Sein wahres Gesicht - Lee Child - E-Book
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Sein wahres Gesicht E-Book

Lee Child

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Beschreibung

Tiefe Trauer - und erhöhte Wachsamkeit veranlassen Jack Reacher, den genialen Ex-Ermittler, an der Beerdigung seines ehemaligen Vorgesetzten und väterlichen Freundes bei der Militärpolizei, Leon Garber, teilzunehmen. Weshalb ließ dieser nach so vielen Jahren unter dem Namen seiner Tochter Jodie nach ihm fahnden? Und was hat sie, Jacks unerfüllte große Liebe, damit zu tun? Jodie, bildschön und eine clevere Anwältin, steht selbst vor einem Rätsel. Erst die unangenehme Begegnung mit Killern und verstümmelten Leichen bringt die beiden auf eine heiße Spur - und ins Fadenkreuz der Mörder.

Jack Reacher greift ein, wenn andere wegschauen, und begeistert so seit Jahren Millionen von Lesern. Lassen Sie sich seine anderen Fälle nicht entgehen. Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 684

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Buch

Kein Funken Interesse regt sich in dem genialen Jack Reacher, dem ehemaligen Ermittler der Militärpolizei, als eines Tages der Privatdetektiv Costello verschiedene Leute nach ihm ausfragt. Nicht umsonst lebt Reacher schließlich unter falschem Namen in Key West. Doch als er tags drauf Costello ermordet und mit abgeschnittenen Fingerkuppen auffindet, weiß er, dass er handeln muss. Reacher fliegt nach New York, um in Costellos Büro nach dessen Auftraggeber zu fahnden. In den verlassenen Räumen stößt Reacher auf die Adresse einer Mrs. Jacob – und diese führt schließlich sowohl Reacher als auch die Mörder zu der Trauerfeier für seinen ehemaligen Vorgesetzten und väterlichen Freund Leon Garber. Und zu seiner bildhübschen Tochter Jodie – Reachers große, aber unerfüllte Liebe. Die clevere Anwältin Jodie, geschiedene Jacobs, weiß jedoch nicht, weshalb ihr Vater unter ihrem früheren Ehenamen Jack Reacher suchen ließ. Doch plötzlich machen beide unangenehme Bekanntschaft mit den Killern – und einem Kredithai namens Hook Hobie. Aber was hat der mit einem Vermissten aus Vietnam zu tun oder mit dem Grundstückstycoon Chester Stone und seiner Frau?

Autor

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte und arbeitete dann viele Jahre als Produzent beim Fernsehen. Heute lebt er mit Frau und Tochter im Staat New York. Er erzielte bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Roman einen Bestseller in England und eroberte dann in beeindruckendem Tempo international eine riesige Fangemeinde. Child wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem »Anthony Award«, einer der renommiertesten Auszeichnungen für Spannungsliteratur.

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorWidmungPrologKapitel 1Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18Copyright

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Tripwire« bei Bantam Press, Transworld Publishers, The Random House Group Ltd, London.

Für meine Tochter Ruth. Einst das großartigste Kind der Welt, jetzt eine Frau, auf deren Freundschaft ich stolz bin.

Prolog

Hook Hobie verdankte sein gesamtes Leben einem fast dreißig Jahre alten Geheimnis. Seine Freiheit, seine gesellschaftliche Stellung, sein Geld, alles. Und wie jeder umsichtige Mann in dieser besonderen Situation war er bereit, alles Erforderliche zu tun, um sein Geheimnis zu hüten. Weil er viel zu verlieren hatte. Sein gesamtes Leben.

Fast dreißig Jahre lang hatte er sich ausschließlich auf zwei Dinge verlassen, auf jene zwei Dinge, die jeder einsetzt, um sich vor Gefahren zu schützen. Auf jene Methode, mit der eine Nation sich vor einer feindlichen Rakete schützt, jene Methode, mit der ein Apartmentbewohner sich vor einem Einbrecher schützt, jene Methode, mit der ein Boxer sich vor einem Knock-out schützt. Ortung und Reaktion. Erst entdeckt man die Gefahr, und dann reagiert man darauf.

Phase eins war sein Frühwarnsystem. Es war im Lauf der Jahre modifiziert worden, als andere Umstände sich verändert hatten. Jetzt war es vereinfacht und gut eingespielt. Es bestand aus zwei Sicherheitszonen, die konzentrischen Stolperdrähten glichen. Der erste Stolperdraht war elftausend Meilen von zu Hause entfernt. Er war ein Frühfrühwarnsystem. Ein Weckanruf. Er würde ihn warnen, dass sie näher kamen. Der zweite Stolperdraht war fünftausend Meilen näher ausgespannt, aber noch immer sechstausend Meilen von zu Hause entfernt. Ein Anruf, der von diesem zweiten Ort kam, würde ihn warnen, dass sie im Begriff waren, sehr nahe an ihn heranzukommen. Er würde ihn alarmieren, dass Phase eins vorbei war und Phase zwei in Kürze beginnen würde.

Phase zwei war die Reaktion. Er wusste sehr genau, wie diese aussehen würde. Er hatte fast dreißig Jahre damit zugebracht, darüber nachzudenken, aber es gab stets nur eine praktikable Lösung. Seine Reaktion würde daraus bestehen, dass er flüchtete. Dass er untertauchte. Er war ein Realist und zeitlebens stolz auf seinen Mut und seine Gerissenheit, seine Zähigkeit und seine innere Stärke gewesen. Er hatte stets das Notwendige getan, ohne viel darüber nachzudenken. Aber er wusste, dass er würde verschwinden müssen, sobald er die Alarmsignale dieser weit entfernten Stolperdrähte hörte. Weil kein Mann überleben konnte, was dann auf ihn zukäme. Kein Mann. Nicht einmal ein so skrupelloser wie er.

Die Gefahr war seit Jahren wie die Gezeiten des Meeres angeschwollen und wieder abgeebbt. Es hatte lange Perioden gegeben, in denen er davon überzeugt gewesen war, sie werde im nächsten Augenblick über ihn hinwegbranden. Und dann wieder lange andere, in denen er sich sicher gewesen war, sie werde ihn nie erreichen. Manchmal wiegte ihn die abstumpfende Wirkung des Zeitablaufs in Sicherheit, weil dreißig Jahre eine Ewigkeit waren. Aber dann wieder erschienen sie ihm kurz wie ein Wimpernschlag. Manchmal erwartete er den ersten Anruf fast stündlich. Er plante und schwitzte, war sich dabei stets bewusst, dass er im nächsten Augenblick zur Flucht gezwungen sein könnte.

In Gedanken hatte er alles schon eine Million Mal durchgespielt. Er rechnete damit, dass der erste Anruf ungefähr einen Monat vor dem zweiten kommen würde. Diesen Monat würde er dazu nutzen, seine Vorbereitungen zu treffen. Er würde Unerledigtes aufarbeiten, Geschäfte abwickeln, Kasse machen, Vermögenswerte in Sicherheit bringen, noch offene Rechnungen begleichen. Kam dann der zweite Anruf, würde er abhauen. Sofort. Ohne eine Sekunde lang zu zögern. Einfach abhauen, als sei der Teufel hinter ihm her, untertauchen und untergetaucht bleiben.

Aber als es dann passierte, kamen beide Anrufe am selben Tag. Der zweite zuerst. Der innere Stolperdraht wurde eine Stunde vor dem äußeren niedergerissen. Und Hook Hobie floh nicht. Er schlug dreißig Jahre sorgfältiger Planung in den Wind und blieb, um den Kampf auszufechten.

1

Jack Reacher sah den Kerl durch die Tür hereinkommen. Tatsächlich gab es dort gar keine Tür. Der Kerl trat einfach durch den Teil der Fassade, der nicht da war. Von der Bar aus gelangte man direkt auf den Gehsteig. Dort draußen standen Tische und Stühle unter einem vertrockneten Rankengewächs, das eine Art nominellen Schatten lieferte. Das Ganze war ein Innenaußenraum, durch den eine nicht existierende Wand verlief. Reacher vermutete, dass es ein Scherengitter oder dergleichen geben musste, mit dem die Öffnung verschlossen werden konnte, wenn die Bar zumachte. Falls sie jemals schloss. Reacher hatte sie jedenfalls nie geschlossen erlebt, obwohl er sie zu ziemlich extremen Zeiten aufsuchte.

Der Kerl stand ungefähr einen Meter weit im Inneren des dunklen Raums und wartete blinzelnd darauf, dass seine Augen sich nach dem blendenden Licht der Sonne von Key West ans Dunkel gewöhnten. Es war Juni, Punkt vier Uhr nachmittags im südlichsten Winkel der Vereinigten Staaten. Weit südlicher als der größte Teil der Bahamas. Eine grellweiße Sonne und sengende Hitze. Reacher saß an seinem Tisch im Hintergrund, trank mit kleinen Schlucken Mineralwasser aus einer Plastikflasche und wartete.

Der Kerl sah sich um. Die Bar war ein niedriger Raum aus verwitterten dunkelbraunen Holzbohlen. Sie sahen aus, als stammten sie von alten, abgewrackten Segelschiffen. An den Wänden hing allerlei nautischer Trödel. Es gab alte Sachen aus Messing und grüne Glaskugeln. Große Stücke alter Netze. Fischnetze, vermutete Reacher, obwohl er in seinem ganzen Leben noch nie einen Fisch gefangen hatte. Oder auf einem Boot gesegelt war. Überlagert wurde alles von zehntausend Visitenkarten, die, mit Reißzwecken befestigt, jeden freien Quadratzentimeter der Wände und sogar des Plafonds bedeckten. Manche von ihnen waren neu, manche waren alt und wellig – Erinnerungen an Unternehmen, die schon vor Jahrzehnten Pleite gemacht hatten.

Der Kerl trat weiter ins Dunkel hinein und hielt auf die Theke zu. Er war alt. Ungefähr sechzig, mittelgroß, stämmig. Ein Arzt hätte ihn übergewichtig genannt, aber Reacher sah nur einen fitten Mann, der den Zenit seiner Leistungsfähigkeit überschritten und schon eine gewisse Strecke hügelabwärts zurückgelegt hatte. Ein Mann, der den Lauf der Zeit würdevoll hinnahm, ohne großes Theater darum zu machen. Gekleidet war er wie ein Großstädter aus dem Norden, der überraschend in eine heiße Gegend reisen musste. Hellgraue Hose, oben weit, unten eng, zerknittertes beiges Sakko, weißes Oberhemd mit weit offenem Kragen, der an seiner Kehle bläulich weiße Haut sehen ließ, schwarze Socken, Stadtschuhe. New York oder Chicago, vermutete Reacher, vielleicht auch Boston, verbrachte seine Sommer überwiegend in klimatisierten Gebäuden oder Autos. Hatte diese Hose und dieses Sakko irgendwo hinten in seinem Kleiderschrank vergraben, seit er sie vor zwanzig Jahren gekauft hatte, holte sie gelegentlich hervor und verwendete sie zweckdienlich.

Der Kerl erreichte die Theke, griff in seine Jacke und zog eine Geldbörse heraus. Sie war ein prall gefülltes altes Stück aus feinem schwarzen Leder. Reacher sah, wie der Mann sie mit geübter Bewegung aufklappte und dem Barmann zeigte, wobei er eine halblaute Frage stellte. Der Angesprochene sah weg, als sei er beleidigt worden. Der Kerl steckte seine Geldbörse wieder ein und strich sein schütteres graues Haar auf seiner von Schweiß glänzenden Kopfhaut glatt. Er murmelte noch etwas, und der Barmann holte aus dem Kühlschrank unter der Theke ein Bier hervor. Der Alte hielt sich die kalte Flasche einen Augenblick ans Gesicht, dann nahm er einen langen Zug. Rülpste diskret hinter vorgehaltener Hand und lächelte.

Reacher tat es ihm gleich, indem er einen großen Schluck Wasser trank. Der fitteste Kerl, den er je gekannt hatte, war ein belgischer Soldat, der schwor, der Schlüssel zu Fitness liege darin, alles zu tun, was, zum Teufel, einem Spaß mache, solange man täglich fünf Liter Mineralwasser trinke. Reacher hatte überschlagen, dass fünf Liter ungefähr eineinviertel Gallonen waren, und da der Belgier ein kleiner, drahtiger Kerl war, nur halb so groß wie er selbst, würde er wohl zwei Gallonen am Tag trinken müssen. Zehn große Flaschen Mineralwasser. Seit seiner Ankunft in der Hitze der Keys hatte er mit dieser Trinkkur begonnen. Für ihn bewährte sie sich ausgezeichnet. Er hatte sich nie besser gefühlt. Jeden Nachmittag saß er um vier Uhr an diesem dunklen Tisch und trank drei Flaschen ungekühltes, stilles Mineralwasser. Jetzt war er so süchtig nach dem Wasser, wie er zuvor nach Kaffee gewesen war.

Der alte Kerl lehnte seitlich an der Theke, war mit seinem Bier beschäftigt. Suchte den Raum ab. Außer dem Barmann war hier nur Reacher anwesend. Der alte Kerl stieß sich mit der Hüfte von der Theke ab und kam herüber. Schwenkte sein Bier mit einer vagen Geste, die zu fragen schien: Darf ich? Reacher nickte zu dem Stuhl auf der anderen Tischseite hinüber und löste das Kunststoffsiegel seiner dritten Flasche. Der Kerl ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, überwältigte ihn geradezu. Er gehörte zu den Leuten, die Schlüssel, Kleingeld und Taschentücher in den Hosentaschen herumschleppen, was ihre natürliche Hüftweite übermäßig betonte.

»Sind Sie Jack Reacher?«, fragte er über den Tisch hinweg.

Nicht Chicago oder Boston. Eindeutig New York. Er sprach genau wie ein New Yorker, den Reacher einmal gekannt und der sich in den ersten zwanzig Jahren seines Lebens nie weiter als hundert Meter von der Fulton Street entfernt hatte.

»Jack Reacher?«, fragte der Alte nochmals.

Aus der Nähe betrachtet hatte er kleine schlaue Augen unter wulstigen Brauen. Reacher trank und beobachtete ihn durch das klare Wasser in seiner Flasche.

»Sind Sie Jack Reacher?«, fragte der alte Kerl zum dritten Mal.

Reacher stellte seine Flasche auf den Tisch und schüttelte den Kopf.

»Nein«, log er.

Die Schultern des alten Kerls sackten vor Enttäuschung etwas herab. Er zog seine Manschetten heraus, sah dabei auf die Armbanduhr. Bewegte seine massige Gestalt ein kleines Stück auf dem Stuhl nach vorn, als wolle er aufstehen, lehnte sich dann aber wieder zurück, als habe er mit einem Mal reichlich Zeit.

»Fünf nach vier«, sagte er.

Reacher nickte. Der Kerl hob seine leere Bierflasche und zeigte sie dem Barmann, der mit einem neuen Bier hinter der Theke hervorkam.

»Die Hitze«, sagte er, »macht mich fertig.«

Reacher nickte erneut und trank einen Schluck Wasser.

»Kennen Sie hier irgendwo einen Jack Reacher?«, fragte der Kerl.

Reacher zuckte mit den Schultern.

»Haben Sie eine Personenbeschreibung?«, fragte er seinerseits.

Der Kerl war dabei, einen langen Zug aus der zweiten Flasche zu nehmen. Er wischte sich seine Lippen mit dem Handrücken ab und benutzte diese Bewegung, um einen zweiten diskreten Rülpser zu tarnen.

»Nicht wirklich«, sagte er. »Großer Kerl, mehr weiß ich nicht. Darum hab ich Sie gefragt.«

Reacher nickte.

»Große Kerle gibt’s hier viele«, sagte er. »Große Kerle gibt’s überall viele.«

»Aber Sie kennen den Namen nicht?«

»Sollte ich?«, fragte Reacher. »Und wer will das wissen?«

Der Kerl grinste, dann nickte er, als wolle er sich für seinen Lapsus entschuldigen.

»Costello«, sagte er. »Freut mich, Sie kennen zu lernen.«

Reacher erwiderte sein Nicken und hob als Antwort seine Flasche einen Fingerbreit hoch.

»Sie jagen Unterhaltspflichtige?«

»Privatdetektiv«, sagte Costello.

»Auf der Suche nach einem Kerl namens Reacher?«, fragte Reacher. »Was hat er getan?«

Costello zuckte mit den Schultern. »Nichts, soviel ich weiß. Ich hab bloß den Auftrag, ihn zu finden.«

»Und Sie vermuten, dass er hier unten ist?«

»Letzte Woche war er hier«, sagte Costello. »Er hat ein Bankkonto in Virginia, auf das er telegrafisch Geld überwiesen hat.«

»Von hier unten in Key West?«

Costello nickte.

»Jede Woche«, sagte er. »Seit drei Monaten.«

»Und?«

»Also arbeitet er hier unten«, sagte Costello. »Seit immerhin einem Vierteljahr. Also müsste ihn eigentlich jemand kennen.«

»Aber das tut niemand«, meinte Reacher.

Costello schüttelte den Kopf. »Ich hab die ganze Duval Street, wo in dieser Stadt die Action zu sein scheint, rauf und runter abgeklappert. Die einzig brauchbare Auskunft hab ich in einer Oben-ohne-Bar irgendwo im ersten Stock gekriegt – eines der Mädchen hat gesagt, dass ein großer Kerl, der seit genau drei Monaten hier ist, jeden Nachmittag um vier in dieser Bar sitzt und Wasser trinkt.«

Er verfiel in Schweigen und starrte Reacher dabei durchdringend an, als wolle er ihn herausfordern. Reacher trank Wasser, zuckte als Antwort mit den Schultern.

»Zufall«, sagte er.

Costello nickte.

»Klar doch«, erwiderte er ruhig.

Er setzte die Bierflasche an den Mund, trank und ließ dabei seine schlauen alten Augen unverwandt auf Reachers Gesicht gerichtet.

»Viele sind nur auf der Durchreise hier«, erklärte Reacher. »Leute weht es herein und wieder hinaus.«

»Klar doch«, sagte Costello erneut.

»Aber ich halte meine Augen offen«, sagte Reacher.

Costello nickte.

»Das wäre nett von Ihnen«, sagte er mehrdeutig.

»Wer will ihn finden?«, fragte Reacher.

»Meine Auftraggeberin«, antwortete Costello. »Eine Dame namens Mrs. Jacob.«

Reacher trank einen Schluck Wasser. Der Name sagte ihm nichts. Jacob? Nie gehört.

»Okay, falls ich ihn sehe, richte ich’s ihm aus, aber erwarten Sie sich nicht zu viel davon. Ich komme wenig unter Leute.«

»Arbeiten Sie?«

Reacher nickte.

»Ich grabe Swimmingpools«, sagte er.

Costello überlegte, als kenne er Swimmingpools, habe sich aber nie Gedanken darüber gemacht, wie sie an ihren Platz kamen.

»Baggerfahrer?«

Reacher schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nicht hier unten«, sagte er. »Wir graben sie per Hand.«

»Per Hand?«, wiederholte Costello. »Wie denn, richtig mit Schaufeln?«

»Die Grundstücke sind für Maschinen zu klein«, sagte Reacher. »Die Straßen sind zu schmal, die Bäume zu niedrig. Abseits der Duval Street können Sie’s selbst sehen.«

Costello nickte erneut. Er wirkte plötzlich sehr zufrieden.

»Dann ist’s eher unwahrscheinlich, dass Sie diesen Reacher kennen«, meinte er. »Laut Mrs. Jacob war er Offizier in der Army. Ich hab’s nachgeprüft, und sie hat Recht. Er war Major. Mit Orden und allem. Soll ein großes Tier bei der Militärpolizei gewesen sein. So ein Typ gräbt bestimmt nicht mit einer Schaufel Löcher für Swimmingpools aus.«

Reacher nahm einen großen Schluck Wasser, um sein Mienenspiel zu verbergen.

»Was denken Sie, wie er dann sein Geld verdient?«

»Hier unten?«, fragte Costello. »Weiß ich nicht genau. Sicherheitsdienst in einem Hotel? Geschäftsführer irgendeiner Firma? Vielleicht hat er eine Motorjacht, die er vermietet.«

»Warum sollte er überhaupt hier sein?«

Costello nickte.

»Richtig«, sagte er. »Ein beschissenes Nest. Aber er ist hier, das steht fest. Er ist vor zwei Jahren aus der Army ausgeschieden, hat sein Geld bei der dem Pentagon nächsten Bank deponiert und ist verschwunden. Von seinem Bankkonto ist nach allen möglichen Orten telegrafisch Geld überwiesen worden, aber seit drei Monaten hat er’s von hier aus durch Überweisungen aufgestockt. Also war er eine Zeit lang unterwegs, ist dann sesshaft geworden und arbeitet hier. Ich finde ihn, verlassen Sie sich darauf.«

Reacher nickte.

»Soll ich mich trotzdem weiter umhören?«

Costello schüttelte den Kopf. Plante schon seinen nächsten Schritt.

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte er.

Er stemmte seine massige Gestalt vom Stuhl hoch und zog ein verknittertes Bündel Geldscheine aus der Hosentasche. Warf einen Fünfer auf den Tisch und ging davon.

»Freut mich, Sie kennen gelernt zu haben!«, rief er, ohne sich umzusehen.

Costello trat durch die fehlende Wand in die grelle Nachmittagssonne hinaus. Reacher trank sein Wasser aus und sah ihm nach, als er davonging. Es war sechzehn Uhr zehn.

Eine Stunde später schlenderte Reacher die Duval Street entlang, dachte darüber nach, was er mit seinem Geld auf der Bank tun sollte, überlegte, wo er ein frühes Abendessen einnehmen könnte, und fragte sich, weshalb er Costello belogen hatte. Seine erste Schlussfolgerung war, dass er sein Konto auflösen und das Geld in einem großen Packen in seiner Hosentasche mit sich herumtragen würde, die zweite, dass er den Rat seines belgischen Freundes befolgen und ein großes Steak und eine Portion Eiskrem essen und zwei weitere Flaschen Mineralwasser trinken würde; die dritte, dass er gelogen hatte, weil es keinen Grund gab, es nicht zu tun.

Es gab keinen Grund, weshalb ein Privatdetektiv aus New York nach ihm hätte suchen sollen. Er hatte nie in New York gelebt. Oder in irgendeiner anderen Großstadt im Norden. Er hatte nie irgendwo wirklich gelebt. Das war das charakteristische Merkmal seines Daseins gewesen. Es hatte ihn zu dem gemacht, was er war. Als Sohn eines Berufsoffiziers im Marine Corps war er seit dem Tag, an dem seine Mutter ihn aus der Entbindungsstation eines Berliner Krankenhauses getragen hatte, durch die ganze Welt geschleppt worden. Er hatte ausschließlich auf den unterschiedlichsten Militärstützpunkten gelebt, von denen die meisten in einsamen und unwirtlichen Gegenden der Welt lagen. Dann war er selbst zur Army gegangen, Ermittler bei der Militärpolizei gewesen und hatte auf diesen selben Stützpunkten gelebt und gedient, bis die Friedensdividende bewirkt hatte, dass sein Truppenteil aufgelöst und er freigesetzt wurde. Dann war er in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt und hatte sich wie ein Billigtourist ziellos treiben lassen. Als dann seine Ersparnisse allmählich aufgebraucht waren, landete er hier im äußersten Süden der USA. Er wollte ein paar Tage Löcher in der Erde ausheben, aber aus diesen paar Tagen waren ein paar Wochen und schließlich Monate geworden. Und er befand sich noch immer hier.

Er hatte nirgends Verwandte, die ihm in ihrem Testament ein Vermögen hätten vermachen können. Er schuldete niemandem Geld. Er hatte nie etwas gestohlen, nie jemanden betrogen. Niemals irgendwelche Kinder gezeugt. Sein Name stand auf so wenigen Dokumenten, wie es einem Menschen überhaupt möglich war. Er war nahezu unsichtbar. Und er hatte nie jemanden gekannt, der Jacob hieß. Das wusste er bestimmt. Deshalb interessierte ihn nicht, was Costello von ihm wollte, jedenfalls nicht genug, um seine Anonymität aufzugeben und sich in irgendwas hineinziehen zu lassen.

Denn das Unsichtbarsein war ihm zur Gewohnheit geworden. Sein Vorderhirn sagte ihm, dass dies in gewisser Weise eine komplexe Reaktion auf seine persönliche Situation war. Vor zwei Jahren war seine Welt auf den Kopf gestellt worden. Aus einem großen Fisch in einem kleinen Teich hatte er sich plötzlich in einen Niemand verwandelt. Aus einem ranghohen und geschätzten Mitglied einer straff organisierten Gemeinschaft hatte er sich in nur einen von zweihundertsiebzig Millionen anonymen Zivilisten verwandelt. Aus jemandem, der gebraucht wurde, in einen Mann, der plötzlich überflüssig war. Aus einem Soldaten, der jederzeit dahin gegangen war, wo man ihn hinbeordert hatte, in einen Mann, vor dem über neun Millionen Quadratkilometer und vielleicht noch vierzig Jahre lagen, der aber keine Landkarte und keinen Zeitplan besaß. Sein Vorderhirn sagte ihm, seine Reaktion sei verständlich, aber defensiv, das Verhalten eines Mannes, der gern allein ist, aber die Einsamkeit fürchtet. Es sagte ihm, dies sei eine extreme Reaktion, die er sorgfältig unter Kontrolle halten müsse.

Aber sein Stammhirn, der Sitz seiner Instinkte, sagte ihm, dass ihm das in Wirklichkeit gefiel. Ihm gefiel die Anonymität. Ihm gefiel es, sein Leben geheim zu halten. Diese Geheimhaltung fühlte sich behaglich und beruhigend an. Er wahrte sie sorgfältig. Nach außen hin war er freundlich und gesellig, ohne jemals viel von sich preiszugeben. Er zahlte gern bar und reiste auf der Straße. Sein Name stand nie auf irgendwelchen Passagierlisten oder den Durchschlägen beim Bezahlen mit Kreditkarten. Er verriet niemandem seinen Namen. In Key West hatte er sich in einem billigen Motel als Harry S. Truman einquartiert. Ein Blick auf andere Eintragungen im Gästebuch hatte ihm gezeigt, dass seine Idee keineswegs originell war. Die meisten der einundvierzig US-Präsidenten hatten hier schon genächtigt – sogar solche wie John Tyler und Franklin Pierce, die kein Mensch kannte. Wie sich herausstellte, bedeuteten Namen auf den Keys nicht allzu viel. Die Leute lächelten nur, winkten einem zu und sagten hallo. Alle nahmen an, jeder habe etwas zu verbergen. Hier fühlte er sich wohl. Zu wohl, um gleich wieder weiterzuziehen.

Er schlenderte etwa eine Stunde lang durch die lärmende Straße und verschwand dann von der Duval Street in ein versteckt in einem Innenhof liegendes Restaurant, in dem sie ihn vom Sehen kannten, sein Lieblingsmineralwasser führten und ihm ein Steak servieren würden, das auf beiden Seiten über den Tellerrand hing.

Das Steak wurde mit einem Spiegelei, Fritten und einem komplizierten Allerlei aus Sommergemüsen serviert, die Eiskrem mit Schokoladensauce und Nüssen. Er trank einen weiteren Liter Wasser und ließ zwei Tassen starken schwarzen Kaffee folgen. Dann schob er seinen Stuhl vom Tisch zurück und saß zufrieden da.

»Wieder besser?« Die Serviererin lächelte.

Reacher grinste und nickte.

»Hat mir das Leben gerettet«, sagte er.

»Und es steht Ihnen gut.«

»Fühlt sich auch gut an.«

Das stimmte. Nicht mehr lange, dann würde er neununddreißig sein, doch ihm ging es besser denn je. Er war immer stark und durchtrainiert gewesen, aber im letzten Vierteljahr hatte sich seine Leistungsfähigkeit beträchtlich gesteigert. Mit einer Größe von einssechsundneunzig hatte er bei seinem Ausscheiden aus der Army etwa hundert Kilo gewogen. Im ersten Monat in der Baukolonne war sein Gewicht durch die schwere Arbeit in der Hitze auf fünfundneunzig Kilo zurückgegangen. In den beiden folgenden Monaten hatte er es wieder bis auf etwa hundertzehn Kilo gesteigert – alles harte Muskeln. Seiner Schätzung nach bewegte er jeden Tag etwa vier Tonnen Erde und Kies und Sand. Er hatte eine besondere Technik entwickelt, das Erdreich mit seiner Schaufel so auszuheben, mit Schwung hochzuhieven und auf den Lastwagen zu werfen, dass alle Teile seines Körpers beansprucht wurden. Das Ergebnis war spektakulär. Er war braun gebrannt und in bester Form. Wie ein mit Walnüssen vollgestopftes Kondom – so hatte irgendein Mädchen ihn beschrieben. Er rechnete sich aus, dass er ungefähr fünftausend Kilokalorien brauchte, nur um sein Gewicht zu halten, und dazu kamen noch die zehn Liter Wasser, die er trinken musste.

»Na, arbeiten Sie heute Abend wieder?«, fragte die Serviererin.

Reacher lachte. Er verdiente Geld damit, dass er sich einem Fitnesstraining unterzog, für das viele Leute in einem teuren Studio ein Vermögen hingeblättert hätten, und jetzt war er zu seinem Abendjob unterwegs, der ihm ebenfalls Geld für etwas einbrachte, das die meisten Männer gern umsonst getan hätten. Er war der Rausschmeißer in der Oben-ohne-Bar, von der Costello gesprochen hatte. In der Duval Street. Er saß den ganzen Abend ohne Hemd an der Theke, wirkte taff, bekam kostenlose Drinks und passte auf, dass die halb nackten Frauen nicht belästigt wurden. Dann gab ihm jemand fünfzig Bucks dafür.

»Lästige Routinearbeit«, sagte er. »Aber irgendwer muss sie ja machen.«

Das Mädchen lachte. Er bezahlte seine Rechnung und machte sich wieder auf den Weg zur Duval Street.

Fünfzehnhundert Meilen weiter nördlich, nahe der Wall Street in New York City, fuhr ein Firmenchef mit dem Lift zwei Stockwerke tiefer in die Bürosuite seines Finanzdirektors. Die beiden Männer gingen ins Büro und setzten sich nebeneinander an den Schreibtisch. Die luxuriöse Ausstattung des Raums zeugte davon, dass die Geschäfte gut gingen. Ein Büro in einem der oberen Stockwerke des Gebäudes, alle Wände mit dunklem Rosenholz getäfelt, verstellbare Jalousien aus cremefarbenem Leinen, ein riesiger Schreibtisch, eine italienische Tischlampe, ein großer und sündteurer Computer, der eingeschaltet auf das Kennwort wartete. Als der Chef es eintippte und ENTER drückte, erschien auf dem Bildschirm ein Arbeitsblatt mit einer Bilanz. Einzig diese Bilanz verriet die Wahrheit über das Unternehmen. Deshalb war sie durch ein Kennwort geschützt.

»Schaffen wir’s?«, fragte der Firmenchef.

Heute war der Tag X gewesen, an dem sie den längst überfälligen Personalabbau in die Tat umgesetzt hatten. Seit acht Uhr morgens war der Personalchef ihres Werks auf Long Island sehr beschäftigt gewesen. Seine Sekretärin hatte Unmengen von Stühlen zusammengetragen und sie in langer Reihe auf dem Korridor vor seinem Büro aufgestellt. Auf diesen Stühlen hatten dann Arbeiter Platz genommen und stundenlang gewartet, um am Ende der Schlange ins Büro des Personalchefs zu trotten – zu einem Fünfminutengespräch, das sie ihren Job kostete. Vielen Dank und alles Gute für die Zukunft.

»Schaffen wir’s?«, fragte der Chef nochmals.

Der Finanzdirektor schrieb Zahlen auf ein Blatt Papier, er zog eine von der anderen ab und sah auf einen Kalender. Dann zuckte er mit den Schultern.

»Theoretisch ja«, erwiderte er. »Praktisch nein.«

»Nein?«, wiederholte der Firmenchef.

»Das liegt am Zeitfaktor«, meinte der Finanzdirektor. »Im Werk haben wir das Richtige getan, das steht außer Zweifel. Durch die Entlassung von achtzig Prozent unserer Leute sparen wir einundneunzig Prozent der Lohngelder, weil wir nur die billigen Kräfte behalten haben. Aber wir haben den Entlassenen noch einen zusätzlichen Monatslohn gezahlt. Daher wirkt der verbesserte Cashflow sich erst in sechs Wochen aus. Im Augenblick verschlechtert er sich sogar erheblich, weil die Schweinehunde alle dabei sind, ihre Lohnschecks für anderthalb Monate einzulösen.«

Der Chef nickte seufzend.

»Wie viel brauchen wir also?«

Der Finanzdirektor benutzte die Maus, um ein Fenster zu vergrößern.

»Eins Komma eins Millionen«, antwortete er. »Für sechs Wochen.«

»Bank?«

»Aussichtslos«, sagte der Finanzdirektor. »Ich bin jeden Tag drüben und krieche ihnen in den Hintern, nur damit sie uns die bisherigen Kredite nicht kündigen. Würde ich mehr verlangen, würden sie mir ins Gesicht lachen.«

»Wenn’s nichts Schlimmeres ist«, entgegnete der Chef.

»Darum geht’s nicht«, wandte der Finanzdirektor ein. »Es geht darum, dass sie diese Kredite sofort kündigen würden, wenn sie den Verdacht hegten, wir hätten uns wider Erwarten nicht gesundgeschrumpft. Blitzschnell.«

Der Firmenchef trommelte mit den Fingern auf Rosenholz und zuckte mit den Schultern.

»Ich verkaufe einen Teil meiner Aktien«, sagte er.

Der Finanzdirektor schüttelte den Kopf.

»Das dürfen Sie nicht«, widersprach er. »Werfen Sie Aktien auf den Markt, fällt der Kurs ins Bodenlose. Unsere gegenwärtigen Kredite sind mit Aktien gesichert, und wenn die noch wertloser werden, machen die Banken uns morgen den Laden dicht.«

»Scheiße«, sagte der Chef. »In sechs Wochen hätten wir’s geschafft. Ich will aber nicht alles wegen sechs lausiger Wochen verlieren. Nicht wegen einer lächerlichen Million Bucks.«

»Ein lächerlicher Betrag, den wir nicht haben.«

»Trotzdem muss er sich irgendwo auftreiben lassen.«

Der Finanzdirektor äußerte sich nicht dazu. Aber er saß da wie jemand, der noch etwas sagen wollte.

»Woran denken Sie?«, fragte sein Chef.

»Ich habe neulich was gehört«, antwortete er. »Leute, die ich kenne, haben darüber getratscht. Vielleicht gibt’s jemanden, an den wir uns wenden können. Es gibt einen Mann, von dem ich gehört habe. Er gewährt Überbrückungskredite, wenn alle Kreditlinien ausgeschöpft sind.«

»Seriös?«

»Offenbar«, sagte der Finanzdirektor. »Wirkt sehr solide. Hat ein großes Büro drüben im World Trade Center. Er ist auf Fälle wie diesen spezialisiert.«

Der Firmenchef starrte den Bildschirm an.

»Auf was für Fälle?«

»Wie diesen«, wiederholte der Finanzdirektor. »Wo jemand das rettende Ufer schon fast erreicht hat, aber die Banken zu knauserig sind, um das zu erkennen.«

Der Chef nickte und sah sich im Büro um. Ein luxuriöser Raum. Und sein eigenes Eckbüro, das zwei Stockwerke höher lag, war noch prächtiger.

»Okay«, sagte er. »Gehen Sie zu ihm.«

»Das kann ich nicht«, meinte der Finanzdirektor. »Dieser Typ verhandelt nur mit Firmenchefs. Sie müssen schon selbst hingehen.«

Der Abend in der Oben-ohne-Bar begann ruhig. Ein Juniabend mitten in der Woche, viel zu spät für die »Schneevögel« und Frühjahrsurlauber, noch zu früh für die Sommergäste, die hier Sonne tanken wollten. Den ganzen Abend nicht mehr als vierzig Besucher, zwei Mädchen hinter der Theke und Mädchen als Tänzerinnen auf der kleinen Bühne. Reacher sah einer Stripperin namens Crystal zu. Er vermutete, dass das nicht ihr richtiger Name war, aber er hatte sie nie danach gefragt. Sie war die Beste und verdiente weit mehr als Reacher als Major bei der Militärpolizei. Einen Teil ihres Lohns gab sie für den alten schwarzen Porsche aus, mit dem sie herumfuhr. Reacher hörte ihn manchmal am frühen Nachmittag durch die Viertel röhren, in denen er arbeitete.

Die Bar war ein langer, schmaler Raum im ersten Stock mit einem Laufsteg und einer kleinen runden Bühne, in deren Mitte sich eine glänzende Chromstange befand. Um den Laufsteg und die Bühne schlängelte sich eine einzelne Stuhlreihe. Fast überall waren Spiegel angebracht, und da, wo keine hingen, waren die Wände mattschwarz gestrichen. Der ganze Raum pulsierte vom Beat der Musik, die aus einem halben Dutzend Lautsprecher kam und laut genug wummerte, um das Dröhnen der Klimaanlage zu übertönen.

Reacher saß am Ende des ersten Drittels der langen Theke, der er den Rücken zukehrte. Dem Eingang nahe genug, um sofort gesehen zu werden, und weit genug im Raum, damit die Leute nicht vergaßen, dass er da war. Die Tänzerin Crystal hatte gerade ihren dritten Auftritt beendet und schleppte jetzt einen harmlosen Gast in ihre Garderobe ab, wo ihn für zwanzig Bucks eine Privatshow erwartete, als Reacher oben an der Treppe zwei Männer auftauchen sah. Fremde, aus dem Norden. Ungefähr dreißig, muskulös, blass. Bedrohlich. Schlägertypen in Tausenddollaranzügen und blank geputzten Schuhen. Sie standen an der Kasse und schienen die drei Dollar fürs Gedeck nicht bezahlen zu wollen. Das Mädchen an der Kasse sah Hilfe suchend zu Reacher. Er glitt von seinem Barhocker und ging auf die beiden zu.

»Problem, Jungs?«, fragte er.

Er hatte sich seines von ihm so bezeichneten College-Kid-Gangs bedient. Ihm war aufgefallen, dass Collegeboys sich merkwürdig verspannt, fast hinkend bewegten. Vor allem am Strand in der Badehose. Als seien sie mit so viel Muskeln bepackt, dass sie ihre Gliedmaßen nicht richtig bewegen konnten. Bei einem Teenager, der kaum fünfundsechzig Kilo auf die Waage brachte, sah das reichlich komisch aus, fand er. Aber er hatte festgestellt, dass dieser Gang einen hundertzehn Kilo schweren, einssechsundneunzig großen Muskelmann recht bedrohlich wirken ließ. Der College-Kid-Gang gehörte zum Handwerkszeug seines neuen Nebenjobs. Handwerkszeug, das funktionierte. Jedenfalls schien es die beiden Kerle in ihren Tausenddollaranzügen sichtlich zu beeindrucken.

»Problem?«, fragte er noch mal.

Dieses eine Wort genügte in der Regel. Die meisten Kerle machten an dieser Stelle einen Rückzieher. Diese beiden jedoch nicht. Sie wirkten selbstbewusst und bedrohlich und eine Spur arrogant, so als wären sie es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Aber sie waren weit von zu Hause weg, weit außerhalb ihres eigenen Reviers, so dass sie lieber vorsichtig taktierten.

»Kein Problem, Tarzan«, meinte der Kerl links.

Reacher grinste. Man hatte ihm schon viele Namen gegeben, aber dieser war neu.

»Drei Bucks, um reinzukommen«, sagte er. »Oder ihr könnt umsonst wieder die Treppe runtergehn.«

»Wir wollen nur mit jemand reden«, entgegnete der Kerl rechts.

Beide sprachen mit deutlichem Akzent. Stammten irgendwo aus New York. Reacher zuckte mit den Schultern.

»Hier wird nicht viel geredet«, sagte er. »Die Musik ist zu laut.«

»Wie heißen Sie?«, fragte der linke Typ.

Reacher grinste wieder.

»Tarzan«, antwortete er.

»Wir suchen einen gewissen Reacher«, erklärte der Kerl ihm. »Jack Reacher. Kennen Sie den?«

Reacher schüttelte den Kopf.

»Nie von ihm gehört«, antwortete er.

»Also müssen wir mit den Mädchen reden«, sagte der Kerl. »Wir haben gehört, dass sie ihn vielleicht kennen.«

Reacher schüttelte erneut den Kopf.

»Tun sie nicht«, widersprach er.

Der Mann rechts sah an Reachers Schulter vorbei in den schmalen Raum. Er betrachtete die Mädchen hinter der Theke. Offenbar rechnete er sich aus, dass Reacher der einzige Aufpasser war, der hier Dienst tat.

»Okay, Tarzan, aus dem Weg«, sagte er. »Wir gehen jetzt rein.«

»Können Sie lesen?«, fragte Reacher. »Richtig lange Wörter und so?«

Er zeigte auf das hinter der Kasse hängende Schild. Große Leuchtbuchstaben auf schwarzem Untergrund. Die Geschäftsführung behält sich vor, Gästen den Zutritt zu verweigern, stand dort.

»Ich bin die Geschäftsführung«, meinte Reacher. »Ich verweigere euch den Zutritt.«

Der Blick des Typs wanderte zwischen dem Schild und Reachers Gesicht hin und her.

»Braucht ihr eine Übersetzung?«, wollte Reacher wissen. »In einfachere Wörter? Das heißt, dass ich der Boss bin und ihr nicht reindürft.«

»Schon gut, Tarzan«, sagte der Kerl.

Reacher ließ ihn auf dem Weg an sich vorbei bis auf Höhe seiner Schulter kommen. Dann hob er die linke Hand und packte den Kerl am Ellbogen. Er streckte das Gelenk mit seiner Handfläche und grub seine Finger in die empfindlichen Nerven am unteren Rand des Oberarmmuskels. Das wirkte wie ständiges Hämmern auf den Musikantenknochen. Der Kerl sprang herum, als stehe er unter Starkstrom.

»Verpisst euch!«, zischte Reacher.

Der andere Kerl versuchte, sich seine Chancen auszurechnen. Reacher beobachtete ihn und dachte, jetzt seien eindeutige Signale angesagt. Er hielt seine rechte Hand in Augenhöhe hoch, um zu demonstrieren, dass sie einsatzbereit war. Eine riesige Pranke, braun gebrannt, vom Schaufeln mit dicker Hornhaut überzogen. Der Kerl verstand die Message. Er zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und ging die Treppe hinunter. Reacher stieß seinen Kumpel hinter ihm her.

»Wir sehen uns wieder«, sagte dieser.

»Bringt alle eure Freunde mit!«, rief Reacher ihm nach. »Drei Bucks Eintritt für jeden.«

Er machte kehrt, wollte in den Raum zurückgehen. Die Tänzerin Crystal stand direkt hinter ihm.

»Was wollten die?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern.

»Sie suchen jemand.«

»Einen gewissen Reacher?«

Er nickte.

»Heute schon das zweite Mal«, sagte sie. »Vor ihnen war so ein Alter hier. Er hat die drei Bucks gezahlt. Willst du ihnen nachgehen? Sehen, was sie machen?«

Reacher zögerte. Sie nahm sein Hemd vom Barhocker, hielt es ihm hin.

»Geh nur«, sagte sie. »Wir kommen eine Zeit lang allein zurecht. Heute Abend ist’s ruhig.«

Er nahm das Hemd. Zog die Ärmel heraus.

»Danke, Crystal«, sagte er.

Er zog das Hemd an und knöpfte es zu. Machte sich auf den Weg zur Treppe.

»Nichts zu danken, Reacher«, rief sie ihm nach.

Er fuhr herum, aber Crystal war bereits wieder in Richtung Bühne unterwegs. Er nickte dem Mädchen an der Kasse zu und ging die Treppe hinunter.

Gegen dreiundzwanzig Uhr herrscht in Key West Hochbetrieb. Manche Leute haben ihren Abend schon halb hinter sich, während andere gerade erst losziehen. Die Duval Street, die die Insel von Ost nach West durchschneidende Hauptstraße, ist in Licht und Lärm getaucht. Reacher hatte keine Sorge, die Kerle könnten ihm auf der Duval Street auflauern. Viel zu belebt. Falls sie auf Rache sannen, würden sie sich einen stilleren Ort aussuchen. Solche gab es hier reichlich. Abseits der Duval Street, vor allem nach Norden zu, wird es rasch ruhiger. Key West ist eine Kleinstadt. Ein kurzer Spaziergang nur – und schon befindet man sich in den Vororten, wie Reacher sie bezeichnete, in denen er in winzigen Gärten hinter winzigen Häusern Gräben für Swimmingpools aushob. Die Straßenbeleuchtung wird spärlich, und der Lärm aus den Bars geht im Summen von Nachtinsekten unter. Die schalen Gerüche von Bier und Rauch werden durch den schweren Duft tropischer Pflanzen überlagert, die in den Gärten blühen und verrotten.

Er beschrieb eine Art Spirale durchs Dunkel. Bog an Straßenecken scheinbar willkürlich ab und durchstreifte ruhige Wohngebiete. Nirgends ein Mensch zu sehen. Trotzdem hielt er sich in der Straßenmitte. Lauerte jemand in einem Hauseingang, sollte er ein paar Meter zurücklegen müssen, um ihn zu erreichen. Dass jemand auf ihn schießen könnte, fürchtete er nicht. Die Kerle waren unbewaffnet. Das hatten ihre Anzüge gezeigt. Zu eng geschnitten, um Pistolen verbergen zu können. Die Anzüge bewiesen außerdem, dass die beiden eilig nach Süden gekommen, dass sie geflogen waren. Und es war nahezu unmöglich, mit einer Pistole in der Tasche an Bord eines Flugzeugs zu gehen.

Nach ungefähr einer Meile gab Reacher auf. Die Stadt war klein, aber trotzdem groß genug, dass zwei Kerle darin untertauchen konnten. Er bog am Friedhof links ab und ging in Richtung Duval Street zurück. Auf dem Gehsteig vor dem Maschendrahtzaun lag ein Kerl. Ausgestreckt und bewegungslos. In Key West kein ungewöhnlicher Anblick, aber hier stimmte etwas nicht. Und irgendetwas kam Reacher bekannt vor. Was nicht stimmte, war der rechte Arm des Mannes. Er lag unnatürlich verdreht unter seinem Körper. Was Reacher bekannt vorkam, war das beige Sakko. Die obere Hälfte des Kerls war hell, die untere dunkel. Beiges Sakko, graue Hose. Reacher blieb stehen, sah sich um. Trat näher heran. Beugte sich hinunter.

Der Mann war Costello. Sein Gesicht war zu Brei geschlagen. Eine blutige Maske. Über das Dreieck aus bläulich weißer Städterhaut, das in seinem offenen Hemdkragen zu sehen war, liefen angetrocknete braune Rinnsale. Reacher tastete nach dem Puls hinter Costellos Ohr. Nichts. Er berührte die Haut mit seinem Handrücken. Kühl. Noch keine Totenstarre, aber die Nacht war heiß. Der Mann war schätzungsweise seit einer Stunde tot.

Reacher griff in das Sakko. Die prallvolle Geldbörse war verschwunden. Dann sah er die Hände. Die Fingerspitzen waren abgeschnitten. Alle zehn fehlten. Rasche, saubere Schnitte mit einem sehr scharfen Werkzeug. Nicht mit einem Skalpell, sondern mit einer breiteren Klinge. Vielleicht mit einem Teppichmesser.

2

»Das war meine Schuld«, sagte Reacher.

Crystal schüttelte den Kopf.

»Du hast ihn nicht umgebracht«, meinte sie.

Dann musterte sie ihn scharf. »Oder doch?«

»Ich bin schuld an seinem Tod«, sagte Reacher. »Ist das ein Unterschied?«

Die Bar hatte um ein Uhr geschlossen, und die beiden saßen nebeneinander vor der leeren Bühne. Die Scheinwerfer waren erloschen, die Musik verstummt. Das einzige Geräusch war das Surren der Klimaanlage.

»Ich hätt’s ihm sagen sollen«, erklärte Reacher. »Ich hätte einfach sagen sollen: Klar, ich bin Jack Reacher. Dann wüsste ich jetzt, was er von mir gewollt hatte. Er wäre schon wieder über alle Berge, und ich hätte seine Mitteilung trotzdem ignorieren können. Ich wäre nicht schlechter dran, und er würde noch leben.«

Crystal trug ein weißes T-Shirt. Sonst nichts. Es war ein langes T-Shirt, aber nicht lang genug. Reacher sah sie nicht an.

»Was kümmert’s dich?«

Das war eine für die Keys typische Frage. Nicht herzlos, sondern nur verwundert über sein Interesse an einem Fremden aus dem Norden. Er sah sie an.

»Ich fühle mich dafür verantwortlich«, sagte er.

»Nein, du fühlst dich schuldig«, entgegnete sie.

Er nickte.

»Nun, das solltest du nicht«, sagte sie. »Du hast ihn nicht umgebracht.«

»Ist das ein Unterschied?«, fragte er wieder.

»Natürlich ist das einer«, antwortete sie. »Wer war er?«

»Ein Privatdetektiv«, sagte er. »Auf der Suche nach mir.«

»Warum?«

Er schüttelte den Kopf.

»Keine Ahnung.«

»Haben diese anderen Kerle zu ihm gehört?«

»Nein«, sagte er. »Diese anderen Kerle haben ihn ermordet.«

Sie starrte ihn erschrocken an. »Echt?«

»Das vermute ich jedenfalls«, sagte er. »Sie haben nicht zusammengehört, das steht fest. Sie waren jünger und reicher als er. Mit diesen Klamotten? In diesen Anzügen? Sie haben nicht wie seine Untergebenen ausgesehen. Er ist mir eher wie ein Loser vorgekommen. Folglich arbeiten die beiden für jemand anders. Wahrscheinlich hatten sie den Auftrag, ihm zu folgen und rauszukriegen, was zum Teufel er hier tut. Er muss im Norden irgendjemand auf die Zehen getreten sein, jemand Probleme verursacht haben. Also ist er bis hierher beschattet worden. Sie haben ihn sich geschnappt, aus ihm rausgeprügelt, wen er hier sucht. Und dann haben sie sich selbst auf die Suche nach mir gemacht.

»Sie haben ihn umgebracht, nur um deinen Namen zu erfahren?«

»Sieht so aus«, sagte er.

»Willst du’s den Cops melden?«

Eine weitere für die Keys typische Frage. Ob man die Cops zu irgendetwas hinzuziehen sollte, war eine Frage, die immer lange und ernsthaft diskutiert werden musste. Er schüttelte zum dritten Mal den Kopf.

»Nein.«

»Sie werden ihn identifizieren, und dann fahnden sie auch nach dir.«

»Aber nicht sofort«, sagte er. »Der Tote hat keine Papiere. Und auch keine Fingerabdrücke. Könnte Wochen dauern, bis sie überhaupt wissen, wer er ist.«

»Und was hast du vor?«

»Ich werde Mrs. Jacobs aufspüren«, sagte er. »Seine Auftraggeberin. Sie sucht mich.«

»Kennst du sie?«

»Nein, aber ich will sie finden.«

»Warum?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich muss wissen, was gespielt wird«, sagte er.

»Warum?«, wiederholte sie.

Er stand auf und betrachtete sie in einem der Wandspiegel. Er war auf einmal sehr unruhig. Plötzlich mehr als bereit, in die Realität zurückzukehren.

»Du weißt, warum«, antwortete er. »Der Kerl ist wegen etwas umgebracht worden, das mit mir zusammenhängt, deshalb bin ich darin verwickelt, okay?«

Sie streckte ein langes nacktes Bein über den Stuhl aus, von dem er eben aufgestanden war. Dachte über seine Worte nach, in diese Sache verwickelt zu sein, als sei es irgendein Hobby. Legitim, aber ein bisschen schrullig.

»Okay, was hast du vor?«, wollte sie wissen.

»Ich muss in sein Büro«, erklärte er. »Vielleicht hatte er eine Sekretärin. Zumindest gibt’s dort Unterlagen. Telefonnummern, Adressen, Verträge mit Auftraggebern. Diese Mrs. Jacob dürfte sein letzter Fall gewesen sein. Der liegt vermutlich ganz oben auf dem Stapel.«

»Und wo ist sein Büro?«

»Keine Ahnung«, sagte er. »Seinem Akzent nach irgendwo in New York. Ich kenne seinen Namen, ich weiß, dass er ein Excop war. Ein Excop namens Costello, ungefähr sechzig. Kann nicht allzu schwierig zu finden sein.«

»Er war ein Excop?«, fragte sie. »Warum?«

»Das sind die meisten Privatdetektive, stimmt’s?«, sagte er. »Sie gehen früh und arm in den Ruhestand, machen ein Detektivbüro auf, arbeiten als Einzelgänger, sind auf Scheidungen und Vermisstensuche spezialisiert. Und diese Sache mit meiner Bank? Darüber war er bestens informiert. Das geht nur, wenn man einen alten Kumpel hat, der noch im Dienst ist und einem diesen Gefallen tut.«

Sie lächelte leicht interessiert. Kam auf ihn zu und trat neben ihn, so dicht, dass ihre Hüfte seinen Oberschenkel berührte.

»Woher weißt du all dies komplizierte Zeug?«

Er horchte auf das Rauschen der von den Entlüftern abgesaugten Luft.

»Ich bin selbst mal Ermittler gewesen«, erwiderte er. »Militärpolizei. Dreizehn Jahre. War ziemlich gut. Ich habe eben nicht nur ein hübsches Gesicht.«

»Du hast nicht mal ein hübsches Gesicht«, widersprach sie. »Bild dir bloß nichts ein. Wann willst du los?«

Er sah sich im Halbdunkel um.

»Gleich, denke ich. Von Miami aus gibt’s bestimmt einen sehr frühen Flug.«

Sie lächelte erneut. Diesmal argwöhnisch.

»Und wie willst du nach Miami kommen?«, fragte sie. »Mitten in der Nacht?«

Er erwiderte ihr Lächeln. Zuversichtlich.

»Du fährst mich hin«, antwortete er.

»Habe ich noch Zeit, mich anzuziehen?«

»Nur Schuhe«, sagte er.

Er begleitete sie zu der Garage, in der ihr alter Porsche stand. Er schob das Tor hoch, und sie glitt hinters Steuer und ließ den Motor an. Sie fuhr die halbe Meile nach Norden zu seinem Motel, hielt vor dem neonhellen Empfangsbereich und wartete, während der Motor mit erhöhter Drehzahl weiterlief. Er öffnete die Beifahrertür, dann schloss er sie leise wieder.

»Fahr einfach los«, sagte er. »Dort drinnen ist nichts, was ich mitnehmen möchte.«

Sie nickte.

»Okay, schnall dich an.«

Sie legte klickend den ersten Gang ein und fuhr weiter. Folgte dem North Roosevelt Drive. Kontrollierte ihre Anzeigen und bog dann nach links auf den Straßendamm ab. Schaltete die Radarwarner ein. Trat das Gaspedal so durch, dass Reacher in die Lederpolster gedrückt wurde und sich vorkam, als würde er Key West mit einem Düsenjäger verlassen.

Sie fuhr auf der gesamten Strecke nach Key Largo nie langsamer als hundert Meilen. Reacher genoss die Fahrt. Crystal war eine ausgezeichnete Fahrerin. Sie schaltete mit knappen, flüssigen Bewegungen, ließ den Motor im optimalen Drehzahlbereich röhren, hielt den Wagen in der Mitte der Fahrspur und nutzte in Kurven die Fliehkraft, um sich auf die langen Geraden zu katapultieren. So legten sie eine Meile nach der anderen in rascher Fahrt zurück.

Dann begannen die Radarwarner zu kreischen, und eine Meile vor ihnen tauchten die Lichter von Key Largo auf. Sie bremste scharf, fuhr langsam durch die Stadt, trat das Gaspedal wieder durch und raste nach Norden auf den dunklen Horizont zu. Eine enge Linkskurve, über die Brücke, aufs amerikanische Festland und auf einer durch den Sumpf gebauten ebenen Straße nach Norden zu der Kleinstadt Homestead. Dann scharf rechts auf den Highway, wieder Vollgas. Kurz vor fünf Uhr morgens erreichten sie den Flughafen Miami. Sie hielt vor dem Abfluggebäude und wartete mit laufendem Motor.

»Nun, danke fürs Mitnehmen«, sagte Reacher.

Sie lächelte.

»War mir ein Vergnügen«, meinte sie. »Ehrlich.«

Er öffnete die Tür, blieb dann aber sitzen und starrte nach vorn.

»Okay«, sagte er. »Bis bald, denke ich.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, du kommst nicht wieder«, sagte sie. »Kerle wie du kommen nie zurück.«

Er saß in der Wärme ihres Wagens. Sie beugte sich zu ihm hinüber, schlang einen Arm um seinen Nacken und küsste ihn leidenschaftlich.

»Mach’s gut, Reacher«, sagte sie. »Ich bin froh, dass ich wenigstens deinen Namen erfahren habe.«

Er küsste sie ebenfalls, lange und leidenschaftlich.

»Und wie heißt du?«, fragte er dann.

»Crystal«, erwiderte sie und lachte.

Er lachte mit ihr und stemmte sich dann hoch und aus dem Wagen. Sie beugte sich nach rechts und schloss die Tür hinter ihm. Ließ den Motor aufheulen und fuhr davon. Er stand allein am Randstein und sah ihr nach. Sie bog vor einem Hotelbus ab und war nicht mehr zu sehen. Mit ihr verschwanden drei Monate seines Lebens.

Fünf Uhr morgens, fünfzig Meilen nördlich von New York City: Der Firmenchef lag im Bett, hellwach, und starrte die Zimmerdecke an. Sie war frisch gestrichen. Das ganze Haus war erst vor kurzem frisch gestrichen worden. Er hatte der Malerfirma mehr gezahlt, als die meisten seiner Angestellten im Jahr verdienten. In Wirklichkeit hatte er ihr nichts gezahlt. Er hatte ihre Rechnung über sein Büro laufen lassen, und seine Firma hatte sie bezahlt. Dieser Posten war irgendwo in der Geheimbilanz als Teil ihrer siebenstelligen Aufwendungen für Gebäudeunterhalt versteckt. Eine siebenstellige Zahl auf der Sollseite der Bilanz, die sein Unternehmen in die Tiefe zog, wie eine schwere Fracht ein Schiff, das bereits Schlagseite hat, zum Sinken bringt.

Er hieß Chester Stone. Auch sein Vater hatte Chester Stone geheißen, genau wie sein Großvater. Sein Großvater hatte die Firma gegründet – damals, als es noch keine Computerbilanzen, sondern ein Hauptbuch gab, in das Eintragungen mit Feder und Tinte gemacht wurden. Im Hauptbuch seines Großvaters hatten auf der Habenseite dicke schwarze Zahlen gestanden. Er war ein Uhrmacher gewesen, der frühzeitig erkannt hatte, welchen Siegeszug der Film antreten würde. Also hatte er seine Erfahrung mit Uhrwerken und komplizierten kleinen Mechanismen dazu benutzt, um einen Filmprojektor zu bauen. Und er hatte sich mit einem Partner zusammengetan, der in Deutschland große Linsen schleifen lassen konnte. Gemeinsam hatten sie den Markt beherrscht und ein Vermögen verdient. Sein Partner war jung und ohne Erben gestorben. Die Filmindustrie hatte von Küste zu Küste floriert. Hunderte von Kinos. Hunderte von Projektoren. Dann Tausende. Dann Zehntausende. Dann der Tonfilm. Dann Cinemascope. Riesige Einträge auf der Habenseite des Hauptbuchs.

Dann kam das Fernsehen. Überall wurden Filmtheater geschlossen, und die, die überlebten, behielten ihre alten Geräte, bis sie auseinanderfielen. Sein Vater, Chester Stone II, übernahm die Leitung der Firma. Diversifizierte. Erkannte das Potential des Schmalfilmmarkts. Achtmillimeterprojektoren. Kameras mit Filmtransport durch Federwerk. Die bunte Ära der Kodachromfilme. Zapruder. Die neue Fertigungsstätte. Hohe Gewinne, die auf dem langsam laufenden breiten Magnetband eines frühen IBM-Rechners verbucht wurden.

Dann die Wiedergeburt des Kinos. Der Tod seines Vaters, der junge Chester Stone III am Ruder, überall neue Multiplexkinos. Vier Projektoren, sechs, zwölf, sechzehn, wo früher nur ein einziger gestanden hatte. Dann der Stereoton. Fünf Kanäle, Dolby, Dolby Digital. Erfolg und Reichtum. Heirat. Der Umzug in die Villa. Die Luxuswagen.

Dann der Videoboom. Schmalfilme plötzlich tot, mausetot. Dann Konkurrenz. Gnadenloser Wettbewerb durch neue Firmen in Deutschland und Japan und Korea und Taiwan, die ihn unterboten und aus dem Multiplexgeschäft drängten. Die verzweifelte Suche nach etwas, das sich aus kleinen Blechteilen und präzise hergestellten Zahnrädern bauen ließ. Irgendwas. Die schreckliche Erkenntnis, dass mechanische Geräte hoffnungslos veraltet waren. Die explosive Vermehrung von Mikrochips, RAMs, Computerspielen. Riesige Gewinne, die mit lauter Artikeln gemacht wurden, von deren Herstellung er keine Ahnung hatte. Hohe Verluste, die sich in der stummen Software des PCs auf seinem Schreibtisch ansammelten.

Neben ihm bewegte sich seine Frau. Sie öffnete blinzelnd die Augen und drehte ihren Kopf erst zum Radiowecker hinüber und dann zu ihrem Mann. Sie stellte fest, dass sein Blick starr auf die Zimmerdecke gerichtet war.

»Du schläfst nicht?«, fragte sie leise.

Er gab keine Antwort. Sie sah wieder weg. Ihr Name war Marilyn. Marilyn Stone. Sie war seit langem mit Chester verheiratet. Lange genug, um zu wissen, was ihn bedrückte. Sie wusste alles. Sie kannte keine Details, hatte keinen wirklichen Beweis, war nicht eingeweiht, aber sie wusste trotzdem alles. Wie hätte ihr das verborgen bleiben können? Sie hatte schließlich Augen und ein Gehirn. Es war lange her, dass sie die Produkte ihres Mannes in irgendeinem Geschäft ausgestellt gesehen hatte. Es war lange her, dass irgendein Multiplexkinobesitzer sie zur Feier eines neuen Großauftrags zum Abendessen eingeladen hatte. Und es war lange her, dass Chester zuletzt eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Deshalb wusste sie alles.

Aber das machte ihr nichts aus. In guten wie in schlechten Zeiten, das hatte sie versprochen, und dazu würde sie stehen. Es war schön gewesen, reich zu sein, aber auch arm konnte man glücklich sein. Nicht dass sie jemals wirklich arm sein würden, wie manche Leute arm waren. Die Villa verkaufen, den Laden liquidieren und trotzdem wohlhabender bleiben, als sie jemals zu sein gehofft hatte. Sie waren noch jung. Nun, nicht wirklich jung, aber auch nicht alt. Gesund. Sie hatten Interessen. Sie hatten einander. Es war gut, Chester zu haben. Grau, aber immer noch schlank und fit und sportlich. Sie liebte ihn. Er liebte sie, und das wusste sie. Etwas über vierzig, aber mit dem Elan einer Endzwanzigerin. Noch immer schlank, noch immer blond, noch immer aufregend. Abenteuerlustig. Noch immer begehrenswert. Alles würde in Ordnung kommen. Marilyn Stone atmete tief durch und drehte sich auf die andere Seite. Schlief um halb sechs Uhr morgens wieder ein, während ihr Mann reglos neben ihr lag und die Zimmerdecke anstarrte.

Reacher stand im Terminal und studierte einen Bildschirm, auf dem die Abflüge angezeigt waren. New York stand wie erwartet ganz oben. Der erste Flug des Tages war eine Verbindung mit Delta über Atlanta nach LaGuardia, Abflug in einer halben Stunde. Dann kam ein Flug mit Mexicana nach Süden, und der dritte Flug war United, ebenfalls nach LaGuardia, aber ohne Zwischenstopp, Abflug in einer Stunde. Er ging zum Ticketschalter von United. Fragte nach dem Preis eines einfachen Flugs nach New York. Nickte und ging davon.

Er verschwand auf der Toilette und blieb vor einem der Waschbecken stehen. Zog den Packen Geldscheine aus seiner Hosentasche und stellte den Betrag, der ihm eben genannt worden war, aus möglichst kleinen Geldscheinen zusammen. Dann knöpfte er sein Hemd bis oben hin zu und glättete sein Haar mit einer Handfläche. Verließ die Toilette und ging zum Ticketschalter von Delta hinüber.

Dort kostete der Flug nach New York exakt so viel wie bei United. Das hatte er schon vorher gewusst. Irgendwie waren die Ticketpreise immer gleich. Er legte das Geld in Ein-, Fünf-und Zehndollarscheinen hin. Die junge Angestellte hinter dem Schalter nahm es, strich die Scheine glatt und bildete drei kleine Stapel.

»Ihr Name, Sir?«, fragte sie.

»Truman«, antwortete Reacher. »Wie der Präsident.«

Die junge Frau ließ keine Reaktion erkennen. Sie war vermutlich gegen Ende von Nixons Präsidentschaft im Ausland geboren. Vielleicht in Carters erstem Jahr. Reacher war das egal. Er war zu Beginn von Kennedys Präsidentschaft im Ausland zur Welt gekommen. Er hatte nicht vor, sich darüber zu äußern. Auch für ihn war Truman eine Gestalt aus der Frühgeschichte Amerikas. Die Angestellte tippte seinen Namen in ihren Computer ein, ließ sein Ticket ausdrucken. Sie steckte es in einen Umschlag mit einer rot-blauen Weltkugel – um es gleich wieder herauszuziehen.

»Ich kann Sie sofort einchecken«, sagte sie.

Reacher nickte. Das Problem beim Kauf eines Flugtickets in bar, vor allem auf dem Flughafen Miami International, war der Krieg gegen Drogen. Wäre er an den Schalter getreten und hätte großspurig seinen Packen Hunderter aus der Tasche gezogen, hätte die junge Frau auf den kleinen Alarmknopf am Boden hinter ihrem Schalter treten müssen. Danach hätte sie auf ihrer Tastatur herumgespielt, bis zwei Polizeibeamte von links und rechts auf ihn zutraten. Die Polizei hätte einen großen, braun gebrannten Kerl mit einem dicken Bündel Geldscheine in der Tasche gesehen und ihn sofort für einen Drogenkurier gehalten. Ihre Strategie bestand darin, Jagd auf Drogen zu machen, selbstverständlich aber auch die Erlöse zu beschlagnahmen. Sie ließ nicht zu, dass man es auf sein Bankkonto einzahlte, dass man es ausgab, ohne dass jemand davon Notiz nahm. Sie setzte voraus, dass der normale Bürger größere Beträge mit Kreditkarten bezahlte. Vor allem auf Reisen. Vor allem zwanzig Minuten vor Abflug am Ticketschalter. Und diese Annahme hätte zu Verzögerungen, Ärger und Papierkram geführt – drei Dinge, die Reacher stets zu vermeiden suchte. Deshalb hatte er seine Rolle sorgfältig vorbereitet. Er spielte einen Kerl, dem man keine Kreditkarte aushändigte, selbst wenn er eine gewollt hätte: ein Raubein, das Pech gehabt hatte und deshalb abgebrannt war. Für den Erfolg wichtig waren das zugeknöpfte Hemd und seine Art, die kleinen Geldscheine sorgfältig hinzuzählen. Beides verlieh ihm einen schüchternen, verlegenen Ausdruck. Es nahm die Angestellten an den Ticketschaltern für ihn ein. Sie waren alle unterbezahlt und hatten wegen ihrer bis zur Höchstgrenze belasteten eigenen Kreditkarten zu kämpfen. Dann sahen sie auf und hatten einen Mann vor sich, der noch etwas schlechter dran war als sie, und reagierten instinktiv mit Mitgefühl statt Misstrauen.

ENDE DER LESEPROBE

7. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung August 2002

© der Originalausgabe 1999 by Lee Child © der deutschsprachigen Ausgabe 2002 by

Blanvalet, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Schlück GmbH, 30827 Garbsen Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotiv: www.buerosued.de Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Redaktion: Irmgard Perkounigg Herstellung: Heidrun Nawrot

eISBN 978-3-641-09257-3

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