Trouble - Lee Child - E-Book

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Lee Child

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Beschreibung

Pures Adrenalin – Jack Reacher ist zurück

Keine feste Adresse, kein Telefon, keine Vergangenheit. Seit er die Eliteeinheit bei der Army verlassen hat, führt Jack Reacher ein Leben, fast ohne Spuren zu hinterlassen. Doch eines Tages liegen 1.030 Dollar auf seinem Bankkonto, und Reacher weiß: Seine Vergangenheit hat ihn wieder. Als er auf den codierten Notruf reagiert und seine Exkollegin Frances Neagley kontaktiert, erfährt er von der brutalen Ermordung ihres einstigen Partners Calvin Franz, der erst gefoltert und dann aus einem Helikopter über der Wüste Nevadas abgeworfen wurde. Auf der Suche nach dem Rest des früheren Teams müssen sie feststellen, dass Calvin nicht das einzige Mordopfer war. Eiskalt vor Zorn rüstet Reacher zum Rachefeldzug.

Unversöhnlich, unerbittlich, unschlagbar: Jack Reacher, der einsamste und eigenwilligste Ermittler der amerikanischen Thrillerliteratur.

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Seitenzahl: 525

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Kurzweilig zu lesen. Gute Unterhaltung
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Copyright
Für die wahreFrances L. Neagley
1
Der Mann hieß Calvin Franz, und der Hubschrauber war eine Bell 222. Franz hatte zwei gebrochene Beine, deshalb musste er auf einer Tragbahre festgeschnallt an Bord gebracht werden. Das war nicht weiter schwierig. Die Bell war geräumig: Der für Geschäftsreisen und Polizeiaufgaben konzipierte zweistrahlige Hubschrauber bot Platz für sieben Fluggäste. Die Kabinentüren waren so breit wie die eines Kastenwagens und ließen sich weit öffnen. Die mittlere Sitzreihe war ausgebaut worden. Für Franz gab es auf dem Kabinenboden reichlich Platz.
Die Triebwerke liefen im Leerlauf. Zwei Männer schleppten die Tragbahre. Sie duckten sich im Rotorabwind und hasteten auf die Bell zu, einer rückwärts, einer vorwärts gehend. Als sie die offene Tür erreichten, hievte der Kerl, der rückwärts gegangen war, einen der Tragegriffe auf die Türschwelle und duckte sich weg. Der andere Kerl trat vor und schob kräftig an, sodass die Tragbahre ganz in die Kabine rutschte. Franz war bei Bewusstsein und hatte Schmerzen. Er schrie auf und warf sich etwas herum, aber nicht allzu sehr, weil seine Brust- und Schenkelgurte sehr straff angezogen waren. Die beiden Männer stiegen nach ihm ein und nahmen ihre Plätze in der Reihe hinter den ausgebauten Sitzen ein und knallten die Kabinentür zu.
Dann warteten sie.
Der Pilot wartete.
Ein dritter Mann trat aus einer grauen Metalltür und kam übers Vorfeld. Er ging gebückt unter den Rotorblättern hindurch und hielt eine Hand flach an seine Brust gepresst, damit seine Krawatte nicht im Wind flatterte. Diese Geste ließ ihn wie einen Schuldigen aussehen, der seine Unschuld beteuert. Er ging vorn um den langen Bug der Bell herum und stieg links neben dem Piloten ein.
»Los«, sagte er, dann senkte er den Kopf, um sich auf den Zentralverschluss seines Gurtzeugs zu konzentrieren.
Als der Pilot die Leistungshebel nach vorn schob, verwandelte das träge Wup-wup-wup der Rotorblätter im Leerlauf sich in ein helles, drängendes Knattern, das dann vom Heulen der Triebwerke überlagert wurde. Die Bell hob senkrecht ab, driftete etwas nach links und drehte sich halb, bevor sie mit eingefahrenem Fahrwerk auf dreihundert Meter stieg. Dann senkte sie ihren Bug und knatterte hoch und schnell nach Norden. Unter ihr glitten Straßen und Wissenschaftsparks und kleine Fabriken und sauber abgegrenzte Vororte vorbei. Klinkermauern und Blechbeplankungen leuchteten in der Abendsonne rot. Kleine smaragdgrüne Rasenflächen und türkise Swimmingpools glänzten im letzten Licht.
Der Mann auf dem vorderen linken Sitz fragte: »Sie wissen, wohin wir wollen?«
Der Pilot nickte, ohne etwas zu sagen.
Die Bell knatterte weiter, ging auf Nordostkurs, stieg etwas höher, tauchte ins nächtliche Dunkel ein. Sie überflog einen tief unter ihr liegenden Freeway, einen Strom aus weißen Lichtern, die nach Westen krochen, und aus roten, die nach Osten krochen. Eine Minute nördlich des Freeways gingen die letzten kultivierten Flächen in kleine Hügel über, die kahl und mit niedrigem Buschwerk bewachsen und unbewohnt waren. Ihre der untergehenden Sonne zugekehrten Flanken leuchteten orangerot, während ihre im Schatten liegenden Seiten und die Täler dunkelbeige waren. Wenig später gingen die kleinen Hügel ihrerseits in niedrige abgerundete Berge über. Die Bell raste weiter, stieg und sank, folgte den Geländekonturen unter ihnen. Der Mann auf dem Vordersitz drehte sich um und sah auf Franz herab, der hinter ihm auf dem Boden lag. Lächelte flüchtig und sagte: »Ungefähr noch zwanzig Minuten.«
Franz gab keine Antwort. Er litt zu starke Schmerzen.
Die Reisegeschwindigkeit der Bell betrug knapp zweihundertsechzig Stundenkilometer, daher legte sie in weiteren zwanzig Minuten rund sechsundachtzig Kilometer zurück und gelangte über die Berge weit in die unbesiedelte Wüste hinaus. Der Pilot hob den Bug an und flog etwas langsamer. Der Mann neben ihm drückte seine Stirn ans Fenster und starrte ins Dunkel hinunter.
»Wo sind wir?«, fragte er.
Der Pilot sagte: »Wo wir schon mal waren.«
»Genau?«
»Ungefähr.«
»Was liegt unter uns?«
»Sand.«
»Höhe?«
»Tausend Meter.«
»Wie sind die Verhältnisse hier oben?«
»Still. Leichte Thermik, aber kein Wind.«
»Sicher?«
»Flugtechnisch schon.«
»Okay, dann los.«
Der Pilot wurde noch langsamer, bis er in tausend Meter Höhe über der Wüste in den Schwebeflug überging. Der Mann auf dem Vordersitz drehte sich erneut um und machte den Kerlen in der letzten Reihe ein Zeichen. Die beiden schnallten sich ab. Einer kauerte neben Franz’ Füßen nieder, hielt seinen Sicherheitsgurt mit einer Hand umklammert und entriegelte mit der anderen die Kabinentür. Der Pilot, der sie halb umgedreht beobachtete, hob den Bug etwas an, sodass die Tür durch ihr Eigengewicht ganz nach hinten glitt. Dann senkte er den Bug wieder und flog einen langsamen Rechtskreis, damit Fliehkraft und Luftströmung die Tür offen hielten. Der zweite Kerl ging hinter Franz’ Kopf in die Hocke und hievte die Tragbahre in einem Winkel von fünfundvierzig Grad hoch. Um die Tragbahre anzuhalten, stellte der erste Kerl seinen Schuh aufs Ende der Schiene, in der die Rollen der Tragbahre liefen. Der zweite Kerl stemmte sie wie ein Gewichtheber mit einem Ruck fast senkrecht hoch. Franz sackte gegen die Gurte nach unten. Er war ein großer, schwerer Mann. Und er ließ sich nicht leicht unterkriegen. Seine Beine waren wertlos, aber sein Oberkörper war stark und versuchte den Gurt zu sprengen. Er warf seinen Kopf von einer Seite zur anderen.
Der erste Kerl zog sein Springmesser und ließ die Klinge aufschnappen. Benutzte es, um Franz’ Schenkelgurt zu durchtrennen. Dann machte er eine kurze Pause, bevor er den Gurt über Franz’ Brust zerschnitt. Mit einer einzigen flüssigen Bewegung. Genau gleichzeitig brachte der zweite Kerl die Tragbahre ganz in die Senkrechte. Franz trat unwillkürlich einen Schritt nach vorn, auf seinem gebrochenen rechten Bein. Er schrie kurz auf, dann machte er instinktiv einen weiteren Schritt, auf seinem gebrochenen linken Bein. Er sackte, wild mit den Armen rudernd, nach vorn, und das Übergewicht seines schweren Oberkörpers ließ ihn über die Drehachse der steifen Hüften kippen und beförderte ihn durch die offene Tür hinaus: in die von Lärm erfüllte Dunkelheit, in den Sturmstärke erreichenden Rotorabwind, in die Nacht.
Tausend Meter über der Wüste.
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Selbst der Triebwerkslärm schien abzunehmen. Dann kehrte der Pilot die Bewegungsrichtung der Bell um und senkte ihren Bug, sodass die Kabinentür sich von selbst wieder schloss. Die Turbinendrehzahl ging etwas zurück, die Rotorblätter schaufelten Luft, und der Bug blieb leicht gesenkt.
Die beiden Kerle beeilten sich, auf ihre Plätze zurückzukommen.
Der Mann vorn neben dem Piloten sagte: »Okay, jetzt nach Hause.«
2
Siebzehn Tage später war Jack Reacher in Portland, Oregon, und ziemlich abgebrannt. In Portland, weil er irgendwo sein musste und der Überlandbus, mit dem er zwei Tage zuvor unterwegs gewesen war, dort gehalten hatte. Ziemlich abgebrannt, weil er in einer Cop Bar eine stellvertretende Staatsanwältin namens Samantha kennengelernt und sie zweimal zum Abendessen eingeladen hatte, bevor er zwei Nächte bei ihr verbrachte. Jetzt war sie ins Büro gefahren, und er entfernte sich von ihrem Haus, war um neun Uhr morgens zum Busbahnhof in der Stadtmitte unterwegs: mit noch vom Duschen nassem Haar, befriedigt, entspannt, ohne bestimmtes Ziel, mit einem sehr dünnen Packen Geldscheine in der Tasche.
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 hatten Reachers Alltag in zweierlei Hinsicht verändert. Erstens hatte er jetzt neben seiner Klappzahnbürste einen Reisepass in der Tasche. In dieser neuen Ära erforderten zu viele Dinge - auch die meisten Reisemöglichkeiten - einen Lichtbildausweis. Reacher war jemand, der sich treiben ließ, aber kein Einsiedler, ruhelos, aber nicht gestört, und hatte deshalb würdevoll nachgegeben.
Und zweitens hatte er sein Verfahren für Barabhebungen geändert. Nach seinem Ausscheiden aus der Army hatte er viele Jahre lang bei Bedarf seine Bank in Virginia angerufen und sich mit Western Union telegrafisch Geld an seinen jeweiligen Aufenthaltsort schicken lassen. Neue Sorgen über die Finanzierungsmethoden von Terroristen hatten dieses Verfahren jedoch praktisch unmöglich gemacht. Also hatte Reacher sich eine Kontokarte ausstellen lassen. Er trug sie im Pass bei sich und hatte als PIN die Zahl 8197 gewählt. Er betrachtete sich als Mann mit sehr wenigen Talenten, aber allen möglichen Fähigkeiten, von denen die meisten physisch waren und mit seiner überdurchschnittlichen Größe und Stärke zusammenhingen; dazu gehörten auch die Gabe, dass er immer wusste, wie spät es gerade war, ohne auf die Uhr sehen zu müssen, und eine nicht unbedingt mit Intelligenz zusammenhängende Rechenbegabung. Daher die 8197. Ihm gefiel die 97, weil sie die größte zweistellige Primzahl war, und er liebte die 81, weil sie unter buchstäblich unendlich vielen Zahlen die absolut einzige war, deren Wurzel mit ihrer Quersumme übereinstimmte. Die Quadratwurzel aus 81 war neun, und acht und eins ergab ebenfalls neun. Keine andere nicht triviale Zahl im Kosmos besaß solch köstliche Symmetrie. Perfekt.
Seine Freude an Zahlenspielereien und sein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Geldhäusern zwangen ihn dazu, jedes Mal seinen Kontostand zu kontrollieren, wenn er Geld abhob. Er dachte immer daran, die Auszahlungsgebühr abzuziehen und jedes Vierteljahr den kümmerlichen Guthabenzins der Bank zu addieren. Aber trotz seines Misstrauens war er nie abgezockt worden. Sein Guthaben entsprach jedes Mal genau seiner Berechnung. Er war bisher nie überrascht oder enttäuscht gewesen.
Bis zu diesem Morgen in Portland, an dem er überrascht, aber nicht gerade enttäuscht war. Weil sein Guthaben über tausend Dollar höher war als erwartet.
Exakt eintausenddreißig Dollar höher, als Reacher sich im Kopf ausgerechnet hatte. Offenbar ein Irrtum. Ein Fehler der Bank. Eine Überweisung auf ein falsches Konto. Ein Irrtum, der sich berichtigen ließ. Behalten würde er das Geld natürlich nicht können. Er war ein Optimist, aber kein Dummkopf. Er drückte auf einen weiteren Knopf und forderte damit einen sogenannten Minikontoauszug an. Aus einem Schlitz schlängelte sich ein dünner Papierstreifen. Schwacher grauer Druck zeigte die letzten fünf Kontobewegungen an. Drei davon waren Abhebungen an Geldautomaten, an die er sich gut erinnerte. Eine betraf die Guthabenzinsen der Bank. Ganz unten stand eine vor drei Tagen erfolgte Einzahlung über eintausenddreißig Dollar in bar. Nun hatte er’s schwarz auf weiß. Der Papierstreifen war zu schmal für eigene Soll- und Habenspalten, deshalb stand der Betrag in Klammern, die ihn als Gutschrift auswiesen: (1030,00).
Tausenddreißig Dollar.
1030.
Keine auf den ersten Blick interessante Zahl, aber Reacher starrte sie doch eine Minute lang an. Natürlich keine Primzahl. Keine gerade Zahl mit mehr als zwei Stellen konnte eine Primzahl sein. Wurzel? Etwas weniger als 10,1. Teiler? Nicht viele, aber 5 und 206 neben den auf der Hand liegenden 10 und 103 und den noch offensichtlicheren 2 und 515.
Also 1030.
Tausenddreißig.
Ein Irrtum.
Vielleicht.
Oder vielleicht auch keiner.
Reacher zog seine fünfzig Dollar aus dem Automaten, angelte Kleingeld aus der Tasche und machte sich auf die Suche nach einem Münztelefon.
Eine Telefonzelle fand er im Busbahnhof. Die Nummer seiner Bank wusste er auswendig. 9.40 Uhr im Westen, 12.40 Uhr im Osten. Mittagspause in Virginia, aber bestimmt war irgendjemand da.
Tatsächlich war jemand da. Keine Mitarbeiterin, mit der Reacher schon mal gesprochen hatte, aber eine Frau, die kompetent wirkte. Vielleicht eine leitende Angestellte, die nur über Mittag eingesprungen war. Sie nannte ihren Namen, den Reacher aber nicht verstand. Danach ratterte sie einen eingeübten Begrüßungstext herunter, der Reacher das Gefühl vermitteln sollte, ein geschätzter Kunde zu sein. Er ließ ihn über sich ergehen, dann erzählte er ihr von der Einzahlung. Sie war erstaunt, dass ein Kunde wegen eines Irrtums zu seinen Gunsten anrief.
»War vielleicht kein Irrtum«, sagte Reacher.
»Haben Sie die Einzahlung erwartet?«, fragte sie.
»Nein.«
»Zahlen Dritte häufig etwas auf Ihr Konto ein?«
»Nein.«
»Dann ist’s wahrscheinlich ein Irrtum, glauben Sie nicht?«
»Ich muss wissen, wer den Betrag eingezahlt hat.«
»Darf ich fragen, weshalb?«
»Das zu erklären würde lange dauern.«
»Ich müsste’s trotzdem wissen«, sagte die Frau. »Hier geht es um vertrauliche Informationen. Gewährt ein Irrtum der Bank einem Kunden Einblick in die finanziellen Verhältnisse eines anderen, könnte das ein Verstoß gegen alle möglichen Bestimmungen und Vorschriften und ethischen Grundsätze sein.«
»Die Einzahlung könnte eine Nachricht sein«, sagte Reacher.
»Eine Nachricht?«
»Aus der Vergangenheit.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich war früher mal bei der Militärpolizei«, erklärte Reacher. »Der Funkverkehr der Militärpolizei ist verschlüsselt. Braucht ein Militärpolizist dringend Unterstützung von Kollegen, gibt er über Funk den Code zehn-dreißig durch. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Nein, ehrlich gesagt nicht.«
Reacher sagte: »Kenne ich den Einzahler nicht, ist diese Sache ein tausenddreißig Dollar teurer Irrtum, denke ich. Kenne ich ihn jedoch, kann sie ein Hilferuf sein.«
»Das verstehe ich noch immer nicht.«
»Sehen Sie sich die Schreibweise an. Statt tausenddreißig Dollar könnte der Funkcode zehn-dreißig gemeint sein. Sehen Sie sich die geschriebene Zahl an.«
»Hätte diese Person Sie nicht einfach angerufen?«
»Ich habe kein Telefon.«
»Vielleicht eine E-Mail? Oder ein Telegramm. Oder sogar ein Brief?«
»Ich habe keine Adressen für solche Dinge.«
»Wie setzen wir uns dann mit Ihnen in Verbindung?«
»Überhaupt nicht.«
»Eine Einzahlung auf Ihr Konto wäre eine sehr merkwürdige Art der Verbindungsaufnahme.«
»Vielleicht die einzige Art.«
»Eine sehr schwierige Art. Jemand müsste Ihr Bankkonto ausfindig machen.«
»Genau das meine ich«, erwiderte Reacher. »Das könnte nur eine clevere, einfallsreiche Person schaffen. Und wenn eine clevere, einfallsreiche Person Hilfe braucht, ist irgendwo etwas Schlimmes passiert.«
»Das wäre auch ziemlich teuer. Es könnte jemanden über tausend Dollar kosten.«
»Genau. Diese Person müsste clever und einfallsreich und verzweifelt sein.«
Am anderen Ende herrschte Schweigen. Dann: »Können Sie nicht einfach eine Liste der infrage kommenden Leute aufstellen und sie nacheinander abtelefonieren?«
»Ich habe mit vielen cleveren Leuten zusammengearbeitet. Meistens liegt das schon sehr lange zurück. Ich würde Wochen brauchen, um alle aufzuspüren. Dann könnte’s schon zu spät sein. Und ich habe ohnehin kein Telefon.«
Wieder Stille. Bis auf das Klappern einer Tastatur.
Reacher sagte: »Sie sehen nach, stimmt’s?«
Die Frau antwortete: »Das dürfte ich eigentlich gar nicht.«
»Ich verpfeife Sie nicht.«
Erneut Schweigen. Das Klappern der Tastatur verstummte. Reacher wusste, dass sie den Namen auf ihrem Bildschirm vor sich hatte.
»Sagen Sie ihn mir«, verlangte er.
»Ich kann Ihnen den Namen nicht einfach sagen. Sie müssen mir schon ein bisschen helfen.«
»Wie?«
»Geben Sie mir Hinweise. Damit ich nicht einfach den Namen sagen muss.«
»Was für Hinweise?«
Sie fragte: »Nun, handelt es sich beispielsweise um einen Mann oder eine Frau?«
Reacher lächelte flüchtig. Die Antwort lag bereits in der Fragestellung. Es war eine Frau. Todsicher. Eine clevere, einfallsreiche Frau, die eine fantasievolle Querdenkerin war. Eine Frau, die von seinem fast zwanghaften Rechentrieb wusste.
»Lassen Sie mich raten«, sagte Reacher. »Die Einzahlung ist in Chicago erfolgt.«
»Ja, durch einen persönlichen Scheck auf eine Bank in Chicago.«
»Neagley«, sagte Reacher.
»Das ist der Name, den wir haben«, sagte die Frau. »Frances L. Neagley.«
»Dann vergessen Sie, dass wir jemals miteinander geredet haben«, sagte Reacher. »Das war kein Irrtum Ihrer Bank.«
3
Reacher hatte dreizehn Jahre in der U.S. Army gedient, alle davon bei der Militärpolizei. Er hatte Frances Neagley zehn Jahre lang gekannt und sieben Jahre lang ab und zu mit ihr zusammengearbeitet. Er war Offizier gewesen, erst Leutnant, dann Oberleutnant, Hauptmann und Major, dann zum Hauptmann degradiert und zuletzt wieder Major. Neagley hatte standhaft jegliche Beförderung über den Master Sergeant hinaus abgelehnt. Sie hatte sich geweigert, auch nur an die Offiziersschule zu denken. Reacher hatte nie richtig gewusst, weshalb. Es gab viel, was er trotz ihrer zehnjährigen Bekanntschaft nicht über sie wusste.
Andererseits gab es viel, was er über sie wusste. Sie war clever und einfallsreich und gründlich. Und verdammt taff. Und eigenartig ungehemmt. Nicht in Bezug auf persönliche Beziehungen. Sie mied persönliche Beziehungen. Sie hütete ihr Privatleben eifersüchtig und wehrte sich gegen jegliche Art körperlicher oder emotionaler Nähe. Ihre Ungehemmtheit war rein professionell. Hatte sie das Gefühl, etwas sei richtig oder notwendig, war sie kompromisslos. Dann konnte nichts sie aufhalten - keine Politik, keine praktischen Erwägungen, keine Höflichkeit oder sogar das, was Zivilisten vielleicht Recht und Gesetz genannt hätten. Reacher hatte sie einst zu einer Einheit für Sonderermittlungen geholt, in der sie zwei entscheidende Jahre lang eine wichtige Rolle spielte. Die meisten Leute hatten die oft spektakulären Erfolge ihrer Einheit auf Reachers Führungskraft zurückgeführt, aber Reacher schrieb sie Neagley zu. Sie beeindruckte ihn gewaltig. Manchmal ängstigte sie ihn fast.
Forderte sie dringend Unterstützung an, tat sie’s nicht, weil sie ihre Autoschlüssel nicht finden konnte.
Neagley arbeitete bei einem privaten Sicherheitsdienst in Chicago. Das wusste er. Wenigstens hatte sie das vor vier Jahren getan, bei ihrer letzten Begegnung. Sie war ein Jahr nach ihm aus der Army ausgeschieden und hatte sich mit jemandem, den sie kannte, selbstständig gemacht. Als Partnerin, vermutete er, nicht als Angestellte.
Er grub noch mal in seinen Taschen und förderte weitere Münzen zutage. Rief die Auskunft für Ferngespräche an. Fragte nach Chicago. Gab den Namen der Firma an, wie er sich an ihn erinnerte. Die Telefonistin wurde durch eine Computerstimme ersetzt, die ihm eine Nummer nannte. Reacher hängte ein und wählte gleich wieder. Als eine Empfangsdame sich meldete, verlangte er Frances Neagley. Er wurde höflich gebeten, einen Augenblick zu warten. Wahrscheinlich war die Firma größer, als er bisher angenommen hatte. Er hatte sich einen einzigen Raum, ein schmutziges Fenster, vielleicht zwei verkratzte Schreibtische, überquellende Aktenschränke vorgestellt. Aber die gemessenen Worte der Empfangsdame, die Klickgeräusche im Hörer und die dezente Musik, während er weiterverbunden wurde, ließen auf eine erheblich größere Firma schließen. Vielleicht zwei Stockwerke, kühle weiße Korridore, Bilder an den Wänden, ein internes Telefonverzeichnis.
Ein Mann meldete sich: »Frances Neagleys Büro.«
Reacher fragte: »Ist sie da?«
»Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Jack Reacher.«
»Gut. Danke, dass Sie anrufen.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Ms. Neagleys Assistent.«
»Sie hat einen Assistenten?«
»Gewiss.«
»Ist sie da?«
»Sie ist nach Los Angeles unterwegs. In diesem Augenblick in der Luft, glaube ich.«
»Hat sie eine Nachricht für mich hinterlassen?«
»Sie möchte Sie so schnell wie möglich sprechen.«
»In Chicago?«
»Sie ist für ein paar Tage in L.A. Ich denke, Sie sollten sie dort aufsuchen.«
»Worum geht’s überhaupt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Es hängt nicht mit ihrer Arbeit zusammen?«
»Ausgeschlossen. Sie hätte eine Akte angelegt. Den Fall hier diskutiert. Sie hätte sich nicht hilfesuchend an Fremde gewandt.«
»Ich bin kein Fremder. Ich kenne sie länger als Sie.«
»Entschuldigung. Das habe ich nicht gewusst.«
»In welchem Hotel ist sie in L.A.?«
»Auch das weiß ich nicht.«
»Wie soll ich sie dann finden?«
»Sie hat gesagt, Sie würden sie dort aufspüren können.«
Reacher fragte: »Was ist das - eine Art Test?«
»Sie hat gesagt, wenn Sie sie nicht finden, könne sie Sie nicht brauchen.«
»Alles in Ordnung mit ihr?«
»Irgendetwas macht ihr Sorgen. Aber sie hat mir nicht verraten, was.«
Reacher behielt den Hörer am Ohr und wandte sich von der Wand ab. Der Metallschlauch mit dem Kabel wickelte sich um seine Brust. Er sah zu den mit laufenden Motoren bereitstehenden Bussen und der Abfahrtstafel hinüber. Dann fragte er: »An wen hat sie sich noch gewandt?«
Der Mann sagte: »Es gibt eine ganze Liste mit Namen. Aber Sie sind der Erste, der sich bei ihr meldet.«
»Ruft sie nach der Ankunft bei Ihnen an?«
»Wahrscheinlich.«
»Richten Sie ihr aus, dass ich unterwegs bin.«
4
Reacher fuhr mit einem Zubringerbus zum Flughafen Portland und buchte bei United Airlines einen einfachen Flug nach LAX. Er benutzte seinen Reisepass, um sich auszuweisen, und seine Kontokarte für die Abbuchung. Der Preis für einen Flug am selben Vormittag war unverschämt hoch. Alaska Airlines wäre billiger gewesen, aber Reacher hasste diese Fluggesellschaft. Sie stellte Karten mit Bibelsprüchen auf ihre Essenstabletts. Verdarb ihm den Appetit.
Für Reacher war die Sicherheitskontrolle ein Kinderspiel. Kabinengepäck besaß er keines. Er hatte keinen Gürtel, keine Schlüssel, kein Handy, keine Armbanduhr. Er brauchte nur sein Kleingeld in den Plastikkorb zu werfen und seine Schuhe auszuziehen und durch den Metalldetektor zu gehen. Eine Sache von dreißig Sekunden. Dann war er zum Flugsteig unterwegs - mit seinem Kleingeld wieder in der Tasche, seinen Schuhen wieder an den Füßen, in Gedanken bei Neagley.
Nicht mit der Arbeit zusammenhängend. Also eine Privatsache. Aber so viel er wusste, hatte sie keine privaten Angelegenheiten. Kein Privatleben. Sie hatte nie eines gehabt. Natürlich hatte sie Alltagssorgen, vermutete er, und alltägliche Probleme. Wie jeder Mensch. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie bei solchen Dingen Hilfe brauchte. Ein lärmender Nachbar? Jeder vernünftige Mann würde seine Stereoanlage nach einem kurzen Gespräch mit Frances Neagley verkaufen. Oder einer Wohltätigkeitsorganisation spenden. Drogenhändler an ihrer Straßenecke? Die würden als kleine Meldung im Innenteil der Morgenzeitung enden: Leichen in einer Gasse aufgefunden, mehrfache Stichwunden, vorerst noch keine Verdächtigen. Ein Stalker? Ein Grapscher im L-Train? Reacher lief ein kalter Schauder über den Rücken. Neagley hasste es, angefasst zu werden. Er wusste nicht, weshalb. Aber jeder über eine zufällige Berührung hinausgehende Körperkontakt mit ihr würde einem Kerl einen gebrochenen Arm einbringen. Vielleicht sogar zwei gebrochene Arme.
Was war also ihr Problem?
Eine ganze Liste mit Namen. Vielleicht hatte ihre Vergangenheit sie eingeholt. Reacher hatte das Gefühl, seine Militärzeit liege sehr lange zurück. Eine andere Ära, eine andere Welt. Mit anderen Regeln. Vielleicht beurteilte jemand damalige Ereignisse nach heutigen Maßstäben und beschwerte sich über irgendetwas. Vielleicht hatte eine lange hinausgeschobene interne Untersuchung begonnen. Reachers Sonderermittler hatten viele Verfahren abgekürzt, oft mit brutalen Mitteln gearbeitet. Irgendjemand, vielleicht Neagley selbst, hatte einen Slogan erfunden: Mit den Sonderermittlern legt man sich nicht an. Das war als Versprechen, als Warnung endlos wiederholt worden. Ausdruckslos und todernst.
Vielleicht hatte sich jetzt jemand mit den Sonderermittlern angelegt. Vielleicht hagelte es Vorladungen und einstweilige Verfügungen. Aber wieso sollte Neagley ihn in diese Sache hineinziehen? Er lebte ungefähr so anonym, wie das in Amerika überhaupt möglich war. Würde sie sich nicht einfach dumm stellen und ihn unbehelligt lassen?
Er schüttelte den Kopf, gab auf und ging an Bord seines Flugzeugs.
Unterwegs nutzte er die Zeit, um sich zu überlegen, wo Neagley sich verkrochen haben mochte. Früher hatte es zu seinem Job gehört, Leute aufzuspüren, und er war darin ziemlich gut gewesen. Erfolg beruhte auf Empathie. Man musste wie sie denken, wie sie fühlen. Sehen, was sie sahen. Sich in ihre Lage versetzen. Sie sein.
Bei Soldaten, die sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatten, war das natürlich leichter. Ihre Ziellosigkeit machte ihre Entscheidungen umso durchsichtiger. Und sie flüchteten vor etwas, waren nicht zu etwas unterwegs. Dabei verfielen sie oft in einen unbewussten geografischen Symbolismus. Waren sie aus Osten in eine Stadt gekommen, verkrochen sie sich im Westen. Sie wollten möglichst viel Masse zwischen sich und ihre Verfolger bringen. Hatte Reacher eine Stunde mit einem Stadtplan, einem Busfahrplan und den Gelben Seiten verbracht, konnte er häufig vorhersagen, in welchem Straßenblock er die Flüchtigen finden würde. Sogar in welchem Motel.
Bei Neagley war das schwieriger, weil sie irgendwohin unterwegs war. In einer Privatangelegenheit, deren Hintergründe er nicht kannte. Also zurück zum Grundsätzlichen. Was wusste er über sie? Was würde der entscheidende Faktor sein? Nun, sie war sehr preisbewusst. Nicht weil sie arm oder geizig war, sondern weil sie nicht gern Geld für etwas ausgab, das sie nicht brauchte. Und sie brauchte nicht viel. Sie brauchte keine aufgeschlagene Bettdecke oder ein Stück Schokolade auf dem Kopfkissen. Sie brauchte keinen Zimmerservice oder den morgigen Wetterbericht. Sie brauchte keinen flauschigen Bademantel oder in Zellophan versiegelte kostenlose Frotteepantoffeln. Sie brauchte nur ein Bett und eine Tür, die sich absperren ließ. Und Menschenmassen und Schatten und anonyme, von niedrigen Mieten und häufigen Mieterwechseln geprägte Viertel, in denen Barkeeper und Motelangestellte ein kurzes Gedächtnis hatten.
Folglich kam die Innenstadt nicht infrage. Beverly Hills ebenfalls nicht.
Wo also? Wo würde sie sich in der Weitläufigkeit von L.A. wohlfühlen?
Dort standen fast vierunddreißigtausend Straßenkilometer zur Auswahl.
Reacher fragte sich: Wo würde ich hingehen?
Hollywood, antwortete er. Etwas südöstlich von dem guten Zeug. Auf der falschen Seite des Sunset Boulevards.
Dort würde ich hingehen, dachte er.
Und dort wird sie sein.
Das Flugzeug landete etwas verspätet in LAX, lange nach Mittag. An Bord hatte es keine Mahlzeit gegeben, und Reacher war hungrig. Bei Samantha, der Staatsanwältin in Portland, hatte es zum Frühstück Kaffee und Vollkornbrötchen gegeben, aber das schien eine Ewigkeit zurückzuliegen.
Er machte keine Essenspause, sondern ging sofort zu den Taxis hinaus, wo er einen Koreaner mit einem gelben Toyota Minivan erwischte, der über Boxen reden wollte. Reacher verstand nichts vom Boxen und interessierte sich auch nicht dafür. Die offensichtliche Künstlichkeit dieses Sports war ihm zuwider. Gepolsterte Handschuhe und das Verbot von Tiefschlägen hatten in seiner Welt keinen Platz. Und er redete ungern. Also hockte er schweigend auf dem Rücksitz und ließ den Kerl weiterschwatzen. Er betrachtete das braune Nachmittagslicht durchs Fenster. Palmen, Reklametafeln mit Filmwerbung, hellgraue Fahrbahnen mit endlosen doppelten Gummispuren. Und Autos, Ströme von Autos, eine Flut von Autos. Er sah einen neuen Rolls-Royce und einen alten Citroën DS, beide schwarz. Einen blutroten MGA und einen pastellblauen 1957er Thunderbird, beide offen. Eine gelbe 1960er Corvette hinter einer grünen von 2008. Beobachtete man den Verkehr in L.A. lange genug, konnte man vermutlich jedes jemals hergestellte Automobil sehen.
Der Taxifahrer nahm den 101 nach Norden, fuhr einen Block vor dem Sunset Boulevard ab. Reacher stieg auf der Abfahrtsrampe aus und zahlte. Marschierte nach Süden, bog links ab und wandte sich nach Osten. Er wusste, dass es hier am Sunset auf ungefähr einer dreiviertel Meile auf beiden Seiten des Boulevards eine Ansammlung billiger Motels gab. Die Luft war südkalifornisch warm und roch nach Staub und Abgasen. Er blieb stehen. Er hatte etwa anderthalb Meilen vor sich, hinauf und hinunter, und Dutzende von Motels abzuklappern. Das konnte eine Stunde dauern, vielleicht länger. Er war hungrig. Rechts voraus entdeckte er das Reklameschild eines Denny’s. Ein Lokal einer Kette von Schnellrestaurants. Er beschloss, erst zu essen und dann zu arbeiten.
Er ging an geparkten Autos und unbebauten Grundstücken hinter Streckmetallzäunen vorbei. Stieg über Müll und softballgroße Ballen von Steppenläuferkraut hinweg. Überquerte den 101 auf einer langen Brücke. Betrat das Grundstück des Denny’s, indem er das grasige Bankett und die Drive-in-Spur überquerte. Ging an einer langen Fensterreihe vorbei.
Sah Frances Neagley drinnen allein in einer Nische sitzen.
5
Reacher blieb einen Augenblick auf dem Parkplatz stehen und beobachtete Neagley durchs Fenster. Sie hatte sich in den vier Jahren, seit er sie zuletzt gesehen hatte, kaum verändert. Sie musste jetzt über Mitte dreißig sein, aber das sah man ihr nicht an. Ihr Haar war noch immer lang, schwarz und glänzend. Ihre Augen wirkten noch immer dunkel und lebendig. Sie war noch immer schlank und geschmeidig, verbrachte viel Zeit im Fitness-Studio. Das war offensichtlich. Sie trug ein enges weißes T-Shirt mit kleinen angesetzten Ärmeln, und man hätte ein Elektronenmikroskop gebraucht, um ein Gramm Fett an ihren Armen zu finden. Oder sonst wo an ihrem Körper.
Sie war leicht gebräunt, was gut zu ihrem Teint passte. Ihre Fingernägel waren lackiert. Ihr T-Shirt schien ein teures Markenprodukt zu sein. Insgesamt wirkte sie besser situiert, als er sie in Erinnerung hatte. Sorglos, in ihrer Welt zu Hause, erfolgreich, ins Zivilleben integriert. Einen Augenblick lang waren ihm seine billigen Klamotten und seine abgetretenen Schuhe und sein zweitklassiger Haarschnitt peinlich. Als hätte sie’s geschafft und er nicht. Dann verdrängte die Freude, eine alte Freundin wiederzusehen, diesen Gedanken, und er ging zum Eingang. Betrat das Restaurant, lief an dem Schild Bitte hier warten, bis Ihnen ein Platz zugewiesen wird vorbei und glitt in ihre Sitznische. Sie hob den Kopf, sah ihn über den Tisch hinweg an und lächelte.
»Hallo«, begrüßte sie ihn.
»Ebenfalls«, sagte er.
»Möchtest du essen?«
»Das hatte ich vor.«
»Gut, dann wollen wir bestellen, nachdem du endlich hier bist.«
Er sagte: »Das klingt so, als hättest du mich erwartet.«
»Richtig. Und du bist ziemlich pünktlich da.«
»Tatsächlich?«
Neagley lächelte erneut. »Du hast den Kerl in meinem Büro aus Portland, Oregon angerufen. Er hat die Anrufidentifizierung gesehen. Hat sie zu einem Münztelefon auf dem Busbahnhof zurückverfolgt. Wir haben uns ausgerechnet, dass du geradewegs zum Flughafen fahren würdest. Dann habe ich mir überlegt, dass du mit United fliegen würdest. Alaska Airlines ist dir bestimmt zuwider. Anschließend eine Taxifahrt hierher. Deine voraussichtliche Ankunftszeit war ziemlich leicht auszurechnen.«
»Du hast gewusst, dass ich hierherkommen würde? In dieses Schnellrestaurant?«
»Wie du’s mir früher mal beigebracht hast.«
»Ich habe dir nie etwas beigebracht.«
»Doch, das hast du«, sagte Neagley. »Weißt du noch? Man muss wie sie denken, sie sein. Also habe ich mich in dich hineinversetzt. Du würdest dir ausrechnen, dass ich mich in Hollywood aufhalten würde. Du würdest gleich hier am Sunset anfangen. Aber nachdem es bei United auf dem Flug von Portland kein Essen gibt, habe ich mir überlegt, dass du hungrig ankommen und erst etwas essen wollen würdest. In der näheren Umgebung gibt’s einige Restaurants, aber dieses hier hat das größte Schild, und du bist kein Feinschmecker. Also habe ich beschlossen, mich hier mit dir zu treffen.«
»Dich mit mir zu treffen? Ich dachte, ich sei dabei, dich aufzuspüren.«
»Das hast du getan. Und ich habe dir dabei zugesehen.«
»Bist du hier abgestiegen? In Hollywood?«
Sie schüttelte den Kopf. »Beverly Hills. Im Wilshire.«
»Du bist also nur hergekommen, um mich aufzulesen?«
»Ich bin seit zehn Minuten hier.«
»Das Beverly Wilshire? Du hast dich verändert.«
»Eigentlich nicht. Aber die Welt hat sich verändert. Billige Motels genügen mir nicht mehr. Heutzutage brauche ich E-Mail, das Internet und einen Kurierdienst wie FedEx. Geschäftszentren und Portiers.«
»Dagegen komme ich mir altmodisch vor.«
»Du besserst dich. Du benutzt jetzt Geldautomaten.«
»Das war ein cleverer Schachzug. Die Nachricht per Kontoauszug.«
»Du hast mich gut ausgebildet.«
»Ich habe dir nie etwas beigebracht.«
»Unsinn!«
»Aber ein extravaganter Schachzug«, sagte Reacher. »Zehn Dollar und dreißig Cent hätten’s auch getan. Vielleicht sogar besser - wegen des Kommas zwischen zehn und dreißig.«
Neagley sagte: »Ich dachte, du würdest vielleicht Geld für ein Flugticket brauchen.«
Reacher schwieg.
»Ich hatte bereits dein Bankkonto rausgekriegt«, sagte Neagley. »War keine große Mühe, sich dort einzuhacken und sich umzusehen. Du bist nicht reich.«
»Ich will nicht reich sein.«
»Das weiß ich. Aber ich wollte nicht, dass du auf meinen Zehn-dreißig auf eigene Kosten reagieren musst. Das wäre nicht fair gewesen.«
Reacher zuckte mit den Schultern. Tatsächlich war er nicht reich. Tatsächlich war er fast arm. Seine Ersparnisse waren so weit abgeschmolzen, dass er sich Gedanken zu machen begann, wie er sie wieder aufstocken könnte. Vielleicht musste er sich auf ein paar Monate Gelegenheitsarbeit einstellen. Oder es gab anderweitig Geld zu verdienen. Eine Kellnerin brachte ihnen die Speisekarten. Ohne einen Blick hineinzuwerfen, bestellte Neagley einen Cheeseburger und ein Mineralwasser. Reacher entschloss sich ebenso schnell zu einem Thunfisch-Sandwich und heißem Kaffee. Die Bedienung nahm die Speisekarten wieder an sich und ging.
Reacher fragte: »Willst du mir also erzählen, wofür dein Zehn-dreißig genau war?«
Neagleys Antwort bestand daraus, dass sie sich bückte und aus ihrer auf dem Boden stehenden Umhängetasche ein schwarzes Ringbuch holte. Sie schob es ihm über den Tisch zu. Es enthielt die Fotokopie eines Autopsieberichts.
»Calvin Franz ist tot«, sagte sie. »Ich glaube, dass ihn jemand aus einem Flugzeug geworfen hat.«
6
Früher, das heißt in der Army, war Calvin Franz ein Militärpolizist, exakt so alt wie Reacher und in Reachers dreizehn Dienstjahren immer auf ziemlich ähnlichen Posten gewesen. Sie waren sich hier und dort begegnet, wie Offizierskameraden es manchmal taten, hatten in verschiedenen Weltgegenden für zwei, drei Tage Tuchfühlung gehabt, sich telefonisch konsultiert und waren sich begegnet, wenn ihre Ermittlungen sich überlagerten oder kollidierten. Dann hatten sie in Panama erstmals eng zusammengearbeitet. Diese Periode war kurz, aber sehr intensiv gewesen, und sie hatten im jeweils anderen Züge entdeckt, die beiden das Gefühl gaben, Brüder statt nur Kameraden zu sein. Als Reacher nach vorübergehender Degradierung den Auftrag erhalten hatte, eine Einheit für Sonderermittlungen aufzustellen, hatte Franz auf seiner persönlichen Wunschliste fast ganz oben gestanden. In den beiden folgenden Jahre hatten sie sehr erfolgreich zusammengearbeitet und waren beste Freunde geworden. Dann waren neue Befehle gekommen, wie es in der Army so oft der Fall ist, und ihre Einheit aus Sonderermittlern war aufgelöst worden. Reacher hatte Franz nie wiedergesehen.
Bis zu diesem Augenblick auf einem in ein Ringbuch eingeheftetes Autopsiefoto, das aufgeschlagen auf einem klebrigen Resopaltisch in einem billigen Schnellrestaurant lag.
Lebend war Franz kleiner als Reacher, aber größer als die meisten Leute gewesen. Schätzungsweise einen Meter neunzig groß, fünfundneunzig Kilo schwer. Kräftiger Oberkörper, tiefe Taille, kurze Beine. In gewisser Weise primitiv. Wie ein Höhlenmensch. Trotzdem hatte er insgesamt nicht schlecht ausgesehen. Er war ruhig, energisch, tatkräftig und lässig unverkrampft gewesen. Seine ganze Art hatte andere Leute Vertrauen zu ihm fassen lassen.
Auf dem Autopsiefoto sah er grässlich aus. Er lag nackt in einem Edelstahltrog, und seine Haut wirkte durch den Kamerablitz blassgrün.
Scheußlich.
Aber tote Menschen sahen oft ziemlich schlimm aus.
Reacher fragte: »Wo hast du das her?«
Neagley antwortete: »Ich kann ziemlich alles beschaffen.«
Reacher äußerte sich nicht dazu und blätterte um. Machte sich daran, den Wust von technischen Informationen zu lesen. Der Leichnam war 1,91 Meter groß und 84 Kilo schwer gewesen. Als Todesursache war multiples Organversagen als Folge eines massiven Aufschlagtraumas angegeben. Beide Beine waren gebrochen, die Rippen eingedrückt. Im Blut hatte man Unmengen freier Histamine entdeckt. Der Körper war schwer dehydriert gewesen; der Magen hatte nichts als Schleim enthalten. Alles deutete auf eine rapide Gewichtsabnahme kurz vor dem Tod hin, während andererseits nichts auf kürzliche Nahrungsaufnahme hinwies. Die an der Kleidung gefundenen Spuren waren nicht weiter ungewöhnlich - bis auf unerklärliche Eisenoxidablagerungen in beiden Hosenbeinen, ziemlich tief im Gewebe, vor den Schienbeinen, unterhalb der Knie und oberhalb der Knöchel.
Reacher fragte: »Wo ist er aufgefunden worden?«
Neagley erwiderte: »Ungefähr fünfzig Meilen nordöstlich von hier in der Wüste. Harter Sand, kleine Steine, hundert Meter von der nächsten Straße entfernt. Keine hin- oder wegführenden Spuren.«
Die Bedienung brachte das Essen. Reacher machte eine Pause, während sie ihr Tablett ablud, und fing dann an, sein Sandwich mit der linken Hand zu essen, um mit der Rechten weiter umblättern zu können.
Neagley sagte: »Zwei Deputies in einem Streifenwagen haben Geier kreisen sehen. Haben angehalten und sind hingefahren, um nachzusehen. Sie gaben zu Protokoll, er habe ausgesehen wie vom Himmel gefallen. Das findet der Pathologe auch.«
Reacher nickte. Er las eben die Schlussfolgerung des Gerichtsmediziners, die festgestellten inneren Verletzungen seien mit einem freien Fall aus ungefähr tausend Metern Höhe auf harten Sand vereinbar, wenn Franz flach auf dem Rücken aufgeschlagen sei, was aerodynamisch möglich war, wenn er bei diesem Sturz noch gelebt und mit den Armen gerudert hatte. Ein lebloser Körper wäre auf den Kopf gefallen.
Neagley sagte: »Identifiziert haben sie ihn anhand seiner Fingerabdrücke.«
Reacher fragte: »Wie hast du davon erfahren?«
»Seine Frau hat mich angerufen. Vor drei Tagen. Offenbar haben wir alle in seinem Telefonbuch gestanden. Auf einer Extraseite. Seine alten Kameraden von früher. Ich war die Einzige, die sie erreichen konnte.«
»Ich wusste gar nicht, dass er verheiratet war.«
»Noch nicht sehr lange. Sie haben einen Jungen, vier Jahre alt.«
»Hat er gearbeitet?«
Neagley nickte. »Er war Privatdetektiv. Eine Einmannshow. Anfangs Sicherheitsberatung für Unternehmen. In letzter Zeit vor allem Personalüberprüfungen. Zeug aus Datenbanken. Du weißt, wie gründlich er immer war.«
»Wo?«
»Hier in L.A.«
»Seid ihr alle Privatdetektive geworden?«
»Die meisten von uns, glaube ich.«
»Bis auf mich.«
»Das war unser einziges verwertbares Talent.«
»Was hat Franz’ Frau von dir gewollt?«
»Nichts. Sie hat’s mir nur erzählt.«
»Sie will keine Antworten?«
»Die Polizei bearbeitet den Fall. L.A. County Sheriffs, um genau zu sein. Der Fundort liegt im L.A. County. Dort ist das LAPD nicht mehr zuständig, deshalb sind ein paar Deputies mit den Ermittlungen betraut. Sie ermitteln wegen dieser Flugzeugsache. Ihrer Ansicht nach ist die Maschine vielleicht aus Vegas nach Westen geflogen. Einen ähnlichen Fall hatten sie schon mal.«
Reacher sagte: »Das war kein Flugzeug.«
Neagley schwieg.
Reacher sagte: »Ein Flugzeug hat eine Überziehgeschwindigkeit von wie viel? Hundertfünfzig Stundenkilometer? Hundertdreißig? Er wäre aus der Tür kommend in den waagrechten Schraubenstrahl geraten und gegen die Tragfläche oder das Leitwerk geknallt. Dabei hätte er deutliche Verletzungen davongetragen.«
»Er hatte zwei gebrochene Beine.«
»Wie lange dauert ein freier Fall aus tausend Metern?«
»Zwanzig Sekunden?«
»Sein Blut war voller freier Histamine. Das ist eine massive Schmerzreaktion. Bei zwanzig Sekunden zwischen Verletzung und Tod hätte sie kaum eingesetzt.«
»Also?«
»Seine Beinbrüche waren alt. Mindestens zwei, drei Tage alt. Vielleicht älter. Du weißt, was Eisenoxid ist?«
»Rost«, entgegnete Neagley. »Auf Eisen.«
Reacher nickte. »Jemand hat ihm die Beine mit einer Eisenstange gebrochen. Vermutlich einzeln. Vermutlich an einen Pfosten gefesselt. Hat auf seine Schienbeine gezielt. Kräftig genug, um den Knochen zersplittern zu lassen und Rostpartikel in den Stoff seiner Hose zu treiben. Muss verdammt schmerzhaft gewesen sein.«
Neagley sagte nichts.
»Und sie haben ihn hungern lassen«, fuhr Reacher fort. »Haben ihm nichts zu trinken gegeben. Er hatte zehn Kilo Untergewicht. Er war zwei bis drei Tage gefangen. Vielleicht länger. Sie haben ihn gefoltert.«
Neagley sagte nichts.
Reacher erklärte: »Es war ein Hubschrauber. Wahrscheinlich nachts. Schwebeflug in tausend Meter Höhe. Raus aus der Tür und senkrecht runter.« Dann schloss er die Augen und stellte sich seinen alten Freund vor, fallend, zwanzig Sekunden im Dunkel, sich überschlagend, mit den Armen rudernd, ohne zu wissen, wo der Boden war. Ohne zu wissen, wann genau er aufschlagen würde. Mit zwei zertrümmerten Beinen, die schmerzhaft hinter ihm herkamen.
»Deshalb ist er wahrscheinlich nicht aus Vegas gekommen«, sagte Reacher. Er öffnete wieder die Augen. »Für die meisten Hubschrauber wäre der Hin- und Rückflug zu weit. Ich tippe auf einen Standort im Nordosten von L.A. Die Deputies sind auf der falschen Fährte.«
Neagley saß schweigend da.
»Kojotenfutter«, sagte Reacher. »Die perfekte Entsorgungsmethode. Praktisch ohne Spuren. Die Luftströmung im freien Fall reißt alle losen Fasern und Haare mit. Da findet kein Spurensicherer etwas. Deshalb haben sie ihn auch lebend rausgeworfen. Sie hätten ihn vorher erschießen können, aber sie wollten nicht mal riskieren, eine ballistische Spur zu hinterlassen.«
Reacher schwieg sekundenlang. Dann klappte er das schwarze Ringbuch zu, drehte es um und schob es wieder über den Tisch.
»Aber das weißt du ohnehin schon alles«, sagte er. »Stimmt’s? Du kannst lesen. Du stellst mich wieder auf die Probe. Um zu sehen, ob mein Gehirn noch funktioniert.«
Neagley sagte nichts.
Reacher meinte: »Du spielst auf mir wie auf einer Violine.«
Neagley sagte nichts.
Reacher fragte: »Wozu hast du mich hergeholt?«
»Weil die Deputies wie gesagt auf der falschen Fährte sind.«
»Und?«
»Du musst etwas unternehmen.«
»Ich werde etwas unternehmen. Verlass dich drauf. Sie sind ab sofort wandelnde Tote. Niemand wirft meine Freunde aus Hubschraubern und überlebt, um davon erzählen zu können.«
Neagley sagte: »Nein, ich möchte, dass du etwas anderes tust.«
»Was denn?«
»Ich möchte, dass du die alte Einheit wieder zusammenholst.«
7
Die alte Einheit. Sie war eine typische Erfindung der U.S. Army gewesen. Etwa drei Jahre nachdem alle Welt erkannt hatte, dass sie dringend benötigt wurde, hatte das Pentagon angefangen, über sie nachzudenken. Nach einem weiteren Jahr voller Besprechungen und Ausschusssitzungen hatten die Bürokraten und die Militärs sich mit dieser Idee angefreundet. Sie war auf irgendjemandes Schreibtisch gelandet und hatte panikartige Bemühungen um ihre Verwirklichung ausgelöst. Befehle waren ausgearbeitet worden. Da kein vernünftiger Kommandeur etwas damit zu tun haben wollte, war der Nukleus der neuen Einheit aus dem 110th MP herausgeschnitten worden. Erfolg war wünschenswert, aber ein etwaiger Misserfolg musste sich leugnen lassen, deshalb machten sie sich auf die Suche nach einem fähigen Paria als Kommandeur.
Logischerweise war die Wahl auf Reacher gefallen.
Sie glaubten, seine Belohnung bestehe aus seiner Wiederbeförderung zum Major, aber seine wahre Befriedigung zog er daraus, endlich einmal etwas richtig machen zu dürfen. Auf seine Art. In Personalfragen hatten sie ihm freie Hand gelassen. Das hatte er genossen. Seiner Ansicht nach brauchte eine Einheit für Sonderermittlungen die Besten der U.S. Army, und er glaubte zu wissen, wer und wo diese Leute waren. Reacher wollte eine schnelle und bewegliche kleine Einheit, die ohne Schreibstubenpersonal auskam, damit es keine undichten Stellen gab. Ihren Papierkram würden sie selbst erledigen - oder vielleicht auch nicht, wenn sie ihn für überflüssig hielten. Zuletzt hatte er sich für acht Namen außer seinem eigenen entschieden: Tony Swan, Jorge Sanchez, Calvin Franz, Frances Neagley, Stanley Lowrey, Manuel Orozco, David O’Donnell und Karla Dixon. Neagley und Dixon waren die einzigen Frauen, und Neagley war die einzige Sergeantin. Alle anderen hatten den Offiziersrang. O’Donnell und Lowrey waren Hauptleute, die Übrigen Majore, was in Bezug auf klare Befehlsstrukturen völlig verrückt war, aber Reacher störte das nicht. Er wusste, dass zwischen neun Personen, die eng zusammenarbeiteten, eher laterale als vertikale Strukturen entstehen würden, und so war es dann auch. Die Einheit hatte sich wie ein Baseballteam aus der Provinz organisiert, das unerwartet um die Meisterschaft mitspielt: begabte Handwerker, die kooperierten, keine Stars, keine Egomanen, und vor allem skrupellos und unerbittlich effektiv.
Reacher sagte: »Das liegt alles schon lange zurück.«
»Wir müssen etwas unternehmen«, insistierte Neagley. »Alle gemeinsam. Kollektiv. Mit den Sonderermittlern legt man sich nicht an. Weißt du noch?«
»Das war nur ein Slogan.«
»Nein, es war wahr. Wir haben uns darauf verlassen.«
»Das sollte nur die Moral heben. Demonstrative Kaltblütigkeit. Pfeifen im Walde.«
»Es war mehr als nur das. Wir haben uns gegenseitig den Rücken frei gehalten.«
»Damals.«
»Und jetzt und in Zukunft. Das ist eine Karmasache. Irgendjemand hat Franz ermordet, und wir können nicht einfach darüber hinwegsehen. Was würdest du denken, wenn du das Opfer wärst und wir anderen nicht reagieren würden?«
»Wäre ich das Opfer, würde ich gar nichts denken. Ich wäre tot.«
»Du weißt, was ich meine.«
Reacher schloss erneut die Augen und hatte sofort wieder das Bild vor sich: Calvin Franz, der sich überschlagend durchs Dunkel stürzt. Vielleicht schreiend oder auch nicht. Sein alter Freund. »Diese Sache kann ich allein regeln. Oder mit dir zusammen. Aber wir können die alte Einheit nicht wiederaufleben lassen. Das funktioniert nie.«
»Wir müssen sie wiederaufleben lassen.«
Reacher öffnete die Augen. »Weshalb?«
»Weil die anderen ein Recht darauf haben, beteiligt zu werden. Dieses Recht haben sie sich in zwei harten Jahren verdient. Wir können es ihnen nicht durch einseitigen Beschluss entziehen. Das würden sie uns verübeln. Und es wäre unrecht.«
»Und?«
»Wir brauchen sie, Reacher. Weil Franz gut war. Sogar sehr gut. So gut wie ich, so gut wie du. Und trotzdem hat jemand ihm die Beine gebrochen und ihn aus einem Hubschrauber geworfen. Ich glaube, dass wir in dieser Sache alles brauchen, was wir an Hilfe bekommen können. Deshalb müssen wir die anderen finden.«
Reacher sah sie an, hatte die Stimme des Typs aus ihrem Büro im Ohr: Es gibt eine ganze Liste mit Namen. Sie sind der Erste, der sich bei ihr meldet. Er sagte: »Die anderen hätten viel leichter zu finden sein müssen.«
Neagley nickte.
»Ich kann keinen von ihnen erreichen«, sagte sie.
8
Eine ganze Liste mit Namen. Neun Namen. Neun Personen. Reacher wusste, wo sich drei von ihnen befanden - spezifisch oder generell. Neagley und er selbst, spezifisch, in einem Denny’s auf dem West Sunset in Hollywood. Und Franz, generell, in einem Leichenhaus irgendwo anders.
»Was weißt du über die anderen sechs?«, fragte er.
»Fünf«, sagte Neagley. »Stan Lowrey ist tot.«
»Seit wann?«
»Seit Jahren. Verkehrsunfall in Montana. Der andere Kerl war betrunken.«
»Das hab ich nicht gewusst.«
»Scheiße passiert eben.«
»Leider«, sagte Reacher. »Ich hab Stan gerngehabt.«
»Ich auch«, sagte Neagley.
»Wo sind also die anderen?«
»Tony Swan ist stellvertretender Leiter des Sicherheitsdiensts bei einem Rüstungsunternehmen irgendwo hier in Südkalifornien.«
»Bei welchem?«
»Weiß ich nicht. Eine neue Firma. Ganz neu gegründet. Er arbeitet erst seit ungefähr einem Jahr dort.«
Reacher nickte. Auch Tony Swan hatte er gerngehabt. Ein kleiner, stämmiger Mann. Fast quadratisch wirkend. Freundlich, gutmütig, intelligent.
Neagley sagte: »Orozco und Sanchez sind draußen in Vegas. Sie führen gemeinsam ein Sicherheitsunternehmen, Hotels und Kasinos, auf Honorarbasis.«
Reacher nickte wieder. Er hatte gehört, dass Jorge Sanchez ungefähr gleichzeitig mit ihm leicht frustriert und verbittert aus der Army ausgeschieden war. Er hatte auch gehört, Manuel Orozco wolle in der Army bleiben, aber insgesamt war es wenig überraschend, dass er sich die Sache anders überlegt hatte. Beide Männer waren Einzelgänger: hager, zäh, beweglich und reizbar, wenn sie Bockmist witterten.
Neagley sagte: »Dave O’Donnell ist in D.C. Als schlichter Privatdetektiv. Dort gibt’s reichlich Arbeit für ihn.«
»Kann ich mir vorstellen«, meinte Reacher. O’Donnell war der Gewissenhafte gewesen und hatte den gesamten Papierkram der Einheit praktisch im Alleingang bewältigt. Er hatte wie ein Ivy-League-Gentleman ausgesehen, aber immer ein Springmesser in einer Jackentasche und einen Schlagring in der anderen gehabt. Ein nützlicher Kerl, den man gern auf seiner Seite wusste.
Neagley sagte: »Karla Dixon lebt in New York. Ermittelt freiberuflich für Banken und Börsenmakler. Sie versteht offenbar etwas von Geld.«
»Auf Zahlen hat sie sich schon immer verstanden«, entgegnete Reacher. Dixon und er hatten manche freie Stunde damit verbracht, dass sie versuchten, berühmte mathematische Lehrsätze zu beweisen oder zu widerlegen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, weil sie beide lausige Amateure waren, aber ein netter Zeitvertreib. Dixon war schwarzhaarig, bildhübsch und zierlich: eine heitere kleine Person, die jedem Menschen das Schlimmste zugetraut und damit unweigerlich in neun von zehn Fällen recht behalten hatte.
Reacher fragte: »Woher weißt du so viel über sie?«
»Ich bemühe mich, sie nicht aus den Augen zu verlieren«, antwortete Neagley. »Sie interessieren mich.«
»Wieso kannst du sie dann nicht erreichen?«
»Keine Ahnung. Ich hab versucht, sie anzurufen, aber keiner ruft zurück.«
»Ist das Ganze also ein Angriff auf uns als Gruppe?«
»Ausgeschlossen«, sagte Neagley. »Ich bin mindestens so sichtbar wie Dixon oder O’Donnell, aber hinter mir ist niemand her.«
»Noch nicht.«
»Vielleicht.«
»Du hast die anderen am selben Tag angerufen, an dem du das Geld auf mein Konto eingezahlt hast?«
Neagley nickte.
»Das ist erst drei Tage her«, sagte Reacher. »Vielleicht sind sie alle beschäftigt.«
»Was hast du also vor? Auf sie warten?«
»Ich will die anderen einfach vergessen. Du und ich können für Franz eintreten. Nur wir beide.«
»Besser wär’s, wenn wir die alte Einheit zusammentrommeln könnten. Wir waren ein gutes Team. Du warst der beste Kommandeur, den die Army je gehabt hat.«
Reacher schwieg.
»Was?«, fragte Neagley. »Woran denkst du?«
»Dass ich weit früher anfangen würde, wenn ich Geschichte neu schreiben wollte.«
Neagley faltete die Hände und ließ sie auf dem schwarzen Ringbuch ruhen. Schlanke Finger, gebräunte Haut, lackierte Fingernägel, Muskelstränge und Sehnen.
»Eine Frage«, sagte sie. »Nehmen wir mal an, ich hätte die anderen erreicht. Nehmen wir mal an, ich hätte mir die Sache mit deiner Bank gespart. Nehmen wir mal an, du würdest in ein paar Jahren erfahren, dass Franz ermordet worden ist - und dass wir sechs ohne dich losgezogen sind und ihn gerächt haben. Wie würdest du dich dann fühlen?«
Reacher zuckte mit den Schultern. Überlegte einen Herzschlag lang.
»Schlecht, vermutlich«, sagte er. »Vielleicht betrogen. Ausgegrenzt.«
Neagley sagte nichts.
Reacher sagte: »Okay, wir versuchen, die anderen zu finden. Aber wir warten nicht ewig.«
Neagley hatte ihren Leihwagen auf dem Parkplatz stehen. Sie bezahlte das Mittagessen, dann gingen sie hinaus. Der Wagen war ein Mustang, ein rotes Cabrio. Sie stiegen ein, und Neagley drückte auf den Knopf, der das elektrische Verdeck öffnete. Sie nahm eine Sonnenbrille vom Armaturenbrett und setzte sie auf. Stieß rückwärts aus der Parklücke und bog an der nächsten Ampel vom Sunset nach Süden ab. Fuhr in Richtung Beverly Hills weiter. Reacher saß schweigend neben ihr und kniff in der Nachmittagssonne die Augen zusammen.
Dreißig Meter westlich des Restaurants beobachtete ein Mann namens Thomas Brant aus einem beigen Ford Crown Victoria, wie sie wegfuhren. Er benutzte sein Handy, um seinen Boss - einen Mann namens Curtis Mauney - anzurufen. Da Mauney sich nicht selbst meldete, sprach Brant auf seinen Anrufbeantworter.
Er sagte: »Sie hat gerade den Ersten von ihnen aufgelesen.«
Fünf Wagen hinter Brants Crown Victoria parkte ein dunkelblauer viertüriger Chrysler mit einem Mann in einem dunkelblauen Anzug am Steuer. Auch er beobachtete, wie der rote Mustang im Dunst verschwand, und auch er benutzte ein Handy.
Er sagte: »Sie hat gerade den Ersten von ihnen aufgelesen. Wer er ist, weiß ich nicht. Ein großer Kerl, sieht wie ein Stadtstreicher aus.«
Dann hörte er sich an, was sein Boss antwortete, und sah ihn dabei vor seinem geistigen Auge, wie er sich mit einer Hand die Krawatte über seinem Hemd glatt strich, während er in der anderen den Telefonhörer hielt.
9
Wie sein Name vermuten ließ, lag das Hotel Beverly Wilshire am Wilshire Boulevard mitten in Beverly Hills, genau gegenüber der Einmündung des Rodeo Drive. Es bestand aus zwei großen Kalksteinklötzen hintereinander, einer alt und prunkvoll, der andere neu und schmucklos. Zwischen ihnen führte die parallel zum Boulevard verlaufende Zufahrt zum Parkservice hindurch. Neagley bog mit dem Mustang darauf ab. Als sie hinter einem Pulk von schwarzen Town Cars hielten, sagte Reacher: »Ich kann’s mir nicht leisten, hier zu wohnen.«
»Ich habe dein Zimmer schon gebucht.«
»Gebucht oder bezahlt?«
»Es geht auf meine Karte.«
»Ich werde’s dir aber nicht zurückzahlen können.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen.«
»Eine Nacht in diesem Laden muss Hunderte kosten.«
»Das mit der Rückzahlung hat Zeit. Vielleicht machen wir bei diesem Unternehmen irgendwann Beute.«
»Wenn die bösen Kerle reich sind.«
»Das sind sie«, sagte Neagley. »Das müssen sie sein. Wie könnten sie sich sonst einen eigenen Hubschrauber leisten?«
Sie ließ den Schlüssel stecken und den Motor laufen, öffnete die schwere rote Tür und stieg aus. Reacher stieg ebenfalls aus. Ein Mann kam herbeigerannt und gab Neagley ein Kärtchen mit ihrer Parkplatznummer. Sie steckte es ein, kam vorn um die Motorhaube herum und ging die wenigen Stufen zum Hintereingang der Hotelhalle hinauf. Reacher
Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Bad Luck and Trouble« bei Bantam Press, a division of Transworld Publishers, The Random House Group Ltd., London.
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2007 by Lee Child Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Published by arrangement with Lee Child Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
eISBN: 978-3-641-04914-0
www.blanvalet.de
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