Der Erste Weltkrieg - Gerhard Henke-Bockschatz - E-Book

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Gerhard Henke-Bockschatz

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Beschreibung

Der Erste Weltkrieg ist als die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet worden, als der fatale Großkonflikt, mit dem das "katastrophale" kurze Jahrhundert vom Ende des bürgerlichen Zeitalters bis zum Ende des Kalten Krieges begann. Der Frankfurter Historiker Gerhard Henke-Bockschatz unternimmt einen konzisen, abgewogenen Überblick, der nüchtern nachzeichnet, wie in Deutschland - vergleichbar mit allen anderen großen, am Krieg beteiligten europäischen Nationen - die Überzeugung die Oberhand gewann, ein auf Machtvergrößerung zielender Krieg sei nicht nur führbar, sondern sogar zu gewinnen, und wie diese grassierende Kriegsbegeisterung geradewegs und notwendigerweise in die Erstarrung des Stellungskriegs führte. Eine chronologische Darstellung der Ereignisgeschichte bis zur Novemberrevolution und zum Versailler Vertrag wird durch die Erörterung der wichtigsten strukturellen Aspekte - Innen- und Außenpolitik, Sozialgeschichte einer Gesellschaft im Krieg, Kriegswirtschaft, Geist und Kultur des Krieges - ergänzt.

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Seitenzahl: 356

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Gerhard Henke-Bockschatz

Der Erste Weltkrieg

Eine kurze Geschichte

Reclam

2., ergänzte Ausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2015

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960442-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019317-4

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung

Das Attentat von Sarajewo und die Julikrise

Das Attentat von Sarajewo und sein Hintergrund

Die Julikrise 1914

Die europäische Mächtekonstellation im Sommer 1914

Der Friede vor dem Krieg

Industrialisierung und Imperialismus

Vereinigtes Königreich – von der Werkstatt der Welt zum Empire und zum globalen Geschäftszentrum

Deutsches Reich – eine »verspätete Nation« auf dem Weg zur Weltmacht

Frankreich – republikanischer Patriotismus

Österreich-Ungarn – zerbrechlicher Vielvölkerstaat

Russland – autokratische Modernisierung einer Landmacht

Osmanisches Reich – die »orientalische Frage«

Die Bündnisse gehen in Stellung

Militärischer Verlauf und Kriegsschauplätze

Westfront 1914

Ost- und Südostfront 1914–1916

Italien 1915/16

Westfront 1915/16

Der Krieg zu See

Osmanisches Reich: Armenien, Gallipolli, Mesopotamien

Krieg in den Kolonien und in Übersee

Die USA und ihr Kriegseintritt

Ostfront 1917

Westfront 1917

Ostfront 1918: Brest-Litowsk

Westfront 1918: Die militärische Entscheidung

Kriegsziele und nationale Kalküle

Kriegsführung

Stellungskrieg und Materialschlacht

Technik, Wissenschaft und Krieg

Panzer

Giftgas

Kriegsgreuel und Kriegsverbrechen

Soldaten

Rekrutierung und Ausbildung

Leben und Vegetieren in Schützengräben

Helden

Verletzte, Verwundete, Kranke

Kriegsherrschaft

Staatliche Aufsicht und Kontrolle der Wirtschaft

Finanzierung

Arbeitskräfte

Lebensmittelversorgung

Kriegskultur und Kulturkrieg

Patriotische Pflicht und Begeisterung

Sozialdemokratische Haltung zum Krieg

Staatliche Presse-, Informations- und Medienpolitik

Verbindungen zwischen Front und Heimat

Die Kirchen und Religionsgemeinschaften

Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler

Frauen, Kinder und Jugendliche

Kriegsgegnerschaft und Kriegsmüdigkeit

Pazifisten

Arbeiterbewegung

Simulieren, desertieren, kapitulieren

Friedensbestrebungen und Risse im Burgfrieden und in der Union sacrée

Kriegsende

Waffenstillstand

Novemberrevolution

Friedensverhandlungen und Friedensverträge

Der Krieg in der Rückschau

Friedhöfe und Denkmäler

Literatur und Film

Wissenschaft

Schluss

Daten zur Bevölkerung und Wirtschaft der größten europäischen Staaten vor dem Ersten Weltkrieg

Militärisches Kräfteverhältnis (1914)

Kosten des Krieges

Karten

Europa 1914

Die Westfront, 1914–18

Die Ostfront, 1914–17

Das Osmanische Reich, 1914–18

Die österreichisch-italienische Front, 1915–18

Europa 1918

Anmerkungen

Literaturhinweise

Quellen

Darstellungen

Personenregister

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Einleitung

Der Erste Weltkrieg ist »die große Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts genannt worden.1 Er war ein Krieg von bis dahin nicht gekanntem Ausmaß und beispielloser Intensität. Die Menschen sprachen sehr bald einfach vom »Great War«, von der »Grande Guerre«, der »Grande Guerra« usw. Damit unterschieden sie ihn von den vielen ›kleinen‹ Kriegen, die im Zeitalter des Imperialismus an der Tagesordnung waren und an die man sich gewöhnt hatte. ›Groß‹ war der Krieg wegen der Zahl der beteiligten Staaten, unter ihnen alle europäischen Großmächte. In den kriegführenden Staaten wurden insgesamt ca. 70 Millionen Männer eingezogen. ›Groß‹ war der Krieg auch wegen der Zahl der Opfer, unter ihnen ca. 9 Millionen tote Soldaten. Die Zahl der physisch oder psychisch kriegsversehrten Soldaten lag mindestens genauso hoch. Hinzu kamen Zivilisten, die an Seuchen, Hungersnöten, ethnischen Verfolgungen zugrunde gingen. Ein gegenseitiges Vernichten in solchen Dimensionen und mit solcher Konsequenz war welthistorisch gesehen neu, auch wenn in früheren Zeiten schon sogenannte »Weltkriege« geführt worden waren, z. B. der Spanische Erbfolgekrieg (1701–1714), der Siebenjährige Krieg (1756–1763) und die Napoleonischen Kriege (1800–1814/15).

Neben allem menschlichen Leid hatte der Erste Weltkrieg auch grundlegende politische Umwälzungen zur Folge. An seinem Ende standen in einer Reihe von Ländern die Ablösung monarchischer durch republikanische Staatsformen, die Etablierung einer kommunistischen Herrschaft in Russland, die Entstehung neuer Staaten in Mittel- und Osteuropa sowie die rigide Behandlung der unterlegenen Mittelmächte durch die alliierten Sieger. Zusammen mit dem ebenfalls kriegsbedingten Aufstieg der USA zur Weltmacht bargen diese Veränderungen die Keime zu den weiteren großen Konflikten des 20. Jahrhunderts in sich: zum Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, der in den nächsten, den Zweiten Weltkrieg und in den Holocaust mündete; und zu der Teilung der Welt in eine kommunistische und in eine marktwirtschaftlich-demokratische Sphäre, die nach 1945 zu jenem Kalten Krieg führte, der einige Male in einen Dritten Weltkrieg umzuschlagen drohte.

Das Ausmaß, die Intensität und die Folgen des Krieges, die ihm einen besonderen historischen Stellenwert verleihen, konnten die Menschen im August 1914 natürlich nicht erahnen. Die meisten Politiker, Militärs und Bürger rechneten mit einer raschen, für ihren Staat günstigen Entscheidung, nur wenige sahen jenen katastrophalen Krieg voraus, zu dem es dann kam. Im Gegenteil: Es gab nicht wenige, die den Krieg regelrecht begrüßten, weil sie davon ausgingen, er werde außen- und innenpolitisch wie ein reinigendes Gewitter wirken und ihre Nation außen- und innenpolitisch von störenden Fesseln befreien. Solche Überlegungen erscheinen im Rückblick auf zwei Weltkriege, nach den Erfahrungen von Verdun, Auschwitz und Hiroshima, kaum begreiflich, geradezu verantwortungslos. Doch sah das Kalkül mit den Erfolgsaussichten und Kosten eines Krieges unter Großmächten bis 1914 wesentlich attraktiver und leichter aus. Aber vielleicht sollte man sich hinsichtlich der modernen Einsicht, dass ein ›großer Krieg‹ heutzutage mit kalkulierbaren Risiken kaum zu gewinnen ist, weil jeder militärische Vorteil von der anderen Seite durch den Einsatz noch zerstörerischer Waffen relativiert werden kann, auch nicht täuschen: Möglicherweise bestehen ja auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen Großmächten kriegsträchtige Gegensätze, die aber aus verschiedenen Gründen nicht ausgetragen werden. Jedenfalls ist es nicht besonders beruhigend zu wissen, dass große Kriege heute nicht mehr geführt werden, weil es schwerfällt, sie zu gewinnen.

Eine weitere Vorbemerkung scheint angebracht zu sein. Wenn der Erste Weltkrieg als »Katastrophe« bezeichnet wird, so ist damit nicht gemeint, dass er wie ein schicksalhaftes, unbeeinflussbares Naturereignis über die Menschen hereinbrach, mag dies auch manchen zeitgenössischen Politikern so vorgekommen sein und mögen auch nicht wenige Historiker ähnlich argumentiert haben. Auch heute muss leider immer noch die altbekannte elementare politische Einsicht betont werden, dass Kriege nicht »ausbrechen«, sondern gemacht werden. Der Große Krieg war das Werk von Politikern und Militärs, denen es um die gewaltsame Behauptung und Durchsetzung ihrer jeweiligen staatlichen Interessen gegen konkurrierende Staaten ging. Sie hatten sich seit langer Zeit auf einen – wenn auch natürlich nicht auf diesen – großen Krieg vorbereitet, ihn umfassend geplant, und sie führten ihn schließlich sehr konsequent durch. Dies taten sie im Rahmen von Gesellschaften, in denen verschiedene Gruppen und Kräfte ihrerseits auf vielfältige Art Kriege für notwendig und legitim hielten und entsprechende Haltungen propagierten. Wenn der Krieg dann nicht so schnell und nicht in dem Sinne entschieden werden konnte, wie es von den Regierungen erwartet worden war, so ändert dies nichts daran, dass er von ihnen gewollt war und zu der machtpolitischen Logik gehörte, der sie schon vor dem Krieg folgten. Kein Staatsmann wird jemals sagen, dass er einen Krieg und die damit einhergehenden Leiden und Zerstörungen »gewollt« habe oder will. Dass es aber »leider« Situationen geben kann, in denen sie »schweren Herzens« und im »Bewusstsein der Verantwortung« Waffen gegeneinander einsetzen »müssen«, ist Staatsmännern damals wie heute geläufig. Auf diese defensive Art wollen sie eben Krieg und bereiten ihn vor – auch dann, wenn sie nicht mehr »Kriegs-«, sondern »Verteidigungsminister« heißen.

Es sei noch auf eine Eigenart der Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg hingewiesen, die die folgende Darstellung zu vermeiden bestrebt ist. Mehr als bei anderen Kriegen wurde und wird beim Ersten Weltkrieg darüber debattiert, wer »Schuld« an ihm hatte. Der Grund hierfür liegt in §231 des Versailler Vertrages, in dem die Alliierten dem besiegten Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Verantwortung zusprachen und damit die Beschränkungen, Reparationen und die territorialen Abtretungen begründeten, die sie den Verlierern auferlegten. Die Verankerung einer solchen Schuldzuweisung in einem Friedensvertrag ist allerdings bemerkenswert. Frühere internationale Friedensschlüsse wie der Wiener Kongress oder der Westfälische Frieden kamen ohne Schuldzuweisungen aus. Die Kriegsparteien verhandelten auf der Basis des erreichten Standes der jeweiligen militärischen Auseinandersetzung darüber, unter welchen Bedingungen sie die Feindseligkeiten aufzugeben bereit waren. Dies geschah unter der Voraussetzung gegenseitiger Anerkennung als prinzipiell gleichberechtigte Souveräne. Wird aber am Ende eines kriegerischen Konfliktes zwischen Staaten die Friedensfrage mit der Schuldfrage verbunden, so nimmt die siegreiche Kriegspartei einen moralisch-rechtlichen Standpunkt gegenüber der unterlegenen Kriegspartei ein und bringt diese ideell vor ein Gericht, bei dem der Sieger Ankläger und Richter zugleich ist. Sie nimmt damit eine Position an, die unter souveränen Staaten bis heute – trotz internationaler Strafgerichtshöfe – keineswegs selbstverständlich ist. Was der Sieger dem Besiegten auferlegt, wird nicht allein mit dem erwiesenen Recht des Stärkeren, sondern zusätzlich als adäquate Strafe für ein politisches Fehlverhalten begründet. Die Geschichte des Ersten Weltkriegs sollte aber nicht mit der Intention erzählt werden, Schuldige oder Verantwortliche für die Katastrophe zu identifizieren. Schon ein erster unbefangener Blick auf die Epoche des Imperialismus macht klar, dass alle maßgeblichen Staaten damals direkt oder indirekt expansiv-aggressiv agierten und dafür hochgerüstet waren. Auch die Kalkulation mit einem ›großen‹, zumindest einem ›größeren‹ Krieg, war permanent präsent. Die Vorstellung, die siegreichen Staaten hätten eine derartige (Auf-)Rüstung eigentlich nur betrieben, um gegen die Aggression der späteren Verlierer gewappnet zu sein, ist ebensowenig einsichtig wie die entschuldigende Gegenauffassung, die Staaten seien alle gemeinsam in den Krieg »hineingeschlittert«.

Nicht nur in älteren, sondern auch in neueren und neuesten Darstellungen des Ersten Weltkriegs wurde und wird gerne die Vorstellung ausgemalt, zum Krieg sei es gekommen, weil die damalige Zeit oder Epoche irgendwie aus dem Ruder gelaufen sei oder weil sich die Welt in einer Art Strudel oder Strom unaufhaltsam in Richtung Krieg bewegt habe. So formuliert der deutsche Schriftsteller und Historiker Philipp Blom, der sein Werk über die Jahre vor dem Krieg »Der taumelnde Kontinent« genannt hat, am Ende unter Anknüpfung an berühmte Zeitgenossen ein sozialpsychologisches Urteil über »die« damaligen Menschen, das sie allesamt als Opfer einer schicksalhaften allgemeinen Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen lässt, der sie angeblich nicht gewachsen waren: »Die Veränderungen passierten zu schnell, die Vernunft hatte die Erfahrung überholt, die Menschen fühlten sich, als wären sie in einem rasenden Fahrzeug eingeschlossen, wie Henry Adams es formuliert hatte, oder befänden sich, mit Max Weber, in einem Zug, dessen Weichen nicht gestellt waren. Die richtungslose Beschleunigung machte sie schwindelig.«2 Fahrer, Zugführer, Stellwerke oder Notbremsen, die die Fahrt hätten stoppen können, sind in solchen fatalistischen Bildern, die die hilflose Ohnmacht gegenüber selbst erzeugten Zwängen illustrieren sollen, nicht vorgesehen.

In ähnlichem Tenor lässt auch der australische Historiker Christopher Clark seine 2012 publizierte, vielbeachtete und von vielen Rezensenten gelobte Studie »The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914« enden. Er resümiert bildhaft, es sei nicht sinnvoll, im Fall des Ersten Weltkriegs wie nach einem gewöhnlichen Mord nach einem Schuldigen zu suchen, idealer- und praktischerweise noch mit dem rauchenden Gewehr in der Hand: »There is no smoking gun in this story; or, rather, there is one in the hands of every major character. Viewed in this light, the outbreak of war was a tragedy, not a crime.«3 Gewiss ist der Erste Weltkrieg – wie jeder Krieg – nicht einfach auf einen einzigen Schurken zurückzuführen, der die Gesetze, Normen und Werte zivilisierten Zusammenlebens missachtet hätte. Die Charakterisierung der damaligen europäischen Staatsmänner als »Schlafwandler«, d.h. als Subjekte, die allesamt zumindest eine Ahnung von den großen Gefahren hatten, auf die sie zusteuerten, sie aber beim aktiven Verfolgen ihrer Ziele nicht weiter beachteten, weil sie davon überzeugt waren, die objektiv hochkomplexe Situation doch noch einer für sie vorteilhaften oder zumindest akzeptablen Lösung zuführen zu können, hat aber auch nur eine begrenzte Überzeugungskraft. Dass Europas Politiker im Sommer 1914 sowohl von Hoffnungen auf einen schnellen und begrenzten Krieg als auch von Ängsten vor einer für ihre Länder ungünstigeren Kriegskonstellation zu späteren Zeitpunkten davon abgehalten worden seien, die mit einem Krieg verbundenen Risiken realistisch wahrzunehmen4, ist nicht nur eine Überlegung, die sich erst auf der Grundlage des Wissens um den weiteren Verlauf des Krieges mit allen Opfern und allem Leid ergibt. Sie zehrt auch von der optimistisch-vertrauensvollen Vorstellung, die Politiker hätten wohl wesentlich zurückhaltender und vorsichtiger agiert, wenn sie denn »wach« gewesen wären und die Risiken wahrgenommen hätten. Solch ein Vertrauen in nüchtern-realistische Politik blendet jedoch die Überlegung aus, ob und wie die Gründe für die kriegsträchtigen Gegensätze zwischen den Staaten konsequent aus jener weltumspannenden wirtschaftlichen und politischen Konkurrenz erwuchsen, in der sie unbedingt bestehen wollten und mussten. War doch die »Zwangslage«, in der sich viele Politiker 1914 sahen, von ihnen und ihresgleichen schrittweise hergestellt worden. Sie hielten eine kriegerische Entscheidung ihrer außen- und wirtschaftspolitischen Rivalitäten und Gegensätze für zunehmend unausweichlich und bereiteten sich dementsprechend immer intensiver auf den Einsatz der »letzten« Mittel vor. Und für den Sieg im Krieg waren sie selbstverständlich zum Einsatz beträchtlicher personeller und materieller Ressourcen bereit und konnten sich dabei auf die staatsbürgerliche Erziehung ihrer Untertanen im Sinn einer entsprechenden Opferbereitschaft für Nation und Vaterland verlassen. Intensität und Länge des Krieges trieben diesen Preis dann zwar steil nach oben, aber warum sollte das für Staaten ein Grund zum Aufgeben sein, solange noch Aussicht auf das Entscheidende bestand, nämlich auf einen Sieg und auf die damit verbundenen größeren weltpolitischen Freiheiten?

Die vorliegende Darstellung betont hingegen die engen Beziehungen zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Expansion der europäischen Staaten in der Epoche des Imperialismus. Alle Darstellungen des Krieges nehmen hierzu einen Standpunkt ein, aber längst nicht alle machen ihren Standpunkt explizit. Allen ist klar, dass es sich um einen Krieg zwischen Nationen handelt, deren Volkswirtschaften in den vorangegangenen Jahrzehnten mehr oder weniger weit industrialisiert worden waren. Die Frage stellt sich, inwiefern diese Entwicklung kriegstreibend war. Es ist beispielsweise nicht zu bestreiten, dass im Deutschen Reich viele wichtige Industrielle und Banker sowie einflussreiche agrarische Interessenverbände aggressive Formen imperialer Expansion unterstützten, insbesondere den massiven Ausbau der Flotte. Es ist aber auch bekannt, dass der aggressive außenpolitische Kurs des Alldeutschen Verbandes von anderen Unternehmern skeptisch bis ablehnend beurteilt wurde, weil sie von ihm eine Beeinträchtigung der einträglichen internationalen Geschäfte befürchteten. Nicht wenige große deutsche Unternehmen wollten einen großen Krieg, zumal mit dem Weltmarktführer England, eher vermeiden. Aber auch wenn Unternehmen bzw. Unternehmer nicht selbst direkt kriegstreibend handelten, so war ihnen doch durchaus bewusst, dass ein starkes und mächtiges Deutschland eine unumgängliche Voraussetzung des Erfolgs ihrer internationalen Geschäftsbeziehungen war.5

Blickt man auf den Verlauf des Krieges, so wird der enge Zusammenhang zwischen militärischer, politischer und wirtschaftlicher Macht erneut augenfällig. Die Geschichte des Ersten Weltkriegs war auch ein Prozess der Totalisierung der Kriegsführung, eine Entwicklung hin zu einer quantitativen und qualitativen Ausweitung der Kriegshandlungen und hin zu einer immer umfassenderen Unterwerfung aller personellen und materiellen Ressourcen der Gesellschaften unter die Kriegsnotwendigkeiten. Zwar lassen sich fast alle größeren Kriege in der Form dieses Plots erzählen, wurden doch in ihnen seit jeher in qualitativer und quantitativer Hinsicht jeweils die neuesten Waffen und Strategien eingesetzt.6 Dies geschah aber über Jahrhunderte hinweg relativ langsam. In der »Fortschritts«-Epoche um 1900, die von einer Flut wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse und Innovationen und von bis dahin unbekannten Produktivitätssteigerungen gekennzeichnet war, änderten sich auch Kriegsführung und Kriegstechnik schnell und umfassend.

Mit seinen enormen Verlust- und Opferzahlen und mit seiner Tendenz zur Totalisierung wirft der Erste Weltkrieg unweigerlich die Frage auf, warum und bis zu welchem Punkt sich die Bürger all dies gefallen ließen. Jeder Staat verlangt seinen Bürgern den Glauben ab, seine Vorbereitungen für den Kriegsfall seien im Grunde rein defensiver Natur. Begründet wird dies in der Regel damit, selbst der Friedlichste müsse nun mal realistischerweise damit rechnen, dass ihm vielleicht jemand übelwolle, weshalb es nur selbstverständlich sei, dass man sich schütze. Ja, es wäre geradezu grob fahrlässig, dies nicht zu tun. Zu jedem konkreten Krieg wird den Bürgern dann versichert, er sei leider notwendig, weil die Sicherheit, die Grundlagen oder die Existenz des eigenen Staates durch den anderen Staat bedroht seien. Von der Bevölkerung verlangen die Staaten mit dieser Begründung, sich bis zum Letzten für die Fortexistenz des eigenen Staats zur Verfügung zu stellen. An der Argumentation wird auch dann festgehalten, wenn man den eigenen Angriff als »Vorwärtsverteidigung« oder »Präventivschlag« rechtfertigt. Von den Bürgern wird im Kriegsfall praktisch der Beweis verlangt, dass ihnen ›ihr‹ Staat wirklich als unbedingte Voraussetzung ihres Lebens gilt, sie ihn auf jeden Fall erhalten wollen und dafür auch ihr Leben hinzugeben bereit sind. Dergleichen Forderung wird meistens nicht zurückgewiesen, weil sie jenseits aller Unzufriedenheit mit dem konkreten Staat, in dem die Bürger leben, an die grundsätzliche ›Einsicht‹ in die Notwendigkeit des nationalen Zusammenhaltens appelliert. Die Forderung liefe ins Leere, würde ein beträchtlicher Teil der Bürger sagen, es sei ihnen egal, ob sie von deutschen, französischen, englischen oder sonstigen Politikern beherrscht werden, schließlich sei das Alltagsleben in einer modernen Industriegesellschaft so existenziell unterschiedlich denn doch nicht, als dass man sich dafür in Massen gegenseitig abschlachten müsse. Solche Überlegungen waren den allermeisten Bürgern vor, während und nach dem Krieg fremd, weil ihnen jene Parole einleuchtete, die auf so manchem Kriegerdenkmal stand: »Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen.«

Der Band geht aus von dem konkreten Kriegsanlass, dem Attentat in Sarajewo, und stellt ihn in den Kontext der damaligen Balkanpolitik und der Entwicklung der Beziehungen zwischen den europäischen Großmächten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Es folgt eine weitgehend chronologisch angelegte Schilderung des Kriegsverlaufs bis zur militärischen Entscheidung im Sommer 1918. Daran schließen sich systematische Ausführungen an, einerseits zur Charakterisierung der Kriegsführung an den Fronten, andererseits zur Einbeziehung der wirtschaftlichen Potenzen an den Heimatfronten. In dem Kapitel »Kriegskultur und Kulturkrieg« stehen Formen der Zustimmung zum und der Mitwirkung am Krieg in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten im Mittelpunkt. Hiernach kehrt die Darstellung zu den Ereignissen am Ende des Krieges zurück, schildert, wie sich zum einen Unzufriedenheit mit und Opposition gegen die Kriegspolitik verbreiteten und wie es zum anderen zum Waffenstillstand und zu Friedensverhandlungen kam. Am Ende wird dargelegt, wie unterschiedlich und gegensätzlich nach dem Friedensschluss die Kriegserfahrungen in den Gesellschaften verarbeitet wurden.

Der Argumentation liegt die Annahme zugrunde, dass die Konkurrenz der imperialistischen Staaten um den Status als Weltmacht die wesentliche strukturelle Ursache für den Krieg war. Demgemäß ging es in diesem Krieg darum, der anderen Seite den Verzicht auf Weltmachtpolitik aufzuzwingen. Weil hierüber eine Entscheidung herbeigeführt werden sollte, war eine Beendigung des Krieges durch eine Rückkehr zum Status quo ante von vornherein ausgeschlossen. Deshalb wurde der Krieg letztlich so lange und so intensiv geführt. Ziel war ein Frieden, der für längere Zeit die weitgehende Ausschaltung der anderen Seite als Weltmacht garantieren sollte. Der Kriegsverlauf war allerdings gekennzeichnet durch den Widerspruch, dass von beiden Seiten ein Sieg mit den gängigen Mitteln der Kriegsführung nicht zu erringen war. Das Ausbluten, die Vernichtung von Leben und Material mit der Kalkulation, dabei länger durchzuhalten als der andere, wurde deshalb zu einem eigenen strategischen Ziel. Am Ende waren es die Mittelmächte, die eingestehen mussten, weiteren Kriegsanforderungen nicht mehr gewachsen zu sein. Konsequenterweise verloren sie – und Russland – damit faktisch ihren Status als Großmächte mit anerkannten weltpolitischen Ambitionen. In den letzten Wochen des Krieges setzten aber schon die Überlegungen und Weichenstellungen dazu ein, wie dieses Kriegsergebnis revidiert werden könnte.

Das Attentat von Sarajewo und die Julikrise

Das Attentat von Sarajewo und sein Hintergrund

Am 28. Juni 1914 fuhren der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in einem offenen Wagen durch die von Menschen gesäumten Straßen Sarajewos. Franz Ferdinand war als »k. u. k. Generalinspektor der gesamten bewaffneten Macht« angereist, um in Bosnien-Herzegowina, das Österreich-Ungarn seit 1878 verwaltet und 1908 schließlich annektiert hatte, Manöver zu beobachten. Es war klar, dass der Besuch des Erzherzogs politisch brisant und gefährlich war, weil slawische Nationalisten einen Anschluss der Provinz an Serbien forderten, und es in den vorausgegangenen Jahren schon mehrere Anschläge auf habsburgische Beamte und Politiker gegeben hatte.

Während der Fahrt durch Sarajewo wurde zunächst eine Bombe auf den Wagen des Erzherzogs geworfen. Sie explodierte jedoch erst unter einem der nachfolgenden Autos. Als der Wagen des Thronfolgers wenig später in einer anderen Straße wendete, gelang es dem 19jährigen Bosnier Gavrilo Princip, aus nächster Nähe zwei tödliche Schüsse auf den Erzherzog und seine Frau abzufeuern. Für den Anschlag wurde Princip, der zur Tatzeit gerade noch nicht volljährig war, später zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er starb 1918 und wurde schon bald als jugoslawischer Volksheld verehrt.

Wie sich schnell herausstellte, war Princip kein Einzeltäter. Er war gemeinsam mit mehreren anderen Verschwörern von der »Schwarzen Hand«, einer von Serbien aus operierenden Geheimorganisation, auf den Anschlag vorbereitet und mit Waffen ausgestattet worden. Die Organisation wurde zwar nicht von der serbischen Regierung in Belgrad, wohl aber von nationalistischen Kräften in deren Geheimdienst und in deren Armee gesteuert. Außer Princip hielten sich noch fünf andere Mitglieder der Geheimorganisation in Sarajewo auf, um den Anschlag auszuführen.

Ort und Umstände des Attentats waren eng verbunden mit der politischen Entwicklung auf dem Balkan im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. Der Machtzerfall des Osmanischen Reiches ging auch und gerade in dieser Region mit der Gründung einer Reihe selbständiger Staaten einher. In dieses Geschehen mischten sich die unmittelbar benachbarten Großmächte Österreich-Ungarn und Russland permanent mit eigenen Interessen und Kontrollbedürfnissen ein. Wie erfolgreich sie hierbei waren, wurde ebenso permanent von den anderen Großmächten England, Frankreich und Deutschland mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und gemäß deren Interessen mal anerkannt, mal in Frage gestellt.

Bosnien-Herzegowina war nach dem Russisch-Türkischen Krieg von 1877/78, in dem das Osmanische Reich eine empfindliche Niederlage hatte hinnehmen müssen, im Berliner Vertrag der Verwaltung Österreich-Ungarns unterstellt worden. Gleichzeitig entstand Serbien als souveräner Staat, in dem von Beginn an starke panslawistische Kräfte auftraten, deren Wurzeln zurück in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts reichten. Sie bezogen sich in ihrer Propaganda auf das spätmittel-alterliche Reich Stefan Dušans (Uroš IV.), das nach der Schlacht auf dem Amselfeld (1389) unter dem Ansturm der Türken zerfallen war. Auf der Grundlage der sprachlich-kulturellen Konstruktion einer fortbestehenden slawischen Ethnie propagierten sie eine Ausdehnung der Staatsgrenzen gegenüber Österreich-Ungarn und gegenüber dem Osmanischen Reich, aber auch gegenüber Rumänien und Bulgarien, die ebenfalls 1878 unabhängig geworden waren. Dass Bosnien-Herzegowina 1878 österreichisch-ungarischer Verwaltung unterstellt wurde, sollte die Entstehung eines solchen größeren serbischen Staates verhindern. Dies war gleichbedeutend mit der Beschränkung des zunehmenden Einflusses Russlands auf dem Balkan. Nur um diesen eindeutigen politischen Affront gegen Serbien und dessen Schutzmacht Russland nicht zu weit zu treiben, war pro forma festgelegt worden, dass Österreich-Ungarn Bosnien-Herzegowina lediglich verwalten, nicht aber in sein Herrschaftsgebiet integrieren sollte.

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war das Verhältnis zwischen Serbien und Österreich-Ungarn trotzdem relativ unbelastet. Nachdem es aber 1903 in Serbien zu einem blutigen Staatsstreich gekommen war und das Parlament einen neuen König gewählt hatte, gewannen irredentistische nationale Kräfte an Einfluss. Innerhalb der serbischen Verwaltung, des Militärs und der Justiz dominierte ein Nationalbewusstsein, das auf den Anschluss angrenzender Gebiete mit slawischer Bevölkerung ausgerichtet war. Die serbische Regierung agierte zwar zurückhaltender, war aber doch deutlich um mehr Unabhängigkeit von dem großen Nachbarn Österreich-Ungarn bemüht. Dies zeigte sich nicht nur in einem Zollkrieg mit Österreich-Ungarn, sondern auch in der Neuausrichtung der Anleihepolitik und des Waffenerwerbs auf Frankreich. Wien nutzte schließlich 1908 die innenpolitische Schwächung der »Hohen Pforte« durch die jungtürkische Revolution aus und annektierte Bosnien-Herzegowina. Hierzu hatte sich Österreich-Ungarn zuvor in Geheimverhandlungen der Zustimmung Russlands versichert, dem dafür wiederum diplomatische Unterstützung bei seinem schon lange angestrebten »Zugriff« auf den Bosporus und die Dardanellen in Aussicht gestellt wurde.

Mit der Annexion zog Österreich-Ungarn verstärkt die Feindschaft südslawisch-serbischer Nationalisten auf sich. Es kam zu diversen Attentaten auf Repräsentanten der österreichischen Herrschaft. 1911 wurde die schon erwähnte großserbische Geheimorganisation »Schwarze Hand« bzw. »Vereinigung oder Tod« gegründet. Sie bezichtigte in zunehmendem Maße die Belgrader Regierung des Verrats an der Sache der Serben und versuchte ihrerseits mit terroristischen Anschlägen die »Feinde Serbiens« zu treffen. Aus dem Umfeld dieser klandestinen Organisation, die über großen Rückhalt in der Armee und im Geheimdienst verfügte, stammten die Attentäter von Sarajewo. Der serbischen Regierung war zwar bekannt, dass ein Attentat auf den Großherzog geplant war. Sie ließ auch allgemein gehaltene Warnungen nach Österreich übermitteln. Weiter gingen ihre Aktivitäten aber nicht. Wahrscheinlich wollte sie es vermeiden, von nationalistischen Kräften des direkten Verrats der »serbischen Sache« bezichtigt zu werden. Und sicherlich strebte auch sie nach einer weiteren territorialen Expansion.1

Die Annexion Bosnien-Herzegowinas im Jahr 1908 hatte auch eine beträchtliche Abkühlung der Beziehungen zwischen Petersburg und Wien zur Folge. Konnte doch Österreich-Ungarn, nach einer Intervention Großbritanniens, seine geheime Zusage nicht einhalten, Russland bei seinen Interessen am Bosporus zu unterstützen. Am Ende der »Bosnien-Krise« stand Russland nicht nur mit leeren Händen da, es hatte auch eine regelrechte diplomatische Demütigung in Kauf nehmen müssen. Mit der Drohung, ansonsten einen Krieg Österreichs gegen Serbien zu unterstützen, erzwang das Deutsche Reich von Russland und Serbien die Anerkennung der Annexion. Dieser diplomatische Sieg war der entscheidende Wendepunkt in den austro-russischen und in den deutsch-russischen Beziehungen, weil er der russischen Seite sehr praktisch klarmachte, dass Wien und Berlin nicht gewillt waren, Interessen des Zarenreiches zu berücksichtigen. Die massive russische Aufrüstung in den folgenden Jahren war großenteils eine Folge der Einsicht, dass man es in der wichtigen Interessensphäre des Balkans mit einem österreichisch-ungarischen Konkurrenten zu tun hatte, hinter dem das reiche und mächtige Deutsche Reich stand.

Die Zerlegung des Osmanischen Reiches setzte sich fort mit dem Italienisch-Türkischen Krieg von 1911/12 und den zwei Balkankriegen von 1912/13 und 1913. Istanbul verlor dabei zunächst die Dodekanes-Inseln, Rhodos und Tripolitanien an Italien. Der Erste Balkankrieg wurde dann von einer Koalition aus Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro siegreich gegen das Osmanische Reich geführt, das deshalb seine Gebiete auf dem europäischen Festland (bis auf das östliche Thrakien) abtreten musste. Aus diesem Krieg ging vor allem Bulgarien als großer Gewinner hervor. Gemeinsam mit Serbien und Griechenland war es an der Aufteilung Mazedoniens beteiligt. Albanien nutzte die Gelegenheit, um sich mit deutscher und österreichisch-ungarischer Unterstützung für unabhängig zu erklären, womit Serbien, das einen direkten Zugang zur Adria angestrebt hatte, abermals Schranken gesetzt wurden. Nach der Niederlage im Zweiten Balkankrieg musste Bulgarien schließlich fast die gesamte territoriale Beute wieder an seine Gegner herausgeben. Die Verdrängung der osmanischen Herrschaft auf dem Balkan ging in den sich nun ausbreitenden christlich-orthodoxen Staaten vielerorts einher mit der Unterdrückung und Vertreibung der muslimischen Bevölkerung.

So wurde der Balkan gemeinsam von den europäischen Großmächten und den nach nationaler Unabhängigkeit und ethnischer Zusammengehörigkeit strebenden politischen Kräften zu dem sprichwörtlichen »Pulverfass« gemacht, an das mit dem Attentat von Sarajewo abermals eine Lunte gelegt wurde.

Die Julikrise 1914

Die diplomatisch-politischen Aktivitäten in und zwischen den europäischen Hauptstädten in dem Zeitraum zwischen dem Attentat und dem Beginn des Krieges gehören zu den am besten erforschten und dokumentierten Geschehnissen des 20. Jahrhunderts. Immer wieder sind die Absichten und Entscheidungen der verschiedenen Politiker und Militärs in den verschiedenen Ländern analysiert und beurteilt worden. Meistens geschah dies mit der Absicht auszuloten, wo wann wer den unheilvollen Lauf der Dinge noch hätte aufhalten können. Für eine allgemeine Beurteilung des Handelns der Politiker und Militärs ist es aber nicht unbedingt notwendig, den diplomatischen Winkelzügen im Vorfeld des Kriegsbeginns bis in alle Einzelheiten nachzugehen. Muss doch konstatiert werden, dass die europäischen Großmächte seit Jahren von der Wahrscheinlichkeit eines großen Krieges zwischen ihnen überzeugt waren und sich gründlich darauf vorbereitet hatten. Im Juli 1914 waren die europäischen Großmächte in ihrem langwierigen Gegeneinander und in ihren strategischen Planungen und Rüstungsmaßnahmen so weit fortgeschritten, dass sie anlässlich des Attentats aus je eigenen Kalkulationen bereit waren, es auch auf größere militärische Auseinandersetzungen ankommen zu lassen.

Die Regierung in Wien zeigte sich fest davon überzeugt, dass das Attentat von Serbien organisiert, zumindest aber unterstützt worden sei. Sie war fest entschlossen, Serbien eine militärische Lektion zu erteilen, obwohl sie wusste, dass dies Russland als Schutzmacht Serbiens auf den Plan rufen würde. Unterschiedliche Auffassungen bestanden allerdings darin, wie ein solches Vorgehen durch vorherige Forderungen an Serbien diplomatisch vorbereitet und begleitet werden sollte. Für ihr Vorgehen versicherte sich die österreichische Regierung der expliziten Rückendeckung durch das mit ihr verbündete Deutsche Reich.

In Berlin wurde als Reaktion auf das Attentat schon bald ein energisches, vor einem militärischen Konflikt nicht zurückscheuendes Vorgehen Wiens für angebracht erachtet. Dies geht beispielsweise aus kritischen Randbemerkungen hervor, die Wilhelm II. zu einem Bericht des deutschen Botschafters in Wien vom 30. Juni machte.2 Der Botschafter schrieb, angesichts des in Wien vielfach geäußerten Wunsches, »es müsse einmal gründlich mit den Serben abgerechnet werden«, habe er bei mehreren Anlässen »sehr nachdrücklich und ernst vor übereilten Schritten« gewarnt und auf die Pflicht Österreichs hingewiesen, nicht nur auf die Bundesgenossen, sondern auch auf die europäische Gesamtlage Rücksicht zu nehmen. Solche mäßigenden Töne hielt Wilhelm II. schlicht für »Unsinn«. Eine angemessene Reaktion sei allein Österreichs Sache. Für ihn war klar, was er sinngemäß schon früher gefordert hatte: »Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald. Versteht sich alles von selbst, und sind Binsenwahrheiten.«

Am 5. Juli 1914 wurde Kaiser Wilhelm II. ein am 2. Juli verfasster handschriftlicher Brief des österreichisch-ungarischen Kaisers Franz Joseph I. überbracht.3 In ihm wurde ausgeführt, bei dem Attentat handele es sich um ein »wohlorganisiertes Komplott […], dessen Fäden nach Belgrad reichen«. Es sei »die direkte Folge der von den russischen und serbischen Panslawisten betriebenen Agitation, deren einziges Ziel die Schwächung des Dreibundes und die Zertrümmerung meines Reiches ist«. Wien müsse es zukünftig »auf die Isolierung und Verkleinerung Serbiens« ankommen. Serbien sei nun einmal der »Angelpunkt der panslawistischen Politik am Balkan« und müsse deshalb »als politischer Machtfaktor am Balkan ausgeschaltet werden«. Unter dieser generellen Zielsetzung skizzierte das Schreiben ein Konzept dazu, welche Politik gegenüber anderen Balkanstaaten, v. a. gegenüber Rumänien und Bulgarien, eingeschlagen werden sollte, um sie dauerhaft vor der »Rückkehr zur Russophilie« zu bewahren und auf die Seite des Dreibundes zu ziehen. Der Brief appellierte am Ende an die gemeinsame Überzeugung, »daß an eine Versöhnung des Gegensatzes, welcher Serbien von uns trennt, nicht mehr zu denken ist, und daß die erhaltende Friedenspolitik aller europäischen Monarchen bedroht sein wird, solange dieser Herd von verbrecherischer Agitation in Belgrad ungestraft bleibt«.

Zu dem Brief des habsburgischen Kaisers gehörte als Beilage ein Memorandum des österreichisch-ungarischen Außenministeriums. Es handelte sich um eine aktualisierte und im Ton erheblich verschärfte Fassung einer Denkschrift, die schon vor dem Attentat fertiggestellt worden war.4 Memorandum und Denkschrift waren dazu bestimmt, dem Deutschen Reich die Lage auf dem Balkan nach den beiden Balkankriegen von 1912/13 darzulegen und es für eine Außenpolitik im Sinne Wiens zu gewinnen, die auf der Überzeugung vom äußerst aggressiven Charakter der Politik Serbiens, vor allem aber Russlands basierte. Deren Politik ziele nicht allein auf die Zerstörung des Habsburgerreiches. Hauptsächlich ginge es ihr darum, den Widerstand Deutschlands gegen die von Russland seit langer Zeit mit allen (wachsenden) Potenzen des riesigen Reiches angestrebte »politische und wirtschaftliche Suprematie« zu verhindern. Es läge deshalb im gemeinsamen Interesse Deutschlands und Österreichs, »im jetzigen Stadium der Balkankrise rechtzeitig und energisch einer von Rußland planmäßig angestrebten und geförderten Entwicklung entgegenzutreten, die später vielleicht nicht mehr rückgängig zu machen wäre«. In einem kurzen schriftlichen Nachtrag zu dem Memorandum5 wurde das Attentat als neuerlicher »Beweis für die Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen der Monarchie und Serbien« dargestellt. Die Monarchie stehe damit vor der »Notwendigkeit«, »mit entschlossener Hand die Fäden zu zerreißen, die ihre Gegner zu einem Netze über ihrem Haupt verdichten«.

Brief und Memorandum wiesen eindeutig darauf hin, dass Wien einen entscheidenden militärischen Schlag gegen Serbien für legitim und angebracht erachtete. Nach dem Bericht des österreichisch-ungarischen Botschafters war Wilhelm II. nach der Lektüre die Stoßrichtung der Schriftstücke sofort klar. Er wisse zwar um die »Friedensliebe« Franz Josephs. »Wenn wir aber wirklich die Notwendigkeit einer kriegerischen Aktion gegen Serbien erkannt hätten, so würde er [Kaiser Wilhelm] es bedauern, wenn wir den jetzigen, für uns so günstigen Moment unbenützt liessen.«6

In Gesprächen mit dem Kaiser schlossen sich politische und militärische Führer noch am gleichen Tag der Auffassung an, »dass wir auch in ernster Stunde Österreich-Ungarn nicht verlassen würden. Unser eigenes Lebensinteresse erfordere die unversehrte Haltung Österreichs«7. Auf der Grundlage dieses Einverständnisses überließ man die Frage, wie mit Serbien verfahren werden solle, ausdrücklich allein Österreich-Ungarn – mit der fadenscheinigen Begründung, es solle dadurch vermieden werden, »dass sich der österreichisch-serbische Streit zu einem internationalen Konflikt auswachse«.8 Mit dieser Entscheidung, die in den Geschichtsbüchern als »Blankoscheck« bezeichnet wird, ging das Deutsche Reich bewusst das nicht unbeträchtliche Risiko ein, einen lokalen Konflikt anzufeuern, der sich zu einem großen europäischen Krieg ausweiten konnte. Die Unterstützung eines Angriffs Österreich-Ungarns auf Serbien barg nicht nur die Gefahr einer militärischen Konfrontation zwischen Deutschland und Russland, sondern auch zwischen Deutschland und Frankreich in sich. Es musste dann auch damit gerechnet werden, dass England nicht unbeteiligt bleiben und sich auf die Seite Russlands und Frankreichs stellen würde. Dass führende deutsche Politiker ein klares Bewusstsein von diesen möglichen Weiterungen hatten, wird gerade dort deutlich, wo sie die Gefahren dementierten oder relativierten, z. B. wenn Wilhelm II. am 6. Juli darauf verwies, der Zar werde sich schon nicht auf die Seite von »Prinzenmörde[n]« stellen und Russland und Frankreich seien noch nicht kriegsbereit.9 Oder wenn es über Gottlieb von Jagow, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, heißt, er habe noch am 25. Juli gegenüber Theodor Wolff, Chefredakteur des Berliner Tageblatt, die diplomatische Situation als sehr günstig eingeschätzt, denn »weder Russland noch Frankreich, noch England wollten den Krieg«.10

Für den Fall eines solchen »großen« Krieges sahen die längst ausgearbeiteten strategischen Pläne in Deutschland zunächst einen schnellen und massiven Feldzug gegen Russlands Verbündeten Frankreich vor, um sich nach dessen Ausschaltung mit aller Kraft dem Zarenreich zuzuwenden. Genau deshalb wurde in Berlin ein rasches und effektives militärisches Vorgehen Wiens gegen Serbien aber auch als eine Chance gesehen, abermals ohne einen großen Krieg einen wichtigen außenpolitischen Erfolg über Russland zu erringen. Deutsche Politiker drängten Österreich-Ungarn dazu, den militärischen Schlag gegen Serbien möglichst umgehend durchzuführen, um das Zarenreich frühzeitig vor vollendete Tatsachen zu stellen. Sie sahen in dem Attentat eine seit längerem erhoffte günstige Gelegenheit, Russland als Schutzmacht Serbiens, damit als Macht auf dem Balkan und folglich als Weltmacht nachhaltig zu schwächen. Sie hofften, dass das autokratische Russland letztlich doch nicht bereit sein würde, dem (angeblichen) Unterstützerstaat eines Mordkomplotts gegen ein Mitglied der Habsburger-Dynastie beizustehen, oder dass es von diesem Beistand durch die Entente-Mächte England und Frankreich abgehalten werden würde. Sollte es aber doch zu einem großen Krieg kommen, so müsse man ihn eben ausfechten, weil er früher oder später sowieso unvermeidlich sei. Noch habe man militärisch eine relativ günstige Position, die sich aber in den kommenden Jahren wegen massiver Aufrüstungen in Russland zu verschlechtern drohe. So machten Berlin und Wien dem Zarenreich eine Alternative auf, die auf eine diplomatische Niederlage ersten Ranges oder Krieg hinauslief.

Durch den »Blankoscheck« außenpolitisch abgesichert, stellte die österreichisch-ungarische Regierung nach einigen Verzögerungen, die durch innenpolitische Auseinandersetzungen und diplomatische Erwägungen bedingt waren, am Abend des 23. Juli Serbien ein auf 48 Stunden befristetes Ultimatum, das die rigide Verfolgung der Schuldigen verlangte. Die Forderungen Wiens waren bewusst mit so weitgehenden Eingriffen in serbische Souveränitätsrechte verbunden, dass sie von dem Balkanstaat nicht ohne erheblichen Gesichtsverlust hätten erfüllt werden können. Mit der Übergabe der österreichisch-ungarischen Note an Serbien wurde definitiv der Weg in den Krieg eingeschlagen.11 Mit seinen harten Forderungen und mit seiner sehr knappen Fristsetzung zeugte das Ultimatum davon, dass es auf Nicht-Erfüllung und damit auf Krieg angelegt war. Es war das unübersehbare Signal, dass Wien den Krieg gegen Serbien wollte, ein Entschluss, der schon Anfang Juli festgestanden hatte und von dem man sich nach dem 23. Juli auf keinen Fall durch Vermittlung anderer Mächte (z. B. Englands) mehr abbringen lassen wollte. Eine Mehrheit der entscheidenden Politiker des Habsburger Reiches meinte, keine andere Wahl zu haben, als Serbien per Krieg in die Schranken zu weisen, um den eigenen Großmachtstatus zu erhalten. Der »Blankoscheck« aus Berlin erweiterte den Spielraum gegenüber der Erwartung, dass Russland dies wohl nicht hinnehmen würde.

Berlin stellte das harsche Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien als unausweichlich dar, wolle die Donaumonarchie »nicht auf die Stellung als Großmacht endgültig Verzicht leisten«. Weil dies zudem eine »völlige Isolierung des Deutschen Reiches« bedeuten würde, sei Deutschlands Position eindeutig vorgezeichnet. Allein Russland trage mit seiner Unterstützung Serbiens die Verantwortung, wenn es zu keiner »Lokalisierung« des Konfliktes komme und ein europäischer Krieg entstehe.12 Umgekehrt implizierte dieser Standpunkt allerdings, dass Russland seinen Großmachtstatus aufgeben, dass es nicht zu seinem Verbündeten stehen, sondern Wien freie Hand bei seinem Vorgehen gegen Serbien lassen solle. Die diplomatische Redeweise von der »Lokalisierung« des Konfliktes war in dem Sinne anmaßend, weil sie, verkündet von einer Großmacht, das beabsichtigte Herausdrängen einer konkurrierenden anderen Großmacht aus einer auch von ihr beanspruchten Einflusssphäre als Konfliktvermeidungsstrategie darstellte.

Serbien kam dem österreichisch-ungarischen Ultimatum weit entgegen. Nur in einem Punkt gab es nicht nach: Es war nicht bereit, Beamte aus dem Nachbarstaat an der juristischen Verfolgung der Attentäter bei sich zu beteiligen. Dies war für Österreich hinreichend, um am 25. Juli die diplomatischen Beziehungen zu Serbien abzubrechen, ihm am 28. Juli 1914 offiziell den Krieg zu erklären und am 29. Juli die ersten Granaten auf Belgrad abzuschießen. Daraufhin mobilisierte Russland zunächst seine Truppen an der Grenze zu Österreich und verkündete schließlich als erste der Großmächte am 30. Juli die Generalmobilisierung seines Heeres. Österreich-Ungarn machte am 31. Juli mobil. Am 1. August erklärte das Deutsche Reich Russland den Krieg. Deutschland und Frankreich riefen am selben Tag die Mobilmachung aus. Am 3. August besetzte das Deutsche Reich Luxemburg und erklärte Frankreich den Krieg. Nachdem Deutschland am selben Tag in das neutrale Belgien, das ihm das Recht zum Durchmarsch verweigert hatte, einmarschiert war, um Frankreich auch von Norden angreifen zu können, erklärte England als Schutzmacht Belgiens am 4. August Deutschland den Krieg: ein – nach deutscher Sprachregelung – »perfider« Schritt, mit dem das Deutsche Reich in seinen Kriegsplanungen nicht unbedingt gerechnet hatte. Schließlich erklärte Österreich-Ungarn am 6. August Russland den Krieg.

Die wechselseitigen Bündnisverpflichtungen, die die europäischen Staaten in den vorausgegangenen Jahren eingegangen waren und die sich innerhalb der zwei Blöcke der Entente und der Mittelmächte verfestigt hatten, traten in dieser Situation scheinbar wie Automatismen in Kraft. Diese »Automatismen« waren aber eben von den Politikern gewollt. Kein Staat würde einfach »automatisch« wegen einer vertraglichen Verpflichtung in den Krieg ziehen, wenn ihm der Beistand nicht noch immer aus aktuellen eigenen Interessen einleuchten würde.13 In der konkreten politischen Krisensituation wirkten zudem die Kriegspläne, die in den Schubladen der Generalstäbe lagen, selber kriegstreibend. War man sich doch allseits bewusst, wie sehr es darauf ankam, möglichst schnell die Truppen zu mobilisieren, um entscheidende zeitliche Vorsprünge vor dem Gegner zu haben bzw. ihm keine zeitlichen Vorsprünge zu gönnen.

Somit standen sich gut einen Monat nach dem Attentat von Sarajewo die fünf wichtigsten europäischen Großmächte mit Millionenheeren kriegerisch gegenüber: Die Mittelmächte, das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn, auf der einen, die Triple Entente (Russland, Frankreich und England) auf der anderen Seite. Im weiteren Verlauf des Krieges traten auf der Seite der Mittelmächte die Türkei (seit Oktober 1914) und Bulgarien (seit Oktober 1915) in den Krieg ein. Andere europäische Staaten wie Italien (eigentlich Deutschlands und Österreich-Ungarns enger Partner im Dreibund), Rumänien und Portugal blieben zunächst neutral und warteten ab. Italien schloss sich dann, nachdem ihm territoriale Zugewinne in Aussicht gestellt worden waren, 1915 der Entente an. Rumänien und Portugal traten 1916 auf der Seite der Entente in den Krieg ein. Die USA griffen schließlich 1917 aktiv in den Krieg ein. In Europa blieben lediglich die skandinavischen Staaten, Spanien, Holland, die Schweiz, Luxemburg und Albanien während des gesamten Krieges neutral.

Jenseits der Frage nach der generellen Kriegsschuld lassen sich bei der Julikrise verschiedene Ebenen identifizieren, auf denen jeweils verschiedene Staaten aktiv am Weg in den Krieg beteiligt waren. Mit Blick auf das unmittelbare Geschehen im Juli 1914 kommt gewiss der deutschen Politik entscheidende Bedeutung zu, weil Österreich-Ungarn ohne die Unterstützung und ohne das Drängen aus Berlin den Konflikt mit Serbien höchstwahrscheinlich nicht derartig rücksichtslos gegen die russischen Interessen eskaliert hätte. Wie sich allerdings Frankreich und England auf das Geschehen bezogen, legt zumindest den Verdacht nahe, dass ein kontinentaleuropäischer Krieg auch ihnen in ihr außenpolitisches Kalkül passte. So hätte etwa ein frühzeitiges und unmissverständliches Signal aus England, dass man an der Seite Frankreichs und Russlands in den Krieg eintreten werde, das Deutsche Reich davon abbringen können, mit einer neutralen Haltung der Briten zu rechnen. Die französische Regierung war darüber erleichtert, dass nicht sie Deutschland, sondern Deutschland Frankreich den Krieg erklärt hatte, schweißte doch diese defensive Rolle nicht nur die Nation für den anstehenden Krieg zusammen, sondern trug auch dazu bei, dem Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Mittelmächte entgegenzuwirken.14 Wenn sich der Blick hingegen auf den schon lange schwelenden »Krisenherd« Balkan richtet, so tritt der von eigenen Machtinteressen bestimmte Umgang der beiden Großmächte Österreich-Ungarn und Russland mit den slawischen Völkern in den Vordergrund. Beide wollten von dem Machtzerfall des Osmanischen Reiches auf dem Balkan profitieren, aus panslawistischen Erwägungen, aus Gründen territorialer Expansion, aus strategischen Gründen oder zwecks Verhinderung zu großer neuer Staaten in ihrer Nachbarschaft. Von einer noch höheren, nämlich weltpolitischen Warte aus, gerät schließlich das gesamte System der imperialistischen Konkurrenz in den Blick, das durch den ökonomischen und politischen Aufstieg des Deutschen Reiches erschüttert wurde. Waren doch die traditionellen Großmächte nicht bereit, dem neuen Konkurrenten den Status einzuräumen, den dieser aufgrund seiner Potenzen für sich beanspruchte. Das Attentat von Sarajewo wurde von der deutschen Regierung als eine Gelegenheit betrachtet, um sich zu einem von ihr noch als günstig betrachteten Zeitpunkt aus einer außenpolitischen Defensive zu befreien, in die sie in den Jahren und Jahrzehnten vorher geraten war. Theodor von Bethmann Hollweg, der Reichskanzler, und Gottlieb von Jagow, der Staatssekretär des Äußeren, glaubten, das Attentat von Sarajewo benutzen zu können, um den Zusammenhalt der deutschen Gegner diplomatisch zu sprengen und die angebliche »Einkreisung« des Reiches zu überwinden. Für den Fall eines Misslingens dieser Strategie gingen sie das Risiko eines Krieges bewusst ein. Hierin liegt »die initiierende Verantwortung des Deutschen Reiches für den Verlauf der Julikrise und den Ausbruch des Ersten Weltkrieges«15. Das politisch-strategische Denken in Berlin war von einer gewissen Jetzt-oder-nie-Mentalität bestimmt. Man hielt in fatalistischer Manier einen großen Krieg zwischen den europäischen Kontinentalmächten für unumgänglich und setzte sich selbst unter einen verhängnisvollen Zeitdruck, weil man den entscheidenden militärischen Erfolg durch ein möglichst schnelles und massives Losschlagen erzielen wollte.16

Die europäische Mächtekonstellation im Sommer 1914

Der Friede vor dem Krieg

Vor dem Sommer 1914 hatten sich die großen europäischen Mächte über mehrere Jahrzehnte hinweg in keiner direkten militärischen Konfrontation gegenübergestanden. Der letzte Krieg unter ihnen hatte 1870/71 zwischen Frankreich und dem Deutschen Bund stattgefunden. Weiter zurück lagen der preußisch-österreichische bzw. italienisch-österreichische Krieg (1866) und der Krimkrieg (1853–56) zwischen Russland einerseits und einer Koalition aus Osmanischem Reich, Großbritannien, Frankreich und Sardinien andererseits. Die napoleonischen Kriege des frühen 19. Jahrhunderts waren der letzte »große« Krieg in Europa gewesen, an dem fast alle europäischen Staaten beteiligt waren und an dessen Ende der Wiener Kongress jene Mächtearchitektur festlegte, die erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ins Wanken geriet.