Der englische Brief - Carine Dessemontet - E-Book

Der englische Brief E-Book

Carine Dessemontet

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Beschreibung

Die Ehe der seit 24 Jahren verheirateten Basler Anwältin Katharina Noll steckt in einer Sackgasse. Da entdeckt sie bei einer Räumaktion im Elternhaus einen ungeöffneten Brief. Verfasser ist ihre große Liebe Alexander. Nur: Der Brief ist 25 Jahre alt. Die uneingestandene Sehnsucht nach dem Mann, der damals in England lebte und den Kontakt ohne ein Wort abgebrochen hatte, stürzt sie in tiefe Zweifel. Hat sie ihren Ehemann Markus jemals geliebt? Oder hat sie sich selbst nur betrogen? War Alexander nur eine Studentenliebe? Sie muss das klären, um mit der Vergangenheit ihren Frieden zu schließen. Sie macht Alexander ausfindig. Doch hat sie etwas nicht bedacht. Ihre neu aufflammenden Gefühle für Alexander – und die dunklen Seiten ihres konservativen Mannes. Katharina verstrickt sich immer mehr in ein Netz aus Lügen und Leidenschaft. Wird sie sich aus ihren Verstrickungen lösen und zur wahren Liebe finden?

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Seitenzahl: 514

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Danksagung

Die Autorin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland.

© 2022 Carine Dessemontet · carinedessemontet.ch

Lektorat: Monika M. Popp

Covergestaltung: Kristin Pang · kristinpang.com

Satz u. Layout / E-Book: Büchermacherei · buechermacherei.de

Foto Autorin: Carine Dessemontet

Bildnachweise: shutterstock_160949072, shutterstock_2048392490, AdobeStock_298322860, AdobeStock_497461192

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin/des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Germany

ISBN Softcover: 978-3-347-75179-8

ISBN E-Book: 978-3-347-75180-4

Kapitel 1

Katharina Noll stellte den Motor ab und lehnte den Kopf an die Stütze. Ihre nicht gerade überschäumende Lust, das Arbeitszimmer ihres Vaters zu räumen, war zu einem Nichts geschrumpft. Mamas Ansprüche, Papas Chaos, die Erinnerungen, vor denen sie ehrlich gesagt ein bisschen Angst hatte. Aber sie hatte es Mama versprochen.

Sie öffnete die Autotür und ein Schwall ofenheißer Luft schlug ihr entgegen. Was gäbe sie nicht alles, um diesen Pfingstsonntag in ihrem Garten im Schatten der Markise zu verbringen, den eiskalten Tee durch ihre Kehle rinnen zu lassen und einfach nur zu entspannen. Lesen. Den vorbeischleichenden Milo streicheln.

Sie ergriff ihre Handtasche und stieg aus. Es half alles nichts. Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen. Das hatte Papa oft genug gesagt. Und da stand ihre Mutter ja schon in der geöffneten Tür. „Ich dachte mir, ich muss nachsehen kommen. Bei dieser Hitze im Auto sitzen zu bleiben!“

Katharina unterdrückte einen Seufzer und fühlte, wie sich ihr Bauch anspannte. „Hallo, Mama. Kannst du mir bitte ein paar Kartons abnehmen?“ Sie küsste ihre Mutter flüchtig auf die kühle Wange, reichte ihr ein paar zusammengefaltete Kartons und folgte ihr mit den anderen unter dem Arm ins Haus. Ein vertrauter Duft nach Rosen, Wollteppichen und frisch gemahlenem Kaffee hing in der Luft. Durch geöffnete Türen sah sie den großen Esstisch, an dem sie so viele Stunden mit Hausaufgaben verbracht hatte. Und Papas Sessel im Wohnzimmer, in den sich seit zwei Jahren niemand mehr gesetzt hatte. Sie wandte sich ab. „Ich geh gleich hoch, Mama.“

Die sperrigen Kartons rutschten ihr aus den Armen, schnitten ihr in die Finger und schlugen erst an die Wand, dann an das Geländer. Sie schwankte und knallte gegen die Mauer. „Scheißdinger“, entfuhr es ihr.

„Was ist das für ein Lärm, Katharina? Ist alles in Ordnung?“

„Jaja, Mama. Alles ok.“

Im ersten Stock stellte sie die Kartons für einen Moment ab und sah sich händereibend im düsteren Flur um. Wie wenig sich seit ihrem Auszug vor 25 Jahren verändert hatte! Über der breiten Kommode aus Nussholz hing noch immer der mit Blattgold verzierte Spiegel, in den keiner je geblickt hatte. Den roten Läufer, der unter ihren ungeduldigen Schritten immer verrutscht war, hatte ihre Mutter nicht ersetzt, obwohl er völlig zerfranste. Katharina trat zwei Schritte zurück, runzelte die Stirn, schob ihn mit dem Fuß mehr nach links und nickte. Besser so. Als sie die Schachteln hochheben wollte, nahm sie am Ende des Flurs einen Streifen honiggelbes Licht wahr, das sich über das Parkett ergoss. Eine Tür stand einen Spalt breit offen.

Eine jähe Erinnerung packte sie. Mamas verbotenes Zimmer. Sie war sechs und zu neugierig gewesen. Sie hatte die Klinke leise heruntergezogen und war mit klopfendem Herzen eingetreten. Der Raum war in Schatten getaucht. An den Wänden Bilder von Pflanzen. Oder Tieren? Ein Metallschrank mit vielen Schubladen, ein Stuhl und davor, auf dem Tisch, ein seltsam gebogenes graues Ding. Sie schlich näher, kletterte auf den Stuhl. Das Ding fühlte sich kalt an und dieses runde Fenster obendrauf … gab es was zu sehen? Wie beim Rohr mit den bunten Bildern? Sie drückte ihr Auge an die Linse. Dunkelheit. Nichts. Sie sah sich um. Was war das für eine Schachtel? Glasplättchen? Mit Pflanzen drin? Sie streckte ihre pummeligen Finger nach der Schachtel … Nein! Klirren von Glas. Dann ein harter Griff. Eine Hand klatschte ihr ins Gesicht. „Was machst du hier! Schau, was du angerichtet hast! Weißt du, wie teuer das ist? Wie viel Arbeit ich da reingesteckt habe? Nein, natürlich nicht. Du hast mein Leben ruiniert und nun das! Verschwinde, geh mir aus den Augen, du …!“

Sie rannte schon, hörte die Worte nicht mehr, die Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie hatte ihre Zimmertür zugeschlagen und sich schluchzend unter der Bettdecke versteckt, bis sie erschöpft eingeschlafen war.

Ihr Leben ruiniert. Katharina rieb die feuchten Hände an ihrer Jeans ab. Sie hatte das vergessen. Aber jetzt trommelte ihr Herz gegen ihre Rippen, dass es fast wehtat. Sie riss die Schachteln an sich. Du kannst es nicht ändern. Lass das und mach vorwärts.

Als erstes riss sie in Papas Arbeitszimmer unter dem Dach das Fenster auf. Luft! Einen guten Tod hatte Papa gehabt. Herzstillstand. In seinem Schaukelstuhl, beim Lesen. Katharina spürte ein Prickeln in ihren Augen. Ich vermisse dich, Papa. Unsere Gespräche, deine Ratschläge, auch wenn sie nicht immer halfen. Weißt du, ich fühle mich in meiner Ehe alleingelassen. Es kommt mir vor, als sei Markus mit seiner Kanzlei verheiratet, statt mit mir. Und dieses Jahr hat er unseren Hochzeitstag wieder vergessen. Was mache ich falsch?

„Käthchen“, hatte er ihr vor ihrer Hochzeit gesagt, „eine Ehe ist wie eine Bergwanderung. Man weiß nie genau, was einem bevorsteht. Steine im Weg. Ein Bergbach und keine Brücke weit und breit. Ein schmaler Pfad an einem Abgrund. Man fragt sich, was man sich da antut. Aber wenn man am Gipfel angelangt ist, merkt man, wie viel man geschafft hat. Das ist es wert. Darauf darf man stolz sein, Käthchen. Du würdest doch nicht auf halbem Weg umkehren wollen?“

Nein, aber wo befand sich Markus auf dieser Wanderung? Nun, wenigstens er wollte diese Wanderung mit mir unternehmen. Er ist nicht auf halbem Weg umgekehrt. Auf ihn ist Verlass. Sie erinnerte sich. Banges, endloses Warten auf ein Zeichen, einen Anruf, einen Brief, die nie kamen. Hätte er mich wirklich geliebt, dann … Sie schüttelte den Kopf und schob mit dem Fuß ein paar Bücher zur Seite. So lange her. Freue dich an dem, was du hast. Sie straffte die Schultern und sah sich um. Was für ein Chaot ihr ewig zerstreuter Vater gewesen war. Unzählige Geschichtsbücher, in den Regalen, auf dem Boden, auf dem kleinen Sofa, auf dem er seinen Mittagsschlaf gehalten hatte. Neben dem wuchtigen Schreibtisch stapelte sich ein Berg von Exemplaren der Zeitschrift Geschichte, für die er regelmäßig geschrieben hatte. Der typische zerstreute Professor. Es musste Mama riesige Überwindung gekostet haben, diese „Unordnung“ wie sie es naserümpfend nannte, zwei Jahre lang unberührt zu lassen. Aber das Leben ging weiter. Sie faltete eine Schachtel auseinander und hob die ersten Bücher vom Boden auf.

Nach einer Stunde Arbeit schob sie eine verschwitzte Locke aus der Stirn, rieb sich das schmerzende Kreuz und trat ans offene Fenster. Aber da gab es nichts zu sehen. Die Reihen-Einfamilienhäuser mit ihren halb geschlossenen Fensterläden machten einen abweisenden Eindruck und die Straße war ausgestorben, wie seit eh und je am Sonntag. In den schlauchartigen Gärten regte sich nicht einmal ein Hund, dessen Bellen die Stille durchbrochen hätte. Wie froh ich bin, dass ich hier weggekommen bin. Die Hausfrauen, die uns zwischen ihren Vorhängen ausspionierten. Die dachten, ich bemerke sie nicht. Wie engstirnig ich sie alle fand, hinter ihren Hecken und unkrautfreien Beeten. Andere Kinder, die hätten Silvana und ich dringend nötig gehabt. Aber nein, dieses Quartier war ein einziges Altersheim. Schon immer. Sie beugte sich aus dem Fenster und traute ihren Augen nicht. Der Kirschbaum gegenüber war weg. Das darf nicht wahr sein. Mein Kirschbaum! Wie oft habe ich in Gedanken zu ihm gesprochen? Peinlich, ja. Einfach weg. Wie Papa. Sie kehrte dem Fenster den Rücken zu und reckte sich nach der nächsten Bücherreihe.

„Katharina? Wie weit bist du schon?“, drang die Stimme der Mutter aus der Küche im Erdgeschoss herauf.

„Noch ein Regal, danach lege ich gerne eine Pause ein, Mama“, rief sie in den Gang hinaus. Und dieser Stapel Bücher am Boden. Danach habe ich mir meine Pause verdient.

Das Regal hatte sie im Nu leergeräumt. Dann hob sie den Stapel hoch. Er schwankte in ihren Händen, sie versuchte, ihn auszubalancieren, trat einen Schritt zur Seite, doch schon rutschten die Bücher zu Boden.

„Mist!“ Noch mehr Arbeit. Sie hockte sich hin und fing an, die Bücher einzusammeln. Da, was war das? Ein vergilbter Luftpost-Umschlag. Ein Brief aus dem Ausland? Wer …? Sie hob ihn auf. Die Briefmarke war längst abgefallen, der Umschlag zerknittert, die Adresse verblasst, aber halbwegs erkennbar: Katharina Baumann … Basel. Switzerland.

Switzerland? Mein Mädchenname? Sie schaute auf die krakelige Schrift und glaubte einen verrückten Augenblick lang, einen Duft von Sandelholz zu riechen. Übertreib mal nicht. Das ist Vergangenheit. Definitiv. Und doch … Sie drehte den Umschlag in den Händen, zögerte, wollte ihn gleich aufreißen und dann doch wieder nicht. Wenn dieser Brief tatsächlich von ihm war, was dann? Der Umschlag flatterte leicht und sie merkte, dass ihre Hand zitterte. Langsam erhob sie sich vom Boden und nahm im lederüberzogenen Sessel hinter dem Schreibtisch Platz. Den Umschlag legte sie auf den Tisch und strich ihn glatt, während sie sich zwang, tief ein und aus zu atmen. Ihr Blick fiel auf ein gerahmtes Foto von ihr mit dem neugeborenen Sebastian im Arm. Zwanzig war er jetzt und Student. Sie nahm das Foto in die Hand. Über die Jahre hatte sie ein paar Kilo zugelegt, aber ihre Taille war immer noch schmal. Ihre kinnlangen kastanienbraunen Haare hatten wenige graue Fäden. Und meine braun-grünen Augen haben schon manchen Kopf verdreht. Ich habe mich gut gehalten. Sie legte das Foto zurück. Ich habe alles, was ich mir wünschen könnte. Mann, Sohn, Haus und meine eigene Kanzlei. Öffnen? Gleich entsorgen? Vergangenheit und Zukunft lagen jetzt in ihrer Hand. „Es ist deine Entscheidung“, murmelte sie halblaut zu sich. „Überleg dir, was du tust, Katharina.“ Sie zögerte. Dann, mit Papas Brieföffner, riss sie den Umschlag auf und zog vier eng beschriebene Blätter heraus. Diese eilige Schrift, die den Gedanken davonzulaufen schien … kann das sein? Aber warum? Ihr Herz pochte wild, die Worte tanzten vor ihren Augen, sie drehte die Seiten um und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Ihr Atem beschleunigte sich.

Alexander.

Die Blätter flatterten zu Boden. Mit fliegenden Händen leerte sie ihre Handtasche auf den Tisch. Der Inhalator, endlich! Das darf nicht wahr sein. Gleich würde sie feststellen, dass sie falsch gelesen hatte. Auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. Aus dem Nachbarhaus erklang Kinderlachen. Sie bückte sich, hob die Blätter auf und der Raum drehte sich im Kreis. Sie lehnte sich schweißgebadet zurück. London, 15. Dezember 1990. Da war ich schon von zu Hause ausgezogen. Er wusste es nicht. Und Papa hat den Brief irgendwo hingelegt und vergessen, ihn mir auszuhändigen. Und wenn Alexander was Wichtiges geschrieben hat? Etwas, das sie damals hätte wissen müssen?

„Katharina? Wie wäre es mit einem Glas Eistee?“

Sie schreckte auf, schob die Blätter hastig in den Umschlag zurück, steckte ihn in ihre Handtasche und stand mit wackligen Beinen auf.

„Du meine Güte, Kind, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Könnte man so sagen. „Ich habe einen Brief gefunden. 25 Jahre alt.“

Im Glas, das ihr die Mutter reichte, klimperte das Eis. „Setz dich und trink etwas. Einen Brief? Das erstaunt mich nicht. Dein Vater war so unordentlich, es war kaum auszuhalten. Nun, wenn er so alt ist, dann kann er nicht mehr wichtig sein.“

Katharina widersprach nicht. Welcher Teufel hatte sie geritten? Es gab keinen Grund, mit ihrer Mutter über Alexander zu sprechen. Sie hatte ihr die Schuld am Ende dieser Beziehung gegeben. Katharina hatte den harten Ton wieder im Ohr. „Kein Wunder meldet er sich nicht mehr. Eine Beziehung ist Knochenarbeit. Kompromisse eingehen, Opfer bringen; nicht nur an sich selbst denken. Du aber hast seine Liebe für selbstverständlich gehalten.“

Sie hatte ihre Lektion gelernt. An sich gearbeitet. Alexander gab es nicht mehr, aber da waren Markus und Sebastian. Ich liebe Markus. Und er mich. Der Beweis? 24 Jahre Ehe. Das ist nicht wenig, nicht wahr? Der Hochzeitstag? Das ist nichts. Er hatte ihn nicht richtig vergessen. Hätte er mir sonst die Ohrringe …? Die Mühe hätte er sich nicht gegeben, wenn er mich nicht lieben würde. Bestimmt.

„Worüber grübelst du wieder? Wie lange brauchst du noch, denkst du?“

In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Ihre Mutter eilte in den Flur hinaus, was ihr eine Antwort ersparte.

„Silvana, Schätzchen! Was für eine Überraschung. Kuchen? Du weißt doch, dass das nicht nötig ist. Aber danke. Katharina wird sicher ein Stück davon nehmen. Bei Süßem sagt sie nie nein. Ein bisschen schade für ihre Figur. Kaffee oder Eistee?“

Katharina erstarrte, das Glas auf halber Höhe. Ja, sie war nicht so diätgeschädigt wie ihre jüngere Schwester. Und mit Rauchen starb man auch nicht gesünder.

In langen Schritten durchquerte Silvana das Wohnzimmer. Ihr Sommerkleid schwang um ihre Knie, ihr blonder Pferdeschwanz tanzte. Ihr Kuss löste sich in Luft auf.

„Und? Kommst du voran? Sorry, dass ich nicht helfen kann, aber ich muss gleich wieder los. Philippe hatte heute ein Turnier. Bei dieser Hitze! Hoffentlich hat er ans Trinken gedacht. Ich habe euch Kuchenreste mitgebracht.“

Einen Augenblick war Katharina geneigt, den Kuchen abzulehnen. Aber was solls. Bei all ihren Mängeln hatte Silvana ein großes Talent. Sie buk gut und gerne, das musste man ihr lassen. „Mama, könnte ich zum Kuchen auch einen Kaffee bekommen?“ Ich habe dort oben bei 30 Grad geschuftet und mir diese Belohnung verdient. Egal, was die beiden denken.

Während sie auf den Kaffee warteten, starrten sie schweigend aus dem Fenster hinaus. Die malvenfarbigen Hortensien am Ende des Gartens zeigten Knospen. Und die Pfingstrosen hoben sich leuchtend vom saftigen Grün des Rasens ab. Die hatte Markus für ihre Mutter vor Jahren gepflanzt. „Pfingstrosen und Sonnenblumen sind die Königinnen des Sommers, Helen. Die musst du haben.“

Er hatte recht. Sie hätte die Pfingstrosen allerdings mehr in den Mittelpunkt gesetzt, weiter weg vom Lavendel. So dass, wenn man hier stand, sich die Blumen zu einer harmonischeren Komposition vereinigten.

„Stimmen die Farben wieder nicht?“, fragte Silvana und schlug die Beine übereinander.

„Markus hat die Pfingstrosen zu nah am Lavendel gesetzt. Das passt optisch nicht. Man muss hier stehen“, sie trat einige Schritte nach links, „um ein optimales Gesamtbild zu erhalten.“

Silvana lachte. „Manchmal kommst du mir vor wie ein wandelnder Fotoapparat. Erinnere dich an Cédrics Geburtstag: Jeder andere macht Schnappschüsse. Aber nein, meine große Schwester sucht stundenlang den richtigen Rahmen, das passende Licht und dann … dann waren die Jungs längst davongesprungen und dein Schnappschuss im Eimer.“

„Nun, es waren die einzigen Schnappschüsse, wenn ich mich recht erinnere. Und keiner hat sich beschwert. Auch du nicht, im Übrigen.“

Ihre Mutter kam mit einem Tablett, beladen mit Kaffee und Kuchen, und Katharina war froh darum. Es war unmöglich, sich mit ihrer Schwester normal zu unterhalten. Immer gab es irgendwelche Seitenhiebe.

„Für mich nur den Kaffee, Mama. Kuchen hatte ich schon mit den Jungs.“

Jaja. Katharina nahm einen Bissen. Sie liebte Quarkkuchen. Und war sich sicher, dass Silvana keinen Krümel davon probiert hatte. Er war weich und samtig. Sie spürte der leichten Säure auf der Zunge nach und genoss die Süße, die sich allmählich in ihren Mund entfaltete. Mit ihr breitete sich Entspannung in ihr aus. Ah, das tut gut.

„Übrigens: Die Regale kommen auch weg“, sagte ihre Mutter.

„Ich baue sie für dich ab.“

„Danke, Mäuschen. Das ist mir eine große Hilfe.“

Katharina senkte den Blick in ihren Kaffee und schwieg. Wann hatte ihre Mutter sie letztmals Mäuschen genannt?

Nach den letzten Krumen stand sie auf und trug das Geschirr in die Küche. Auf dem Rückweg zur Treppe steckte sie den Kopf ins Wohnzimmer. „Grüße deine Männer von mir. Ich geh zurück an die Arbeit.“

Silvana gab sich nicht die Mühe, vom Sofa aufzustehen. „Tue ich. Tschüss.“

Im Arbeitszimmer fand sie sich mit ihren Gedanken alleine wieder und spürte die Unruhe in sich aufsteigen. Ein Kribbeln im Bauch, ein Druck hinter der Stirn. Er hatte sie in Stich gelassen. Ein Weiterbildungsjahr in London nach dem Jura-Abschluss. Und dann: Aus den Augen, aus dem Sinn. Und das nannte er Liebe? Ha! Und sie war so naiv gewesen, daran zu glauben. Warum also noch dieser Brief? Den hätte er sich sparen können. Wenn er schon nichts mehr von ihr wissen wollte! Sie riss die nächsten Bücher vom Regal herunter, stapelte sie in die Kisten, streckte sich gleich nach den nächsten. Sie musste hier weg. Diese Hitze, der Staub, der in dicken Wolken durch den Raum wirbelte, die Erinnerungen an Papa hinter seinem Schreibtisch, an sie im Schaukelstuhl, an traute Gespräche, an Alexander, wie er mit ihrem Vater diskutierte. Die Erinnerungen an Alexander. Wie am Fließband arbeitete sie sich Regal für Regal vor, stieg auf der schmalen Trittleiter rauf und runter, ohne hinzuschauen, schneller und schneller, bis sie am Ende von der untersten Stufe der Trittleiter stolperte und auf dem Boden landete.

Tränen schossen hervor. Sommertage am Rhein. Gespräche ohne Ende. Sein helles Lachen. Sein Atem, seine Hände … Sie wollte sich nicht erinnern. Das war Vergangenheit! Er könnte tot sein, was wusste sie schon. Und jetzt dieser Brief, als würde ein Geist die Hand nach ihr ausstrecken. Ohne dein Chaos, Papa, hätte ich vielleicht längstens erfahren, warum Alexander mit mir Schluss gemacht hat. Ich hätte schon lange einen Strich unter unserer Beziehung ziehen, Ruhe finden können.

Mühsam rappelte sie sich auf und verstaute die letzten Bücher in die Kiste. Geschafft. Endlich. Sie sah sich im Zimmer um. Ohne die Bücher, die Unordnung, war das, was ihren Vater ausgemacht hatte, nicht mehr spürbar. Der Raum hatte seine Seele verloren.

Als Katharina gegen 17 Uhr in ihren Renault Clio stieg, lagen in einer Tragtasche die Habilitationsschrift ihres Vaters, einige Biographien berühmter Staatsmänner, zu denen er ein Vorwort geschrieben hatte, und seine Montblanc-Füllfeder.

Das Haus war still. Unter ihren bloßen Füßen fühlten sich die Terrakotta-Fliesen angenehm kühl an. Sie stellte die Tragetasche neben dem Garderobenschrank ab und betrat die Küche. Sie goss sich ein Glas eiskaltes Leitungswasser ein und trank in gierigen Zügen. Durch das Küchenfenster sah sie zwei Spatzen, die sich im Garten stritten.Sie stellte das Glas ab und stieg zum Schlafzimmer hoch. Durch die heruntergelassenen Jalousien zeichnete das Sonnenlicht sanfte Streifen auf das breite Ehebett und den crèmefarbenen Teppich. Ihre Füße sanken in den weichen Flausch ein. Sie ließ sich rücklings aufs Bett fallen und streckte Arme und Beine aufseufzend von sich. Welche Wohltat für ihren schmerzenden Rücken. Das Dämmerlicht beruhigte ihre gereizten Augen. Endlich Ruhe. Keine Mutter, keine Schwester, und Markus und Sebastian waren bei einem Fußballspiel. Sie wälzte sich zur Seite und genoss die kühle Bettwäsche an ihrer Wange. Wie verlockend wäre es, an Ort und Stelle einzuschlafen. Einfach so, mitten am Tag. Sie schloss die Augen, spürte die Schwere ihrer Glieder, die Lust, sich dem hinzugeben, ohne Rücksicht auf andere.

Der Brief! Jäh setzte sie sich auf, zog die Handtasche an sich, suchte. Da war er. Mach dir keine Illusionen. Ein Abschiedsbrief. Das wird es sein. Dein letztes Lebenszeichen, und ich dachte, du hättest dich davongeschlichen, ohne ein Wort. Aber nein. Sie strich mit der Hand über den Umschlag. Nicht, dass es mir jetzt so wahnsinnig viel nützen würde.Was will ich noch damit?Zerreiß ihn zu Konfetti. Wirf ihn in den Müll oder spül ihn die Toilette herunter. Lass die Vergangenheit ruhen. Es ist längst zu spät. Gedankenverloren starrte sie auf das dünne Luftpostkuvert mit seinem rot-blau schraffierten Rand aus einer längst vergangenen Zeit. Sie konnte sich für ein Leben in Unwissenheit entscheiden, sie hatte die Wahl. Aber die Vorstellung, den Rest ihres Lebens mit der unbeantworteten Frage zu verbringen, was Alexander ihr zu sagen gehabt hatte? Sie schüttelte den Kopf. Nein, das schaffe ich nicht.

Im Wohnzimmer trat sie mit flauem Magen zur Hausbar und schenkte sich einen großzügigen Eierlikör ein. So gewappnet ließ sie sich in ihrer Lieblingsecke auf dem L-förmigen roten Sofa im Wohnzimmer nieder, setzte die Lesebrille auf und zog mit entschiedenem Ruck den Brief aus dem Umschlag hervor.

Liebe Katharina,

Du wirst dich sicher freuen zu hören, dass ich mein L.L.M. hier mit ausgezeichnetem Resultat bestanden habe. Ich habe mehrmals angerufen, aber es klingelte und klingelte. Hatten Deine Eltern wieder einmal vergessen, den Anrufbeantworter einzuschalten?

Schade. Die Kollegen haben eine Riesenparty für mich organisiert. Wir haben Unmengen Bier getrunken, gesungen und getanzt; nicht ganz so edel wie damals, als wir unser Lizenziat bestanden hatten.

Die Diskothek. Der günstige Sekt. Sein Kinn auf ihrem Kopf, während sie sich zu den Klängen von „Lady in Red“ wiegten. Es fühlte sich alles richtig an. Sie waren füreinander bestimmt. Von Anfang an.

Es war Oktober 1984 und ihr erster Studientag. Der Himmel war strahlend blau, unter ihren Schritten raschelte das Laub, die Studenten strömten von allen Seiten über den Petersplatz und am Eingang zur Universität stieß sie mit einem blonden Studenten zusammen. Er hielt ihr mit einem Lächeln die Tür auf und blickte sie neugierig an.

„Auch dein erster Tag?“, fragte er.

„Ja. Jura und du?“ Dieses Grübchen in seiner Wange.

„Ich auch.“

Sie betraten den Saal gemeinsam, setzten sich nebeneinander, schlenderten zur Mittagszeit zusammen zur Mensa.

„Weshalb Jura?“, fragte er.

„Ich wollte Fotografie studieren. Aber meine Eltern … brotlos, sagten sie. Dann eben Jura. Ich will Anwältin werden und mich für Frauen einsetzen.“

Er zwinkerte ihr zu. „Eine Feministin!“

„Nein! Ich will nur Gerechtigkeit.“

„Nichts weniger als das. Gut. Ich auch!“

Unser Abschluss liegt schon 15 Monate zurück, unglaublich. Und jetzt die große Neuigkeit: Ich habe ein sehr verlockendes Angebot in einer englischen Anwaltskanzlei erhalten. Ich soll dort als Junior einsteigen und könnte im Verlauf der Jahre mal Partner werden. Stell Dir vor! Ist das zu fassen?

Katharina hielt inne und nahm die Brille ab. So viel zu seinem Versprechen. Zusammenziehen, heiraten, Kinder. Aber die Karriere war stärker als die Liebe gewesen.

Katharina, willst du nicht kommen sehen, wo und wie ich hier lebe? Ich wohne in einem Vorort mit einer guten U-Bahn-Verbindung in die Stadt. Komm mich endlich besuchen. Schließlich war ich vor fünf Monaten auch kurz drüben, ich meine, zu Hause. Diese blöde Luftpost, Ewigkeiten dauert es, bis deine Briefe ankommen. Und das Telefon! Dieses Rauschen und Knistern, das macht mich verrückt. Das reicht nicht, verstehst du? Wenn ich nicht das Foto von uns beiden in unseren ersten Weihnachtsferien hätte – weißt du noch? Beim Fondue in jener Berghütte? – dann wüsste ich nicht einmal mehr, wie Du aussiehst! Es ist Zeit, dass Du rüberkommst, Katharina. Der Abstand, der tut uns nicht gut … Doch zurück zum Angebot. Als ich hierher kam, dachte ich, dass ich nur mal die große weite Welt ein bisschen kennen lernen und dann wieder nach Hause kommen würde. Aber jetzt …

Katharina spülte einen dicken Kloß im Hals mit einem kräftigen Schluck herunter. Jene Ferien. Zum ersten Mal mit ihm Hand in Hand. Zum ersten Mal seine Haut an ihrer Haut. Seine verwuschelten Haare beim Aufwachen. Sein Lachen, das nur ihr galt. Sie hatten es ernst gemeint! Und jetzt?

Jetzt weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr, was ich machen soll. Das Jobangebot in England ist eine riesige Chance. Sie wollen mich und weißt du warum? Weil ich das Rechtssystem und die Sitten auf dem Kontinent – wie sie es nennen – kenne! Ist das nicht zum Lachen?

Nein, war es nicht. Ein Jahr weg und schon hatte er sich dort eingelebt. Sein einstiges Zuhause hieß nun drüben, und drüben war sein Zuhause. „Das reicht nicht“, hatte er geschrieben. Er hatte gespürt, wie die Entfernung sie unmerklich, aber unaufhaltsam auseinandertrieb. Hätte sie es verhindern können? Wie denn? Eine 45-Stunden-Woche in der Kanzlei, dazu büffeln für die Anwaltsprüfung. Sie konnte unmöglich weg. Und dann war noch … Ungewollte Bilder drängten sich vor. Die schrecklichen Krämpfe, das Martinshorn.Nein, das hätte ihn nicht zurückgeholt. Nicht auf Dauer.

Sie schenkte sich ein weiteres Glas Eierlikör ein. Was tue ich mir hier nur an? So viele Worte, um im Grunde nur eines zu sagen: Ich liebe dich nicht genug, um zurückzukommen. Sie nahm noch einen Schluck. Schmeckte den Alkohol hinter der cremigen Süße. Verführerisch, gefährlich und so hilfreich, wenn man etwas Mut brauchte. Was? Du wirst doch nicht mittendrin aufgeben? Bring das hinter dich. Danach kannst du den Brief zerreißen, verbrennen und vergessen. Sie atmete tief ein. Das schaffst du.

Andererseits, Katharina; die Vorstellung, die Schweiz definitiv zurückzulassen, das ist schon schwerwiegend. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Wie siehst Du es?

Ich? Das Blut schoss ihr in die Wangen. Sie sprang vom Sofa auf, warf die Blätter auf den gläsernen Couchtisch und tigerte mit heftigen Schritten vom Wohnzimmer zum Esszimmer und zurück; wieder und wieder. In ihr brodelte die Wut.

Was fragte er mich? Er hatte im Grunde schon entschieden. Der Beweis? Totenstille. Keine weiteren Briefe, kein Anruf. Nach all den Versprechen das Nichts. So viel war ihm ihre Liebe wert gewesen. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, packte ein Sofakissen und warf es zu Boden. Jetzt ist alles anders. Ich bin 49 Jahre alt. Ich habe mir ein Leben aufgebaut. Ohne ihn. Ich werde mich von einem uralten Brief nicht herunterziehen lassen. Nur noch ein paar Zeilen, dann weiß ich alles, was ich zu wissen brauche. Und dann: weg damit! Sie hob die Blätter auf und las im Stehen weiter, wie bereit, die Flucht zu ergreifen.

Katharina, ich weiß nicht, wie ich es Dir sagen soll. Ich möchte Dir keine schlaflosen Nächte bereiten. Du solltest keine solch schwierige Entscheidung treffen müssen, aber ich muss Dich etwas fragen. Lass Dir für Deine Antwort Zeit. Aber nicht zu viel Zeit, ja? Ich muss in spätestens zwei Wochen klar wissen, was ich tun soll.

Sie wollte seine Frage nicht erfahren. Ihre Antwort würde in der Leere längst vergangener Zeiten verhallen und den Abgrund, der heute zwischen ihnen lag, nie überbrücken können. Sie durchquerte das Wohnzimmer, betrat durch die offene Schiebetüre das Esszimmer und starrte zur Straße hinaus. Nichts bewegte sich. Die geparkten Autos warfen lange Schatten. Die Thuja-Hecke der Nachbarn ragte dunkel in den blassgoldenen Himmel auf und irgendwo weinte ein Kind. Sie drehte sich um und ging in die Küche, wo sie ein weiteres Glas Wasser trank, als wäre sie am Verdursten. Widerwillig kehrte sie ins Esszimmer zurück, doch auf der Straße war alles unverändert. Wieder im Wohnzimmer, stand sie gedankenverloren am französischen Fenster und sah in den Garten hinaus, ohne ihn wahrzunehmen. Bring das zu Ende. Jetzt. Zögerlich ließ sie sich wieder auf das Sofa nieder.

Katharina, könntest Du Dir vorstellen, hierher zu ziehen? Ich meine, zu mir? Ich weiß, die Frage ist ungeheuerlich. Ich habe lange überlegt, ob ich sie Dir überhaupt stellen darf. Mir liegt viel an dieser Jobmöglichkeit in England und dennoch, Katharina, ich glaube, das weißt Du ja schon, aber ich kann es nicht oft genug wiederholen: Du bist die Frau meines Lebens, ich liebe Dich, seit dem ersten Tag, als ich Dir begegnet bin. Und solltest Du diesen Schritt nicht wagen, komme ich in die Schweiz zurück, zu Dir.

Sie legte den Brief auf den Tisch und glättete ihn mit zitternder Hand wieder und wieder, starrte ihn blicklos und ohne zu blinzeln an. In ihrem Kopf war nichts. Ein Vogel zwitscherte. Ein Auto fuhr vorbei. Musik wehte herüber. The show must go on. Ihre Lippen bebten. Immer noch strich ihre Hand mechanisch über das Papier. Ihr Körper war wie zu Stein erstarrt. Nach einer Ewigkeit schob sie die Blätter sorgsam in den Umschlag zurück, erhob sich, stieg Stufe für Stufe die Treppe hoch, legte den Brief zuhinterst in die Schublade ihres Schreibtischs und verließ ihr Arbeitszimmer, ohne zurückzublicken.

Als die Haustür aufging und schwungvoll zufiel, trat Katharina mit einem Stapel gebügelter Hemden in den Flur. Schuhe rollten ihr entgegen. Die Gesichter ihrer Männer glänzten, die T-Shirts klebten ihnen auf dem Rücken und bei Markus am Bauch. Kein schöner Anblick.

„Wir haben gewonnen!“ Markus drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Er strahlte. „Sohnemann, ein richtig kaltes Bier gefällig?“

Sebastian folgte ihm in die Küche. „3:2. Mann, war das knapp! Aber was soll’s, wir haben die Punkte. Und Young Boys hinter uns gelassen. Wir werden Meister!“

Katharina hörte sie lachen. Sie deponierte die Hemden auf die Kommode im Flur. Zurück im Wohnzimmer, fläzte sich Sebastian aufs Sofa und nahm einen langen Schluck aus der Flasche. „Ah! Das tut gut. Mama, was gibt’s zum Abendessen?“

Essen. Sie stand einen Moment mit hängenden Armen in der Tür. Ihr Kopf suchte nach einer passenden Antwort, aber da war nichts.

„Der Hotdog war kein Highlight“, sagte Markus.

Sie betrachtete wie sein Kehlkopf beim Trinken auf und ab hüpfte.

„Und die Pommes, Mama, die hättest du nicht angerührt“, ergänzte Sebastian.

Essen. Klar. Katharina straffte die Schultern. „Wurst und Brot. Wir können einen griechischen Salat machen, wenn ihr wollt.“

Sebastian rümpfte die Nase, aber Markus stand auf und schlug ihm auf die Schulter. „Komm, Junge, was Gesundes. Ich mache mal die Salatsoße und du schneidest eine Gurke. Kati, haben wir noch ein Knoblauch-Baguette in der Gefriertruhe?“ Gemeinsam gingen sie Richtung Küche davon, die Bierflaschen immer noch in der Hand.

„Wie Delgado diesen Pass entgegengenommen hat!“, hörte sie Sebastian schwärmen.

„Und Schwupps, drin war er.“

„Der Torhüter schaute schön blöd aus der Wäsche.“ Sie lachten.

Keiner der Männer bemerkte, wie still sie beim Essen blieb. Danach verschwand Sebastian in seinem Zimmer. Sie setzte sich ins Wohnzimmer, ein Buch auf dem Schoß, und betrachtete durch die offene Tür Markus, der pfeifend mit dem Gartenschlauch durch den Garten schlenderte. Wenn er wüsste.

„Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen? Du bist so schweigsam“, fragte er, als sie zu Bett gingen.

Sie schüttelte das Kissen, ohne aufzublicken. „Ich bin müde“, sagte sie schnell. „Bei dieser Hitze war das Aufräumen anstrengend.“

„Du hättest es verschieben können.“

Ja. Und der Brief hätte sich verflüchtigt? Sie drückte ihm im Bett einen Kuss auf die Lippen und löschte das Licht, damit er ihr Gesicht nicht sah.

Kapitel 2

Doch an Schlaf war nicht zu denken. Sie lag auf dem Rücken, starrte an die Decke und zwang sich zu einem Mantra, dem sie selbst nicht glaubte. Morgen ist ein neuer Tag. Alles wird gut. Morgen … Ihre Bauchmuskeln, ihr Rücken schmerzten vor Anspannung. Ihr Atem war flach. Markus drehte sich im Schlaf um und legte einen Arm über ihren Bauch. Ganz langsam schob sie seinen Arm zurück. Er wachte nicht auf. Draußen zirpten die Grillen. Sie rollte sich zur Seite zu einem Päckchen zusammen. Doch die Stellung schnürte ihr die Luft ab, ihr Herz begann wild zu klopfen, der Schweiß brach ihr aus. Wo war der verdammte Inhalator? Nie da, wenn sie ihn brauchte! Sie tastete sich durch das abgedunkelte Zimmer zur Tür, hetzte keuchend ins Wohnzimmer hinunter, wo sie ihn auf dem Couchtisch liegend fand und einen tiefen Atemzug nahm. Sie ließ sich aufs Sofa nieder. Wartete, sie wusste nicht worauf. Sie mochte noch nicht ins Schlafzimmer zurückkehren, den leise zischenden Atemzügen ihres Mannes lauschen, wach liegen bis in den frühen Morgen. Hier fühlte sie sich weniger allein, wohler, geborgen. In einer Umgebung, die ihr auch in der Dunkelheit vertraut war. In der Glasvitrine gegenüber spiegelte sich das Mondlicht und warf blasse Muster auf den Perserteppich. Das Parkett schimmerte matt. Aus dem Halbdunkeln trat ein geschwungenes Sesselbein scharf hervor. Langsam beruhigte sich ihr Atem, entspannten sich ihr Kiefer, ihr Bauch …

Tränen schossen in ihre Augen hoch. Ein Schluchzen packte sie, schüttelte sie, wollte sie nicht mehr loslassen. Sie riss ein Sofakissen an sich, drückte ihr Gesicht darin, wiegte sich vor und zurück. Sie wollte diesen jammernden Laut nicht hören, der aus ihr selbst kam. Alexander. Warum hast du nicht nachgefragt? Wir hätten … 25 Jahre! Und ich dachte … Warum habe ich nichts unternommen, damals? Hätt ich doch! Nein, konnte ich nicht. Ich glaubte, er liebt mich nicht mehr. Liebte er mich? Aber …. dann hätte er doch … Er hat mich aufgegeben. Das muss ein Albtraum sein. Ich werde daraus erwachen, bestimmt. Das halte ich nicht aus. Oh, Papa, was hast du mir mit deinem Chaos angetan!

Allmählich ebbte ihr Schluchzen ab und versiegten ihre Tränen. Sie richtete sich benommen auf, strich sich die feuchten Strähnen aus dem Gesicht und wischte die letzten Spuren weg. Sie legte das Kissen an seinen Platz zurück und tappte in die Küche, wo sie, ohne Licht zu machen, ein Glas Wasser in der Hand, sich ans Fenster stellte. Im Mondlicht warfen die Bäume lange Schatten, ein paar Wolken hoben sich blass vom Himmel ab, Sterne funkelten in der Ferne. Es war unfassbar. Ein nicht ausgehändigter Brief hatte ihr Leben in eine völlig andere Richtung gelenkt. Und sie hatte es bis heute nicht geahnt.Während sie in die Nacht hinaussah, stellte sie sich vor, wie ihr Leben hätte sein können. Alexander und sie, Arm in Arm im Garten eines Vororthäuschens; eine gemeinsame Kanzlei; eine Tochter blond und lebenslustig wie ihr Vater – Victoria hätten sie sie genannt.

Was soll jetzt aus meinem Leben werden? Wie soll ich Markus begegnen? Ich habe ja zu ihm gesagt. Ich liebe ihn doch. Aber Alexander … vielleicht sieht er diese Sterne, betrachtet er gerade den Mond und weiß nichts!

Stille Tränen liefen über ihre Wangen. Sie legte das kühle Glas an ihre heiße Wange. Er braucht meine Antwort nicht mehr. Jahrzehnte zu spät. Sicher hat er Frau und Kinder. Ich muss diesen Brief vergessen. Alexander endlich vergessen.

Oben lief die Toilettenspülung. Hastig wischte sie sich die Tränen weg. Die fünfte Treppenstufe knarrte und in der Küchentür erschien Markus mit verwuschelten Haaren. „Ich habe mit dem Bier übertrieben. Aber was machst du da?“

Sie senkte den Blick, damit er ihr nicht in die Augen sah. „Ich konnte nicht schlafen. Vielleicht der Vollmond?“

Markus trank ein paar Schluck Wasser direkt aus der Leitung und trat neben sie ans Fenster. Sie spürte seine Wärme. Ein Schritt und sie hätte sich an ihn schmiegen, den Kopf an seine Schulter legen können. So tun, als wäre nichts geschehen. Sie wandte den Kopf ab und trank ihr Glas aus. „Gehen wir schlafen.“

Er trat zur Seite. „Ja.“

Im Bad wusch sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser, ohne in den Spiegel zu blicken. Markus lag mit dem Rücken zu ihr, als sie sich vorsichtig wieder hinlegte, sich zusammenrollte und die Decke bis zu den Augen hochzog. Morgen ist ein neuer Tag.

Der Tag mochte neu sein, aber die Gefühle nicht. Vom Moment an, als sie die Augen aufschlug, wusste sie: Sie würde kämpfen müssen. Gegen die Erinnerungen, die Sehnsucht, die wie ein ziehender Schmerz durch ihren Körper zog. Gegen ihren Groll. Eine ungerechte Gereiztheit gegenüber Markus. Und gegen das Gefühl, ihr wahres Leben verpasst zu haben. Sie würde Gegensteuer geben müssen, wenn ihr ihre Ehe etwas wert war.

Markus köpfte sein Drei-Minuten-Ei. Das kratzende Geräusch von Metall auf Eierschale ließ Katharina erschauern. Sebastian hielt in seiner Streichbewegung inne.

„Papa, dieses Geräusch! Warum klopfst du das Ei nicht wie alle Leute auf?“

Katharina warf ihm einen warnenden Blick zu. „Lass deinen Vater in Ruhe. Er sagt auch nichts, wenn du dir die Leberpaste zentimeterdick aufs Brot streichst.“

Markus lachte. „Stimmt. Und ich bin nicht alle Leute, mein Junge.“ Er nahm den Löffel in die Hand.

Sie nippte an ihrem Kaffee und wartete, bis er sein Ei genüsslich ausgelöffelt hatte. Dann würde sie den Vorschlag bringen, den sie gestern Nacht überlegt hatte. Oder wenn er den Orangensaft ausgetrunken hatte?

Er nahm einen Schluck Kaffee und griff nach einem Croissant. „Ein herrlicher Tag. Dolce far niente. Sonne, Garten, Lektüre. Ein gutes Essen. Was will man mehr? Ich frage euch?“

Katharina ergriff die Gelegenheit. „Wenn du von Essen sprichst. Wie wär’s, wenn wir wieder mal auswärts essen gehen würden? Nur wir zwei? Ein bisschen wie früher?“

Sebastian warf ihr einen amüsierten Blick zu. Sie fühlte die Röte in ihre Wangen aufsteigen. Markus bestrich sein Croissant mit Butter und Marmelade. „Für den Preis eines mittelmäßigen Menüs im Restaurant kann man sich heute zuhause ein Fünf-Gang-Menü zusammenstellen. Hinzu kommt der Wein, der ein Vermögen kostet, wenn es sich nicht um billigen Fusel handelt. Dann die Parkgebühren. Ich kenne kaum eine autofeindlichere Stadt als Basel. Und das Essen selbst. Vorgekocht, aufgewärmt, von äußerst fraglicher Qualität.“

„Papa, du übertreibst.“

„Nein. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich muss oft genug geschäftlich auswärts essen.“

Das alles, um zu sagen, dass er keine Zeit mit mir allein verbringen will. Seine Liebe ist grenzenlos! Sie stellte ihre Tasse betont langsam ab. „Was ich meinte, Markus, ist, dass wir schon lange nichts Gemeinsames mehr unternommen haben. Als Ehepaar. Wir könnten so unseren Hochzeitstag … nachfeiern?“

„Mama hat recht, Papa. Ich gehe mit Christina ins Kino, zu Mc Donald’s, Fahrradfahren … aber ihr? Ihr geht nicht einmal zusammen spazieren.“

Markus spülte den letzten Bissen Croissant mit einem Schluck Kaffee herunter, wischte sich den Mund ab und faltete die Serviette umständlich zu einem perfekten Viereck zusammen. „Danke für deine scharfe Analyse, Sebastian. Ich seh schon. Ich bin hier in der Unterzahl. Ich habe einen Vorschlag, Kati. Unser Sohnemann ist ohnehin die halbe Zeit bei Christina. Nächsten Freitag verzichte ich mal auf den Stammtisch, koche uns was und du suchst uns einen Film aus. Einverstanden?“

Sie starrte auf ihren Teller. Zuhause! Versteht er nicht? Wie romantisch ist das denn? Hier wird er mich nicht mal anschauen. Eine andere Atmosphäre, das brauchen wir. Raus aus dem Alltagstrott. Ich darf den Film aussuchen. Toll. Warum muss er dazu gedrängt werden, den Abend mit mir zu verbringen? Ist das so furchtbar? Aber er gab sich ja Mühe. Das musste sie honorieren. Zeig etwas Begeisterung. Sie nickte und rang sich ein Lächeln ab. „Einverstanden.“

Kapitel 3

Die Dachterrasse der Kanzlei gehörte zu Katharinas Lieblingsorten. Sie liebte den Blick über die krummen Dächer der Basler Altstadt und die Hinterhöfe, in denen winzige Gärtchen ein verborgenes Dasein führten. Hier ein Fleckchen Gras, dort einige Kübelpflanzen, manchmal eine Linde oder eine Kastanie. Schräg gegenüber ein eiserner Gartentisch und ein paar Klappstühle, auf denen sich zwei Katzen sonnten. Von der Gasse drang Gelächter herauf und verlor sich im blassblauen Himmel. An der gotischen Turmspitze der Elisabethenkirche hing ein weißes Wölkchen wie ein Rauchzeichen. Katharina nippte schweigend an ihrem Kaffee, während sich Paula, die Notarin mit der dunklen Mähne, den roten Lippen und hohen Absätzen, und die blonde Angela, ihre gute Fee seit 16 Jahren, entspannt unterhielten.

Heute konnte sie dem Gespräch der beiden nicht folgen. Markus’ zögerliches Verhalten wollte ihr nicht aus dem Kopf. Ist das ein Zeichen? Vielleicht … ja, vielleicht liebt er mich nicht mehr. Was weiß ich denn? Er sagt ja nichts. Immer hinter seiner Zeitung, seinen heiligen Zeitschriften. Wein und Garten. Und die Politik. Den Fußball nicht zu vergessen. Die sind ihm lieber als seine Ehefrau. Ist das denn noch Liebe? Und … ach, ich weiß nicht. Und ich? Liebe ich ihn denn noch? Den Blick ins Weite gerichtet, drehte sie ihre Kaffeetasse in den Händen hin und her. Ich vermisse … Gespräche, Lachen, Vertrautheit, wie damals mit Alexander.

Eine Berührung ließ sie zusammenzucken. Ihr Kaffee schwappte über den Tisch. Paula zog ihre Hand zurück. „Sorry! Du bist doch nicht zur Salzsäule erstarrt.“

Angela beugte sich vor. Im Sonnenlicht leuchtete ihr kurzes Haar golden. „Ich würde gerne übermorgen frei nehmen. Paula hat nichts dagegen.“

„Klar, von mir aus. Was hast du denn vor?“

Angela lächelte. „Mein Partner hat Geburtstag und ich will ihn überraschen. Man wird nicht jedes Jahr 40.“

Katharinas Magen verkrampfte sich. „Ihr seid schon lange zusammen, nicht?“

„Das verflixte siebte Jahr. Aber es fühlt sich jeden Tag neu an. Er schafft es immer wieder, mich zum Staunen und Lachen zu bringen. Und er liebt Überraschungen.“

„Wenn das nicht Liebe ist“, sagte Katharina trocken und schämte sich im gleichen Moment. Schließlich kann Angela nichts dafür, dass ich für Markus Luft bin und den Brief entdeckt habe.

„He, was ist los mit dir heute?“ Paula zog die Stirn in Falten.

„Es tut mir leid. Ich hab’s nicht so gemeint.“

Doch Angela hatte den Kopf abgewandt und trank ihren Kaffee schweigend aus.

„Angela, ehrlich. Ich freue mich für dich.“

Paula lehnte sich in den Stuhl zurück, doch Angela stand auf. „Die Arbeit ruft.“ Die Terrassentür fiel hinter ihr mit einem lauten Klick ins Schloss und sie blieben allein zurück.

„Hängt der Haussegen schief?“

Katharina fuhr mit dem Finger einen Fleck auf dem Holztisch nach.

„Es ist nichts.“

„Klar. Wie lange führen wir diese Kanzlei schon? 20 Jahre? Ich erkenne es von Weitem, wenn dir eine Laus über die Leber gelaufen ist. Mach einfach den Mund auf.“

Katharina griff nach der Tasse und stellte sie nach einem Blick in den kalt gewordenen Kaffee angewidert wieder ab. Vertrauliche Gespräche mit Paula waren selten. Außerdem hielt diese Markus für einen Macho. Es war nicht fair, mit ihr hinter seinem Rücken über ihn zu reden. Und doch … „18 Jahre“, sagte sie.

„Eben.“

„Es ist wirklich nichts.“

Ein plötzlicher Luftstoß spielte mit ihren Haaren, streichelte ihre Wange wie eine Liebkosung. Einen Moment lang glaubte sie, einen Duft nach Sandelholz zu riechen. Jetzt mach mal halb lang. Komm nicht auf die Idee, Markus vergleichen zu wollen. Er ist nicht wie Alexander. Sie stand abrupt auf. „Mein Termin wartet.“

Die neue Klientin war eine Frau in Katharinas Alter. Katharina streckte ihr die Hand entgegen. Kaum gereicht, zog die Frau ihre Hand wieder zurück und folgte ihr in ihr Büro.

„Bitte, nehmen Sie Platz.“ Katharina rückte die Wiesenblumen in die Mitte des Besprechungstisches und setzte sich. Ihr Blick blieb eine Sekunde am Bild an der gegenüberliegenden Wand hängen. Wogendes grünes Licht über einer verschneiten Landschaft. Polarlichter, Hundeschlitten. Lappland.

Sie riss sich vom Bild los, wandte sich zur Klientin und ließ diese kurz auf sich wirken. Frau Schweigthaler saß kerzengerade, die Hände flach auf den Besprechungstisch gelegt und wartete, dass Katharina das Gespräch eröffnete. Vor dem Fenster jagten die Mauersegler mit schrillen Pfiffen. Im Westen türmten sich die Wolken seit dem Mittag und verdunkelten allmählich den Himmel. Die Luft stand und Katharinas Bluse klebte ihr unangenehm am Rücken. Ihre Mandantin aber sah aus wie aus einer Modezeitschrift entstiegen. Eine Haut wie Samt, kinoreife Wimpern, schulterlanges, perfekt blondiertes Haar, und eine Figur, vor der sich Katharina fett vorkam. Wie ungerecht! Sie zupfte an ihrer Bluse. „Darf ich Ihnen einen Kaffee oder Wasser anbieten?“

„Gerne einen Kaffee. Bitte wenn möglich mit Milch.“

Katharina verschwand in die Teeküche, erleichtert, dem seltsam kalten Blick dieser Frau zu entkommen. Seufzend kehrte sie in ihr Büro zurück, stellte den Kaffee vor die Frau hin und nahm einen Schluck Wasser. Und dieses Parfum! Ich hasse Moschus.

„Sie möchten sich also von ihrem Mann trennen. Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?“

Frau Schweigthaler hob eine Augenbraue. „Er ist nie da. Die Firma über alles! Amalie und ich existieren nicht.“

Ein fernes Grollen erfüllte die Luft. Ja. Auch ich bin Teil der Einrichtung geworden.

„Ich verstehe. Wie alt ist Ihre Tochter? Haben Sie sich Gedanken darüber gemacht, wo sie leben wird? Und haben Sie schon eine Wohnung?“

Frau Schweigthaler trank ihren Kaffee in einem Zug. Die Tasse schlug hart auf der Untertasse auf. Katharina zuckte zusammen.

„Meine Tochter braucht mich. Er hat keine Zeit für sie. Er würde mit ihren Gemütsschwankungen nicht zurechtkommen. Sie ist seit Monaten so niedergeschlagen. Mit 14 braucht ein Mädchen die Mutter. Sie wird ihn nicht vermissen. Wir bleiben natürlich im Haus.“

Katharina warf einen Blick auf die erste Seite der Akte und sah die Adresse. In einer Villa auf Basels Goldhügel würde ich auch bleiben wollen. Ob der Ehemann diese so kampflos hergibt?

„Ihr Mann wünscht auch eine Trennung?“

Frau Schweigthaler lachte trocken. „Das wird er. Er wird das mit Ramon nicht akzeptieren.“

„Ramon?“

„Mein Freund. Seit einem Jahr.“

Das Sonnenlicht erlosch wie eine Lampe. Aus der tiefgrauen Wolkenwand drang lautes Donnern.

„Warum ziehen Sie nicht zu Ihrem Freund?“

„Amalie würde keinen Schulwechsel ertragen. Und die Hunde brauchen den Auslauf im Garten.“

„Aber …“

Frau Schweigthaler lehnte sich vor. „Ich weiß, was Sie denken: Ich bin die Schuldige, ich soll das Feld räumen. Aber warum sollte ich? Amalie und ich, wir sind zwei. Und die Hunde. Mein Mann ist nie zu Hause. Er würde das Haus nicht vermissen.“ Sie lehnte sich wieder zurück. „Wäre er mit mir statt mit seiner Firma verheiratet, dann säße ich nicht hier. Was hätten Sie an meiner Stelle getan?“

Wie? Ein Blitz zuckte durch die Wolkendecke. Was erlaubte sich diese Frau! Was weiß die schon, was ich denke? Ich bin nicht wie sie. Ich habe ein Gewissen. Und was war das denn vor 13 Jahren? Das war nichts. Ich habe die Konsequenzen getragen. Trage sie immer noch. In ihrem Magen kribbelte es. Die Frau glaubte, auf alles ein Anrecht zu haben. Den Lover, das Haus, die Tochter, die Hunde. Dieses Mandat konnte sie unmöglich annehmen.

„Ach, und Amalie und ich brauchen einen standesgemäßen Unterhalt.“

Und das Geld.

Ein Donnerschlag zerriss die Luft. Ein Windstoß knallte das Fenster gegen die Wand. Katharina sprang auf und schloss es energisch. Diese Frau ist eine potenzielle Klientin, selbst wenn sie dir jetzt total unsympathisch ist. Sie kehrte zum Tisch zurück, setzte sich auf die Stuhlkante, verschränkte die Hände und lächelte freundlich. „Ich glaube, ich verstehe Ihre Situation. Sie waren immer da, für Ihren Mann, Ihre Tochter, das Haus und die Hunde, und was haben Sie zurückbekommen? Ein sicheres Leben, ja, aber ein Leben ohne Leidenschaft, oder? Und Sie fragen sich, ob das alles gewesen sein soll?“

Frau Schweigthaler blinzelte und schwieg einen Moment. Sie räusperte sich. „Ja.“

„Haben Sie daran gedacht, dass sich Ihr Mann diese Fragen vielleicht auch stellt?“

„Sicher nicht.“

„Woher wissen Sie das?“

„Er spricht nicht darüber.“

„Und Sie?“

Ein weiterer Blitz durchschnitt den Himmel, Donner zerriss die Wolken wie Leintücher.

„Es lohnt sich nicht.“

Ein inneres Bild huschte vorbei. Markus und sie im Wohnzimmer. Er in seine Weinzeitschrift Merum vertieft, sie in ihr Buch. Wann hatten sie das letzte Mal ernsthaft miteinander geredet? Sie verscheuchte den Gedanken. „Ich schlage Ihnen etwas vor. Reden Sie zuerst mit ihm. Gehen Sie zusammen zu einer Eheberatung. Denken Sie an Ihre Tochter. Sie braucht ihren Vater.“

Sie saßen einen Moment da, ohne zu sprechen. Sie lauschten dem Regen, der gegen die Scheiben prasselte und hinter dem die Außenwelt zu einem grauen Nichts verschwamm.

Wenn ich wüsste, was hinter diesen blauen Augen vorgeht.

„Das wird nichts nützen.“

„Wissen Sie, was die Menschen irgendwann im Leben bereuen?“

Die Klientin schüttelte den Kopf.

„Etwas nicht getan oder zumindest versucht zu haben.“

Frau Schweigthaler wandte den Kopf zum Fenster. Ihre Kieferknochen mahlten. „Sie meinen: Ich soll es für Amalie tun?“

„Ja, für Ihre gemeinsame Tochter. Ich habe als Anwältin die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, Dinge auszusprechen. Das kann ein anderes Licht auf eine Situation werfen.“

Die Klientin schwieg. Ihre manikürten Finger spielten mit dem Verschluss ihrer Handtasche. „Ich weiß nicht. Es ist zu spät!“

„Ich habe Paare erlebt, die sich an ihrer Scheidungsverhandlung versöhnt haben. Alles ist möglich. Es ist selbstverständlich Ihre Entscheidung.“

Frau Schweigthaler runzelte die Stirn, sah zum Fenster und ließ den Blick durch das Büro schweifen. Sie betrachtete die Blumen auf dem Tisch und drehte ihre leere Kaffeetasse gedankenverloren hin und her. Dann stand sie auf, strich imaginäre Falten aus ihrem Kleid und sah auf Katharina herunter. „Wenn Sie meinen. Ich werde versuchen, mit ihm zu sprechen.“ Ihre hohen Absätze klapperten durch den Flur. Sie zog die Kanzleitür mit festem Griff hinter sich zu und Katharina folgte dem Geräusch des kommenden und gehenden Lifts.

Angela erschien in der Tür. „Darf ich?“

Katharina unterdrückte einen irritierten Seufzer. Wann würde sie endlich ihre Ruhe haben, um die nächsten Wochen zu planen? „Sicher.“

„Leider was Unangenehmes. Die Mandantinnen Schmitt und Tobler haben noch nicht bezahlt. Das sind doch über 5.000,00 Franken und …“

„Schick ihnen eine Mahnung. Mach dir keine Gedanken. Eine unbezahlte Rechnung bringt uns schon nicht um.“

Angela verließ ohne ein weiteres Wort das Büro, aber ihre Skepsis war nicht zu übersehen. Katharina biss sich auf die Unterlippe und ließ ihren Stift zwischen zwei Fingern kreisen. Mist.Die Zahlungsmoral hat sich verschlechtert. Das sagen auch die Kollegen. Sie zog ihre Agenda heran und sah die Termine der nächsten Wochen durch. Drei Gerichtstermine, vier Besprechungen mit neuen Klientinnen, zwei mit bestehenden, dann die Plädoyers. Sie hatte bis heute keine Zeile davon geschrieben. Vom Aktenstudium nicht zu reden. Die nächsten Wochen waren ausgebucht. Das Geld wird schon noch fließen.

Sie klappte die Agenda zu. Das Bild von Frau Schweigthaler tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Hat der Mann denn nichts bemerkt? Wenn er sie noch lieben würde, würde er die Veränderung in ihr zumindest spüren, oder nicht? Wird Markus merken, dass sich bei mir etwas verändert hat? Sie verscheuchte den Gedanken, öffnete ein neues Dokument und begann, das nächste Plädoyer zu entwerfen.

Kapitel 4

Auf der Terrasse des Train Bleu fand Katharina einen Tisch mit Blick auf den Bahnhofsplatz mit seiner unsäglich wirren Verkehrsführung. Gerade schwärmten Hunderte von Pendlern aus dem Bahnhof in alle Richtungen aus und mitten durch sie hindurch kreuzten sich klingelnd die Straßenbahnen. Besonders mutige Radfahrer schlängelten sich zwischen Trams und Fußgängern über den Platz und die Verkehrsführung für Sehbehinderte und Blinde grenzte an Hohn. Katharina konnte sich nicht vorstellen, dass ein Blinder heil über den Platz kommen konnte.

Sie sah Constanze von Weitem kommen. Bunt wie ein Paradiesvogel, winkend, erstürmte sie die Terrasse und ließ sich nach einer herzlichen Umarmung in ihren Stuhl fallen. „Mensch, Katharina, ich bin erledigt. Dieser Mittwoch war die Hölle. Alle wollen gleichzeitig in die Ferien, am besten kostenlos und all inclusive. Furchtbar. Aber ich hatte ein Traumwochenende, das sage ich dir. Beat kennt sich mit Frauen aus wie kein anderer, wenn du verstehst, was ich meine.“ Sie kicherte.

Katharina sah zu den Oleandern hinüber, die in überdimensionierten Kübeln die Wartezonen der Straßenbahnen zierten. So genau wollte sie es nicht wissen.

Nachdem der Kellner, der Katharina an einen Pinguin erinnerte, ihre Drinks gebracht hatte und davon gewatschelt war, hob Constanze ihr Glas und beäugte sie kritisch. „Endlich Feierabend. Cheers! Ich glaube, du brauchst unbedingt eine Stärkung. Du hast schon besser ausgesehen. Also, was wolltest du mir erzählen?“

Katharina lächelte gequält. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Und wenn es ein Fehler war, Constanze ins Vertrauen zu ziehen? Ihr Rat war manchmal wie sie: impulsiv und wenig durchdacht. Vor dem Bahnhofseingang spielte eine Gruppe Musiker fetzigen Jazz. Constanze schlug mit dem Fuß den Rhythmus mit und lächelte. Katharina warf sich ins kalte Wasser. „Markus und ich, wir leben im Moment nebeneinander statt miteinander und ich weiß nicht, wie ich das ändern kann.“

Constanzes Fuß stockte. „Oha. Es ist doch nicht alles Gold, was glänzt?“

„Sehr witzig.“

„’Tschuldigung.“ Constanze lächelte schief. „Du hast alles, was ich mir gewünscht hätte. Einen gutaussehenden und erfolgreichen Mann, ok, den Macho lassen wir mal beiseite, ein Haus, eine eigene Firma und einen vielversprechenden Sohn. Und ich wäre mit einem Bruchteil davon zufrieden.“

„Du wirst Mr Right schon noch begegnen, Constanze. Aber ehrlich: Ich habe ein Riesenproblem und brauche dich.“

Constanzes Augenbrauen schnellten in die Höhe. „Echt? Dann muss es was Ernstes sein. Bist du krank?“ Die Stirn in Falten gelegt, betrachtete sie Katharina über ihren Drink hinweg.

Katharina schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Es geht mir gut. Nur …“, sie zögerte kurz, „es ist was passiert.“ Und in stockenden Worten erzählte sie vom Brief.

„Ich bringe es nicht über mich, ihn zu vernichten. Er ist das einzige Erinnerungsstück, das ich von ihm habe. Neben der Halskette und dem Foto.“

„Mensch, Katharina! Das ist nicht zu glauben! Sowas habe ich im Leben noch nie gehört. Ich bin ganz baff. Ehrlich.“

„Ich war bereits von zu Hause ausgezogen. An den Weiterleitungsauftrag für die Post hatte ich nicht gedacht. Es ist meine Schuld.“

Constanze schüttelte den Kopf. Eine blonde Locke fiel ihr in die Stirn. Sie schob sie hinters Ohr. „Nein. Es ist Schicksal. Und dass du ihn gefunden hast, das hat etwas zu bedeuten.“

„Ach Constanze. Du weißt doch. Ich glaube nicht an das Schicksal.“

Sie nippten schweigend an ihren Drinks, während vor ihnen eine Tram anhielt, ihre Türen öffnete und die Fahrgäste herausströmten.

„Stoßen wir darauf an“, sagte Constanze.

„Worauf?“ Katharina runzelte die Stirn.

„Auf die Liebe!“

„Die habe ich doch schon. Seit 24 Jahren.“

Constanze verzog das runde Gesicht und winkte dem Kellner. „Diese? Ich meine: die große!“

„Er hat mich sitzen gelassen! Groß muss seine Liebe gewesen sein! Markus ist es, der mich geheiratet hat. Er hat für das Dach über meinem Kopf gesorgt, er hat mir das Startkapital für die Kanzlei geliehen, obwohl er Zweifel hatte, wegen Sebastian. Sind das nicht mehr Liebesbeweise, als Alexander jemals erbracht hat?“

„Beweise?“ Constanzes himmelblaue Augen waren ein einziges Fragezeichen. „Also, wenn du mich fragst: Wahre Liebe braucht keine Beweise. Sie ist. Punkt. Verstehst du? Wenn du nach Beweisen suchst, dann ist was faul. Glaub mir.“

Katharina seufzte innerlich. Da spricht die Richtige. 49 Jahre alt und immer noch Single. Aber sie weiß natürlich, was Liebe ist … Ok. Lass die Ironie. Sie meint es gut mit dir. Sie ist deine beste Freundin seit der Schule und Gold wert. Sie hob ihr Glas. „Dann auf die Liebe.“

Nach dem ersten Schluck beugte sich Constanze über den Tisch und flüsterte: „Du musst das Missverständnis klären, Katharina. Unbedingt. Er soll nicht den Rest seines Lebens im Glauben verbringen, dass du ihn hast sitzen lassen. Das wäre der Hammer. Das wäre grausam, meine Liebe. Das darfst du ihm nicht antun. Echt nicht. Schreib ihm.“

„Wie?“, entfuhr es Katharina. „Bist du verrückt geworden? Das ist unmöglich!“ Nach einem weiteren Schluck fügte sie heftig hinzu: „Was weiß ich denn, wo er lebt und überhaupt, ob er lebt!“

Constanze warf sich so in den Stuhl zurück, dass er gefährlich wankte. „Katharina! Von einer Anwältin hätte ich bessere Argumente erwartet. Ehrlich. Schon mal was von Google, Facebook und Cie gehört? Frag deinen Sohn. Aber ich helfe dir gerne, keine Frage. Diese Geschichte lass ich mir nicht entgehen. Ich kann Beat fragen, er ist Informatiker.“

Katharina fuhr auf. „Auf gar keinen Fall. Hörst du? Das erzählst du niemandem, und schon gar nicht irgendeinem deiner Typen, deren Namen ich immer gleich vergessen muss.“

Constanze erstarrte in ihrer Bewegung. Katharina spürte die Röte in ihre Wangen schießen. Toll gemacht. Sie hat den Richtigen noch nicht gefunden und du reibst es ihr unter die Nase. Eine wahre Freundin bist du. Minutenlanges Schweigen. Sie regten sich nicht. Sahen einander nicht an. Dann wechselten die Musiker vom Jazz zu einer leidenschaftlichen ungarischen Weise. Katharina streckte die Hand aus und legte sie auf Constanzes pummelige Hand. „Entschuldigung. Ich wollte dich nicht kränken.“

Constanze zog ihre Hand weg. „Hast du aber. Diesmal verzeihe ich dir. Das mit dem Gold war von mir auch nicht sehr nett. Aber ich meinte es ernst mit dem Schreiben. Wir finden seine Adresse heraus. Er ist doch Anwalt geworden, sagtest du? Sicher hat er eine Kanzlei, ein Büro, etwas in der Art.“

In der Tram starrte Katharina aus dem Fenster und begegnete nur ihrem Spiegelbild. Ihr Herz klopfte, in ihrem ganzen Körper war ein Kribbeln, ein Aufruhr, sie wusste nicht, sollte sie lachen oder weinen. Constanzes Vorschlag war verrückt, gefährlich. Wenn ich nichts unternehme, dann muss ich es nur mit mir selbst ausmachen. Wenn ich aber Alexander schreibe, dann setze ich womöglich etwas in Gang … Will ich das? Sie lehnte den Kopf an die kühle Scheibe.

Sie fühlte sich so zappelig, dass sie auf dem Weg nach Hause fast ins Rennen verfiel und den Schritt erst verlangsamte, als sie das Haus erreichte. Die erleuchteten Fenster warfen verzerrte Rechtecke auf die Gebüsche des Vorgartens. In der Tiefe der Gärten rief ein Käuzchen. Ihr Haus. Ihre Familie. Ihre Ehe.

Sie konnte Constanzes verrückte Idee nicht umsetzen. Ich muss vernünftig bleiben. Ich schreibe ihm nicht, egal, was Constanze meint. Ich will nichts riskieren. Fertig. Schluss. Amen. Ich vergesse das Ganze.

Auf einmal war das Kribbeln verschwunden. Stattdessen nahm eine bleierne Müdigkeit von ihr Besitz. Sie schleppte sich die Treppe hoch, schaute kurz bei Markus herein, der an seinem PC saß, und machte sich für die Nacht zurecht. Im Bett drängte sie ein Sehnen in ihrer Brust, das sich ihre Kehle hinauf bis in ihre Augen zog weg. Es war der richtige Entschluss.

Kapitel 5

Sie saß in der Kanzlei am PC und starrte ihren Bildschirm an, ohne den Text zu sehen. Und wenn Constanze doch recht hatte? Die große Liebe. Ha! Träum weiter. Du hast doch alles, was sich eine Frau wünschen könnte. Sagte doch Constanze. Was willst du mehr? Warum in längst verheilten Wunden stochern? Du kannst die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Alexander ist für dich so gut wie tot.

Katharina ertappte sich dabei, wie sie den gleichen Satz zum dritten Mal neu tippte. Auf der Straße hörte sie Autotüren schlagen, vermutlich eine Lieferung für das Café im Erdgeschoss, dessen Kaffeeduft sich manchmal bis zu ihr im fünften Stock verirrte. Ein Hund kläffte, ein Mann rief barsch einen Befehl. Gegenüber stand ein Fenster offen, an dem ein Paar in einer slawischen Sprache stritt. Sie warf sich in ihren Stuhl zurück, rückte in Gedanken verloren Stifte auf dem Tisch hin und her und stand auf. Unter ihren Schritten knarrte der Parkettboden. Jetzt die Pumps ausziehen und die Kühle des Holzes unter ihren Fußsohlen spüren! Sie seufzte. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der feuchten Stirn, stand vor dem Lapplandbild. Sich dorthin beamen lassen. Schnell mal woanders sein. Das wäre was. Sie schlenderte am Besprechungstisch vorbei zum Fenster, rückte im Vorbeigehen die Vase zurecht. Die Blumen ließen schon die Köpfe hängen, dabei hatte Angela sie gestern erst mitgebracht, die gute Seele. Sie spähte zwischen den Lamellen der Jalousien hinaus. Eine Erinnerung stieg in ihr hoch. Ihr letztes Wiedersehen, in ihrem Elternhaus. Er kam direkt vom Flughafen und begehrte nur eins. Sie. Seine Küsse auf ihrem Gesicht, ihrem Bauch, seine Finger und seine Zunge, sie hielt es nicht aus, wollte ihn mit Haut und Haaren spüren. Sie war für ihn empfänglich wie noch nie und als sie miteinander verschmolzen, gab es keinen Zweifel. Sie liebten sich! Warum hatte er nicht nachgefragt?

Sie holte sich in der kleinen Teeküche ein Glas Wasser und trat auf die Terrasse heraus, um frische Luft zu bekommen, aber der schattenlose Steinboden warf die Hitze erbarmungslos zurück. Wie sich der Sommer in England anfühlte? War er so kühl und regnerisch wie sein Ruf? Sie trank einen Schluck und schloss die Augen, während das Wasser kühlend durch ihre Kehle rann. Diese Wohltat!

„Katharina?“

Sie wirbelte herum. Angela stand in der Tür. „Frau Schweigthaler ist da. Ohne Termin.“

„Führe sie in mein Büro. Ich wasche mir nur schnell die Hände.“

Als sie zurückkehrte, saß die Frau am Besprechungstisch. Ihre Hände klappten ihre Handtasche mechanisch auf und zu.

„Er ist mitten drin aufgestanden und gegangen.“

Trotz der Hitze sah Frau Schweigthaler wieder aus wie dem Katalog entstiegen. Sie duftete penetrant nach Maiglöckchen. Katharina nieste. „Entschuldigung. Wo denn?“

„Bei der Eheberatung. Er ist ohne ein Wort hinausgegangen und hat nicht mal die Tür hinter sich geschlossen. Und er will mich aus dem Haus werfen! Ohne Amalie.“ Sie rührte heftig in ihren Espresso.

Eine Erinnerung blitzte vor Katharinas innerem Auge auf. Sie selbst, im Mantel, an der Haustür, ein Wochenendkoffer in der Hand und Markus’ Bellen: „Dann geh doch! Aber ohne Sebastian!“ Sie wandte sich ihrer Klientin zu. „Ohne Ihre Tochter?“

Aber Frau Schweigthaler hörte nicht zu. „Ich hätte ja meinen Lover, sagte er. Aber Ramon ist nicht irgendein Lover. Ich liebe ihn. Verstehen Sie das, Frau Noll?“

Katharina nickte, unfähig, einen Ton herauszubekommen. Einen Augenblick fühlte sie sich in ihre Studienzeit zurückversetzt. Seine Arme um sie, seine Augen blau und tief wie das Meer …

„Hören Sie mir zu?“

Sie schreckte auf. „Entschuldigung. Ja.“