause gehen und in vier Wochen sehen wir uns in meiner Ambulanz. Sagen Sie, gibt es Hörstörungen bei Ihnen in der Familie?«

Tom schüttelte nur den Kopf und warf Kathrin einen auffordernden Blick zu erzählen.

»Ja, meine Nichte. Sie ist fünf Jahre alt. Vielleicht kennen Sie sogar. Aber es ist noch anders, sie ist taub-blind auf die Welt gekommen.«

Eine Erinnerung blitzte in seinem Kopf auf, ein kleines blondes Mädchen, drittes Kind, sehr nette Eltern. Sie hatten ihr ein CI implantieren lassen.

»Anna?«

»Ja, Anna. Sie hat auch ein CI.«

»Wie kommt sie klar?«

»Naja, es ist alles noch schwieriger, weil sie nichts sieht.«

»Ja, das ist es.«

»Sie beginnt zu sprechen, wenigstens ein paar Worte.«

Er lächelte: »Sehen Sie, es hilft. Es ist eine gute Möglichkeit. Keine weiteren Verwandten mit einer Hörstörung?«

»Nein.«

Er erhob sich langsam: »Also, hier ist meine Karte. Machen Sie einen Termin in vier Wochen aus. Wir sehen uns, ja?« Er war schon halb im Herausgehen, als Tom Kathrin antippte und sprach, mit seinen Händen. Sie sah seinen Worten zu, erst nicht sicher, für wen sie bestimmt waren. Sie gingen nicht an sie.

»Herr Dr. Haubitz, warten Sie noch kurz«, sie hielt ihn zurück, für ihren Mann, damit dieser sprechen konnte. Tom musterte Haubitz, der sich, schon im Gehen, ihnen wieder zugewandt hatte. Er hielt den Kollegen in seinem Blick gefangen, seine Hände sprachen, Kathrin musste ihn dolmetschen.

»Herr Dr. Haubitz. Wir werden kommen in vier Wochen. Von mir aus versuchen wir es mit Hörgeräten. Aber meine Kinder werden kein CI bekommen.«

Haubitz sah ihn erstaunt an. Er kannte ihn aus der Ferne, wie man Kollegen vom Sehen oder von gemeinsamen Konferenzen kannte. Er wusste um Toms exzellenten Ruf als Chirurg, wie sonst hätte er auch da hochkommen können. Ein stummer Mann.

»Aber warum? Sie haben doch wohl keine Angst wegen der OP? Sie operieren doch täglich in noch viel sensibleren Gefilden«, die Worte flossen aus ihm heraus, ganz ehrlich, ohne dass er viel darüber nachdachte.

»Nein. Es ist nicht die OP.«

Mehr sagte er nicht. Haubitz blieb etwas linkisch stehen. Die Aussage schien so absolut, so bar jeder Diskussion, als habe der Vater schon lange darüber nachgedacht.

»Also, dann. Ich muss mal weiter. Sie werden das sicher erst einmal untereinander besprechen müssen. Wir sehen uns in vier Wochen«, er warf seinem Kollegen noch einen Blick zu und fügte ein paar unerwartete Worte hinzu: »Ach, übrigens, Sie wissen es vielleicht nicht, ich habe Ihre Mutter damals sehr gut gekannt.« Damit verabschiedete er sich und ging, verließ das junge Paar, das wortlos zurückblieb.

Die Kinder, die auf ihren Beinen lagen, waren eingeschlafen, ruhig schlummerten sie, die Gesichter einander zugewandt. Kathrin legte ihren Kopf an Toms Schulter und ließ den Tränen, die sie schon das ganze Gespräch im Hals gewürgt hatten, endlich freien Lauf: »Tom, ich kann nicht mehr. Es ist alles zu viel. Ich möchte nur noch nach Hause.«

Er schwieg, sie sah ihn ohnehin nicht an. Seine Antwort war ein sanftes Streicheln über ihr Haar. Sie weinte eine Weile, weinte sich die Sorgen von der Seele. Das Leben war eben so, zumindest für sie, immer wieder hielt es eine Überraschung bereit, zu viele dieser Überraschungen waren keine guten. Es dauerte nur ein paar Minuten, dann war sie wieder zu Kräften gekommen. Sie verstand es auf eine ihm unerklärliche Weise, die Sorgen kurz auszuleben, um sie hinter sich zu lassen und nach vorne zu sehen: »Tom, tust du mir einen Gefallen?«

Er sah sie fragend an und nickte. Er würde versuchen, alles möglich zu machen, was immer ihr wichtig war.

»Organisierst du, dass wir wirklich heute noch gehen können?«

»Ja.«

»Und noch etwas«, sie schwenkte um in die gemeinsame Sprache, »ich kann das nicht allein meiner Mutter sagen.«

Noch ein Nicken. Ihre Mutter, es würde schwierig werden, so schwierig, wie es vor fünf Jahren gewesen war, als Kathrins Bruder Michael und seine Frau Anna bekommen hatten, Anna, die taubblind ist. Und so schwierig, wie es für ihre Mutter damals vor dreißig Jahren scheinbar gewesen war, als Kathrin selbst geboren wurde und sie die Behinderung ihres Vaters trug, von der niemand erwartet hatte, dass es eine Erbkrankheit war.

Tom unternahm die notwendigen Maßnahmen, kontaktierte den Oberarzt der Gynäkologie und den entsprechenden Kinderarzt. Seine Position in der Klinik, der Fakt, dass er ein Kollege war, half. Seine Sprachstörung, die Notwendigkeit des Schreibens, machte es umständlich, aber es gelang. Er handelte die Entlassung seiner beiden Söhne heraus. Er schwang sich auf sein Fahrrad, genoss es, sich ein paar Minuten zu bewegen. Er kaufte ein, ein paar Lebensmittel, eine Karte und die obligatorische Schokolade für die Station. Er mochte diese Schokoladengeschenke nicht, wie oft hatten sie auf seiner Station herumgestanden, alle hatten sich bedient und er konnte nicht.

Die Kinderschalen für das Auto waren schon in der Klinik, auch die ersten Strampler für die beiden Jungen, es war eine winzige Größe, trotzdem fielen die Kinder fast hindurch, als Kathrin Alexander und Tom Gregor die ersten eigenen Sachen anzogen. Wie verloren sahen die kleinen Wesen in den Babyschalen aus, die sie noch mehrere Monate fassen sollten.

»Wie machen wir es, Tom?«

»Wir rufen ein Taxi.«

»Und dein Fahrrad?«

Er fuhr immer Fahrrad, mied das Autofahren, wo er konnte. Es machte ihm Angst.

»Ich fahre mit dir. Mit euch«, er lächelte, wie schön es war, das zu sagen, »das Fahrrad hole ich morgen.«

Er öffnete den Kleiderschrank, zog den Koffer heraus und verfrachtete all ihre Habseligkeiten, die sich in den Wochen angesammelt hatten, hinein, räumte den Schrank, den Nachttisch, das Bad. Sie war bescheiden, hatte nicht viele Dinge, sie fanden alle problemlos Platz in dem Koffer. Im Schrank standen noch ihre Schienen, seit Wochen unbenutzt. Große Teile, die ihre Beine umfingen von der Hüfte, über die Knie bis zu den Füßen und die Schuhe. Sie hatte sie seit Wochen nicht getragen. Langsam nahm er sie aus dem Schrank und warf Kathrin einen fragenden Blick zu.

»Oh, die Dinger. Fast hätten wir sie vergessen. Gib mal her. Am besten ich schnalle sie an.«

Er reichte sie ihr herüber.

Mit der ihr üblichen Routine schnallte sie die Schienen fest: »Gibst du mir auch die Schuhe, Tom?«

Auch diese gab er ihr, aber er hockte sich auf den Stuhl vor ihrem Bett und half, es war schwierig für sie an dem versteiften linken Bein, den Schuh zu schnüren. Sie war fertig, saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Bett. Ihn traf ihr plötzlich unsicherer Blick. Fast flüsterte sie, als sie fragte: »Tom, gib mir auch noch die Krücken. Ich versuche mal, ich durfte ja solange nicht.«

Während er nach den Unterarmgehstützen griff, hebelte sie ihre Beine über die Bettkante und fuhr das Bett soweit hinunter, bis sie sah, dass ihre Füße den Boden berührten. Er wusste, dass sie es nicht spürte, immer die optische Kontrolle brauchte.

Sie packte die Krücken, er hörte sie tief Luft holen, um sich aus dem Sitzen zu erheben. Sie scheiterte, ihren Beinen, auch der Hüfte fehlte jegliche Kraft. Frustriert fiel sie die wenigen Zentimeter zurück auf das sichere Bett.

Er kam zu ihr, stellte sich vor sie und entwand ihr die Krücken. Er beugte sich zu ihr hinunter, kurz trafen sich ihre Blicke, bis er sie unter den Achseln nahm und zu sich hochzog. Er wusste, dass er sie praktisch trug in der Umarmung, die nun folgte, dass fast kein Gewicht auf ihren Beinen lastete, weil sie sie nicht trugen nach der monatelangen Zwangspause. Er versuchte sie in der Umarmung zu halten, ohne dass sie bemerkte, wieviel der Kraft, die sie auf den Beinen hielt, seine war und nicht ihre. Einen Moment legte sie den Kopf an seine Brust, unendlich dankbar für seine Unterstützung und sein Feingefühl. Als er sie in den Rollstuhl hinabließ, hockte er sich zu ihr nieder, ihre Augen auf einer Höhe, seine Hand an ihrer Wange. Sein zuversichtlicher Blick. Wir werden es schaffen, du wirst es schaffen, wieder zu laufen, wir werden darum kämpfen, gemeinsam. Die Worte waren nur in ihm, aber vielleicht würde sie sie in seinem Gesicht entdecken.

Auf das Klingeln an der Haustür hatte Toms Hand kurz aufgehört, auf ihrem Rücken zu streichen. Er warf ihr einen wortlosen Blick zu und ging hinaus, um die Tür zu öffnen. Kathrin spürte sein Zögern.

»Hey, Tom, herzlichen Glückwunsch«, Michael stand im Gegenlicht der Sonne und nahm seinen Schwager in den Arm.

Tom löste sich rasch und antwortete mit einem Nicken.

Michael musterte ihn: »Tom, alles gut? Du siehst schlecht aus.«

Tom versuchte sich mit einer Geste und blickte Michael fragend an, ob er verstanden habe. Michael schüttelte sachte den Kopf: »Sorry, ich verstehe nicht. Ich müsste wirklich mal anfangen Gebärdensprache zu lernen, aber man kommt zu nichts.«

Tom zeigte eine »fünf« und schmunzelte.

»Du meinst mit unseren fünf Kindern? Ja, Recht hast du. Der pure Stress. Na, komm, lass uns reingehen zu Kathrin. Dann kann sie dolmetschen. Und natürlich möchte ich euren Nachwuchs sehen.«

Michaels nächste Umarmung galt Kathrin, seiner sieben Jahre jüngeren Schwester.

»Na, alles gut überstanden, Schwesterchen? Wirklich tapfer. Und gleich zwei«, er warf einen Blick in den neben Kathrin stehenden Kinderwagen, in dem die Jungen einander zugewandt schliefen, »mein Gott, sind die süß. Sie gleichen sich wirklich wie ein Ei dem anderen.«

»Michael?«

»Hmm?«, er legte vorsichtig die Hand um eines der kleinen dunkelhaarigen Köpfchen.

Kathrin fuhr fort: »Ich habe dich bewusst eine halbe Stunde vor unseren Eltern hierhergebeten.«

Michael merkte auf. »Was ist los, Kathrin? Ist nicht alles in Ordnung mit den zweien?«

Kathrin nickte langsam, ihre folgenden Worte waren ein Flüstern: »Michael, sie hören nicht. Sie sind beide taub.«

»Kathrin.« Seine Gedanken flogen fünf Jahre zurück. Er war damals kurz nach der Geburt seines dritten Kindes abends völlig verwirrt zu ihr gekommen, mit der grausamen Nachricht, dass seine Tochter nicht sehen und nicht hören konnte. Es breitete sich ein Schweigen zwischen den dreien aus. Schon wieder? Sollten sie als Familie einfach kein Glück haben?

Er setzte sich zu seiner Schwester auf das Sofa und nahm sie in den Arm. Tom blieb am Kinderwagen stehen und beobachtete die beiden.

Kathrin genoss einen Moment Michaels Zuwendung, sie lehnte sich an und spürte ihre Augen feucht werden: »Immer wieder wir, Michael.«

»Weiß Mama es schon?«

»Nein, ehrlich gesagt…«

»Du wolltest es ihr nicht allein sagen nach dem Drama vor fünf Jahren.«

»Ja.«

»Ist gut. Kein Problem. Du hast mir damals auch zur Seite gestanden. Wann kommen sie?«

»In ein paar Minuten.«

Michael seufzte und blickte zu den Jungen, dann hoch in das Gesicht seines Schwagers.

»Wie hast du damals zu uns gesagt, Tom? Anna sei in die richtige Familie hinein geboren worden? Das trifft ja in noch ganz anderem Ausmaß auf eure beiden zu. Ihr habt die perfekte Sprache für sie.«

Tom hatte damals auf die soziale und pädagogische Ader von Michael und seiner Frau, die im Behindertenbereich tätig war, angespielt. Er hielt Michaels Blick kurz stand und nickte schließlich kaum merklich.

Als es erneut klingelte, war es wieder Tom, der die Haustür bediente und seine Schwiegereltern schweigend begrüßte, während Michael bei Kathrin blieb. Tom führte die beiden hinein und verschwand aber sofort wieder in die Küche, um das vorbereitete Tablett mit Tee, Kuchen und Keksen zu holen. Als er zurückkam, beugte sich seine Schweigermutter gerade über den Kinderwagen: »Sie sind wirklich hübsch, eure zwei. Wie sind die Nächte?«

»Puh, Mama, es geht. Sie müssen uns ja wecken, um zu trinken. Alexander ist immer zuerst wach. Tom und ich arbeiten dann sozusagen parallel. Ich stille Alexander und Gregor trinkt aus der Flasche.«

»Mit zweien ist es sicher noch stressiger als mit einem. Ich erinnere noch deine Mutter, Tom«, er zuckte zusammen auf ihre Worte, »sie hatte mit euch beiden mehr doppelt so viel Stress wie ich mit Michael. Das schien fast erholsam im Vergleich. Aber beim ersten Kind ist alles aufregend.«

»Ja, wir sind inzwischen echt im Training, das fünfte Mal, Isabella macht das alles mit links«, schaltete sich Michael ein. Sie plauschten und begannen nebenher sich über Kuchen und Kekse herzumachen. Tom hatte sich still zu Kathrin gesetzt und nippte lediglich an seinem Tee.

»Kathrin, ich habe mich so gefreut zu hören, dass alles in Ordnung ist. Dass deine Kinder ganz normal werden laufen können«, Inge lächelte ihre Tochter an.

Kathrin stellte die Teetasse mit einem Klirren auf die Untertasse ab und holte tief Luft, sie spürte Toms rückversichernde Hand zärtlich auf ihrem Oberschenkel: »Mama«, Kathrin brach ab.

Inge blickte auf: »Was ist?«