Der Erleuchtung ist gleich, wen sie erwischt - Lena Lander - E-Book

Der Erleuchtung ist gleich, wen sie erwischt E-Book

Lena Lander

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Beschreibung

Eine Frau auf der Suche nach Liebe. Sowohl nach der himmlischen als auch nach der irdischen. Begleitung und Unterstützung bekommt sie durch ihren „geistigen Guru“, einen sogenannten Erleuchteten, zu dessen Unterweisungen sie geht, um bei ihm wenigstens die himmlische Liebe zu finden, vielleicht sogar Erleuchtung. Dann gibt es da noch einen „schöngeistigen Guru“, in dessen Antiquariat sie diese Liebe in der Praxis des Alltags üben kann. Was gar nicht so einfach ist. Die Frau hat sich verliebt in einen Mann, der nach der ersten Annäherung doch lieber wieder auf Distanz geht, vorher aber sämtliche alten Muster zu neuem Leben erweckt.

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Lena Lander lebte ein ganz „normales“ Leben als Physiotherapeutin und Ehefrau, bis eine Lebenskrise eine abrupte Wendung brachte, sie förmlich herausschleuderte aus der bisher gelebten „Normalität“. Nach Sinn und Liebe suchend, wandte sich Lena im Lauf der nächsten Jahre zunehmend intensiver der Spiritualität zu, traf schließlich auf einen der sogenannten Erleuchteten, der ihr spiritueller Lehrer wurde, traf fast zur gleichen Zeit auf einen rein weltlich ausgerichteten Mann, der sich ebenfalls bald als Lehrer entpuppte.

Schreibend begleitete sie sich selbst in dieser Zeit der Suche nach Lebenssinn und Liebe, möchte mit ihren Erfahrungen nun auch anderen Sinnsuchenden Anregung und Beispiel geben.

[email protected]

„Die Verwirklichung ist nichts, was du neu dazu gewinnst. Die Verwirklichung besteht darin, die falsche Vorstellung loszuwerden, man sei nicht verwirklicht.“

Ramana Maharshi

Warum nur, um Himmels willen, bin ich in diesen Laden gegangen. Was für eine verrückte Idee, einfach da hineinzuspazieren und zu fragen, ob man jemanden kenne, der eine Buchhandlung kaufen wolle.

Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da fuhr der Mann hinter der Theke schon herum und schaute mich überrascht und verwirrt an. Ich erkannte ihn sofort wieder. Stand ja auch nicht zum ersten Mal hier.

Seit gut einem Jahr gibt es dies Antiquariat in der Nähe meiner Wohnung und von Anfang an hat es mir seltsame Gefühle beschert. Stieß es mich ab? Zog es mich an? Ich hätte es nicht sagen können. Hinein wollte ich allerdings nicht. Was sollte ich mit alten Büchern, hatte beim Umzug vor einigen Jahren den größten Teil meines Buchbestandes aussortiert und verschenkt, hatte auch nicht vor, die wenigen verbliebenen Regalbretter erneut vollzustellen. Mit Altem sowieso nicht. Ich hatte doch gerade erst wieder neu angefangen.

Nun ja, wenn ich ehrlich bin, hatte ich neu anfangen müssen. Scheidung. Burnout. Kur. Verlust der Arbeitsstelle. Umzug in eine kleine Wohnung. Zwei Jahre lang war ich danach noch zur Therapie gegangen, dann hatte ich mich so einigermaßen arrangiert mit den Umständen und mit meinen wechselnden Zuständen. Mal ging es mir echt gut und mal echt hundsmiserabel.

Eine große Hilfe war mir in dieser Zeit Ella, eine der wenigen Freundinnen, die nach der Scheidung noch übriggeblieben waren. Ella ist einige Jährchen älter als ich, so an die siebzig, und auch mit ihr ist das Schicksal nicht immer gnädig umgesprungen. Vor gut einem Jahr beförderte ein Schlaganfall sie in den Rollstuhl und anschließend ins Seniorenheim. Doch ihre Unternehmungslust hat sie darüber nicht verloren und so wollte sie unbedingt in eine Ikonenausstellung im gerade neu eröffneten Antiquariat. Und unbedingt mit mir.

Nun gut. Ich tat ihr schließlich den Gefallen, schob sie hin und in den Laden hinein.

Der Antiquar hielt sich dezent im Hintergrund auf und trat nicht groß in Erscheinung, meist lief der Ikonenverkäufer um uns herum und zeigte und erklärte. Monate später stand ich an einer Kreuzung auf dem Bürgersteig und wartete darauf, dass die Ampel auf Grün sprang. Die Straße wurde von mehreren Pressluftbohrern bearbeitet und so herrschte ein Riesenkrach. Neben mir stand der Antiquar. Ich schaute ihn von der Seite her an und hörte mich zu meiner eigenen Verwunderung plötzlich sagen, das sei ja ein Höllenlärm hier, da habe er es in seinem Laden zum Glück bedeutend ruhiger.

„Ja“, sagte der Mann und lächelte mich an. Dann fügte er hinzu: „Ich habe Sie da gesehen.“

Ach. Er hatte mich gesehen? Mich auch? Nicht nur die Freundin, die so auffällig war in ihrem Rollstuhl? Er hatte mich gesehen. Das tat mir gut. Sehr gut.

„Kennen Sie jemanden, der eine Buchhandlung kaufen will?“ Nein, ich war keinesfalls nur wegen dieser Frage ins Antiquariat gegangen. Dass meine Kusine ihren Buchladen verkaufen will, Verwandte und Freunde gebeten hat, Augen und Ohren aufzuhalten, lieferte mir nur einen guten Grund, diesen hier noch einmal zu betreten. Nach der Begegnung auf dem Bürgersteig hatte ein solcher Zug hierher eingesetzt, dass ich schließlich nicht mehr hatte widerstehen können.

Der Impuls war einfach nicht mehr zu ignorieren gewesen.

Also, was wollte ich in Wirklichkeit dort?

Mir den Mann dieses Ein-Mann-Ladens genauer ansehen. Er war von meiner Frage wie elektrisiert, fragte und fragte und schien mir selbst ernsthaft interessiert. Schließlich gab er mir eine Karte mit seinem Namen, der Telefonnummer und den Ladenöffnungszeiten, und mit seinem Vorschlag im Ohr, die Kusine möge sich bei anhaltenden Verkaufsabsichten mit ihm in Verbindung setzen, verließ ich das Antiquariat wieder und saß bald darauf absolut verwirrt zu Hause.

Wie? Wollte der wirklich einen anderen Laden kaufen? Er hatte seinen doch kürzlich erst eröffnet? Aber wunderbar, dann gäbe es ja genügend Anknüpfungspunkte.

Anknüpfen? Was sollte das denn? Was wollte ich denn von dem? Und warum hatte ich ein derartiges Herzklopfen? Ich kannte den Mann doch gar nicht. War auch nicht verliebt in ihn. Hatte mich im Gegenteil regelrecht erschrocken, als er mich mitten im Gespräch plötzlich an meinen Ehemaligen erinnert hatte.

Aber war mir von der Kartenlegerin, zu der Ella schon lange geht und bei der ich vor einigen Wochen aus purer Neugierde dann auch einmal war, nicht das Auftauchen eines Mannes prophezeit worden?

„Das ist er“, sagte eine Stimme in mir, doch eine andere hielt sofort dagegen. „Nur weil er gesagt hat, worauf du ein Leben lang gewartet hast? Dass er dich gesehen hat? Und nur, weil die Tür offen war?“

Ja, auch das noch. Als ich ankam, hatte die Eingangstür sperrangelweit offen gestanden. „Hier renne ich ja offene Türen ein“, hatte ich sofort gedacht. Aber diese Assoziation ging ja wohl doch etwas zu weit. Und dann? Wie ging`s weiter?

Erst einmal gar nicht. Die Kusine spielte plötzlich nicht mehr mit. Sie rief einfach nicht an beim Antiquar. Es machte mich unruhig und Tag für Tag ärgerlicher. Schließlich beschloss ich, selbst noch einmal hinzugehen. Einen Grund fand ich auch bald. Hatte er nicht immer mal wieder abends Veranstaltungen?

Da stand ich also ein weiteres Mal im Laden, bekam ein Blatt in die Hand gedrückt, zu jeder Veranstaltung etwas erzählt, meldete mich gleich an für die nächste, gab Adresse und Telefonnummer an und stand kurz darauf wieder vor der Tür. Mit einem leichten Schock. Der erinnerte mich wirklich total an den Ehemaligen.

Innen ist seither größte Abwehr und trotzdem ist da gleichzeitig diese verdammte Anziehung. Was soll das? Wieso zieht mich dieser Mann so an? Obwohl ich ihn weder kenne noch verliebt bin, und noch nicht einmal mehr genau weiß, wie er aussieht, wenn er mich nicht gerade an den Ehemaligen erinnert.

Welche Augenfarbe er habe, wollte Ella wissen, als ich ihr alles erzählte. Ich habe keine Ahnung.

----

Gestern war nun die erste dieser Abendveranstaltungen und natürlich ging ich auch hin, um mir endlich seine Augen genauer anzusehen. Doch der Raum war voller Menschen, er meist weit entfernt, und so weiß ich leider immer noch nicht, welche Farbe sie haben. Weiß allerdings auch nicht, warum mich das jetzt so brennend interessiert.

Da es nach dem Vortrag noch eine längere Diskussion gab, kam ich erst spät nach Hause und marschierte sofort ins Bett. Und wachte heute Morgen auf mit den Resten eines Traums im Kopf.

Ich war in einem Camp mit vielen Leuten und zwei Gurus zusammen. Der jüngere der beiden hielt mich liebevoll im Arm. Dann war das Camp zu Ende und ich ging die Straße hoch zum Haus meiner Eltern. Alle Fenster standen weit offen, alles sah sauber und renoviert aus. Im Vorgarten blieb ich stehen und da kamen die beiden Gurus zur Tür heraus und der jüngere fragte mich, was ich hier mache. „Ich nehme Abschied von meinem Elternhaus“, sagte ich. Wieder nahm mich dieser Guru in den Arm, wo ich zu trommeln begann, erst ohne, dann mit Trommel, die mir jemand brachte. Die vielen Leute aus dem Camp waren plötzlich auch alle wieder da. Schließlich hatte ich das seltsame Gefühl, nicht ich, sondern es trommelte, und dann sank ich zu Boden. Ich wurde ins Haus getragen und in eines der Zimmer gelegt.

Ein seltsamer Traum. Obwohl. Ist in den letzten Monaten nicht immer mal wieder der Wunsch nach einem spirituellen Lehrer aufgetaucht? Nach einem, der mir den Weg weisen könnte? Den Weg aber wohin?

Zum Frieden vielleicht. Oder wenigstens zur Zufriedenheit. Das Leben als Arbeitslose ist wahrlich kein Zuckerlecken. Es gibt nichts zu tun. Jedenfalls nichts Sinnvolles.

Jahrzehntelang hatte ich als Physiotherapeutin gearbeitet, doch nach dem Crash fehlten mir die Kräfte für diese Arbeit, die Jüngste war ich mit 55 Jahren auch nicht gerade, und so fand ich keine mich befriedigende Arbeit mehr. Irgendeinen x-beliebigen Job wollte ich allerdings auch nicht haben und so lebe ich nun weitgehend vom Unterhalt, den mir der Ehemalige freundlicherweise zukommen lässt, und nur der Mini-Job an der Pforte von Ellas Seniorenheim vermittelt mir hin und wieder wenigstens ansatzweise das Gefühl, für etwas gut zu sein. Aber ich bin nur an zwei Vormittagen die Woche dort, die restliche Zeit hänge ich meist allein in der Wohnung herum, lese, höre Musik, meditiere, und wünsche mir im Übrigen dringend mehr Sinn ins Leben. Ganz zuerst und vor allem, ich gebe es zu, wünsche ich mir jedoch die Liebe. Am liebsten natürlich die himmlische und am allerliebsten die irdische gleich mit dabei. Himmel und Erde sozusagen Hand in Hand.

Ziemlich große Wünsche sind das, ich gebe es zu. Ob da nicht ein wenig Hilfe nötig ist? Dieser Traum. Die zwei Gurus. Einen für die himmlische, einen für die irdische Liebe? Lieber Gott, wo finde ich wenigstens einen Guru? Und welchen fände ich dann gern zuerst? Den für die irdische Liebe? Mein Gott, wie unspirituell!

Hin und her flitzen die Gedanken in meinem Kopf. Wie Fische im Aquarium, wenn man ans Glas klopft. Etwas hat mein Glashaus bis in die Grundfesten erschüttert.

Durch die Zimmerdecke hindurch höre ich Frau Franzen, meine Vermieterin, telefonieren. Jetzt hat sie gerade zum dritten Mal „Tschüss, alles Gute“ gesagt und redet trotzdem unaufhörlich weiter. Warum nervt mich das so?

Was weht da durch mein Gehirn?

„Plaisir d`amour ne dure qu`un moment, chagrin d`amour dure toute la vie“.

Das Vergnügen an der Liebe dauert nur einen Moment, Liebeskummer das ganze Leben.

Diese Zeilen habe ich früher viel und gern gesungen, hatte sie sogar jahrzehntelang auf einem Tagebuch mit äußerst unerfreulichem Inhalt kleben, das ich dann jedoch vor dem Umzug in die neue Wohnung mit allen anderen Tagebüchern endlich in die Mülltonne beförderte. Fort mit diesem alten Glaubenssatz, der das Leben nur erschwert. Schwupp, da ist er wieder. Glaube ich das etwa immer noch?

Was bin ich diese Altlasten leid! Liebeskummer! War etwa auch Liebeskummer, was ich nahezu die gesamte Ehezeit hindurch empfunden habe? Ich fühlte mich vom Ehemann nicht genug beachtet. Der sah mich nicht an. Nicht wirklich. Dank der Therapie weiß ich inzwischen, dass ich schon selbst hinschauen muss, wenn ich mich gesehen fühlen will. Was fürchte ich also jetzt? Den Rückfall in alte Muster und Gefühle?

Wusch, schießt eine deutlich fühlbare Energiewelle durch den Körper hindurch. Seitdem ich täglich meditiere, passiert das schon mal öfter. In ihrem Gefolge hat sie gern Gefühle eher unangenehmer Art, die ich, wie auf einem spirituellen Seminar gelernt, nicht durch Gedanken schnell wieder zu verdrängen, sondern brav zu fühlen versuche. Gefühle, die gefühlt werden, gehen nicht nur freiwillig wieder, sondern kommen auch nicht ständig wieder, da sie sich ja nun angenommen und gewürdigt fühlen können. Wurde jedenfalls so gesagt auf dem Seminar. Da ich es sehr begrüße, wenn schmerzliche Gefühle nur einmal kommen und dann nimmermehr, tue ich gewöhnlich mein Bestes, sie bis zum Ende auszuhalten. Klappt natürlich längst nicht immer. Aber heute bleibe ich dran, bin wild entschlossen, mich zu stellen.

Und schon geht`s zur Sache. Sehnsucht, Angst, Schmerz und Ungeduld. Eine Supermischung, Treibstoff genug, um mich auf Hochtouren laufen zu lassen. Leidvolle Erinnerungen an Kindheit und Ehezeit steigen auf. Ich komme mit dem Fühlen kaum nach. Und habe schließlich die Nase gestrichen voll. Was soll das? Das ist Vergangenheit. Jetzt ist doch alles anders.

Wirklich? Fühlte ich mich nicht einst auch vom Ehemaligen unwiderstehlich und mir völlig unerklärlich angezogen? Das Geschehen jetzt erinnert so fatal an damals.

Aber etwas ist trotzdem anders. „Ich habe Sie gesehen“, hat der Mann gesagt. Warum also ein solcher Psycho-Tumult ausgerechnet bei einem Mann, der gesagt hat, er habe mich gesehen?

Ich weiß es. Erst sind sie liebevoll und zugewandt und später schauen sie sich nicht mehr an. So war das doch bei den Eltern. Erst schreiben sie in ihren Liebesbriefen (ich fand sie mit vierzehn auf dem Speicher) wie schön sie es haben werden miteinander und dann ist es überhaupt nicht schön, sondern sehr schmerzlich. So endet das. Plaisir d`amour ne dure… Nein, danke. Und ob der Typ da jetzt besser ist? Erst sagte er auf dem Bürgersteig, er habe mich gesehen, schaute mich total interessiert an, als ich ihm einen anderen Laden anbot, doch als ich zum zweiten Mal kam, um ihn nach dem Veranstaltungsprogramm zu fragen, da schaute er weg. Er redete und redete und schaute die ganze Zeit nur auf das Blatt in seiner Hand. War mir richtig aufgefallen.

Alles wie immer also? Erst sehen sie hin und dann schnell wieder weg. Falls sie überhaupt richtig hingeschaut haben.

Angst steigt auf. Und wenn es wieder weh tut?

Ich werde es überleben. Wie sagte die liebe Mutter immer?

Was mich nicht umbringt, macht mich stark.

Im Übrigen bin ich jetzt echt gespannt, wie alles weitergeht. Die Kusine hat inzwischen doch Kontakt aufgenommen zum Antiquar und sie haben einen Termin ausgemacht, an dem er sich ihren Buchladen anschaut.

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Keine Gurus in Sicht. Noch nicht einmal einer. Um schon mal das Meinige zu tun zum Erscheinen der Liebe habe ich mir eine Herzöffnungsübung verordnet, die ich nun täglich praktiziere. Ich setze mich hin, konzentriere mich auf die Herzgegend und bitte, keine Ahnung wen, um die Öffnung dieses Herzens für die Liebe. Und schon springt die Brustkorbheizung an und bricht mir der Schweiß aus. Dass eine Herzöffnung eine derart hitzige und schweißtreibende Angelegenheit werden könnte, hatte ich nicht geahnt. Aber wenn man, wie ich, immer alles wörtlich nimmt, muss man auch mit körperlichen Reaktionen rechnen. Wünsche ich mir nicht schon lange ein warmes Herz?

„Was hat sie, was ich nicht habe“, konnte ich mich nicht enthalten, den Ehemaligen über meine Nachfolgerin zu befragen.

„Warmherzigkeit“, sagte er.

Es traf mich bis ins Mark, doch ich wusste, dass er Recht hatte.

Das Herz. Mein kaltes Herz. Hin und wieder gibt es meinem beharrlichen Üben nach und öffnet der Liebe einen Spalt breit die Tür, immerhin so weit, dass sie hindurchschlüpfen und das Herz ausfüllen kann. Fühlt sich dann drinnen an wie tiefe Freude. Wie Zufriedenheit.

Damit das Leben jedoch trotz gelegentlich himmlischer Momente schön irdisch bleibt, gibt es zum Glück noch Frau Franzen. Sie erzählte mir gestern von einer Talkshow, die sie am Vorabend gesehen hatte. Ich natürlich nicht. Habe ja keinen Fernseher.

„Ja, was machen Sie denn abends?“ fragte sie.

„Ich lese, meditiere und mache Entspannungsübungen.“

„So ein Quatsch. Ich habe genug Entspannung, wenn ich arbeite.“

Patsch, patsch, patsch! Da hatte sie es mir aber noch mal gesagt und gegeben!

Ich war übrigens auch wieder im Antiquariat. Heute Morgen hing im Schaufenster ein Plakat, auf dem die nächste Veranstaltung angekündigt wurde. Ohne Terminangabe. Den musste ich daraufhin natürlich erfragen. Und als ich ihn in meinen Kalender eintrug, musste ich erstaunt feststellen, dass ich diese Veranstaltung bereits notiert hatte, da sie, wie mir auch wieder einfiel, auf der Veranstaltungsübersicht gestanden hatte, die ich mir vor Wochen geholt hatte. Wie ich das nur hatte vergessen können!

Na gut, jetzt war ich eben wieder drin im Laden und da sonst keiner drin war, habe ich den Herrn Antiquar munter befragt und er hat bereitwillig Auskunft erteilt. Wir hatten ein wirklich nettes, längeres Gespräch. Und seine Augen sind blau. Blaugrau, genauer gesagt.

Meine Ängste und meine Abwehr haben sich in der Zwischenzeit zum Glück deutlich verringert. Der Mann erinnert mich zwar immer noch an den Ehemaligen, doch es macht mir nichts mehr. Etwas Vertrautes umgibt ihn. Ich fühle mich wohl mit ihm.

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Da war in den letzten Tagen zwar kein deutlicher Impuls, ins Antiquariat zu gehen, jedoch ein beständiges Ziehen dahin. Ganz unbedingt wollte ich ausgerechnet von diesem fremden Mann gesehen und beachtet werden. Doch fiel mir rein gar nichts ein, was ich dafür hätte tun können.

Plötzlich tauchte im Kopf ein Satz auf: „Nichts tun und dem Zufall eine Chance geben“.

Ich tat also nichts und prompt nahm der Zufall seine Chance wahr und ließ den Herrn Antiquar gleich zweimal auf dem Bürgersteig vor seinem Laden stehen, so dass ich anhalten und ein wenig plaudern konnte mit ihm. „Wie schön, Sie zu sehen“, sagte er jedes Mal strahlend, schien echt interessiert und zugewandt, und als er gestern beim zweiten Mal sagte, er würde sich zwar gern weiter mit mir unterhalten, müsse jetzt aber dringend Bücher wegbringen, da sagte es völlig unüberlegt aus meinem Mund: „Sie können mich ja mal anrufen.“

Den Rest des Tages hatte ich Mühe, zu meiner spontanen Anmache zu stehen, sah zudem immer wieder die Szene auf dem Bürgersteig vor mir, sah überdeutlich, dass der Mann meist wieder weggeschaut hatte, wenn er mit mir sprach. Eigentlich war mir schon da völlig klar, wie es nun weitergehen würde. Nämlich gar nicht. Doch erst jetzt kann ich mir eingestehen, dass er nie anrufen wird. Und mit einem Mal weiß ich es genau. Er will nicht. Er will nicht „gestört“ werden.

Und da ist er wieder. Der Schmerz. Der so gut bekannte und so oft gefühlte Herzschmerz. Der treue Begleiter durch die Jahrzehnte.

Heiß schießt die Wut hoch und ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen. Was läuft da wieder? Ich bin doch nicht blöd. Ich hab doch deutlich Interesse gespürt.

Altbekanntes überrollt mich. Nicht gut genug. Nicht interessant genug. Nicht liebenswürdig genug. Doch die Therapie der letzten Jahre zeigt Früchte, ich fange mich wieder und das Gefühl von Wert kehrt zurück.

Und jetzt keimt sogar Verständnis auf. Verständnis dafür, dass er woanders engagiert ist. Dass er beschäftigt ist mit seinem Laden und jetzt auch noch mit dem der Kusine, den er sich inzwischen angesehen hat. Er überlegt tatsächlich, ob er ihn übernehmen soll. Sehr offen sprach er über die problematische Lage des Antiquariats mitten im Wohngebiet und die entsprechend miesen Einnahmen, erzählte, dass er sich deshalb auch keine Aushilfe leisten könne und alles allein machen müsse.

Plötzlich dämmert mir, dass ich es geschafft habe, eine von klein auf gewohnte Leidenssituation wieder herzustellen. Ich höchstpersönlich habe dem Mann den Köder „neuer Laden“ hingeworfen. Er hat ihn geschluckt und ist nun vollauf beschäftigt mit dem Köder. Aber nicht mit mir.

Das kenne ich nur zu gut. Waren nicht beide Eltern immer vollauf beschäftigt mit ihren Berufen? War nicht auch der Ehemalige nach der Büroarbeit immer derart absorbiert von seinen Ehrenämtern und Vereinstätigkeiten, dass für mich kaum noch etwas abfiel?

Also gut, also noch einmal, noch ein allerletztes Mal das Ganze. Da habe ich mich selbst hineinmanövriert und nun muss ich mit den Folgen fertig werden. Vor allem mit der erneuten Enttäuschung, dass für andere anderes sehr viel wichtiger ist als meine Person. Die Enttäuschung ist so besonders groß, weil es anfangs anders ausgesehen hat. Er hatte ja hingeschaut. Hatte er jedenfalls behauptet.

Ich bin aber nicht nur enttäuscht, mehr noch bin ich erstaunt. Einmal über meine heftige Reaktion auf das Verhalten eines Menschen, den ich kaum kenne. Dann aber auch, dass ich schon wieder in einer dieser bereits sattsam bekannten alten Geschichten hänge. Obwohl ich mich doch so verändert habe.

Mit dieser Geschichte ist jetzt jedenfalls Schluss.

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Ich wollte wirklich einen Schlussstrich ziehen unter diese Geschichte, doch irgendwie ging das nicht. Mir war absolut schleierhaft wieso, doch ich war weiterhin völlig fixiert auf den Mann. Ich ging sogar noch einmal zur Kartenlegerin. Er sei interessiert, sagte sie, hätte jetzt aber zu viele Probleme, um sich wirklich kümmern zu können. In ein oder zwei Jahren sei allerdings eine Beziehung möglich.

In ein oder zwei Jahren? Viel zu lange hin. Und ob man den Karten wirklich trauen konnte?

„Ich lasse die Fixierung los“, sagte ich mir, erst laut, dann leise, schließlich wie ein Mantra immer und immer wieder. Es nutzte rein gar nichts und ich konnte es kaum fassen, wie aus der „Mücke Antiquar“ unversehens der „Elefant Altes“ geworden war, der mir die in den letzten Jahren so sorgfältig gekitteten Tassen und Teller in meinem Porzellanladen erneut aus den Regalen fegte. Es tat weh. Es tat immer wieder weh.

In dieser reichlich ungemütlichen Situation bekam ich von Ella ein Buch über Erleuchtete geschenkt und ich las es mit wachsendem Interesse.

Ich wusste genau, dass dieser Ausflug ins Spirituelle auch Ablenkung war von inneren Prozessen, auf die ich absolut keine Lust mehr hatte. Aber dieses Buch war mir ja wohl nicht zufällig gerade jetzt in die Hände gekommen.

Eine Fülle weiser Sätze kam auf mich zu. Sie waren mir keineswegs unbekannt. Immerhin habe ich mich in den letzten Jahren durch einen Großteil der in Deutschland erhältlichen spirituellen Literatur hindurchgearbeitet. Doch diese Sätze musste ich offensichtlich gerade jetzt noch einmal lesen. Jetzt, wo ich am eigenen Leib erfahre, was Byron Katie meint, wenn sie sagt, wir hingen nicht an Menschen, sondern an den Geschichten, die wir mit diesen Menschen verbinden. Zu ihrer Feststellung, dass nicht wir das Alte loslassen, sondern das Alte uns, kann ich auch nur nicken.

Wie wahr. Und wie ärgerlich. Denn das Alte lässt einfach nicht los, da kann ich es loszulassen versuchen, so viel ich will.

Alles nimmt seinen Lauf. Die Sonne. Die Welt. Das Leben. Ja, sogar das Schicksal. Nur diese verdammte Fixierung nicht. Die rührt sich keinen Millimeter von der Stelle. Dies Festhängen wirklich anzunehmen, fällt mir außerordentlich schwer. Und ich hänge ziemlich fest, hänge nicht nur am Antiquar, oder genauer gesagt, an den mit ihm verknüpften Vorstellungen, Erwartungen und Erinnerungen, was mir schon arg genug ist, sondern auch noch an der Ablehnung dieses Festhängens, hänge nun zu allem Überfluss also auch noch fest am Nichtfesthängenwollen.

Festhängen an jemandem? Nein. Will ich nicht. Fixierung bindet und macht unfrei und darüber hinaus tut sie auch noch weh. Nein, nein, nein.

Ich weiß nur zu genau, dass Widerstand nichts besser, eher alles noch schlimmer macht, doch ich bin außerstande, mich von meinen Fixierungen zu befreien. Vielleicht ist das Ganze ja auch längst Chefsache? Bittet und euch wird gegeben. Steht jedenfalls so in der Bibel.

„Lieber Gott, bitte, sprich ein Machtwort! Schick meine Fixierungen zum Teufel.“

Nichts. Die Fixierungen weichen immer noch keinen Millimeter.

Auch gut. Dann bin ich eben fixiert auf diesen Mann und auch noch auf den Widerstand dagegen. Da bin ich eben keineswegs schon so weit, wie ich gerne wäre. Und da geht es wohl auch gerade nicht ums Loslassen von Fixierungen, sondern zunächst einmal um ihre Annahme. Ums Fühlen dessen, was ich gar nicht gerne fühlen mag, was aber nun mal gerade da ist.

Oh. Wie erleichternd. Wenigstens der Widerstand ist jetzt weg. Da ist mir der liebe Gott also doch noch ein klein wenig entgegengekommen. Ist ja eigentlich auch gar nicht so schlimm, fixiert zu sein. Eher sehr menschlich.

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Etwas Entscheidendes hatte sich gelöst mit der Annahme der Tatsache, fixiert zu sein. Gelöst hatte sich wohlgemerkt nicht die Fixierung auf den Mann, aber die Fixierung auf die Ablehnung der Fixierung, das Haften daran, nicht haften zu wollen.

Ein ganz bestimmter Aspekt der Fixierung auf den Antiquar wurde daraufhin allerdings zunehmend deutlicher. Ich wollte gesehen werden. Ganz unbedingt. Ich fühlte es auf Schritt und Tritt und besonders stark beim Radfahren. Ich übte so lange, bis ich es konnte, und fahre nun so oft wie möglich freihändig, kann die neu erworbene Fähigkeit allerdings kaum genießen, da ich beständig Ausschau halten muss nach jemand Bekanntem, der mich so sehen und bewundern könnte.

Ich muss Ausschau halten. Es ist mir selbst schon auffällig. Das ist doch nicht mehr normal. Und ich will das im Grunde auch gar nicht. Fragt sich nur, warum ich es dann immerzu mache.

Nicht wir entscheiden, was wir denken und tun, behaupten etliche der erleuchteten Geister in Ellas Buch. Könnte glatt was dran sein. Zog es mich nicht trotz meines Widerstands immer wieder ins Antiquariat? Das Schicksal, die Seele, oder was auch immer, zogen und schoben mich beharrlich, wohin sie mich haben wollten, nämlich zur nächsten „Lektion“, zu einer weiteren Variante einer nur zu bekannten Erfahrung, die ich mir freiwillig nicht noch einmal angetan hätte.

Und worum geht es diesmal in der Lektion? Das weiß ich plötzlich genau. Es geht um die gegenwärtigen Erfahrungen und nicht um das mögliche Ergebnis dieser Erfahrungen. Es geht um die bedingungslose Annahme dessen, was gerade ist, gleich, was es ist, und nicht darum, was ich mit dieser Annahme erreichen könnte. Ich habe Wünsche? In Ordnung. Ich will etwas nicht? Auch in Ordnung. Ich hänge fest? Ja. Ich bin traurig, wütend, froh? Ja. Ja. Ja.

Es geht ums Menschsein. Ums bewusste Menschsein.

Etwa auch ums Warten auf einen Menschen, der jetzt keine, aber in zwei Jahren vielleicht doch Zeit hat für mich?

Was? Warten? Auf keinen Fall.

Etwas explodiert in mir. Ich kann förmlich fühlen, wie sich die gerade wieder ganz deutlich gewordene Fixierung auf den Antiquar auflöst. Zack! Weg ist sie. Ich kann es erst kaum glauben, doch dann atme ich befreit auf, fast so, als ob ich eine Zwangsjacke endlich losgeworden sei.

Und dann taucht der Schmerz wieder auf. Ja, was will denn der jetzt noch? Habe ich den in den letzten Wochen nicht schon genug gefühlt? Ihn tapfer ausgehalten? Irgendwann muss es sich doch mal ausgeschmerzt haben. Irgendwann muss ich doch mal fertig sein mit ihm. Und dann Tschüss. Auf Nimmerwiedersehen.

Langsam dämmert mir, dass das möglicherweise eine unrealistische Vorstellung ist. Lebe ich nicht in einer Welt der Dualität? Dann ist der Schmerz die Kehrseite der Freude und gehört genauso zum Leben dazu. Versuche ich, ihn draußen zu halten, bleibt bald auch die Freude vor der geschlossenen Tür.

Dieser verdammte Schmerz. Immerhin fürchte ich ihn nicht mehr so sehr wie früher. Ob ich ihn jedoch, wie in vielen spirituellen Büchern aufs Wärmste empfohlen, irgendwann sogar willkommen heißen kann wie einen guten Freund, das erscheint mir noch sehr fraglich. Dass er nicht grundlos auftaucht, dessen bin ich mir hingegen sicher. Zurzeit hat er die Aufgabe, mich zu „wecken“.

„Wo bist du gerade?“ fragt er. „Denkst du heimlich wieder an vergangene Geschichten? Komm zurück. Hier findet das Leben statt. Hier und jetzt.“

Sobald ich wieder da und bei mir bin, geht er leise wieder.

Ja, tatsächlich. Der Schmerz ist gegangen. Eine stille, aber tiefe Freude steigt auf. Etwas ganz und gar Sanftes breitet sich aus. Zärtlichkeit wird fühlbar. Und da erscheint mir das Leben im Augenblick so lebenswert, so vollkommen und so wunderbar.

Mein Blick fällt auf die neu bepflanzten Balkonkästen. Ich habe sie ganz bunt bepflanzt. Das Leben ist bunt. Wunderbar bunt. All diese Farben! Ich schaue die Blumen an und bewundere sie. Jede einzelne. Und mit einem Mal ist mir, als würde etwas in mir gerade erst aufwachen. Hey Lena, es ist Frühling.

Ein Impuls taucht auf. Wird immer deutlicher. Rausgehen. Nicht nur bis zum Antiquariat um die Ecke. Nein, bis in die Fußgängerzone mit ihren Geschäften und Cafés. Menschen treffen, sie anschauen, ihren Geschichten zuhören. Wer sind sie? Wie sind sie? Es interessiert mich. Keine Lust mehr, hier allein für mich zu sitzen.

-------

Ja, ich war in den letzten Wochen viel unterwegs, anfangs mit Ella, später auch allein, saß nach meinen Spaziergängen oft noch eine Weile vor dem Stadtcafé und beobachtete das Hin und Her in der Fußgängerzone. Das tat mir gut. Fühlte sich an wie Aufbruch.

Vor wenigen Tagen fand dann der nächste Aufbruch statt. Das Buch über die sogenannten Erleuchteten ging mir nicht aus dem Sinn und die Lust, einem solchen einmal leibhaftig zu begegnen, nahm immer mehr zu. „Satsang“ las ich letzte Woche auf einem Plakat in der Nachbarstadt und war sofort elektrisiert. So waren in Ellas Buch manchmal die Treffen genannt worden, bei denen man spirituellen Lehrern mit meist indischen Meistern begegnen konnte.

Ich brauchte nur an Satsang zu denken, dann schlug mir das Herz schon bis zum Hals. Angst. Aber die Neugier siegte und so war ich denn tatsächlich in der Nachbarstadt beim Satsang, dem „Zusammensein in Wahrheit oder Stille“, wie Mike, der Lehrer, das indische Wort übersetzte.

Stille. Stillwerden. Wie lange sehne ich mich schon danach. Gelegentlich war es an diesem Satsangabend für ein kleines Weilchen wirklich ganz wunderbar still in mir, meist aber überschlugen sich die inneren Stimmen förmlich und mehr als einmal bescheinigten sie mir, komplett verrückt zu sein. Ich war geneigt, ihnen zu glauben. Was wollte ich hier? In diesem bunt zusammengewürfelten Haufen meist jüngerer Menschen auf der Suche nach Erleuchtung. Mehrmals war ich nahe daran, aufzustehen und zu gehen. Doch je länger ich blieb, desto mehr faszinierten mich die Augen des „Erleuchteten“. Sie schauten einen an und schauten einen doch nicht an. Ich musste immer wieder hinsehen.

Auf einem Tischchen neben Mikes Stuhl stand das Foto eines weißhaarigen Inders. Ramana Maharshi heißt der Mann, wie ich im Laufe des Abends erfuhr. Er ist längst tot und gehört zu einer „Advaita-Linie“, der sich auch Mike zurechnet. Übersetzt bedeutet Advaita „Nicht-Zwei“. Die wirkliche Realität ist nicht dual. In Wahrheit ist alles eins.

Mike verehrt Ramana Maharshi sehr. Der Weise hat die meiste Zeit seines Lebens geschwiegen und wenn er doch sprach, seine Schüler mit der scheinbar so simplen Frage „Wer bin ich?“ zur Selbsterforschung angeleitet. So fragte denn auch Mike so manches Mal, wer das sei, der jetzt gerade neben ihm sitze und leide oder aber glücklich sei.

Wäre dieser Mike ein „normaler“ Seminarleiter auf einem „normalen“ Seminar gewesen, dann hätte er keine besonders guten Karten gehabt bei mir. Da saß kein wortgewaltiger Publikumsmagnet, sondern ein zwar sehr freundlicher, aber eher zögerlich und umständlich reagierender Mensch. Doch irgendwie machte mir das nichts. Der Mann strahlte Ruhe, Offenheit und Verständnis aus, lachte gern und schaute manchmal sehr sanft und liebevoll drein. Langsam verloren sich meine Fluchttendenzen.

Was er sagte, war mir natürlich alles längst bekannt. Ich hatte es bereits gelesen oder dachte ähnlich. Doch mir wurde schnell klar, dass es hier nicht ums Denken, Reden oder um eine geschliffene Wortwahl ging. Es ging ums Hinschauen und Hinhören. Wer wollte, konnte nach vorne gehen und sich zum „Erleuchteten“ setzen, Fragen stellen oder sich Fragen stellen lassen. Und natürlich in die Augen des Meisters schauen.

Das verlangt schon einiges an Mut. Finde ich. Ich habe mir das am ersten Abend alles nur angesehen und verwundert festgestellt, wie es die Leute reihenweise auf diesen Stuhl da vorne zog. Am zweiten Abend, ja, ich ging wieder hin, überlegte ich dann schon, ob ich nicht auch einmal nach vorne gehen sollte. „Kein Druck, bitte“, sagte ich mir, wie in der Therapie gelernt. „Ich gehe nur, wenn sich eine Lücke auftut. Wenn es sich so ergibt.“

Es ergab sich nur zu bald eine Pause, in der keiner nach vorne ging. Mir blieb beinahe das Herz stehen. Oh Gott, war ich jetzt etwa dran?

Nein. Da ging bereits jemand. Große Erleichterung. Doch dann entstand schon wieder eine Pause und die nutzte mein Körper, um ohne Befehl einfach aufzustehen und nun mich zu diesem „Erleuchteten“ zu befördern. Mein Herzschlag wummerte bis unter die Schädeldecke. Ich hätte keinen Ton rausbringen können und so schaute ich dem Mann einfach nur in die Augen.

Die Augen der Erleuchteten seien wie Spiegel der eigenen Seele, hatte ich gelesen. Doch in Mikes Augen war nicht viel zu sehen. Kein Wunder eigentlich. Ich war derart gehemmt und blockiert, dass ich bis auf meinen überlauten Herzschlag kaum noch etwas mitbekam.

Schließlich ging ich auf meinen Platz zurück. Kaum saß ich wieder in sicherer Entfernung, löste sich die Hemmung und die Augen vorne wurden erneut höchst anziehend. Aus ihnen sprach Liebe. Ganz eindeutig.

Und bei mir ging es ab jetzt ganz eindeutig wieder einmal um Selbstliebe, um die Annahme auch meiner verhassten Schattenseiten. Ich fand den Mann, der dauernd nach vorne rannte, aufdringlich und penetrant. Sein ständiges Lachen ging mir fürchterlich auf die Nerven. Das Zusammensein mit einem „Erleuchteten“ machte mich zu meinem Leidwesen keineswegs automatisch zu einer Heiligen. Zumindest dieser Satsang fand nicht im Himmel statt, sondern auf der Erde.

Auf der Erde ging das Leben denn auch ganz normal weiter nach den beiden Satsang-Abenden. Ich tat meine Arbeit im Seniorenheim, machte Ausflüge mit Ella oder allein und setzte mich auch immer mal wieder zum Leutegucken vors Stadtcafé oder in die Fußgängerzone. Den Antiquar sah ich nicht mehr. Ich wollte ihn auch nicht mehr sehen, gab dem Zufall zu verstehen, er möge sich bitte zurückhalten. Etwas hat sich grundlegend geändert. Kommt ein Gedanke an diesen Mann, so löst er nicht mehr Schmerz aus, sondern fühlbar Selbstliebe.

Ich bin nicht mehr fixiert auf den Antiquar. Doch leider immer noch ganz allgemein auf den Wunsch nach einem Partner. Und das trotz der weisen Erkenntnis, dass mich auch ein Partner nicht dauerhaft glücklich machen kann, wenn ich es nicht tief in mir drin selber bin.

Und? Bin ich es tief in mir drin? Eher nicht. Wieso sonst die Fixierung? Aber vielleicht macht die ja trotzdem Sinn? Mit einem Partner könnte ich immerhin einmal testen, wie tief das Glück schon in mich eingesunken ist.

Aber leider, leider, weit und breit kein Partner in Sicht. Und auch sonst ist nichts los. Hin und wieder ist mir regelrecht langweilig und plötzlich verstehe ich sogar die Frau im Nachbarhaus, die so oft im Fenster liegt, um nur ja alles mitzukriegen und dann darüber tratschen zu können, und auf diese Weise wenigstens ein klein wenig Abwechslung in ihrem gleichförmigen Alltag zu haben.

Nichts los. Rein gar nichts. Nun gut. Nicht wie ich es will, sondern wie der liebe Gott es will. Will er sich durch mich langweilen? Bitte sehr!

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Verdammt. Er ist wieder aufgetaucht. Gestern. Stand auf dem Bürgersteig, sah mich aber nicht. Trotzdem schlug mein Herz sofort los. Was mich sofort maßlos ärgerte.

Die kurze Episode mit ihm erscheint mir in der Rückschau wie eine kluge, ja, geradezu listige Inszenierung des Schicksals. Was hat mich letztendlich dazu gebracht, seinen Laden zu betreten? Der beabsichtigte Ladenverkauf meiner Kusine. Doch was ist? Der Antiquar hat sich ihren Laden zwar angesehen, sich dann aber nie wieder gemeldet. Und die Kusine will ihn auch längst nicht mehr verkaufen. Sieht doch ganz aus nach einer „Fallgrube“ nur für mich.

Wieder einmal tat ich etwas, was ich nie mehr tun wollte, kümmerte mich um anderer Leute Angelegenheiten, tat es in Wahrheit aber aus sehr eigennützigen Interessen heraus und plumps, schon ging es hinunter.

In Ordnung. Ich bin wieder raus aus der Grube und um wertvolle Erkenntnisse reicher. Hoffentlich bleiben sie mir erhalten. Ich hege den Verdacht, das Schicksal fädelt gerade die nächste Lektion ein. Eben sah ich den Mann nämlich schon wieder auf dem Bürgersteig. Und diesmal sah er mich auch. Wir strahlten uns an, während ich vorbeiging. Strahlt er jeden so an? Hat er sich gefreut, mich zu sehen?

Lieber nicht weiter darüber nachdenken. Bringt ja auch nichts. Lebe im Jetzt, lautet die Devise, die ich meiner spirituellen Lektüre entnommen habe. Lebe im Jetzt, nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft. Erwarte nichts und warte auf nichts.

Gern. Wenn ich es schaffe. Aber irgendetwas grummelt in mir. Von Minute zu Minute mehr. Ich glaube, ich brauche Bewegung. Ich mache eine Radtour am Fluss entlang. Am besten gleich nach dem Essen.

Ich stehe mit dem Fahrrad vor der Haustür, als ein fremder Mann vorbeikommt und fröhlich sagt, jetzt sei es ja doch noch Sommer und warm geworden.

„Zu dem, der warten kann, kommt alles mit der Zeit“, zitiere ich einen bekannten Spruch.

Der Fremde lacht: „Zu dem, der nicht warten kann, auch.“

Ich schaue ihm verblüfft nach. Wie Recht er hat. Zumindest was das Wetter angeht. Aber auch über mich selbst bin ich verblüfft. Was habe ich da gesagt? Ich will doch nicht mehr warten. Schon steigt wieder Unruhe auf und da fahre ich endgültig hinunter zum Fluss und Kilometer um Kilometer am Ufer entlang.

Ich fahre schnell und schneller, vergesse darüber glatt zu denken, fühle mich endlich wieder frei und leicht. Das Leben macht Spaß. Und ist im Grunde ein einziges großes Abenteuer.

„I am the world“, singe ich laut den Text im Walkman mit und brause an den Fußgängern vorbei. Plötzlich bin ich der Marlboro-Cowboy, der auf seinem feurigen Mustang über die Weiden galoppiert. Und ich bin der Motorradfahrer, der mit Hochgeschwindigkeit über die Straßen donnert und sich verwegen in die Kurven legt. Ich bin… Ja, was bin ich denn

noch alles?

Es denkt wieder. Wie im Akkord. Ich muss die nächste Bank ansteuern und eine Pause zum Denken einlegen.

Warten oder nicht warten? Vermutlich ist gleich, ob ich nun warte, nicht warte oder so tue, als ob ich nicht warte. Das Leben macht sowieso, was es will, und es macht es genau dann, wann es das will, und nicht dann, wenn ich genug gewartet habe. Etwas geschieht, weil es jetzt stimmig ist und ins Gesamt passt.

Ist es also stimmig, dass der Antiquar ein weiteres Mal die Bühne meines kleinen „Welttheaters“ betreten hat? Wenn ja, wozu dann aber? Ich jedenfalls werde nicht noch einmal auf ihn zugehen. Er ist dran.

Ja, will ich denn immer noch was von dem? Eher nein. Aber vielleicht doch. Oh, verdammt.

Loslassen, loslassen, loslassen… alle alten Muster und alle Erwartungen ans Leben, speziell an diesen Mann. Loslassen, loslassen, loslassen…

Es klappt nicht.

„Nichts tun gegen die Fixierung auf den Typen und nun auch noch aufs Warten“, sage ich mir also immer wieder aufs Neue. „Nichts tun. Weder dafür noch dagegen. Und nicht grübeln, wie du da wieder raus kommen könntest. Das ist völlig unnötig. Schau nur hin. Fühle hin. Hör dir selber zu.“

Da warte ich also wieder. Weniger auf den Antiquar als auf das, was sich tun wird in und mit mir. Ja, ich bin echt interessiert, gespannt sogar, was sich tun wird, wenn ich nichts tue.

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In den Träumen der letzten Wochen war ich viel mit der Vergangenheit beschäftigt und habe oft geweint. Einmal war ich in meinem Elternhaus, in dem nun jemand anders lebte und rief nach der Mutter, die plötzlich verschwunden war, genauso wie alle anderen Familienmitglieder auch. Beim Aufwachen wusste ich genau, dass ich trauere um etwas, was zu Ende ist. Außen wie innen. Das Haus ist verkauft, die Eltern sind tot und die, die ich einmal war, die bin ich fast schon nicht mehr.

Ich war sehr niedergedrückt in diesen Wochen, völlig antriebslos, fühlte mich oft todmüde, doch nun sitze ich endlich einmal wieder vor dem Café in der Fußgängerzone und bin überrascht von dem Wohlgefühl, das sich einstellt, sobald ich nur still hier sitze und schaue.

Und dann, es dauert gar nicht lange, denkt es wieder los und denkt und denkt und hört gar nicht mehr auf zu denken…

Was sagte Mike über Gedanken? Sie seien weder gut noch schlecht, weder nützlich noch schädlich. Gedanken seien einfach nur Gedanken. Zu allem Überfluss würden wir noch nicht einmal selbst bestimmen, welche Gedanken uns wann durch den Kopf gingen. „Nicht ihr denkt“, sagte er. „Da sind einfach Gedanken.“

Ein Sprichwort sagt: „Der Mensch denkt, Gott lenkt.“ Doch vielleicht denkt der Mensch nur, er denke. Möglicherweise ist er nur das Radio, das empfängt und wiedergibt, was im Äther herumschwirrt. So ähnlich hat Mike es uns jedenfalls zu erklären versucht.

Ist mein Gehirn also nur der Behälter, die Struktur, durch die etwas anschaulich, fühlbar und denkbar gemacht wird? Aber für wen? Für mich? Oder eher fürs Göttliche, das den Sender an- und einstellt und so bestimmt, wann ich was empfange?

Es denkt und denkt und denkt unaufhörlich weiter…

Wie ist das mit der Verantwortung, wenn ich gar nicht selbst bestimme, was ich denke? Bin ich dann nur „pro forma“, also nur als Form, verantwortlich? Habe ich in Wahrheit gar nichts zu tun mit dem, was das Allumfassende Bewusstsein ausdrückt mit Hilfe der Form, die ich in dieser Welt der Materie bin?

Mike zufolge sind auch unsere Handlungen längst im Gange, wenn wir daran denken, sie in Angriff zu nehmen. Er sagte, die moderne Hirnforschung unterstütze diese Behauptung, denn sie habe anhand von Messungen herausgefunden, dass im Gehirn bereits Impulse zu einer Tätigkeit auftauchen, bevor der Mensch sie in Angriff nehme.

Zu glauben, dass in Wahrheit alles ohne meine bewusste Entscheidung abläuft, ist mir unheimlich. Bedeutet es doch, keinerlei Kontrolle zu haben über das, was geschieht. Das ist in anderer Hinsicht allerdings auch sehr entlastend. Es gibt dann keine Schuld mehr und kein Versagen. Es gibt nur noch Ereignisse und Erfahrungen.

Hey, da kommt ja wer, den ich kenne. „Hedi, he, hallo“.

Ich springe auf und winke heftig in Richtung der Bekannten, die inmitten des Menschenstroms vorbeigeht, mich jedoch weder hört noch sieht. Beschämt setze ich mich wieder. Wie nötig ich es immer noch habe, gesehen zu werden. Wie sehr allein ich mich plötzlich fühle inmitten der vielen Menschen um mich herum.

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Mike ist wieder in der Nachbarstadt. Gut präpariert durch weitere erleuchtete Lektüre und eigenes Nach-Denken fuhr ich gestern Abend zu seinem zweistündigen Satsang, saß die ganze Zeit nur still da und genoss diese köstliche Ruhe innen drin. Da war kein Impuls, nach vorne zu gehen. Lieber nahm ich entspannt aus sicherer Entfernung Mikes wohltuende Ausstrahlung auf.

Ich weiß noch nicht einmal mehr, worüber gesprochen wurde. Ich weiß allerdings noch, dass es mich ziemlich einschüchterte, dass so viele der Anwesenden indische Namen hatten. Die waren alle schon bei indischen Meistern gewesen. Wie mutig. Ich hatte immer nur zu Hause gehockt und Bücher gelesen über Menschen, die auf der Suche nach Wahrheit bis nach Indien reisen.

Wieder war ich fasziniert von Mikes Gesicht, das sich fortwährend zu verändern schien. Manchmal schloss er plötzlich seine Augen und - verflixt, schon die Erinnerung treibt mir die Tränen in meine - Stille und Frieden waren so deutlich wahrnehmbar, dass ich mich bis in die Tiefe angerührt fühlte. Manchmal schwieg er lange und schaute den Menschen vor ihm der Reihe nach in die Augen. Auch mir.

Da saß ich also, ich, die zeitlebens gesehen werden wollte, und wurde wirklich gesehen. Immer wieder musste ich Mike anschauen, konnte mich nicht satt sehen an seinen Augen, an diesem ruhigen, liebevollen oder strahlenden Ausdruck, den seine Gesichtszüge manchmal annahmen. Ich glaube, ich liebe den Mann bereits. Nein, nicht den Menschen Mike. Ich liebe das, was er verkörpert und ausstrahlt, seine hundert Gesichter, sein Schweigen, sein Dasein. Und deshalb bin ich sogar bereit, nahezu das gesamte Wochenende mit ihm zu verbringen. Heute und morgen geht das „Zusammensein in Wahrheit“ von mittags bis abends. Oh, höchste Zeit, zum Zug zu gehen.