Der Ermittler - Lee Child - E-Book
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Der Ermittler E-Book

Lee Child

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Beschreibung

Eine Terrorzelle plant einen Anschlag in Hamburg, und die U.S. Army schickt ihren besten Mann, um sie aufzuhalten: Jack Reacher

Im Jahr 1996 belauscht ein Undercover-Agent der CIA ein Gespräch zwischen islamistischen Terroristen in Hamburg. »Der Amerikaner will hundert Millionen Dollar.« Doch er kann nicht herausfinden, wer diese Summe verlangt und wofür. Fest steht nur, dass es um einen Terroranschlag in ungeahntem Ausmaß geht. Die CIA stellt eine Spezialeinheit auf, um in Deutschland zu ermitteln. Dafür zieht sie mit Jack Reacher auch den besten Militärpolizisten hinzu, den die U.S. Army zu bieten hat. Und Reacher zögert keine Sekunde, die beste Ermittlerin, die er kennt, als Unterstützung hinzuzuziehen: Sergeant Frances Neagley.

Dies ist der 21. in sich abgeschlossene Roman der Jack-Reacher-Serie. Wenn er Sie begeistert, verpassen Sie nicht die anderen Fälle des härtesten Ermittlers des 21. Jahrhunderts.

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Seitenzahl: 479

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Buch

Im Jahr 1996 belauscht ein Undercover-Agent der CIA ein Gespräch zwischen islamistischen Terroristen in Hamburg. »Der Amerikaner will hundert Millionen Dollar.« Doch er kann nicht herausfinden, wer diese Summe verlangt und wofür. Fest steht nur, dass es um einen Terroranschlag in ungeahntem Ausmaß geht. Die CIA stellt sofort eine Spezialeinheit auf, um in Deutschland zu ermitteln, und zieht dafür auch den besten Militärpolizisten hinzu, den die U.S. Army zu bieten hat: Jack Reacher.

Autor

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit mehreren hoch dotierten Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem »Anthony Award«, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.

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Lee Child

Der Ermittler

Ein Jack-Reacher-Roman

Deutsch von Wulf Bergner

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Night School (21 Reacher)« bei Bantam Press, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2016 by Lee Child

Published by Agreement with Lee Child

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: mauritius images/Ingo Boelter; Arcangel Images (Stephen Mulcahey; Richard Nixon)

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25245-8V004

www.blanvalet.de

Den Männern und Frauen in aller Welt, die dieses Zeug beruflich machen, mit hoher Wertschätzung gewidmet

1

Morgens verliehen sie Reacher einen Orden, und nachmittags schickten sie ihn wieder auf die Schule. Die Auszeichnung war eine weitere Legion of Merit. Seine zweite. Ein attraktiver weiß emaillierter Orden an einem Band zwischen Rot und Purpurrot. Laut Heeresdienstvorschrift 600-8-22 konnte er für außergewöhnlich verdienstvolles Verhalten zum Vorteil der Vereinigten Staaten in wichtiger, verantwortlicher Position verliehen werden. Das war eine Latte, die Reacher seiner Überzeugung nach zumindest theoretisch übersprungen hatte. Aber der wahre Grund für die Auszeichnung war derselbe wie beim ersten Mal, nämlich ein Tauschhandel. Eine Belohnung für Vertragstreue. Nimm den Klunker und red nicht darüber, was du dafür tun musstest. Was Reacher ohnehin nicht getan hätte. Sein Auftrag war nicht der Rede wert gewesen. Polizeiarbeit auf dem Balkan, eine Fahndung nach zwei Männern, die militärische Geheimnisse hätten verraten können, beide rasch identifiziert, aufgespürt, aufgesucht und in den Kopf geschossen. Als ein Teil des Friedensprozesses. Der gewünschte Zweck wurde erreicht, die Region kam etwas zur Ruhe. Zwei Wochen seines Lebens. Vier Schüsse abgegeben. Keine große Sache.

Die Dienstvorschrift 600-8-22 drückte sich überraschend vage darüber aus, wie Orden überreicht werden sollten. Sie sprach nur von dem Anlass entsprechender Feierlichkeit und einer würdigen Zeremonie. Im Allgemeinen bedeutete das einen großen Raum mit vergoldeten Möbeln und mehreren Fahnen als Hintergrund. Und einen höheren Offizier, als es der Auszuzeichnende war. Reacher war ein Major mit zwölf Dienstjahren, aber an diesem Morgen wurden weitere Orden verliehen, drei an ein Trio aus Colonels und zwei an Einsternegenerale; deshalb war ein Dreisternegeneral aus dem Pentagon gekommen, den Reacher von früher kannte, als der Mann in Fort Myer ein Bataillon der Militärpolizei kommandierte. Ein Denker. Jedenfalls clever genug, um sich auszurechnen, wofür ein MP-Major eine Legion of Merit erhielt. Das hatte sein Blick gezeigt. Halb ironisch, halb die Einhaltung des Deals fordernd. Nimm den Klunker und halt die Klappe. Vielleicht hatte der Kerl einschlägige eigene Erfahrungen gemacht. Vielleicht mehr als nur einmal. Auf der linken Brust seines Dienstanzugs trug er einen veritablen Obstsalat aus Orden. Darunter zweimal die Legion of Merit.

Der angemessen feierliche Raum lag tief im Inneren von Fort Belvoir, Virginia. Nicht allzu weit vom Pentagon entfernt, was günstig für den Dreisternegeneral war. Auch günstig für Reacher, der sich seit seiner Rückkehr im ebenfalls nahen Rock Creek herumgetrieben hatte. Weniger günstig für die anderen Offiziere, die aus Deutschland eingeflogen worden waren.

Die Eingeladenen schüttelten sich die Hände, bildeten kleine Gruppen, machten Konversation, und dann verstummten alle, traten in einer Reihe an, nahmen Haltung an und salutierten. Auszeichnungen wurden angesteckt, und danach entstanden wieder kleine Gruppen, die Konversation machten, bevor alle sich nochmals die Hände schüttelten. Reacher strebte unauffällig zur Tür, um zu verschwinden, aber der Dreisternegeneral fing ihn ab, bevor er sie erreichte. Der Mann schüttelte ihm die Hand, fasste ihn am Ellbogen und sagte: »Wie ich höre, gibt es eine neue Verwendung für Sie.«

Reacher entgegnete: »Mir hat keiner was gesagt. Noch nicht. Wo haben Sie das gehört?«

»Von meinem ersten Sergeant. Die reden alle miteinander. Die Unteroffiziere der U.S. Army haben den effizientesten Flurfunk der Welt. Der verblüfft mich immer wieder.«

»Wohin soll ich ihrer Ansicht nach?«

»Das wissen sie nicht bestimmt. Aber nicht weit weg. Jedenfalls mit dem Auto erreichbar. Die Fahrbereitschaft hat eine Anforderung bekommen.«

»Wann soll ich davon erfahren?«

»Irgendwann im Lauf des Tages.«

»Danke«, sagte Reacher. »Gut zu wissen.«

Der Dreisternegeneral ließ seinen Ellbogen los. Reacher schob sich in Richtung Tür weiter und trat auf den Gang hinaus, wo ein Sergeant First Class sich vor ihm aufbaute und salutierte. Er war außer Atem, als wäre er weit gerannt. Vielleicht kam er aus dem entfernten Teil des Forts, in dem wirklich gearbeitet wurde.

Der Kerl sagte: »Sir, eine Bitte von General Garber, Sie möchten ihn möglichst bald in seinem Dienstzimmer aufsuchen.«

Reacher fragte: »Und wo ist es, Soldat?«

»Mit dem Auto erreichbar«, sagte der Mann. »Aber das kann hier alles Mögliche bedeuten.«

Garbers Dienstzimmer lag im Pentagon, deshalb ließ Reacher sich von zwei Captains mitnehmen, die in Fort Belvoir wohnten, aber nachmittags Dienst im Ring B hatten. Das Dienstzimmer des Generals im ersten Stock von Ring D wurde von einem Sergeant im Vorzimmer bewacht, der aufstand, Reacher hineinführte und wie ein Butler in einem alten Film laut seinen Namen nannte. Danach wollte der Kerl wieder gehen, aber Garber hielt ihn zurück und sagte: »Sergeant, ich möchte, dass Sie bleiben.«

Ein Zeuge.

Garber sagte: »Setzen Sie sich, Reacher.«

Reacher nahm in einem Stahlrohrsessel Platz, der unter seinem Gewicht nachgab und ihn nach hinten kippte, als wehte ein stürmischer Wind.

Garber sagte: »Für Sie gibt es eine neue Verwendung.«

Reacher fragte: »Was und wo?«

»Sie gehen wieder zur Schule.«

Reacher schwieg.

Garber fragte: »Enttäuscht?«

Deshalb der Zeuge, vermutete Reacher. Dies war kein Privatgespräch, also musste er sich benehmen. Er sagte: »Ich gehe immer überall gerne hin, General, wohin die Army mich schickt.«

»Das klingt nicht glücklich. Aber Sie sollten’s sein. Karriereförderung ist eine wunderbare Sache.«

»Welche Schule?«

»Die Einzelheiten finden Sie bei Ihrer Rückkehr auf Ihrem Schreibtisch vor.«

»Wie lange bin ich weg?«

»Das hängt davon ab, wie gut Sie arbeiten. So lange wie nötig, denke ich.«

Reacher stieg auf dem Parkplatz des Pentagon in einen Bus und fuhr zwei Haltestellen weit zum Fuß des Hügels mit dem Rock Creek HQ. Er ging den Hügel hinauf und geradewegs in sein Dienstzimmer. Mitten auf seinem Schreibtisch lag ein dünner Schnellhefter mit seinem Namen, ein paar Zahlen und der Bezeichnung des Lehrgangs: Auswirkungen innovativer Ermittlungsmethoden auf die Zusammenarbeit von Bundesbehörden. Zu den Unterlagen in dem Ordner gehörte seine Abkommandierung an einen Ort, der eine gemietete Immobilie in einem Gewerbepark in McLean, Virginia, zu sein schien. Dort sollte er sich bis spätestens siebzehn Uhr in Zivilkleidung melden. Auch wohnen würde er dort. Einen Wagen ohne Fahrer würde ihm die Fahrbereitschaft stellen.

Reacher klemmte sich den Ordner unter den Arm und verließ das Gebäude. Niemand beachtete ihn. Er interessierte nicht mehr. Die Unteroffiziere hatten den Atem angehalten, aber nur einen komischen Lehrgang mit einem erfundenen Namen bekommen. Nichts Aufregendes. Deshalb war er jetzt eine Unperson. Aus dem Verkehr gezogen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Wie ein Baseballspieler im Krankenstand. In einem Monat würde irgendjemand sich vielleicht kurz an ihn erinnern und sich fragen, wann – und ob überhaupt – er zurückkommen würde, um ihn dann ebenso schnell wieder zu vergessen.

Der Sergeant vom Dienst am Ausgang hob den Kopf und sah dann gelangweilt weg.

Reacher besaß kaum Zivilkleidung, die noch dazu teilweise nicht wirklich zivil war. Seine Zivilhose war eine fast dreißig Jahre alte Khakihose des Marine Corps. Er kannte einen Kerl, der einen Kerl kannte, der in einem Lagerhaus arbeitete, in dem wegen einer Fehlbuchung eine alte Lieferung aus der Zeit lagerte, als Lyndon B. Johnson noch Präsident war. Und die Pointe war offenbar, dass alte MC-Hosen genau wie neue Khakihosen von Ralph Lauren aussahen. Allerdings war es Reacher ziemlich egal, wie seine Hose aussah. Aber fünf Bucks waren ein attraktiver Preis. Und die Hose war klasse. Ungetragen, nie ausgegeben, steif gefaltet, ein bisschen muffig, aber mindestens dreißig weitere Jahre haltbar.

Auch seine T-Shirts konnte man nicht gerade als zivil bezeichnen, denn er trug alte T-Shirts der Army, die durch vieles Waschen dünn und ausgebleicht waren. Nur seine Jacke wirkte eindeutig zivil: eine beige Jeansjacke von Levi’s mit Originaletikett, von der Mutter einer alten Freundin in Seoul genäht.

Er zog sich um, packte sein restliches Zeug in eine Sporttasche und einen Kleidersack und trug beides zum Bordstein, wo ein schwarzer Chevy Caprice parkte. Vermutlich ein alter MP-Streifenwagen, jetzt mit abgezogenen weißen Aufklebern und Gummistöpseln in den Bohrungen für Blinklichter und Antennen. Der Zündschlüssel steckte. Der Fahrersitz war durchgesessen. Aber der Motor sprang an, die Schaltung funktionierte und die Bremsen waren in Ordnung. Reacher wendete schwerfällig und nahm mit offenen Fenstern und eingeschaltem Radio Kurs auf McLean, Virginia.

Der Gewerbepark war einer von vielen, die alle gleich aussahen: braun und beige, diskrete Firmenschilder, gepflegte Rasenflächen, niedrige Gebäude in Zweier- und Dreiergruppen für Leute, die sich hinter nüchternen, nichtssagenden Firmennamen und den getönten Scheiben ihrer Bürofenster verbargen. Reacher fand die richtige Adresse in einer nummerierten Straße und bog hinter einem in Kniehöhe angebrachten Schild mit der fast kindlich schlichten Aufschrift Educational Solutions Incorporated ab.

Vor dem Eingang standen zwei weitere Caprices. Einer war schwarz, der andere dunkelblau. Beide waren neuer als Reachers Wagen und richtige Zivilfahrzeuge ohne Gummistopfen oder überstrichene Türen. Eindeutig Dienstwagen, sauber und glänzend poliert, jeder mit zwei Antennen mehr, als der Fahrer brauchte, um Sportsendungen hören zu können. Aber die zusätzlichen Antennen waren nicht gleich. Der schwarze Wagen hatte kurze Nadeln, der blaue dagegen anders angeordnete lange Peitschen. Für unterschiedliche Frequenzen.

Zusammenarbeit von Bundesbehörden.

Reacher parkte daneben und ließ seine Sachen im Auto. Er betrat einen menschenleeren Eingangsbereich mit haltbarer grauer Auslegeware und grünen Farnen in großen Töpfen zwischen bodentiefen Fenstern. Hier gab es eine Tür mit der Aufschrift Büro. Und eine weitere, auf der Lehrsaal stand. Reacher öffnete sie. An der Rückwand des Raums hing eine grüne Wandtafel, vor der in vier Fünferreihen zwanzig Collegestühle standen, jeder rechts mit einer kleinen Ablage für Papier und Schreibzeug ausgestattet.

Auf zwei Stühlen saßen zwei Kerle, beide in Anzügen. Einer der Anzüge war schwarz, der andere dunkelblau. Genau wie die Autos. Beide Männer sahen geradeaus, als hätten sie miteinander geredet, wüssten aber kein neues Thema mehr. Sie waren ungefähr in Reachers Alter. Der Mann in dem schwarzen Anzug war blass und trug sein dunkles Haar gefährlich lang für jemanden, der einen staatlichen Dienstwagen fuhr. Der Mann in dem blauen Anzug war blass und hatte einen aschblonden Bürstenhaarschnitt. Wie ein Astronaut. Auch wie ein Astronaut gebaut – oder ein noch bis vor Kurzem in Wettkämpfen aktiver Turner.

Reacher trat ein, und die beiden drehten sich zu ihm um.

Der Dunkelhaarige fragte: »Wer sind Sie?«

Reacher antwortete: »Das kommt darauf an, wer Sie sind.«

»Ihre Identität hängt von meiner ab?«

»Ob ich’s Ihnen sage oder nicht. Sind das dort draußen Ihre Autos?«

»Ist das wichtig?«

»Aufschlussreich.«

»Wieso?«

»Weil sie unterschiedlich sind.«

»Ja«, sagte der Kerl, »das sind unsere Wagen. Und ja, Sie befinden sich in einem Lehrsaal mit Vertretern zweier verschiedener Behörden. In einer Schule für Zusammenarbeit. In der wir lernen sollen, mit anderen Organisationen zu kooperieren. Bitte erzählen Sie mir nicht, dass Sie aus einer davon kommen.«

»Militärpolizei«, erklärte Reacher. »Aber keine Angst, bis siebzehn Uhr sind bestimmt viele zivilisierte Leute hier. Dann können Sie mit denen reden und mich links liegen lassen.«

Der Kerl mit dem Bürstenhaarschnitt sah auf und sagte: »Nein, außer uns kommt niemand, glaube ich. Hier sind nur drei Zimmer vorbereitet. Ich hab mich umgesehen.«

Reacher fragte: »Welche staatliche Schule hat nur drei Schüler? Das habe ich noch nie gehört.«

»Vielleicht sind wir Lehrer. Vielleicht wohnen die Schüler anderswo.«

Der Dunkelhaarige sagte: »Ja, das klingt vernünftiger.«

Reacher dachte an das Gespräch in Garbers Dienstzimmer und meinte: »Mein Mann hat von Karriereförderung gesprochen. Ich hatte den starken Eindruck, ich sollte etwas bekommen, statt etwas zu geben. Außerdem hat er angedeutet, dass ich mit harter Arbeit schneller fertig werden könnte. Insgesamt halte ich mich nicht für einen Lehrer. Hat Ihr Auftrag sehr viel anders geklungen?«

Der Kerl mit Bürstenhaarschnitt entgegnete: »Eigentlich nicht.«

Der Langhaarige äußerte sich nicht dazu, aber sein spekulatives Schulterzucken schien anzudeuten, jemand mit viel Fantasie könnte auch seinen Auftrag für wenig eindrucksvoll halten.

Der Typ mit Bürstenhaarschnitt sagte: »Ich bin Casey Waterman, FBI.«

»Jack Reacher, United States Army.«

Der Langhaarige sagte: »John White, CIA.«

Sie schüttelten sich die Hand und versanken wieder in das Schweigen, das Reacher bei seiner Ankunft vorgefunden hatte. Es gab kein gemeinsames Thema mehr. Er setzte sich so, dass er Waterman links vor sich und White rechts vor sich hatte. Waterman war sehr ruhig, aber wachsam. Er wartete geduldig, sparte vorerst Energie. Nicht zum ersten Mal. Er war ein erfahrener Agent. Bestimmt kein Neuling. Auch White war keiner, aber ein völlig anderer Typ. Er konnte keinen Augenblick stillhalten. Er zuckte, wand sich und wrang die Hände, er starrte ins Leere, fixierte abwechselnd nahe und ferne Dinge, kniff manchmal die Augen zusammen und schnitt Grimassen, schaute nach links, schaute nach rechts und wirkte wie jemand, der, in quälenden Gedanken gefangen, keinen Ausweg sieht. Ein Analyst, vermutete Reacher, der seit vielen Jahren in einer Welt aus zweifelhaften Informationen und Doppel-, Dreifach- und Vierfachbluffs lebte. Der Mann hatte ein Recht darauf, einen leicht verstörten Eindruck zu vermitteln.

Keiner sprach.

Nach fünf Minuten brach Reacher das Schweigen und fragte: »Verstehen wir uns wirklich nicht? Das FBI, meine ich, die CIA und die MPs. Ich weiß eigentlich nichts von großem Zoff. Ihr vielleicht?«

Waterman antwortete: »Sie ziehen die falsche Schlussfolgerung, fürchte ich. Hier geht’s nicht um Geschichte, sondern um die Zukunft. Die da oben wissen bereits, dass wir kooperieren. Diese Tatsache können sie nutzen. Denken Sie an die erste Hälfte der Bezeichnung dieses ›Lehrgangs‹. Hier geht’s ebenso um Innovation wie um Zusammenarbeit. Und Innovation bedeutet, dass sie Geld sparen wollen. Wir alle werden in Zukunft noch mehr zusammenarbeiten müssen. Indem wir uns Labors teilen. Vielleicht bauen sie einen neuen Komplex, den wir dann gemeinsam nutzen. Das ist meine Vermutung. Wir sind hier, um zu erfahren, wie das funktionieren soll.«

»Unsinn«, sagte Reacher. »Ich verstehe nichts von Labors oder Organisationsfragen. Ich wäre der Letzte, der dazu etwas beitragen könnte.«

»Ich auch«, meinte Waterman. »Ehrlich gesagt nicht meine Stärke.«

»Das ist nicht nur Unsinn«, erklärte White, zuckend und sich windend und die Hände wringend, »sondern ungeheure Zeitverschwendung. Im Augenblick laufen viel zu viele weit wichtigere Dinge.«

Reacher fragte: »Sind Sie von einer Aufgabe abgezogen und hergeschickt worden? Haben Sie etwas unerledigt zurückgelassen?«

»Nein. Ich sollte auf einen neuen Posten versetzt werden. Ich hatte gerade eine Sache abgeschlossen. Erfolgreich, denke ich – und dies ist der Lohn dafür.«

»Sie müssen das Positive daran sehen. Sie können relaxen. Eine Auszeit nehmen. Golf spielen. Sie brauchen nicht zu lernen, wie das funktionieren kann. Der CIA sind Labore scheißegal. Sie benutzt kaum welche.«

»Die hier vertane Zeit fehlt mir bei dem neuen Job, mit dem ich sofort anfangen müsste.«

»Bei welchem Job?«

»Das darf ich nicht sagen.«

»Wer übernimmt ihn an Ihrer Stelle?«

»Auch das darf ich nicht sagen.«

»Ein guter Analyst?«

»Nicht gut genug. Er wird Dinge übersehen. Die könnten entscheidend wichtig sein. Dieses Zeug lässt sich unmöglich vorhersagen.«

»Welches Zeug?«

»Das darf ich nicht sagen.«

»Aber wichtiges Zeug, richtig?«

»Viel wichtiger als dies hier.«

»Welche Sache hatten Sie abgeschlossen?«

»Das darf ich nicht sagen.«

»Haben Sie zum Vorteil der Vereinigten Staaten in verantwortlicher Position außergewöhnlich verdienstvoll gehandelt?

»Was?«

»Oder so ähnlich.«

»Ja, das würde ich sagen.«

»Aber dies war Ihr Lohn dafür.«

Waterman sagte: »Meiner auch. Ich sitze im selben Boot. Er hat praktisch meine Geschichte erzählt. Ich hatte eine Beförderung erwartet. Nicht das hier.«

»Ein Beförderung wofür? Oder wonach?«

»Wir haben einen großen Fall abgeschlossen.«

»Was für einen Fall?«

»Eine Verbrecherjagd. Die Fährte war viele Jahre alt und schon sehr kalt. Aber wir haben’s geschafft.«

»Zum Vorteil der Vereinigten Staaten?«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich vergleiche White und Sie. Und ich sehe keine großen Unterschiede. Sie sind beide sehr gute Agenten, relativ hochrangig, die als loyal, verlässlich und vertrauenswürdig gelten. Sie waren in letzter Zeit erfolgreich – und dies ist ihr Lohn. Dafür kann es zwei Erklärungen geben.«

»Nämlich?«, fragte White.

»Vielleicht hat Ihr Erfolg bestimmte Kreise in Verlegenheit gebracht. Vielleicht muss man ihn jetzt dementieren. Vielleicht muss man sie deswegen verstecken. Aus den Augen, aus dem Sinn.«

White schüttelte den Kopf und erklärte: »Nein, er ist gut angekommen. Ganz außer Zweifel. Ich habe eine geheime Auszeichnung bekommen. Und ein persönliches Schreiben des Außenministers. Die Sache muss auch nicht dementiert werden, weil sie streng geheim war. Außer ein paar Leuten hat niemand davon gewusst.«

Reacher sah zu Waterman hinüber. »War an Ihrer Verbrecherjagd irgendwas peinlich?«

Waterman schüttelte den Kopf, dann fragte er: »Und die zweite Möglichkeit?«

»Dies ist keine Schule.«

»Was denn sonst?«

»Ein Ort, an den gute Agenten geschickt werden, die gerade einen großen Erfolg erzielt haben.«

Waterman hielt einen Moment inne. Ein neuer Gedanke. Er fragte: »Sind Sie wie wir? Das wäre nur logisch, denke ich. Nicht zwei, sondern drei Leute mit gleichen Voraussetzungen.«

Reacher nickte. »Ich bin wie Sie. Nach einem großen Erfolg habe ich erst heute Morgen einen Orden bekommen. An einem Band um den Hals gehängt. Für einen gut ausgeführten Auftrag. Alles sauber und ordentlich. Nichts, was jemanden in Verlegenheit bringen könnte.«

»Was für ein Auftrag war das?«

»Das ist bestimmt geheim. Aber ich weiß aus verlässlicher Quelle, dass jemand in ein Haus eingedrungen ist und den Bewohner in den Kopf geschossen hat.«

»Wo?«

»Einmal in die Stirn, einmal hinter dem Ohr. Todsichere Methode.«

»Nein, wo hat das Haus gestanden?«

»Das ist bestimmt auch geheim. Aber in Übersee, denke ich. Wie ich höre an einem Ort mit vielen Konsonanten im Namen. Nur sehr wenige Vokale. Und der Attentäter hat in der folgenden Nacht erneut zugeschlagen. In einem anderen Haus. Ebenfalls aus guten Gründen. Daher hätte ich erwartet, dass er bei seiner nächsten Verwendung würde mitreden dürfen. Dass er vielleicht sogar die Wahl zwischen mehreren gehabt hätte.«

»Genau«, sagte White. »Und ich hätte mir dies hier niemals ausgesucht. Ich wäre jetzt dort, wo ich dringend gebraucht werde.«

»Das klingt anspruchsvoll.«

»Sehr.«

»Was typisch ist. Als Belohnung wollen wir eine Herausforderung und keine leichten Aufgaben. Wir drei wollen nach oben.«

»Genau.«

»Vielleicht sind wir schon dort«, meinte Reacher. »Dazu eine Frage: Wie habt ihr eure Anweisungen bekommen? Mündlich oder schriftlich?«

»Mündlich. Das ging gar nicht anders.«

»War dabei eine dritte Person anwesend?«

White sagte: »Seltsamerweise ja. Das fand ich demütigend. Eine Assistentin, die einen Stapel Akten gebracht hatte. Er hat sie zum Bleiben aufgefordert, und sie stand einfach nur da.«

Reacher sah zu Waterman hinüber, der jetzt nickte. »Bei mir war’s ähnlich. Er hat seine Sekretärin gebeten dazubleiben. Das ist sonst nicht üblich. Woher wussten Sie das?«

»Weil es mir ähnlich ergangen ist. Sein Sergeant. Als Zeuge. Aber auch als Klatschmaul. Das war die eigentliche Absicht. Alle reden miteinander. Binnen Minuten wussten alle, dass es für mich keinen tollen Auftrag geben würde. Nur einen bedeutungslosen Lehrgang mit einem großspurigen Namen. Ich war sofort unwichtig. Vom Radar verschwunden. Die Nachricht hat bestimmt längst die Runde gemacht. Ich bin eine Unperson. In den Nebeln der Bürokratie verloren gegangen. Vielleicht war das bei Ihnen auch so. Vielleicht haben Assistentinnen und FBI-Sekretärinnen eigene Nachrichtennetze. Trifft das zu, sind wir drei jetzt die unsichtbarsten Personen der Welt. Niemand fragt nach uns. Keiner interessiert sich für uns. Niemand kann sich auch nur an uns erinnern. Es gibt nichts Langweiligeres als unseren jetzigen Aufenthaltsort.«

»Sie meinen, jemand hat drei voneinander unabhängige Topleute ganz unters Radar gebracht. Wozu?«

»›Unters Radar‹ ist zu wenig. Wir bilden hier einen Lehrgang. Wir sind völlig unsichtbar.«

»Wozu? Und wieso wir drei? Was verbindet uns?«

»Das weiß ich nicht. Aber es geht bestimmt um ein spannendes Projekt. Vielleicht um etwas, das drei Topleute als zufriedenstellende Belohnung für geleistete Dienste betrachten könnten.«

»Wo sind wir hier?«

»Das weiß ich nicht«, wiederholte Reacher. »Aber dies ist keine Schule. Das steht verdammt fest.«

Punkt siebzehn Uhr bogen zwei schwarze Vans von der Straße ab, fuhren an dem kniehohen Firmenschild vorbei und parkten hinter den drei Caprices, die sie damit blockierten. Aus beiden Wagen stiegen je zwei Männer. Secret Service oder U.S. Marshals. Die beiden Paare sahen sich kurz um, nickten einander zu und wandten sich wieder den Vans zu, um ihre Bosse aussteigen zu lassen.

Aus dem zweiten Van stieg eine Frau. Sie hielt einen Aktenkoffer in einer Hand und einen Stapel Papier in der anderen. Sie trug ein elegantes schwarzes Kleid. Knielang, doppelt verwendbar: tagsüber mit Perlen in hohen, stillen Bürosuiten, abends mit Brillanten auf Cocktailpartys und bei Empfängen. Sie war älter als Reacher, ungefähr zehn Jahre. Mitte vierzig, aber jünger aussehend. Sehr attraktiv. Ihr mittelblondes Haar wirkte sorgfältig gestylt, sodass es aussah, als wäre sie nur mit den Fingern hindurchgefahren. Sie war überdurchschnittlich groß und schlank.

Dann stieg aus dem ersten Van ein Mann, den Reacher sofort erkannte. Sein Gesicht war einmal pro Woche in der Zeitung zu sehen – und im Fernsehen weit öfter, weil er nicht nur in seiner Funktion Nachrichtenwert besaß, sondern auch auf vielen Fotos und Archivmaterial mit Besuchern und von Diskussionen in Hemdsärmeln im Oval Office des Weißen Hauses auftauchte. Es handelte sich um Alfred Ratcliffe, den Nationalen Sicherheitsberater. Der engste Mitarbeiter des Präsidenten, wenn es um Dinge ging, die vielleicht nicht gut ausgehen würden. Der Mann für alle Fälle. Die rechte Hand des Präsidenten. Angeblich war er fast siebzig, aber das sah man ihm nicht an – ein alter Überlebenskünstler aus dem Außenministerium, der schon mehrmals in Ungnade gefallen war, wenn der Wind sich drehte, aber so lange durchgehalten hatte, bis sein immer bewiesenes Rückgrat ihm den besten aller Jobs einbrachte.

Die Frau schloss sich ihm an, und die beiden liefen von den Anzugträgern begleitet auf die Eingangstür zu. Reacher hörte, wie sie sich öffnete. Dann waren Schritte im Eingangsbereich zu vernehmen. Anschließend betraten alle den Lehrsaal. Zwei Anzüge bildeten die Vorhut und gingen zur Wandtafel. Radcliffe und die Frau folgten ihnen, machten vor der Tafel halt und wandten sich genau wie Lehrer bei Unterrichtsbeginn dem Raum zu.

Ratcliffe musterte erst White, dann Waterman und zuletzt Reacher, der ganz hinten saß.

Er sagte: »Dies ist keine Schule.«

2

Die Frau beugte leicht die Knie und legte ihren Aktenkoffer und den Stapel Papiere auf den Fußboden. Ratcliffe trat einen halben Schritt vor und sagte: »Sie wissen, dass Sie unter Vortäuschung falscher Tatsachen hergebracht worden sind. Aber wir wollten kein Aufsehen erregen. Eine kleine Irreführung war besser. Wir wollen unbemerkt bleiben. Wenigstens zu Anfang.«

Dann legte er eine leicht dramatische Pause ein, als würde er zu Fragen einladen, aber niemand fragte etwas. Nicht einmal: Der Anfang von was? Es war besser, den Mann ausreden zu lassen. Das schien immer sicherer zu sein, wenn Befehle von ganz oben kamen.

Ratcliffe fragte: »Wer von Ihnen kann die nationale Sicherheitspolitik dieser Regierung in einfachen Worten darstellen?«

Niemand sprach.

Ratcliffe fragte: »Wieso antwortet keiner?«

Waterman begnügte sich damit, ins Leere zu starren. White zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, ein so komplexer Sachverhalt lasse sich nicht einfach ausdrücken; außerdem seien Begriffe wie Einfachheit und Schlichtheit völlig subjektiv, was als Erstes eine Diskussionsrunde erfordere, um sie zu definieren.

Reacher sagte: »Das ist eine trickreiche Frage.«

Ratcliffe fragte: »Sie glauben, dass unsere Politik sich nicht einfach erklären lässt?«

»Ich glaube, dass keine existiert.«

»Sie halten uns für unfähig?«

»Nein, ich glaube, dass die Welt sich ständig wandelt. Da bleibt man besser flexibel.«

»Sind Sie der Militärpolizist?«

»Ja, Sir.«

Ratcliffe machte erneut eine Pause, dann sagte er: »Vor etwas über drei Jahren ist in der Tiefgarage eines Wolkenkratzers in New York City eine Bombe detoniert. Für die Toten und Verletzten natürlich eine persönliche Tragödie, aber aus globaler Sicht kein sehr bedeutendes Ereignis. Nur ist die Welt in dieser Sekunde ausgerastet. Je mehr wir uns damit beschäftigt haben, desto weniger haben wir gesehen und verstanden. Wir hatten offenbar überall Feinde, aber wir wussten nicht bestimmt, wer sie waren, wo sie waren, weshalb sie Feinde waren, welche Verbindungen zwischen ihnen bestanden, was sie von uns wollten und was sie als Nächstes tun würden. Wir waren ahnungslos. Aber immerhin haben wir uns das eingestanden, weshalb wir keine Zeit damit vergeudeten, Strategien gegen bis dahin unbekannte Gefahren zu entwickeln. Wir waren der Meinung, dadurch könnte ein falsches Sicherheitsgefühl entstehen. Deshalb besteht unser Standardverfahren jetzt daraus, wie mit Feuer unterm Hintern herumzulaufen und zehn Dinge gleichzeitig zu erledigen, sobald sie auftauchen. Wir kümmern uns um alles, weil wir müssen. In etwas über drei Jahren beginnt das neue Jahrtausend, das in allen Hauptstädten rund um den Globus gefeiert wird, was diesen speziellen Tag zum größten Propagandaziel der Weltgeschichte macht. Wir müssen frühzeitig ermitteln, wer diese Kerle sind. Alle diese Kerle. Deshalb dürfen wir nichts ignorieren.«

Keiner sprach.

Ratcliffe sagte: »Übrigens brauche ich mich Ihnen gegenüber nicht zu rechtfertigen. Aber Sie müssen die Theorie kennen. Wir setzen nichts voraus und lassen nichts unversucht.«

Niemand fragte irgendetwas. Nicht einmal, in welche Richtung ihre Ermittlungen gehen sollten. Immer sicherer, nur zu reden, wenn man angesprochen wurde. Besser, einfach abzuwarten.

Ratcliffe wandte sich der Frau zu und sagte: »Dies ist Dr. Marian Sinclair, meine Stellvertreterin. Sie übernimmt die restliche Einsatzbesprechung. Hinter jedem einzelnen Wort, das sie sagt, stehe ich – und folglich auch der Präsident. Ohne Wenn und Aber. Vielleicht sind Ihre Ermittlungen Zeitvergeudung und führen zu nichts, aber bis wir das wissen, haben sie allerhöchste Priorität. Wir lassen nichts unversucht. Und Sie bekommen alles, was Sie brauchen.«

Und dann hastete der Mann von zwei Anzügen eskortiert hinaus. Reacher hörte sie das Gebäude verlassen und wie der Motor ihres Vans ansprang, bevor sie wegfuhren. Dr. Marian Sinclair zog einen Stuhl aus der ersten Reihe heraus, drehte ihn um und setzte sich: eine attraktive Frau mit gebräunten Armen, blickdichten Nylons und teuren Schuhen. Sie schlug die Beine übereinander und sagte: »Rückt zusammen.«

Reacher setzte sich so in die dritte Reihe, dass er mit Waterman und White einen präzisen Halbkreis bildete. Sinclairs Miene war offen und aufrichtig, aber von Stress und Sorgen verkrampft. Hier ging es um echt schlimmen Scheiß. Das war klar. Vielleicht hatte Garber einen Hinweis geben wollen. Das klingt nicht glücklich. Aber Sie sollten’s sein. Vielleicht war noch nicht alles verloren. Reacher vermutete, dass White ähnlich dachte. Er beugte sich nach vorn, beobachtete Sinclair gespannt. Waterman blieb unbeweglich sitzen. Sparte wieder mal Energie.

Sinclair erklärte: »In der deutschen Großstadt Hamburg gibt es ein Apartment. In einer guten Wohngegend, einigermaßen zentral, ziemlich teuer, aber vielleicht ein bisschen unsolide, aus dem Rahmen fallend. Seit gut einem Jahr ist es an vier junge Männer Anfang zwanzig vermietet. Keine Deutschen. Drei sind Saudis, der vierte Mann ist Iraner. Alle vier wirken sehr westlich. Bartlos, Kurzhaarschnitt, gut angezogen. Am liebsten tragen sie Poloshirts mit dem Krokodil auf der linken Brustseite. Dazu Rolex-Uhren und italienische Slipper. Sie fahren BMWs und verkehren viel in Nachtklubs. Aber keiner von ihnen arbeitet.«

Reacher sah, dass White stumm nickte, als würde er solche Szenarien kennen. Von Waterman kam keine Reaktion.

Sinclair fuhr fort: »Vor Ort gelten die vier als kleine Playboys. Vielleicht entfernte Verwandte reicher und prominenter Familien, die sich die Hörner abstoßen sollen, bevor sie heimkehren, um im Ölministerium zu arbeiten. Kurz gesagt: sogenannter Eurotrash. Aber wir wissen, dass sie das nicht sind. Wir wissen, dass sie von einer neuen, bisher wenig bekannten Organisation in ihren Heimatländern angeworben und über Afghanistan und den Jemen nach Deutschland geschickt worden sind. Diese Organisation scheint über reichlich Geld zu verfügen, propagiert den Dschihad, bildet paramilitärisch aus und kümmert sich wenig um die Herkunft ihrer Mitglieder. Dass Saudis und Iraner zusammenarbeiten, kommt selten vor, aber sie tun’s in diesem Fall. In den Ausbildungslagern sind sie gut beurteilt worden, bevor man sie letztes Jahr nach Hamburg schickte. Mit dem Auftrag, sich im Westen zu assimilieren, unauffällig zu leben und weitere Befehle abzuwarten. Die aber bisher ausgeblieben sind. Mit anderen Worten: Sie sind eine Schläferzelle.«

Waterman hob eine Hand und fragte: »Woher wissen wir das alles?«

»Der Iraner gehört uns«, antwortete Sinclair. »Er ist ein Doppelagent. Die CIA führt ihn aus unserem Generalkonsulat in Hamburg.«

»Tapferer Junge.«

Sinclair nickte. »Und tapfere Jungs sind schwer zu finden. Auch in dieser Beziehung hat sich viel geändert. Früher sind potenzielle Informanten von selbst in die Botschaft gekommen. Sie haben Bettelbriefe geschrieben. Manche mussten wir abweisen. Aber das waren alte Kommunisten. Heute brauchen wir junge Araber – und kennen keine.«

»Wofür brauchen Sie uns?«, fragte Waterman. »Die Situation ist stabil. Die vier bleiben dort. Werden sie aktiviert, erfahren Sie eine Minute später davon. Vorausgesetzt, dass unser Konsulat Tag und Nacht erreichbar ist.«

Immer besser, erst mal zuzuhören.

Sinclair erwiderte: »Richtig, die Situation ist stabil. Dort passiert nie etwas. Aber vor ein paar Tagen hat sich doch etwas ereignet. Die vier hatten Besuch.«

Auf Sinclairs Vorschlag hin zogen Sie aus dem Lehrsaal ins Büro um. Sie sagte, der Lehrsaal sei wegen der Collegestühle unbequem, was vor allem für Reacher zutraf. Mit einem Meter fünfundneunzig und hundertzehn Kilo hatte er kaum Platz darauf. Zum Büro gehörte dagegen ein Besprechungsraum mit vier bequemen Ledersesseln. Dieses Mehr an Komfort gefiel Sinclair offenbar, was nur verständlich war. Schließlich hatte sie das Gebäude – vermutlich erst gestern – selbst gemietet oder von einem Assistenten mieten lassen. Drei Schlafzimmer und vier Ledersessel für Besprechungen.

Während die Anzugträger draußen warteten, sagte Sinclair: »Wir haben unseren Mann gründlich ausgequetscht und halten seine Schlussfolgerungen für korrekt. Der Besucher war ein weiterer Saudi-Araber. In ihrem Alter. Wie sie angezogen. Gelfrisur, Goldkettchen, Krokodil auf dem Hemd. Sie hatten ihn nicht erwartet. Sein Besuch war eine völlige Überraschung. Aber in ihrer Organisation kann man wie bei der Mafia zur Unterstützung verpflichtet werden. Darauf hat der Besucher angespielt. Wie sich zeigte, war er ein Kurier, der überhaupt nichts mit ihnen zu tun hatte. Er war dienstlich in Deutschland und brauchte ein sicheres Haus. Kuriere bevorzugen diese Art Unterbringung, weil man in Hotels leicht Spuren hinterlässt. Sie sind ausgesprochen paranoid, weil die weitgespannten neuen Netzwerke sichere Nachrichtenverbindungen sehr schwierig machen. Sie glauben, dass wir ihre Handys abhören, was vermutlich stimmt, ihre E-Mails mitlesen, was wir bald können werden, und ihre Post öffnen. Deshalb setzen sie Kuriere ein, die in Wirklichkeit Boten sind. Sie sind nicht mit Aktenkoffern unterwegs, die an ihr Handgelenk gekettet sind, sondern haben Fragen und die dazugehörigen Antworten im Kopf. So reisen sie hin und her, von Kontinent zu Kontinent, Frage, Antwort, Frage, Antwort. Sehr langsam, aber absolut sicher. Nirgends ein elektronischer Fingerabdruck, keine schriftlichen Aufzeichnungen und nichts zu sehen außer einem Kerl mit Goldkettchen, der wie Millionen andere durch ein Flughafenterminal geht.«

White fragte: »Wissen wir, ob Hamburg sein Bestimmungsort war? Oder hat er dort nur Station gemacht, bevor er weitergereist ist?«

Sinclair antwortete: »Er hatte in Hamburg zu tun.«

»Aber nicht bei den Jungs in dem Haus.«

»Nein, bei jemand anders.«

»Wissen wir, wer ihn geschickt hat? Gehen wir davon aus, dass es dieselben Kerle im Jemen und in Afghanistan waren?«

»Wir vermuten stark, dass es dieselben Leute waren. Auch wegen eines weiteren Umstands.«

Waterman fragte: »Und der wäre?«

»Durch einen statistisch nicht sehr verwunderlichen Zufall hat der Kurier einen der Saudis in dem Haus gekannt. Sie waren ein Vierteljahr im selben Ausbildungslager im Jemen, haben Häuserkampf geübt und mit Kalaschnikows geschossen. Die Welt ist eben klein. Die beiden haben sich mehrmals kurz unterhalten, und der Iraner hat einiges davon mitbekommen.«

»Was hat er gehört?«

»Der Kerl hat auf einen Treff gewartet, der in zwei Tagen stattfinden sollte. Der Treffpunkt ist nie erwähnt oder zumindest nicht verstanden worden, hat aber anscheinend in der Nähe des sicheren Hauses gelegen. Der Kurier hatte keine Nachricht zu überbringen. Ihm sollte etwas mitgeteilt werden. Ein Eröffnungsstatement, sagt der Iraner. Eine Art Positionsbestimmung. Das war aus dem Kontext herauszulesen. Der Kurier sollte sich diese Mitteilung merken und mit zurücknehmen.«

»Das klingt, als hätten Verhandlungen begonnen. Mit einem Eröffnungsgebot.«

Sinclair nickte. »Wir erwarten, dass der Kurier zurückkommt. Mindestens einmal. Mit einem Ja oder Nein.«

»Haben wir eine Ahnung, worum es dabei geht?«

Sinclair schüttelte den Kopf. »Aber die Sache ist wichtig. Davon ist der Iraner überzeugt, denn der Kurier war ein Elitekrieger – genau wie er selbst. Er muss innerhalb der Organisation gut angeschrieben sein, denn wieso hätte er sonst eine Rolex und italienische Slipper und vier Reisepässe bekommen? Er war keiner aus dem Fußvolk, sondern jemand, der wichtige Mitteilungen wichtiger Leute überbringt.«

»Ist’s zu dem Treff gekommen?«

»Am Spätnachmittag des zweiten Tages. Der Kerl war fünfzig Minuten außer Haus.«

»Und was dann?«

»Am Morgen danach ist er sehr früh abgereist.«

»Keine weiteren Gespräche?«

»Nur eines, das aber sehr lohnend war. Der Kerl hat alles ausgeplaudert. Er hat seinem Freund erzählt, welche Informationen er mit nach Hause nehmen würde. Einfach so. Er konnte nicht anders. Weil er davon beeindruckt war, glauben wir. Allein vom Umfang. Nach Aussage des Iraners hat er sehr aufgeregt gewirkt. Diese Leute sind junge Männer Anfang zwanzig.«

»Woraus hat die Information bestanden?«

»Sie war ein Eröffnungsstatement. Eine Ausgangsposition. Genau wie der Iraner vermutet hatte. Kurz und knapp.«

»Die Aussage?«

»›Der Amerikaner will hundert Millionen Dollar.‹«

3

Sinclair setzte sich auf, rückte etwas näher an den Tisch heran, als wollte sie ihre Punkte betonen, und sagte: »Der Iraner ist allen Berichten zufolge sehr clever, kann sich gut ausdrücken und versteht auch Nuancen. Der Stationsleiter hat lange mit ihm darüber gesprochen, und wir sind der Überzeugung, dass das eine schlichte Tatsachenbehauptung war. In den bewussten fünfzig Minuten hat der Kurier sich mit einem Amerikaner getroffen. Bei diesem Treff hat der Amerikaner ihm mitgeteilt, er wolle hundert Millionen Dollar. Als Preis für irgendetwas. Dieser Kontext war klar. Aber mehr ist vorläufig nicht bekannt. Welcher Amerikaner das war, wissen wir nicht. Wofür er hundert Millionen will, wissen wir nicht. Wer sie zahlen soll, wissen wir nicht.«

White sagte: »Aber hundert Millionen engen das Feld ziemlich ein. Selbst wenn er sich auf fünfzig runterhandeln lässt, ist das noch ein Haufen Geld. Wer verfügt über solche Mittel? Massenhaft Leute, könnte man sagen, aber die hätten alle in einer einzigen Rolldatei Platz.«

»Falscher Ansatz«, warf Reacher ein. »Der Verkäufer ist in jedem Fall wichtiger, als es die Käufer sind. Wofür würden Leute, die im Jemen den Dschihad planen, hundert Millionen Dollar ausspucken? Und welcher Amerikaner in Hamburg hat so etwas zu verkaufen?«

Waterman sagte: »Hundert Millionen sind eine Menge Geld. Ein Preis dieser Art würde mir ein bisschen Sorgen machen.«

Sinclair nickte, dann sagte sie: »Dieser Preis macht uns große Sorgen. Er scheint ernst gemeint zu sein. Und er ist höher als alle bisherigen. Schon deshalb ziehen wir alle Register. Wir haben weltweit alle unsere Agenten alarmiert. Hunderte von Leuten arbeiten schon angestrengt. Aber wir brauchen mehr. Ihr Job wird es sein, diesen Amerikaner aufzuspüren. Befindet er sich noch im Ausland, ist die CIA zuständig, und Mr. White hat das Kommando. Hält er sich wieder in den Staaten auf, ist das FBI zuständig, und Special Agent Waterman löst ihn ab. Und weil die weitaus meisten Amerikaner, die zu irgendeinem Zeitpunkt in Deutschland leben, beim Militär sind, brauchen wir Major Reacher, der mit einem oder beiden von Ihnen zusammenarbeiten wird.«

Reacher sah erst Waterman, dann White an. In ihren Augen standen Fragen, wie vermutlich auch in seinen.

Sinclair sagte: »Personal und Material treffen morgen früh ein. Sie können jederzeit alles haben. Aber Sie sprechen nur mit mir, Mr. Ratcliffe oder dem Präsidenten. Diese Einheit steht unter Quarantäne. Selbst wenn Sie nur eine Schachtel Bleistifte wollen, wenden Sie sich an mich, Mr. Ratcliffe oder den Präsidenten. In der Praxis natürlich an mich. Koordiniert werden Ihre Ermittlungen im West Wing. Keiner von Ihnen darf persönlich identifizierbar sein. Weil hundert Millionen Dollar eine Menge Geld sind, könnten Ministerien in den Fall verwickelt sein. Der Amerikaner kann im Außenministerium, im Justizministerium oder im Pentagon arbeiten. Sie könnten versehentlich mit dem Falschen sprechen. Also dürfen Sie mit niemandem reden. Das ist Regel Nummer zwei.«

Waterman fragte: »Was war Regel Nummer eins?«

»Regel Nummer eins lautet: Der Iraner darf nicht verbrannt werden. Wir dürfen nichts tun, was zu ihm zurückverfolgt werden könnte. Wir haben viel in ihn investiert und werden ihn zukünftig brauchen, weil wir nicht wissen, was als Nächstes passieren wird.«

Dann schob sie ihren Sessel zurück, stand auf und ging zur Tür. Bevor sie verschwand, sagte sie noch: »Denken Sie daran: wie mit Feuer unterm Hintern.«

Reacher lehnte sich in seinen Sessel zurück. White sah ihn an und sagte: »Es muss um Panzer und Flugzeuge gehen.«

Reacher erklärte: »Unsere nächsten Panzer stehen tausend Meilen vom Jemen oder Afghanistan entfernt. Tausende von Soldaten würden Wochen und Wochen brauchen, um sie zu verlegen. Da wär’s einfacher, den Jemen oder Afghanistan zu ihnen zu bringen. Auch schneller und unauffälliger.«

»Dann also Flugzeuge.«

»Wahrscheinlich könnte man mit hundert Millionen ein paar Piloten zum Überlaufen motivieren. Vielleicht drei oder vier. Ich bezweifle, dass es in Afghanistan genügend lange Landebahnen gibt. Aber vielleicht im Jemen. Das wäre also theoretisch möglich. Nur würden Flugzeuge ihnen nichts nützen. Sie bräuchten außerdem Hunderte Tonnen Ersatzteile und Hunderte von Ingenieuren und Technikern. Und viele hundert Flugstunden. Und wir würden sie binnen fünf Minuten aufspüren und mit Lenkwaffen am Boden zerstören. Oder vielleicht geht das jetzt schon ferngesteuert.«

»Gut, dann eben andere militärische Hardware.«

»Aber welche? Eine Million Gewehre zum Stückpreis von hundert Dollar? So viele haben wir nicht.«

Waterman sagte: »Es könnte ein Geheimnis, ein Codewort, ein Passwort, eine Formel, eine Landkarte, ein Plan, ein Diagramm, eine Liste, eine Blaupause der Sicherungssysteme der Fed, eine kommerzielle Rezeptur oder die Summe aller Bestechungsgelder sein, die nötig wären, um ein Gesetz in allen fünfzig US-Bundesstaaten durchzubringen.«

White fragte: »Sie denken an Datenmaterial?«

»Was lässt sich sonst unauffällig kaufen und verkaufen und ist so viel wert? Vielleicht Diamanten, aber die gibt’s in Antwerpen, nicht in Hamburg. Vielleicht auch Drogen, aber kein Amerikaner besitzt solche Vorräte, die er gleich verschiffen könnte. Das ist etwas für Mittel- und Südamerika. Und Afghanistan baut selbst Mohn an.«

»Wie sieht das Worst-case-Szenario aus?«

»Das geht über meine Besoldungsgruppe hinaus. Fragen Sie Ratcliffe. Oder den Präsidenten.«

»Und Ihre persönliche Einschätzung?«

»Wie sieht Ihre aus?«

»Ich bin Nahostexperte. Für mich gibt’s nur Worst-case-Szenarios.«

»Pockenerreger«, meinte Waterman. »Das wäre mein schlimmster Fall. Oder irgendwas in dieser Art. Ein Pestausbruch. Eine biologische Waffe. Oder Ebola. Oder ein Gegenmittel. Oder ein Impfstoff. Was bedeuten würde, dass sie den Erreger schon haben.«

Reacher starrte die Decke an.

Diese Sache würde vielleicht nicht gut enden.

Das klingt nicht glücklich, aber Sie sollten’s sein.

So lange wie nötig, denke ich.

Garber hatte in Rätseln gesprochen.

White sah ihn an und fragte: »Worüber denken Sie nach?«

Reacher antwortete: »Über den Widerspruch zwischen Regel Nummer eins und dem Rest. Wir dürfen den Iraner nicht verbrennen. Was bedeutet, dass wir die Hände von dem Kurier lassen müssen. Wir dürfen einen Ort, zu dem er uns führt, nicht mal observieren. Weil wir offiziell nicht wissen, dass es den Kurier gibt. Außer durch einen Insidertipp.«

»Das ist hinderlich«, sagte Waterman, »aber kein Widerspruch. Wir müssen eine Möglichkeit finden, darum herumzukommen. Sie brauchen diesen Mann.«

»Hier geht’s in erster Linie um Effizienz. Sie müssen frühzeitig wissen, wer diese Männer sind. Sie müssen Netzwerke aufspüren und Datenbanken anlegen. Deshalb sollten sie sich ganz auf die Kuriere konzentrieren. Mündliche Fragen und Antworten im Kopf, Reisen von einem Kontinent zum anderen, Frage, Antwort, Frage, Antwort. Sie wissen alles. Sie sind hundert Insider wert. Weil sie das Gesamtbild vor Augen haben. Was hat der Iraner vorzuweisen? Nichts als vier Wände in Hamburg und erzwungene Untätigkeit.«

»Trotzdem darf er nicht geopfert werden.«

»Sie könnten ihn in dem Augenblick abziehen, in dem sie sich den Kurier schnappen. Sie könnten ihm ein Haus in Florida schenken.«

White sagte: »Der Kurier würde nicht reden. Das sind Stammessachen, die tausend Jahre zurückreichen. Sie verraten einander nicht. Mit unseren zahmen Methoden ist nichts aus ihnen rauszukriegen. Also ist’s clever, den Insider zu belassen, wo er ist. Sie wissen echt nicht, was uns bevorsteht. Ein frühzeitiger Hinweis wäre nett. Selbst ein paar Andeutungen.«

Reacher fragte: »Wissen Sie, was uns bevorsteht?«

»Irgendwas ist aus dem Ruder gelaufen. Nichts ist mehr wie früher.«

»Haben Sie schon mal mit Ratcliffe zusammengearbeitet? Oder mit Sinclair?«

»Niemals. Und Sie?«

Waterman sagte: »Sie haben uns nicht ausgewählt, weil sie uns kennen, sondern weil wir uns zum fraglichen Zeitpunkt nicht in Hamburg aufhielten. Wir waren anderswo im Einsatz. Folglich können wir nicht die falschen Leute sein, mit denen man keinesfalls reden sollte.«

Eine Einheit in Quarantäne, hatte Sinclair gesagt, und so fühlte es sich auch an. Drei Kerle in einem Raum, von der restlichen Welt abgeschottet, weil sie alle infiziert waren – mit einem Alibi.

Kurz nach neunzehn Uhr holte Reacher seine Sachen aus dem Auto und trug sie nach oben in sein Zimmer, das am Ende eines Korridors mit drei Räumen lag, die wie große Büros aussahen und vielleicht gestern noch welche gewesen waren. Zu seinem geräumigen Zimmer gehörte auch ein Bad. Dies war die Suite einer Führungskraft. Nicht für ein Bett, sondern für einen Schreibtisch ausgelegt, aber trotzdem gut geeignet.

Um ein Abendessen zu bekommen, setzte er sich in den alten Caprice, fuhr durch McLean und bog instinktiv auf die Art Straßen ab, die in die Art Stadtteile führten, in denen es die Art Restaurants geben würde, die er suchte. Nicht jedermanns Wahl, aber durch seinen Metabolismus bedingt. Er entdeckte eine Leuchtreklame und glänzendes Aluminium neben einer Tankstelle an einer Zufahrt zur Interstate. Ein Diner, alt genug, um sogar authentisch zu sein. Ein paar Dellen und blinde Flecken. Ziemlich viele Meilen auf dem Tacho.

Er bog von der Straße ab, parkte, zog die verchromte Tür auf und trat ein. Auch die Luft unter dem kalten Neonlicht war kalt. Als Erstes sah er eine Frau, die er kannte. Ganz allein in einer Sitznische. Aus der vorletzten von ihm kommandierten Einheit. Die beste Soldatin, mit der er je zusammengearbeitet hatte. Auf zurückhaltende Art vielleicht sogar seine beste Freundin, wenn Freundschaft bedeutete, dass man Dinge ungesagt lassen durfte.

Im ersten Augenblick hielt er das für einen nicht besonders erstaunlichen Zufall. Die Welt war klein, und im näheren Umkreis des Pentagon wurde sie noch kleiner. Dann korrigierte er sich jedoch selbst. In der großen Zeit der 110th MP war sie jahrelang seine erste Sergeantin gewesen. Sie hatte eine wichtigere Rolle als die meisten gespielt. Vielleicht wichtiger als seine.

Weil sie ausgesprochen clever war.

Viel zu clever, um zufällig hier zu sitzen.

Er trat an ihren Tisch. Sie bewegte sich nicht. Sie beobachtete sein Spiegelbild auf der gewölbten Rückseite eines Löffels. Er glitt auf die Sitzbank ihr gegenüber und sagte: »Hallo, Neagley.«

4

Sergeant Frances Neagley sah von ihrem Löffel auf und sagte: »Von allen Diners dieser Welt … Wie wahrscheinlich ist das denn?«

Reacher sagte: »Sorgfältig ausgerechnet, möchte ich wetten.«

»Ich habe vermutet, dass du aus dem unbewussten Drang, D.C. hinter dir zu lassen, nach Westen fahren würdest. Ich konnte mir denken, wo du abbiegen würdest, sodass du hier landen müsstest. Ich habe angenommen, dass die Besprechung zwei Stunden lang dauern würde und du anschließend zum Essen fahren würdest.«

»Ich bin in einer Schule.«

»Nein, das ist keine. Der Lehrgang hat einen unsinnigen Namen.«

»Die Namen sind immer unsinnig.«

»Dieser ist schlimmer als die meisten.«

»Ich bin in einer Schule.«

»Das täten sie dir nicht an. Nicht solange Garber lebt und atmet.«

»Ich kann nicht darüber reden. Es ist zu langweilig.«

»Lass mich einfach raten. Diese sogenannte Schule dient als Tarnung für irgendetwas. Bedenkt man, wie erfolgreich du in letzter Zeit warst, muss die Sache sehr wichtig sein. Was bedeutet, dass du alles bekommst, was du verlangst. Vor allem Personal. Also hättest du mich morgen früh sowieso angerufen. Warum willst du’s mir nicht zwölf Stunden früher erzählen?«

Neagley trug einen Flecktarn-Kampfanzug mit ordentlich aufgekrempelten Ärmeln, hielt die Ellbogen aufgestützt. Sie hatte eine schwarze Kurzhaarfrisur, dunkle Augen und einen sonnengebräunten Teint. Ihre glatte Haut wirkte weich, aber dieser Eindruck trog. Reacher hatte sie in Aktion erlebt. Sie war schnell und außergewöhnlich stark und würde sich hart und sehnig anfühlen. Aber das wusste er nicht. Er hatte sie noch nie berührt. Ihr noch nicht mal die Hand geschüttelt.

Er sagte: »Ich weiß nicht genau, was wir brauchen werden. Wahrscheinlich sollten wir damit anfangen, Listen zu erstellen. Anhand von Versetzungen und Abkommandierungen. US-Soldaten, die sich an einem bestimmten Tag in Deutschland aufhielten. Und Zivilamerikaner, die bei der Einreise registriert worden sind.«

»Warum?«

»Wir müssen einen bestimmten Amerikaner finden, der zu einem bestimmten Zeitpunkt in Hamburg war.«

»Warum?«

»Er will einer Gruppe böser Kerle neuen Stils aus dem Jemen und Afghanistan etwas verkaufen, das hundert Millionen Dollar wert ist.«

»Wissen wir, was er verkauft?«

»Keine Ahnung.«

»Binnengrenzen könnten problematisch sein. Die werden in der Europäischen Union praktisch nicht kontrolliert. Also dürften die Registrierungen unvollständig sein.«

»Genau. Hier geht’s um mathematische Wahrscheinlichkeiten. Aber wir könnten die Chancen etwas verbessern. Wir könnten uns ansehen, wer ungefähr eine Woche vorher in die Schweiz ein- und ausgereist ist. Als der Kerl seine endgültige Entscheidung getroffen hat. Er wollte verkaufen. Er wollte den Bieterprozess eröffnen. Der natürlich nicht beliebig lange dauern kann. Also musste er vorbereitet sein – und dazu brauchte er ein Bankkonto in der Schweiz. Vermutlich in Zürich. Um für alle Fälle gewappnet zu sein. Dann ist er nach Hamburg zurückgekehrt und hat seinen Preis genannt.«

»Was ebenfalls nur wahrscheinlich ist. Daher kann es kein ausschließender Faktor sein. Vielleicht geht’s um ein altes, schon vor Jahren eingerichtetes Konto. Dies braucht nicht sein erster Auftritt als böser Bube zu sein. Oder er hat sein Geheimkonto woanders, beispielsweise in Luxemburg.«

»Deshalb habe ich gesagt, dass ich nicht genau weiß, was wir brauchen.«

»Glaubst du, dass er beim Militär ist?«

»Dafür spricht einiges. Auch Amerikaner in Korea oder auf Okinawa kämen infrage. Das ist eine weitere Liste, die wir für alle Fälle brauchen. Was könnte ein Soldat verkaufen? Militärische Geheimnisse? Oder geht’s um Hardware? Dann müssen wir an etwas Unauffälliges wie einen Container, einen Lastwagen oder einen Van denken und eine Liste von Dingen aufstellen, die reinpassen würden und hundert Millionen wert wären.«

»Es müsste etwas sein, das im Betrieb zuverlässig und wartungsarm ist. Technisches Personal wird jedenfalls nicht mitgeliefert.«

»Okay, das solltest du berücksichtigen. Stell eine Hauptliste mit allen übrigen Listen zusammen. Mehr können wir im Augenblick nicht tun. Richte dich darauf ein, morgen gegen neun Uhr angefordert zu werden. Früher schaffen sie’s wahrscheinlich nicht. Alles läuft dann über den Nationalen Sicherheitsrat, über eine Frau namens Marian Sinclair.«

»Von der habe ich schon gehört«, sagte Neagley. »Sie ist Ratcliffes Stellvertreterin.«

»Überleg dir schon mal, was sie alles für uns erledigen soll. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

»Ist diese Sache ein großes Problem?«

»Es könnte eines sein. Wenn unsere Vermutungen zutreffen. Das müssen sie aber nicht. Hier geht’s um einen einzigen mitgehörten Satz. Der kann ein Scherz gewesen sein. Oder irgendein Insidersarkasmus. Vielleicht ist das jemenitischer Slang für sehr wenig. Aber falls auf dem Preisschild wirklich hundert Millionen stehen, ist das natürlich ein Problem.«

Die Bedienung kam an ihren Tisch, und sie bestellten. Dann sagte Neagley: »Glückwunsch zu dem Orden.«

Reacher nickte dankend.

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Alles bestens.«

»Ehrlich?«

»Bist du meine Mom oder was?«

»Was hältst du von Sinclair?«

»Ich mag sie.«

»Wer spielt sonst noch mit?«

»Ein Mann namens Waterman vom FBI. Ein cleverer Ermittler der alten Schule. Und ein Typ namens White von der CIA, der ständig unter Strom steht. Vermutlich aus gutem Grund. Bisher haben sie sich in mehrfacher Hinsicht als kompetent erwiesen, haben vernünftige Ansichten geäußert. Wahrscheinlich fordern sie morgen eigene Mitarbeiter an. Und ich vermute, dass uns jemand vom Sicherheitsrat vor die Nase gesetzt wird, der uns beaufsichtigt und unsere Mitteilungen an Sinclair weiterleitet.«

»Wieso magst du sie?«

»Sie war ehrlich. Ratcliffe auch. Sie laufen echt wie mit Feuer unterm Hintern herum.«

»Du solltest deinen Bruder im Finanzministerium anrufen. Er könnte auf telegrafische Überweisungen achten. Hundert Millionen Dollar müssten selbst auf staatlicher Ebene auffallen.«

»Die Anfrage müsste über Sinclair laufen.«

»Willst du dich wirklich daran halten?«

Reacher sagte: »Sie denkt, es könnte irgendwer sein. Sie will nicht, dass wir dem Falschen einen Hinweis geben, der uns verrät. Aber sie versteht den springenden Punkt nicht. Hier geht’s nicht um jemanden, sondern um alle. Mehr oder weniger. Diese Fahndung ist breit angelegt. Unser Kerl ist zweifellos einer von vielen. Wir werden alle möglichen Leute fassen, die zu Geheimtreffen in die Schweiz fahren oder mit Koffern voller Geld von dort zurückkommen. Mit dubiosen Absichten unterwegs, um alle möglichen Dinge zu kaufen, zu verkaufen oder einzutauschen. Damit werden wir uns eine Menge zivile und militärische Feinde machen. Aber wir dürfen nicht allzu viel Hintergrundrauschen erzeugen. Zumindest nicht anfangs. Dafür ist Geheimhaltung nützlich. Deshalb finde ich, wir sollten vorerst bei Sinclair bleiben. Ob wir davon abweichen wollen, können wir bei Bedarf später entscheiden.«

»Verstanden«, meinte Neagley.

Die Bedienung brachte ihre Teller, und sie begannen zu essen. Acht Uhr abends in McLean, Virginia.

Acht Uhr abends in McLean, Virginia, war in Hamburg zwei Uhr am nächsten Morgen. Spät, aber der Amerikaner war noch wach. Er lag im Bett auf dem Rücken und starrte eine Zimmerdecke an, die er noch nie gesehen hatte. Eine nackte Nutte kuschelte sich in seiner Armbeuge an ihn. Dies war ihr Apartment. Es war sauber und aufgeräumt, roch gut und zeugte von vagem Besitzerstolz. Nicht billig, aber das war auch sie nicht. Was in Ordnung war. Schließlich würde er bald sehr reich sein. Deshalb war eine kleine Feier angezeigt gewesen. Und er mochte teure Frauen. Mit ihnen machte es mehr Spaß. Er hatte keine speziellen Wünsche, aber der Grad des Enthusiasmus zählte. Damit hatte sie nicht gegeizt. Und dann hatten sie miteinander geredet. Buchstäblich Bettgeflüster. Sie hatten gekuschelt. Sie hatte sich für ihn interessiert. Sie war eine gute Zuhörerin.

Er hatte zu viel erzählt.

Seiner Einschätzung nach waren Nutten bessere Psychologen als studierte Psychologen, weil sie den Unterschied zwischen Imponiergehabe und Angeberei, Bullshit und manischen Träumen erkannten. Dazwischen existierte noch ein kleiner Sektor Wahrheit. Kein Bekenntnis wie in der Beichte. Eher eine glückliche Wahrheit, die man einfach jemandem erzählen musste. Sie war auf einer Woge freudiger Erwartung einfach herausgeplatzt. Er fühlte sich großartig. Sie war ihr Geld wert. Er schwebte auf Wolke sieben. Er hatte sein Vorhaben erwähnt, sich eine Ranch in Argentinien zu kaufen. Etwas größer als Rhode Island, hatte er gesagt.

Was nicht viel bedeutete, aber sie würde sich daran erinnern. Und in Deutschland hatten Frauen wie sie keine Angst vor der Polizei. Hier herrschten Recht und Gesetz. Alles wurde toleriert, solange es reguliert war. Wenn die Jagd begann, würde sie bereitwillig zur Polizei gehen und von dem amerikanischen Freier erzählen, der sich in der Pampa eine Ranch größer als Rhode Island kaufen wollte. Das sei eine Art Kompensation gewesen, würde sie sagen. Etwas, mit dem er sich hatte beweisen wollen. Weil er nie richtig steif gewesen war. Und die Polizisten würden pflichtbewusst alles zu Protokoll nehmen und dann jemanden anrufen, der sich mit solchen Sachen auskannte, und so entdecken, dass eine Ranch größer als Rhode Island auch in der Pampa verdammt teuer war.

Eine einfache Überprüfung aller großen Immobilienkäufe in einem einzigen Land der Welt würde die Cops geradewegs zu seiner neuen Haustür führen.

Dumm.

Seine eigene Schuld.

Er bewegte sich in Gedanken durchs Zimmer, verfolgte seine Schritte zurück, machte sich bewusst, was er angefasst hatte. Außer ihr nicht viel. Waren seine Fingerabdrücke auf ihrer Haut? Das bezweifelte er. Außerdem würden sie verwischt sein. Seine DNA war in ihrem Magen, aber dort wurde sie von starken Säuren und Verdauungsenzymen angegriffen. Und Untersuchungsmethoden wurden erst entwickelt. Sie befanden sich noch in der PR-Phase. Die Wissenschaft würde den Fall ablehnen, weil sie fürchtete, öffentlich zu scheitern.

Also ungefährlich.

Was verrückt war.

Aber auch wieder logisch. Wenn schon, denn schon. Alles oder nichts. Er war festgelegt. Er hatte sich gefragt, wie es sich anfühlen würde. Wie sich zeigte, hatte es Ähnlichkeit mit einem Sturz. Vielleicht mit einem Fallschirmsprung. Mit dem langen freien Fall, bevor der Schirm sich öffnet. Fallen und fallen. Dagegen war er machtlos. Er konnte nur tief durchatmen, sich entspannen und es geschehen lassen.

Er hatte das Hotel ungesehen durch die Tiefgarage verlassen. Ohne bestimmten Grund, nur weil dies der kürzeste Weg zu einer Bar war, die er kannte. Sie hatte dort geparkt, um ihren abendlichen Raubzug zu beginnen. Später Abend, luxuriöse Umgebung, reiche Gäste. Eine andere Welt. Jetzt allerdings nicht mehr. Er konnte alles haben, was er wollte. Schon das Fragen machte Spaß. Gleich hier in der Tiefgarage. Und wenn er sich täuschte? Aber er hatte richtig getippt. Er hatte sie schon mehrere Male hier gesehen. Sie lächelte und nannte einen sehr hohen Betrag. Er hätte gern das Zehnfache gezahlt, nur weil ihm gefiel, wie sie vor ihm stand. Und sie kam gerade aus der Dusche. Keine Jungfrau, aber für den Alltag eine Art Ersatz.

Sie fuhr mit ihm in ihr Apartment zurück, das sie gerade erst verlassen hatte.

Gab es in der Tiefgarage Überwachungskameras?

Das glaubte er nicht. Er war jemand, der sehr genau auf Details achtete. Er war ein guter Beobachter. Ihm entging nicht leicht etwas. Das gehörte zu seinem Beruf. An der Garagendecke hatte er Brandschutzschaum, elektrische Leitungen, Abwasserrohre und die Sprühköpfe der Sprinkleranlage gesehen.

Keine Kameras.

Also ungefährlich.

Was verrückt war.

Aber auch wieder logisch.

Er legte sich den Ablauf in Gedanken zurecht, dann handelte er rasch und entschlossen. Sie hielt das Ganze anfangs für ein Rollenspiel. Als stellte er nach, was er auf dem VHS-Abspielgerät sah. Er drehte sie auf den Bauch und setzte sich auf sie, klemmte ihre Ellbogen mit den Knien fest und hockte wie ein Jockey zusammengekrümmt auf ihrem Gesäß, und sie stöhnte, wie sie’s alle taten, und er beugte sich nach vorn und erwürgte sie von hinten, kraftvoll und schnell, um die Sache rasch hinter sich zu bringen. Sie versuchte zu strampeln und sich hochzustemmen, konnte sich aber unter seinem Gewicht kaum bewegen. Eigentlich blieben ihr nur ihre Füße, die mit den High Heels seinen Rücken zu treffen versuchten, was ihnen aber nicht ganz gelang, sodass sie hilflos zuckende Schwimmbewegungen zu machen schienen. Und dann hörten sie auf, und er drückte noch etwas fester zu, um ganz sicherzugehen, und dann machte er noch etwas länger weiter, bis er losließ und aus der Wohnung flüchtete.

Alles oder nichts.

5

Reacher schlief in seinem Schlafzimmer für Führungskräfte gut, wachte aber früh auf und war schon auf den Beinen, als der Lieferwagen eines Caterers um sieben Uhr mehrere große Pumpkannen Kaffee und ein riesiges Sandwichtablett von der Größe eines Mittelkreises brachte. Weit mehr, als drei Leute essen konnten. Also war Verstärkung unterwegs.

Ihre Babysitter trafen um sieben Uhr dreißig in Gestalt zweier Männer aus der mittleren NSC-Führungsebene ein. Beide Sinclair persönlich bekannt, wie sie am Telefon sagte, und offenbar vertrauenswürdig. Zwei Männer Anfang dreißig, beide leicht mürrisch, als setzten ihnen die Informationen zu, mit denen sie umgingen. Um acht Uhr waren ihre abhörsicheren Telefone freigeschaltet, und Reacher kam Waterman und White mit seiner Bedarfsmeldung zuvor, sodass Neagley um neun Uhr im Haus war und schon eine Flut von Informationen vom NSC anfordern konnte, bevor Watermans Assistent eintraf – immerhin zwanzig Minuten vor Whites. Diese Kerle sahen wie jüngere Versionen ihrer Bosse aus. Watermans Kerl hieß Landry; Whites Mann trug den berühmten Namen Vanderbilt, war aber nicht mit dem Multimillionär verwandt.

Sie stellten Möbel um, bis mitten im Lehrsaal ein dreiseitiges gemeinsames Kontrollzentrum entstand, das mit Neagley, Landry und Vanderbilt besetzt war. Die NSC-Babysitter bekamen das Büro, und Reacher, Waterman und White telefonierten aus den Ledersesseln am Konferenztisch. Um elf Uhr brummte der Laden. Um zwölf Uhr gab es erste Erkenntnisse. Sinclair rief nochmals an, um sich über alles berichten zu lassen.

Reacher sagte: »An dem bewussten Tag waren über zweihunderttausend Amerikaner in Deutschland. Etwa sechzigtausend Soldaten, dazu rund doppelt so viele Angehörige und ehemalige Soldaten, die noch nicht heimgereist waren. Außerdem ungefähr zwanzigtausend als Touristen und weitere fünftausend als Geschäftsreisende oder Kongressbesucher.«

»Das sind eine Menge Amerikaner.«

Reacher sagte: »Wir sollten nach Hamburg fliegen.«

»Wann?«

»Jetzt.«

»Wieso jetzt?«

»Irgendwann müssen wir hin. Nach Aktenlage ist dieser Fall nicht zu lösen.«

Sinclair fragte: »Agent Waterman, was denken Sie?«

Waterman sagte: »Das hängt davon ab, wie schnell solche Kuriere hin und her reisen. Das scheint ein ziemlich langwieriger Prozess zu sein. Wann erwartet unser Mann eine Antwort? Was wäre ein typisches Intervall?«

»In anderen Fällen sind’s ungefähr zwei Wochen. Oft ein, zwei Tage weniger.«