Der elfte Tag - Enel Melberg - E-Book

Der elfte Tag E-Book

Enel Melberg

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Beschreibung

Enel Melberg erweckt in ihrem Roman gleich sieben berühmte und beliebte Schriftstellerinnen wieder zum Leben: Virginia Woolf, Vita Sackville-West, die Bronte-Schwestern, Karen Blixen und Victoria Benedictsson treffen sich außerhalb von Raum und Zeit, flirten oder streiten miteinander. Doch vor allem erzählen sie sich Geschichten aus und von ihrem Leben. Im Mittelpunkt steht dabei immer wieder das Thema "Die Frau in der Gesellschaft" und wie sich die Rolle der Frau im Laufe der Jahrhunderte verändert hat.REZENSION"Eine unterhaltsame Literaturgeschichte in Romanform, die Lust auf eine Wiederentdeckung von sieben großen Schriftstellerinnen macht." – www.booklooker.deAUTORENPORTRÄTEnel Melberg (* 21. September 1943 in Tallinn) ist eine estnische Schriftstellerin und Übersetzerin, die ihre Romane vorwiegend in schwedischer und norwegischer Sprache schreibt. Melberg wanderte bereits als Kind zusammen mit ihren Eltern nach Schweden aus, wo sie später Philosophie, Religionsgeschichte, Theaterwissenschaften sowie nordische Sprache und Literatur studierte. Bis 1990 arbeitete Meldberg als Pädagogin und Übersetzerin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane, Kinderbücher und Theaterstücke und lebt heute zusammen mit ihrer Familie in Oslo/Norwegen. Zentrales Thema von Melbergs Werken ist die gesellschaftliche Situation von Frauen sowie die Liebe.-

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Enel Melberg

Der elfte Tag

Saga

1

Als die alte Dame aufwachte, befand sie sich in einem spartanisch eingerichteten Raum mit nackten Wänden. Sie hatte keine Schmerzen mehr. Ihre Seele war leicht, jung und neugierig, obwohl sie wußte, daß die Erfahrung wie Methusalem in einer Ecke hockte und der Dinge harrte. Sie war bestimmt schon einmal hier gewesen. Eine Erinnerung wollte sich aufdrängen, aber sie konnte noch nicht ausmachen, was es war. Diese weißen Wände, diese klosterähnliche Zelle, dieses noch unbeschriebene Blatt ...

Sie verharrte im Ungewissen, strich vorsichtig mit einer knochigen Hand über die Wand, nahm die ungeahnten Möglichkeiten des Grenzzustandes in sich auf. Als sie genauer hinsah, traten aus der Wand Unebenheiten hervor, Blasen, Krater, und die Decke wurde durchzogen von einem Sprung, der wie ein Ast geformt war.

Ihr Blick schweifte darüber und fiel auf einen zierlichen weißen Schreibtisch. Es war ein einfaches, jedoch stilreines Möbel aus einer Zeit der Spiele und Maskeraden, die aber von beherrschten Formen gebändigt wurden. Neben dem Bett entdeckte sie einen Nachttisch mit einem gestärkten Spitzentuch aus Leinen und einer Messingglocke darauf. Sie nahm sie und ließ ein leichtes, aber dennoch deutliches Klingeln die Stille durchbrechen.

Nach einer Weile öffnete sich die einzige Tür der Zelle, und ein Dienstmädchen in schwarzem Kleid und weißer, gestärkter Schürze trippelte herein.

»Euer Gnaden wünschen?« Eine Spur übertriebener Unterwürfigkeit lag in ihren Bewegungen.

»Ja, was können Sie mir denn anbieten?«

»Was Euer Gnaden wünschen.«

»Dann bringen Sie doch eine Flasche Champagner. Und Zigaretten«, fügte sie hinzu.

»Wird erledigt, Euer Gnaden!« und schon war das Mädchen wieder verschwunden.

Munter und etwas überrascht erhob sich die alte Dame und ging zur Tür. Aber noch ehe sie diese erreicht hatte, wurde sie geöffnet, und herein trat eine ältere Frau in einem himmelblauen, fußlangen Kleid mit einem Schleier auf dem Kopf, offenbar eine Nonne. Mit einem leichten Schaudern bemerkte die alte Dame, daß diese Frau ihr selbst glich.

»Willkommen an unserem Ort des Rückzugs. Ich bin die Priorin, und es ist mir ein besonderes Vergnügen, gerade Sie in unserem ehrwürdigen alten Kloster begrüßen zu dürfen.«

Priorin, dachte die alte Dame, das klingt so vertraut. Ich bin bestimmt schon einmal hier gewesen.

»Danke, Frau Priorin«, sagte sie. »Ich bin Ihnen sehr verbunden. Kloster, sagen Sie. Ich habe gerade eine Flasche Champagner bestellt. Hoffentlich verstößt das nicht gegen die Regeln hier.«

»Keineswegs. Wir sind stolz auf unseren guten Weinkeller, ebenso auf unser eigenes, hervorragendes Gemüse, ganz zu schweigen von unserem berühmten Leinen, das wir selbst herstellen und aus dem wir die königlichen Brautlaken weben. Wir leben keineswegs abgeschieden von der Welt.«

Diese Worte schlugen im Innern der alten Dame eine Saite an; eine verschüttete Erinnerung regte sich, die Erinnerung an etwas Großartiges. Die Priorin verbeugte sich höflich und erklärte, daß ihre Pflichten sie riefen, die Dame aber jederzeit für ein Plauderstündchen nach ihr schicken lassen könne. Dann ging sie hinaus.

»Das junge Ding kommt ja gar nicht mit dem Champagner. Ich muß sie daran erinnern«, murmelte die alte Dame und klingelte noch einmal.

Nach einer Weile erschien das Mädchen, jedoch ohne das Bestellte.

»Euer Gnaden wünschen?« fragte sie beinahe vorwitzig.

»Ich habe vor einer Weile um eine Flasche Champagner gebeten.«

»Gewiß, Euer Gnaden.«

»Könnte ich sie vielleicht jetzt bekommen?«

»Gewiß, Euer Gnaden.«

»Und würden Sie mir bitte auch Zigaretten bringen und ein halbes Dutzend Austern, mein Magen verträgt nichts anderes.«

»Gewiß, Euer Gnaden.« Das Mädchen knickste und eilte aus dem Zimmer.

Die Dame setzte sich auf den einzigen Stuhl in der Zelle, den am Schreibtisch, und wartete. Es fehlen Schreibutensilien, notierte sie, muß ich bei nächster Gelegenheit bestellen. Sie wartete eine Ewigkeit, dann ergriff sie ungeduldig die Glocke und klingelte noch einmal. Das Mädchen kam wieder, auch dieses Mal mit leeren Händen.

»So etwas habe ich ja noch nie erlebt!« rief die alte Dame ärgerlich aus. »Für wen halten Sie mich eigentlich? Wissen Sie denn nicht, wer ich bin!«

»Gewiß, Euer Gnaden«, sagte das Mädchen. Um seine Mundwinkel spielte die Andeutung eines frechen Lächelns.

»Gewiß, Euer Gnaden. Gewiß, Euer Gnaden. Ist das alles, was Sie sagen können? Hatte ich nicht etwas bestellt? Sehen Sie zu, daß ich es augenblicklich bekomme!«

»Gewiß, Euer Gnaden.«

Ich muß das Opfer eines satanischen Scherzes sein, dachte die alte Dame und beschloß, die Umgebung zu erforschen. Resolut ging sie die wenigen Schritte zur Tür und öffnete sie. Sie führte hinaus auf eine Terrasse, die hoch oben auf einem Berg in einer alpenähnlichen Landschaft zu liegen schien. Ein leichter, weißer Nebel lag wie ein Schleier darüber und ließ die Gipfelkette darüber nur erahnen, die in einer immer schwächer werdenden Bläue von der Unendlichkeit aufgesogen wurde. Die Luft war frisch wie ein Glas Quellwasser. Sie sog sie mit tiefen Atemzügen ein, und wie berauscht davon ging sie mit unsicheren Schritten zum Geländer.

Von da konnte sie auf eine weitere Terrasse blikken, die den Eindruck machte, als würde sie zu einem altmodischen Sanatorium gehören, mit gestreiften Liegen und kleinen weißen Stühlen, die um Cafétische mit gußeisernen Füßen standen. Eine Treppe, gesäumt von bemoosten verwitterten Urnen, führte auf die untere Terrasse. Auch zwischen den Treppenstufen wuchs Moos. Sie schritt vorsichtig, aber würdevoll die Treppe hinab und ließ sich an einem der Tische nieder. Die Marmorplatte war gesprungen, und der Stuhl wackelte ein wenig.

Kurz nachdem sie sich gesetzt hatte, hörte sie Schritte hinter sich und wandte sich neugierig um. Eine Frau von unbestimmbarem Alter kam auf sie zu. Sie trug eine graue Lammwolljacke, die Haare von diffuser Farbe waren zu einem unordentlichen, losen Knoten hochgesteckt. Ihren Bewegungen nach zu urteilen, schien sie nicht energisch zu sein, aber auch nicht ängstlich. Sie ging mit der Sicherheit einer Schlafwandlerin und hatte schon fast die Cafétische passiert, als sie bemerkte, daß dort jemand saß. Wie aus weiter Ferne kommend, flackerte ihr Blick, ehe er sich auf die alte Dame richtete.

»Guten Tag«, sagte diese mit ihrer heiseren Stimme, »ich hatte noch nicht die Ehre.«

»Mrs. Woolf«, stellte die andere sich vor.

»Die Schriftstellerin?«

»Ja, Virginia Woolf.«

»Angenehm. Ich habe von Ihnen gehört. Ihr Name ist wirklich komisch. Widersprüchlich. Wissen Sie übrigens, daß es ein Stück geben soll, das heißt ›Wer hat Angst vor Virginia Woolf‹?«

»Sehr komisch! Ja, ich habe davon gehört. Es hat aber nichts mit mir zu tun. Aber sind Sie nicht Frau Blixen?«

»Baronin Blixen, wenn ich bitten darf. Karen Blixen, Tania war nur ein Kosename. Oder Isac Dinesen, wenn Sie den Schriftstellernamen vorziehen.«

Mrs. Woolf konnte es sich nicht verkneifen, der hochmütigen alten Schnepfe ebenfalls einen Stich zu versetzen:

»Wissen Sie, daß man einen Film nach Ihrem Leben gedreht hat?« sagte sie. »Er ist vor vollen Häusern gespielt worden und hat viele Oscars bekommen. Das ist eine Art vulgärer Orden, der nach dem Diktat des amerikanischen Pöbels vergeben wird.«

»Reden Sie mir nicht davon«, erwiderte die Baronin. »Ich weiß, ich weiß. Man hat mein Afrika profanisiert und Glanzbilder daraus gemacht.«

Sie versank in wehmütige Grübeleien, wurde aber von einem Windstoß wieder aufgeschreckt, der ohne Vorwarnung vorbeiwehte und graubraune, trokkene Blätter vor sich hertrieb, die raschelnd durch die Luft wirbelten und sich in einem Tanz vereinigten.

Virginia rief aus:

»Wer war das? Haben Sie die Frau gesehen, die eben in einem Cape vorbeischwebte?«

»Das muß ein Gespenst gewesen sein«, antwortete Karen Blixen ruhig. »Dies ist ein Ort für Gespenster.«

»Nein, nein«, rief Virginia. »Das war Orlando, ich habe es gesehen.«

Karen Blixen verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und winkte abwehrend mit ihrer mageren, knochigen Hand.

»Das glaube ich kaum. Ich weiß, wer es war.«

»Vita? Vielleicht war es Vita. Wenn sie auch hier wäre«, sagte Virginia, und Fieberröte stieg in ihre bleichen Wangen.

Sie rief nach dem geheimnisvollen Wesen, das sie Vita nannte.

Plötzlich hörte man eine Stimme direkt hinter ihr. Es war eine Frauenstimme, tief wie die eines Mannes, aber ohne etwas von der Blixenschen rauchigen Heiserkeit zu haben. Sie war eher melodisch.

»Hier bin ich, Virginia. Du hast gerufen.«

Virginia drehte sich mit einer so heftigen Bewegung um, daß sie beinahe mit der hochgewachsenen Frau zusammengestoßen wäre, die sich lautlos hinter ihr aufgerichtet hatte. Sie trug kniehohe, geschnürte Stiefel, Reithosen und ein langes Hemd mit einem Gürtel. In der Hand hielt sie einen Hut und einen Stock, und den Hals schmückte eine lange Reihe glatter Perlen. Ihre Haare waren ergraut und lagen dünn über Ohren und Stirn, das Gesicht war farblos, aber die dunklen Augen brannten von jugendlicher Glut.

»Hier bin ich, meine liebe Virginia.« Sie schlang ihre langen Arme schützend um den dünnen Körper. Virginia, die sich wie in einem Vogelkäfig gefangen fühlte, wand sich aus ihrem Griff und trat einen Schritt zurück.

»Darf ich vorstellen: Vita Sackville-West oder Lady Nicolson, Baronin Blixen. Adlige Damen aus der höheren Gesellschaft.«

Vita und Karen gaben sich die Hand und verbeugten sich leicht unter gegenseitigen Höflichkeitsbezeugungen.

»Bist du schon lange hier?« fragte Virginia, und ein Hauch von einem schüchternen Backfisch kam über sie.

»Nein, ich bin gerade angekommen. Ich saß da drüben und habe mich einer dunklen Fremden bekanntgemacht.«

»Du und deine Frauengeschichten!« rief Virginia aus, heftiger als sie beabsichtigt hatte. Sie hatte ironisch klingen wollen.

»Sie ist natürlich sehr schön«, konnte sie dennoch nicht unterlassen, hinzuzufügen.

»Nicht nach herkömmlichen Maßstäben. Tatsächlich hat sie eine gewisse Ähnlichkeit mit mir. Groß und dünn, mit dem Schatten eines Bärtchens auf der Oberlippe.«

»Schatten!«

Der spitze Ton schien Vita nichts auszumachen, die eine längere Betrachtung darüber anstellte, welch verführerische Wirkung ein Oberlippenbart auf Frauen habe. Sie wisse es aus eigener Erfahrung. Dann bemerkte sie, daß die dunkle Fremde eigentlich eher Virginia gleiche.

»Dieselbe Mischung aus Scheu und Selbstgefühl, dieselbe tragische Miene. Noli me tangere an der Oberfläche und darunter ein desperater Hunger danach, gesehen und genommen zu werden.«

Virginia zuckte bei ›genommen‹ zusammen.

»Weißt du übrigens, wie sie hierhergekommen ist?« fuhr Vita fort. »Sie scheint auf jeden Fall mehr Sinn für Dramatik zu haben als du. Hat sich mit einem Rasiermesser den Hals aufgeschnitten und im eigenen Blut gebadet.«

»Pfui!« Virginias Vogelaugen blinzelten. »Sei mir nicht böse!« Ihre Lider zuckten.

Vita rief aus:

»Böse? Weshalb sollte ich böse sein! Ich habe ja wohl nichts damit zu schaffen. Wenn du gehen wolltest, mußtest du eben gehen.«

»Verzeih«, bat Virginia.

»Das sah dir ähnlich, dich so zu entziehen. Und dennoch Aufmerksamkeit zu erheischen. Nein, mir hat das nichts ausgemacht, aber du hättest an die arme Vanessa und den armen Leonard denken können.«

»Du glaubst also nicht, daß ich es deinetwegen getan habe?«

»Nein, bewahre, das hoffe ich wirklich nicht!«

Ihre Auseinandersetzung wurde durch den heftigen Wind unterbrochen, der plötzlich erneut aufkam und ebenso schnell wieder verschwand.

Eine hochgewachsene, magere Frau, auf Krücken gestützt – sie trug ein langes, schwarzes, raschelndes Seidenkleid mit hohem Kragen und drei Reihen schwarzer Perlen um den Hals –, folgte dem Windstoß wie in Trance und murmelte:

»Ernst, komm zurück, Ernst, bitte, Ernst!«

»Ist sie das?« fragte Virginia. »Ist das deine dunkle Schönheit?«

»Ja«, antwortete Vita, »das ist sie.«

Karen Blixen, die schweigend an ihrem Tisch gesessen und das Gespräch mit einem belustigten Lächeln verfolgt hatte, winkte die neu Hinzugekommene heran.

»Bitte schön, hier ist Platz. Setzen Sie sich!«

Die dunkle Frau glitt mit einem abwesenden Ausdruck in den Augen auf einen Stuhl an Karens Tisch. Ihre Haare waren in der Mitte gescheitelt und zu einem straffen Knoten gebunden. Die Augenbrauen bildeten kräftige, waagerechte Striche über einer langen, schmalen Nase. Der Mund und die Kinnpartie vermittelten den Eindruck von Willensstärke.

»Darf ich mich vorstellen? Baronin Blixen«, sagte die andere.

Die Schwarzgekleidete wandte sich um und schaute in das schiefe Lächeln.

»Victoria Benedictsson«, entgegnete sie kaum hörbar.

»Ich habe es geahnt, die kleine Postmeisterin. Ich habe es geahnt. Von wem haben Sie geträumt? Ernst? Wir scheinen hier alle Träumerinnen zu sein. Wie war das denn mit dem großen Brandes, gnädige Frau?«

Victoria richtete sich auf, und um ihren Mund erschien ein spöttischer, fast übermütiger Zug.

»Der große Brandes!« rief sie aus. »Für Sie mag er vielleicht groß sein. Sie haben ihn wohl einmal getroffen, als Sie noch ganz klein waren, nicht wahr? Oh ja, ich weiß, wie Sie ihn mit bewundernden Briefen und Blumen verfolgt haben. Sagen Sie, was ist daraus geworden?«

»Na, auf jeden Fall habe ich mich seinetwegen nicht umgebracht. Mich hat dieser Troll nicht verzaubert. Nein, meine Tante Bess und meine Mutter haben nicht zugelassen, daß ich ihn traf, als er endlich eine Visite machte.«

»Was kümmert der mich«, schnitt Victoria ihr das Wort ab. »Ich suche nur Ernst. Ich bilde mir ein, ich hätte ihn gerade hier vorbeigehen sehen.«

»Ja, alle scheinen hier jemanden zu sehen. Ich weiß auf jeden Fall, wer die Gestalt im Cape war.« Karen setzte eine überlegene Miene auf.

Wie um ihre letzten Worte zu unterstreichen, heulte vor der Terrasse ein Sturm auf. Es klang hohl und durchdringend und steigerte sich in einem beinahe unerträglichen Crescendo, dann hörte es so plötzlich auf, als wäre eine Saite durchgeschnitten worden, und hinterließ eine schaurige Leere, die die versammelten Frauen bedrückte.

Virginia brach das Schweigen und sagte leichthin:

»Also deshalb sind wir hier. Zum Rätselraten. Wer richtig rät, bekommt den Nobelpreis!«

Vita nahm den Faden auf:

»Wenn nun schon einmal so viele reizende Frauen hier versammelt sind, warum lassen wir uns nicht etwas einfallen, womit wir uns auf angenehme Weise die Zeit vertreiben können?«

»An was für einen Zeitvertreib denkst du denn?« fauchte Virginia.

»Liebe Virginia«, sagte Vita. »Werd nicht eifersüchtig. Ich habe an nichts Böses gedacht. Nein, aber schaut mal, da drüben. Schaut mal, was für entzückende Gestalten da kommen. Wie ein Büschel Schneeglöckchen drängen sie sich aneinander. Wie nett!«

Drei Frauen, die jünger und vor allem schüchterner aussahen als die anderen, näherten sich langsam der Gruppe. Etwas ländlich Zurückgezogenes lag über ihrer Erscheinung, als ob sie lange in einer entlegenen Ecke der Welt vor deren zudringlichen Blikken verborgen gehalten worden wären.

»Wie reizend«, fuhr Vita fort. »Wirklich wie Schneeglöckchen zwischen der Lunaria, der Schwertlilie, der Narzisse und der Nachthyazinthe.«

»Ja, hier kannst du botanisieren«, sagte Virginia spitz. »Hierher, bitte sehr, hier ist eine alte Dame, die Sie kennenlernen will«, rief sie den Neuankömmlingen zu.

Die drei Frauen waren inzwischen bei den Tischen angelangt. Victoria saß mit Karen an einem, Vita und Virginia an dem daneben.

»Darf ich vorstellen? Das ist Vita Sackville-West, die berühmte Schriftstellerin«, sagte Virginia. »Ich selbst heiße Mrs. Woolf. Und hier haben wir die Baronin Blixen und Frau Victoria Benedictsson aus Schweden. Wir sind also alle Schriftstellerinnen.«

»Charlotte Brontë«, stellte sich die erste der drei jungen Frauen mit einer leichten Neigung des Kopfes vor.

»Anne«, sagte die zweite und stieß die dritte in die Seite, die wegschaute, als ob das Ganze sie nichts anginge.

»Emily, du mußt guten Tag sagen!« Diese wandte sich langsam den versammelten Frauen zu und sagte mit deutlicher, aber unpersönlicher Stimme ihren Namen.

Eine leichte Konversation über die kühle, jedoch frische Luft und das Wetter im allgemeinen setzte ein.

»Hier oben werden wir auf jeden Fall von Regen verschont bleiben«, sagte Virginia. Dann gab man seinem Wohlgefallen über das schöne Panorama Ausdruck, auch wenn der Nebel die Sicht behinderte. Nur Emily nahm nicht an dem Gespräch teil.

»Was für nette Mädchen, so wohlerzogen«, lobte Karen.

Plötzlich sagte Emily:

»Seht ihr die Heide dort unten? Und all die Gräber?«

»Nein«, antwortete Charlotte. »Laß uns jetzt nicht darüber reden.«

»Unser Garten war ein Friedhof, unsere Bäume waren Grabsteine, unser Vaterhaus stand auf einem Kirchhof«, fuhr Emily fort, ohne von Charlotte Notiz zu nehmen.

»Aber wir sind doch jetzt hier oben«, sagte Anne, »in schwindelnder Höhe.«

»Ja, nicht wahr«, mischte sich Karen in das Gespräch ein. »Hier oben kann man atmen. Hier können wir leben und arbeiten. Na, meine jungen Damen, wohin würden Sie uns führen, wenn Sie die Wahl hätten?«

»In die Hölle«, antwortete Emily brüsk.

»Immer hübsch langsam«, lachte Vita. »Das würde ein ganz schön tiefer Fall.«

Karen wandte sich an sie:

»Und Sie, wohin würden Sie uns mitnehmen?«

Ohne zu zögern, antwortete Vita:

»In meinen Garten. Nach Sissinghurst in meinen üppig blühenden Garten voller reifender Früchte und einem Meer von Blumen an einem Spätsommertag. Ich würde euch auch den Teil zeigen, in dem nur weiße Blumen wachsen, meinen weißen Garten, meinen Mondscheingarten, ja, ich würde euch auf einen Rundgang durch meinen Lustgarten mitnehmen.«

»Und dann würdest du uns eine nach der anderen ausziehen«, sagte Virginia.

»Wir würden nackt unter den Obstbäumen tanzen, ja, genau!« erwiderte Vita.

»Wie schrecklich!« Virginia erschauerte.

Sie war nun an der Reihe, und die Baronin fragte auch sie, wohin sie die Damen mitnehmen würde. Sie dachte nach.

»Vielleicht an einem klirrend kalten Wintertag an die Themse. An einem Tag, der so kalt ist, daß Reisende zu Statuen erstarren, bedeckt von pudrigem Schnee. Ich würde euch auf eine wärmende Schlittschuhfahrt über das singende Eis mitnehmen, und ich würde euch mit meinem dampfenden Atem Leben einhauchen, und eure Backen würden leuchten wie rote Äpfel.«

Victoria, in deren Augen Leben gekommen war, rief aus:

»Das klingt schön! Aber ich ziehe doch die Sonne und den Süden vor. Nicht die Strände und das Faulenzerleben, das kein Leben ist. Aber die Cafés, die lebhaften Gespräche, die Hörsäle voller Ehrfurcht vor den großen Denkern, die Theater, die Kunstgalerien. So weit weg von den südschwedischen Lehmäckern wie möglich. Das Schlimmste, was es gibt, ist die schmutziggraue Ebene Südschwedens an einem nebligen Wintertag, die endlos sich ausbreitende Trostlosigkeit!«

Virginia war noch nicht zu Ende:

»Vielleicht würde ich euch auch auf eine Polarexpedition mitnehmen. Ja, mit allen Polarreisenden zur Eisjungfrau.«

»Eisjungfrau!« fauchte Vita. »Das würde zu dir passen.«

Virginia nahm keine Notiz von ihr. Sie schien schon weit weg zu sein.

»Ich würde euch zu einem Mann mitnehmen, der drei Expeditionen und zwei Weltkriege überlebt hat und hundert Jahre alt wurde«, begann sie mit etwas eintöniger Stimme, die jedoch im Laufe des Sprechens lebhafter wurde. Sie strich sich die Haare aus der Stirn, wie um die Sicht freier zu machen, und ihr Gesicht schien von innen zu leuchten. Eine merkwürdige Energie entströmte ihren Worten, während ihre Stimme, als sie fortfuhr, einen frostigen Unterton bekam:

Seit der letzten Expedition, die zum Südpol führte, stand die Zeit für ihn still. Eigentlich blieb er da draußen in der Weite des Schnees. Eisige Winde und die Nebelschwaden der Polarnacht zogen durch seinen alternden Kopf, und an den Stellen, wo es Raum für Familie und Freunde hätte geben müssen, waren nur weiße Flecken. In Kindern und Kindeskindern, die an ihm vorüberzogen, sah er nur Zuhörer für seine Erzählungen von den Abenteuern, die er erlebt hatte. Vertraulichen Umgang hatte er nur mit Nansen, Andrée, Scott und Piery, er las ihre Tagebücher und machte sich ihre Gedanken zu eigen. Mit ihnen zusammen begab er sich wieder hinaus ins Eismeer, in die Weiten, wo er einen ganz privaten Kampf mit der Natur ausfocht, allein mit dem Polarstern über sich und dem Gebot der männlichen Willensstärke in der Brust. Als die Weltenbrände um ihn herum wüteten, war er weit weg in der Weiße und Kälte und blieb unberührt von Massenschlachten, Bombardements und brennenden Städten. Er lebte immer noch in der Zeit der einsamen Mannestaten.

Jedes Jahr zu Weihnachten wurden die Enkel zum Großvater geführt. Er war weißhaarig und hatte einen Bart, der aussah, als ob er bereift wäre, und schaute sie aus hellblauen Augen an, die wie der Polarstern leuchteten. Er murmelte und nickte jedesmal, wenn sie ihm wieder vorgestellt wurden, und legte ihnen eine kalte, knochige Hand auf den Kopf. Für sie war es wie ein Besuch bei König Winter, der sie ins Märchenland einlud. Der Alte lebte im Westen der Sonne und im Osten des Mondes und weigerte sich zurückzukommen.

Er war einer der wenigen, die die Expeditionen überlebt hatten – sie waren um die Jahrhundertwende der extremste Ausdruck männlicher Eroberungslust. Das Unbehagen an der Kultur trieb die Polfahrer hinaus in die Wildnis, zu den noch unerforschten weißen Flecken auf der Landkarte, auf unberührten, jungfräulichen Boden, den noch kein Mann vor ihnen betreten hatte, und es trieb sie zu Nahkämpfen mit der Natur selbst, ihrer Launenhaftigkeit und Unberechenbarkeit ausgesetzt. Das Chaos lauerte überall, sie waren weit weg vom Sicheren und Gewohnten, von der Feigheit und Lauheit der Sklavennaturen und dem weichen Schoß der Frauen in der Geborgenheit des Heims. Sie kämpften für aristokratische Ideale und Ehrbegriffe, in einer Zeit, die im Begriff war, diese zu verwässern, und die drohte, die Unterschiede zwischen den Menschen auszugleichen und großartige Gedanken zu eliminieren.

Höhere Mächte und ideale Forderungen bestimmten ihre Wege und besiegelten ihr Schicksal, und in Tagebüchern und Briefen an ihre Ehefrauen schrieben sie, daß sie die einzige sei, die ihn verstehe, daß sie ihn in ihrem Inneren besser kenne als er sich selbst, von seinen innersten Motiven wisse und daß sie bestimmt einsehen würde, daß er sein Leben und seine Familie opfern müsse für das höhere Streben, daß er selbst machtlos sei gegenüber dem männlichen Willen, der von ihm Besitz ergriffen habe. Die Frau müsse verstehen, daß nur die Feigen und Bequemen die Familie höher bewerten als den Kampf und das Lebensziel. Das schrieben sie, das glaubten sie, und die Polarnacht verkörperte dieses höchste Ziel.

»Es gibt nichts Wunderbareres als die Polarnacht. Ein Traumbild, gemalt in den zartesten Tönen der Seele, wie farbiger Äther: Alles geht ineinander über; man sieht nicht, wo ein Farbton beginnt und ein anderer endet, und dennoch sind sie da. Keine Formen; alles tönt in einer traumhaften Farbenmusik, eine ferne, unendliche Melodie von gedämpften Saiten. Aber ist nicht alle Schönheit des Lebens so, hoch und fein und rein wie diese Nacht?« schrieben sie in ihre Tagebücher.

In der absoluten Weiße, im Weiß, das in Weiß übergeht, in Nuancen von Weiß suchten sie ihr Ziel. Aber sie waren unsicher, wo in all dem Weiß sie ihre Flagge hissen sollten als Beweis dafür, daß sie ihr Ziel ereicht hatten. Wo war der eigentliche Pol? Wo war das Ende der Welt, und wie sollten sie es kennzeichnen und der Nachwelt zeigen, daß sie es gefunden hatten? Daß sie die ersten waren, daß sie da waren? Sie hatten die Weiße gesucht, aber sie konnten sie nicht erobern, unerlöst irrten sie weiter, von Ziel zu Ziel, von Weiße zu Weiße, von Pol zu Pol. Wie der Fliegende Holländer trieben sie ihre Hunde über die Weiten oder zogen unter unmenschlichen Leiden und Strapazen selbst ihre Schlitten. Viele wurden wahnsinnig oder gingen an Skorbut, Hunger oder Kälte zugrunde, und viele suchten den Tod in einer Expedition, die zum Scheitern verurteilt war; sie starben im Kampf, draußen auf dem weiten, weißen Feld, sie legten sich in den reinen, weißen Schnee, umarmten die Eisjungfrau und erstarrten in ihrem Schoß zu Eissäulen.

Virginias Stimme war immer leiser geworden, als ob sie sich in der Luft über der weißen Weite auflösen würde, und der letzte Satz verklang wie ein gedämpfter Akkord in der Stille.

Die anderen Frauen schauten die Erzählerin schweigend und erwartungsvoll an.

»Ja?« sagte Karen, und das Fragezeichen hing über den Schneemassen wie ein Haken, an dem Virginia sich aufschwingen könnte.

»Ja was?« Virginias Lider zuckten leicht.

»Wir warten gespannt auf die Fortsetzung der Geschichte«, sagte Karen mit gebieterischer Geduld.

»Es gibt keine.«

»Seht ihr denn nicht, daß sie müde ist!« Vita legte einen schützenden Arm um die fröstelnde Virginia. »Jetzt hast du dich wieder übernommen! Warum mußt du dich auch so weit hinauswagen? Halte dich doch lieber an das Naheliegende und Gewohnte. London, die Damen der besseren Gesellschaft, die Einladungen zum Tee, die Literatur – da bist du zu Hause. Was hast du denn da draußen bei den männlichen Heldentaten in den Polarnächten zu suchen?«

»Genau«, sagte Emily wie zu sich selbst, ohne sich um die anderen zu kümmern. »Genauso kalt und überlegen ist er, der gute Vater, der Herr der Schöpfung, und wir sind ausgestoßene Kinder.«

»Aber Emily«, sagte Anne leise, aber mit Nachdruck. »Wie kannst du so etwas sagen? Wie kannst du so etwas denken? Unser Vater kann uns doch wohl nicht hassen?«

»Doch, das kann er, und wir hassen ihn«, kam die scharfe Antwort.

Außer Charlotte, die dicht neben den Schwestern saß, hatte niemand ihre Auseinandersetzung verfolgt. Sie schaute verlegen vor sich hin, als ob sie sich schämte.

»Hört jetzt auf«, flüsterte sie und blinzelte mit ihren großen, kurzsichtigen Augen zu den anderen Frauen hinüber. Erleichtert stellte sie fest, daß diese nichts gehört hatten.

»Die Eisjungfrau«, sagte Victoria mit einem Hauch von Schmerz in der rauhen Stimme. »Er nannte mich immer Eisjungfrau.«

Sie beherrschte sich.

»Aber können wir uns denn nicht wieder in die Zivilisation zurückversetzen?« fuhr sie fort. »Ich habe schon immer einmal England sehen wollen!«

Virginia sammelte sich und wandte sich ihr zu.

»England«, sagte sie. »Good old England. Wo eine Frau heutzutage angeblich Premierminister werden und sich wie ein Mann benehmen kann. Aber hat eine Schriftstellerin inzwischen wohl ein eigenes Zimmer, und kann sie sich selbst ernähren?«

»Du hast auf jeden Fall ein eigenes Zimmer bekommen«, warf Vita spitz ein. »Du hast zum Schluß deinen höchst privaten Sarg erhalten. Davon hast du doch geträumt. Es hat ja nicht gereicht, daß du über mein Turmzimmer verfügen konntest, wie du wolltest. Nicht einmal ein Elfenbeinturm hätte dir genügt. Du hast am Ende das bekommen, was du gewollt hast!«

»Liebe Vita«, bat Virginia, »sei mir nicht böse! Nun sehen wir uns doch endlich wieder.«

»Ja«, entgegnete Vita besänftigt, »wir haben uns wiedergefunden! Und was machen wir jetzt?«

»Laßt uns doch weiter Geschichten erzählen«, sagte Karen. »Das ist alles, was wir können. Das ist wirklich alles.«

Ein langes Schweigen breitete sich aus. Schließlich stieß Emily hervor:

»Das könnte man beredtes Schweigen nennen!«

»Ein Schweigen wie im Grabe«, lachte Karen heiser. »Aber nun gut, wenn man der Stille lange genug lauscht, kann man sie reden hören. Haben Sie, meine Damen, schon die Geschichte von der Stille gehört? Oder die von der leeren Seite?«

»Die leere Seite?« rief Anne aus und errötete, als sie merkte, daß die anderen sich zu ihr umdrehten. »Nein, haben wir nicht, oder, Charlotte?« wandte sie sich hilfesuchend an die Schwester.

»Nein, ich glaube nicht«, antwortete die und wandte sich mit höflicher Aufmerksamkeit der älteren Dame zu.

»Ich habe sie von einer sehr alten Märchenerzählerin gehört«, sagte Karen.

»Kurzgefaßt lautet die Geschichte so: Es soll einmal ein Nonnenkloster der Karmeliter irgendwo auf einem Berg in Portugal gegeben haben, wo man den allerfeinsten Flachs anbaute. Zur Blütezeit leuchtete der ganze Berg so blau, als ob er in den Himmel übergegangen und eins mit ihm geworden wäre. Die Nonnen waren berühmt für ihren Flachs, und sie stellten ein so erlesenes Leinen her, daß sie die Ehre hatten, daraus die königlichen Brautlaken weben zu dürfen. Aber damit nicht genug: Wenn die Hochzeit vorbei war, wurden die blutbefleckten Laken ins Kloster zurückgebracht und dort in einer Galerie aufgehängt«, schloß sie triumphierend.

»Wie schrecklich!« Emilys schwarze Augen glänzten.

»Abscheulich«, stieß Anne keuchend hervor.

»Ekelhaft«, flüsterte Victoria und machte eine abwehrende Handbewegung, als ob sie eine lästige Fliege verscheuchen wollte.

Nur Charlotte bat Karen mit leiser Stimme und bleich, mit dem Blick einer Maus, die von einer Schlange hypnotisiert wird, weiterzuerzählen. Diese fuhr beinahe schadenfroh fort:

»Es gehörte zu den Privilegien des Klosters, versteht ihr, daß sie die Leintücher mit den blutigen Mustern darauf zurückbekamen. Die Mittelstücke von all diesen Brautlaken wurden in einem schönen Rahmen an die Wände der Galerie gehängt, jedes mit einem Namensschild versehen. Frauen von königlichem Blut pilgerten zu dem Kloster und standen in tiefes Nachdenken versunken vor diesen Bildern, in die sie eine Geschichte nach der anderen hineinlasen. Aber es gab ein Laken, das mehr Zuschauer anzog als alle anderen, vor dem die Menschen am längsten stehenblieben und am intensivsten nachdachten. Es hatte den gleichen kostbaren Rahmen wie alle anderen. Aber es war ganz weiß.«

»Das also war die leere Seite«, flüsterte Charlotte. »Ich verstehe.«

»Ja, meine Damen, dies war die kürzeste Fassung von ›Die leere Seite‹.«

»Dem gibt es eigentlich nichts hinzuzufügen«, sagte Emily mit einem kurzen Lachen.

Die anderen fielen in ihr Lachen ein, eine etwas zögernd, als wollte sie prüfen, ob sie dazugehörte, hustend und abgehackt, eine andere befreit losplatzend, die dritte überlegen glucksend, die vierte von den anderen mitgerissen, als ob eine ansteckende Krankheit sich ausgebreitet hätte, bis sie alle zusammen lachten, prustend, wiehernd, einander anstachelnd, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Schließlich verebbte das Gelächter und hinterließ eine noch größere und dichtere Stille als die, welche der Geschichte vorausgegangen war. Als das allgemeine Schweigen peinlich zu werden drohte, versuchte Victoria, es zu brechen, indem sie sagte:

»Wißt ihr, ich finde es ziemlich leer hier. Irgend etwas fehlt.«

Karen lächelte.

»Die Männer fehlen, meine Lieben. Kloster und Kunst in allen Ehren. Aber auf die Dauer wird es doch langweilig. Wenn echte Spannung entstehen soll, müssen Männer dabei sein.«

Charlotte und Anne stimmten sofort zu. Sogar Emily schien bestätigend zu nicken. Aber Virginia schreckte auf, als ob sie unsanft geweckt worden wäre, blinzelte mit ihren Vogelaugen und rief beleidigt aus:

»Wie bitte, ohne Männer soll es keine Spannung geben?«

Vita unterstrich ihre Skepsis:

»Die sollen Spannung hervorrufen können?«

»Tja«, sagte Karen, »in den Geschichten braucht man sie auf jeden Fall. Wenn ihr erlaubt, werde ich euch ein längeres Märchen erzählen. Es stammt aus meiner Kindheit oder sogar aus noch fernerer Zeit. Tatsächlich kam ein Mann mit dieser Geschichte in das Haus meines Vaters, er wiederum hatte sie von einer Frau.«

Sie setzte sich zurecht und nahm ihre Erzählerhaltung ein, mit dem unsichtbaren Umhang über den Schultern und Blicken wie Fangnetzen, um die Aufmerksamkeit der Zuhörerinnen einzufangen, die Stimme war beschwörend, sinnlich spürbar, wie greifende Finger.

»Wenn ich mich recht erinnere, dann war es so«, begann sie.

2

Eines Abends, als der Wind um die Ecken pfiff und der Regen gegen die Fenster meines Vaterhauses peitschte, wurde die Außentür aufgerissen, so daß der Wind hereinwirbelte, ein Stampfen und ein hohles Husten waren zu vernehmen, dann wurde die Haustür wieder geschlossen und der Sturm ausgesperrt. Als nächstes hörte man ein Klopfen an der Zimmertür, bevor sie vorsichtig geöffnet wurde und ein dunkler Mann in einem langen Cape eintrat. Er hatte seinen Schlapphut, an dem das Wasser herunterlief, abgenommen, und man sah schwarze Haare, die wie geleckt über Stirn und Schläfen lagen, ein Paar buschige Brauen über pfefferschwarzen Augen, eine große, gebogene Nase und einen geteilten Schnurrbart, dessen lange, nasse Strähnen zu beiden Seiten eines schmalen Mundes herabhingen. Draußen in der Diele hatte er einen großen Koffer abgestellt, so groß, daß ein Mensch darin Platz gefunden hätte.

Er durfte sein Cape ausziehen, das zum Trocknen aufgehängt wurde. Darunter hatte er einen rotgeblümten Seidenschal um den Hals geschlungen, er trug eine Brokatweste, die mit Silberfäden bestickt war, und eine Uhrenkette, deren eines Ende an einem Knopf befestigt war und deren anderes in einer kleinen Tasche verschwand. Seine Finger schmückten glitzernde Ringe.

Man bat ihn, sich ans Feuer zu setzen, und die Reste des Abendessens, das gerade beendet worden war, wurden ihm aufgetischt. Auf die Frage, woher er komme, antwortete er:

»Ich bin überall gewesen. Aber wenn Sie einen Ort brauchen, um mich daran zu befestigen, können wir sagen, daß ich aus Holland komme. Oder warum nicht Kanaan oder Syrien oder Weißrußland oder die Ukraine?«

Dann schwieg der Fremdling und schaute ins Feuer. Nach einer langen Weile sah er auf.

»Ich kann Ihre Gastfreundschaft vielleicht mit einem kleinen Stück oder einer Erzählung entgelten?«

Und ohne auf eine Antwort zu warten ging er hinaus, holte seinen großen Koffer aus der Diele und öffnete ihn. Es war, als ob sich eine Schatzkammer vor unseren Augen aufgetan hätte; es glitzerte und glänzte, und merkwürdige Figuren, bemalte Holzstücke und phantastische Stoffe kamen zum Vorschein. Der Mann ordnete und arrangierte mit flinken Händen ein paar Dinge, und eins, zwei, drei stand eine kleine Bühne vor uns, ein richtiges Theater mit Vorhängen und einem hölzernen Abschluß oben, der so geschnitzt und bemalt war, daß der Eindruck eines dicken, faltenreichen Stoffes mit Fransen entstand. An beiden Seiten hingen zwei Masken, eine fröhliche und eine grausame. Der