Der Erzählinstinkt - Werner Siefer - E-Book

Der Erzählinstinkt E-Book

Werner Siefer

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Beschreibung

Jeder von uns hat ihn, den Erzählinstinkt: Wir alle organisieren unser Gedächtnis, unsere Ziele und Wünsche, unser gesamtes Leben auf narrative Weise. Erzählend verorten wir uns in Zeit und Raum. Doch nicht nur Individuen, ganze Zivilisationen gründen auf Mythen, die Zusammenhang und Sinn stiften. Auf die Frage, was uns zu Menschen macht, gibt es viele Antworten: unser Verstand etwa oder die Fähigkeit zur Kooperation. Werner Siefer tritt den Beweis an, dass unsere Hilfsbereitschaft den Erzählinstinkt einst begründete. Eindrücklich zeigt er, warum eine gute Erzählung alles vermag: von der Überwindung persönlicher Krisen bis zur Schaffung des Weltfriedens.

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Werner Siefer

Der Erzählinstinkt

Warum das Gehirn in Geschichten denkt

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfältigung des Buches oder von Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung – mit Ausnahme der in den §§ 53, 54 URG genannten Sonderfälle –, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2015 Carl Hanser Verlag München

http://www.hanser-literaturverlage.de

Herstellung: Thomas Gerhardy

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie, Zürich

Datenkonvertierung E-Book: Kösel Media, Krugzell

ISBN 978-3-446-44473-7

E-Book-ISBN 978-3-446-44474-4

Inhaltsverzeichnis

Ich bin ein Erzähler!

1 Der Ursprung des Erzählens

2 Magie im Theater des Ich

3 Die Dichtung und die Welt

4 Die Geschichten in der Wiege

5 Mein Ich aus den Geschichten

6 Die Storys der Nationen

Meine Erlösung

Ich bin ein Erzähler!

Lieber Maurice,

diese Idee wird Dich interessieren, die mir an einem helllichten Mittag ins Bewusstsein schoss. Ich schwöre, dass es so war und dass ich erst später erfahren habe, dass andere mir zuvorgekommen waren!

Die Sonne stand in ihrem Zenit, und bei ihr schwebten Castor und Pollux, da dachte ich über das Erzählen nach. Ich saß in einem italienischen Café, und unter all dem Gerede und Gemurmel und Lachen dort fiel mir ein, dass der Mensch vor allem anderen ein Erzähler ist. Mit einem Mal durchdrang mich die Erkenntnis, dass keiner der hier Anwesenden leben könnte, ohne Geschichten zu erzählen. Aber wo fange ich an, Dir davon zu berichten? Am besten einfach irgendwo.

Es war also in besagtem Café, es muss in einer Arbeitspause gewesen sein. Wir saßen an einem runden Tischchen wie um ein kleines Feuer versammelt, das unsere Aufmerksamkeit fesselte. Aber natürlich gab es kein Lagerfeuer im Café, so etwas ist selten.

Wir sitzen also im Kreis, der Kaffee kommt. Wir rühren ein bisschen in den Tassen oder beschäftigen uns mit irgendetwas, denn es gibt für diesen Augenblick nichts zu tun. Es ist ein Moment, den man fürchten kann, nicht nur, weil er weitgehend gestaltlos ist und einen Übergang markiert. Die Sekunde, in der eben noch Geschäftigkeit die Gedanken, die Blicke, Absichten und das Reden bestimmte und auf den Lippen nachzuhallen scheint – und plötzlich tut sich dieses kleine Nichts auf, das noch keine Langeweile ist, aber kurz davor. In diesem Moment geht es meistens los: das Erzählen. Wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass es sich manchmal auch ohne diese Unterbrechung Bahn bricht.

Ich verbringe die Pause mit meinen Kollegen und Kolleginnen, zumeist jüngeren Frauen, die nun also, dem Büro auch gedanklich entflohen, fortwährend Geschichten erzählen. Nicht aus Langeweile, nicht um die Zeit totzuschlagen oder Erfahrungen auszutauschen. Sie erzählen sich Geschichten, weil ihnen einfach danach ist. Zumindest schien mir das so. Es geht um Filme, Bücher, neue Apps, Kochen und Backen oder wie es war, als Maren ihr Hochzeitskleid kaufte. Geplänkel, Witziges, Trauriges und manchmal Berührendes. Ich sitze dann da und höre zu. Das mache ich gerne.

Einmal ging es zum Beispiel um Verhütung. „Die Pille“, sagte Jackie, „verändert dein emotionales Erleben“. Sie würde das Kontrazeptivum daher nicht mehr nehmen und fühle sich nunmehr besser.

Chemie sei auch nicht ihr Ding, bemerkte daraufhin Maren, sie würde lieber regelmäßig ihre Temperatur messen, „so lerne ich meinen Körper viel besser kennen“. Und wenn sie im Zweifel sei, dann ließen sie und ihr Freund, der ihr zukünftiger Mann sein würde, „es“ eben.

Danach geht es darum, dass die Hormone das Riechvermögen verändern und eine Frau einen Mann anders wahrnehme, je nachdem, ob sie die Pille schlucke oder nicht. Was aber, wenn die Frau die Pille absetzt und ihren Partner plötzlich nicht mehr riechen könne? Grinsen und Gelächter.

Astrid sagt, dass ihr Mann, ein Tenor, sich nach abgeschlossener Familienplanung sterilisieren ließ. Dabei habe er eine ungeheure Angst gehabt, seine Tonlage zu verlieren. Als er nach dem Eingriff aus der Narkose aufwachte, sei er hochgeschreckt und habe sofort ein paar Töne gesungen. Er habe sich seiner selbst und seiner männlichen Stimme versichern wollen.

„Dabei ändert sich die Stimmlage erwachsener Männer nach einer Sterilisation gar nicht mehr“, erklärt Astrid, lächelt und nippt an ihrer Tasse.

Das habe sie auch vor, sagte Maren. Sie meint das Sterilisieren, und sie meint sich nicht selber, sondern ihren Partner, der sich operieren lassen solle, sobald sie ihre gemeinsamen Kinder erst einmal bekommen hätten. Alle kichern, da mit einem Mal nicht klar ist, ob ihr zukünftiger Ehemann von seinem Schicksal überhaupt schon weiß.

Bei einem anderen Treffen in einer Mittagspause befragen die Frauen eine Kollegin, Mutter zweier Mädchen, über die Schwangerschaft und das Kinderkriegen aus. Wir sitzen an kleinen Tischen draußen, die Sträucher und Pflanzen spenden uns Schatten in der Mittagssonne. In der Schiebetür steht der Wirt, Barista Severino, und zeigt seinem Vater auf dem Mobiltelefon Bilder seiner neugeborenen Tochter und kommentiert diese in einer Mischung aus völlig akzentfreiem Deutsch und Italienisch.

„Hattest du schlimme Schmerzen?“, will Jackie von der Kollegin Carmen wissen.

Carmen ist überrascht. Nach Geschichten über ihre Geburt fragen sie sonst nur ihre eigenen Kinder, sagt sie, und zwar meist an deren Geburtstag. Nein, an schlimme Schmerzen könne sie sich nicht erinnern. Sie hat die Beine übereinander geschlagen und umklammert mit beiden Händen die Tasse. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Sie erzählt, dass sie die Geburt mehr wie einen Anstieg auf einen Berg verstand. Um ihn zu besteigen, musste sie einfach nur Schritt auf Schritt tun, immer ein Stückchen weiter.

„Carmen, die Bergführerin“, wirft Jackie ein, was passt, weil Carmen im Winter mit Begeisterung auf Skitouren geht.

Eine solche Anstrengung, sagt die junge Mutter, könne weh tun, doch sei das nicht das Wesentliche. Es gehe vielmehr darum, über den Berg zu kommen. Der eigene Anteil an dem Prozess der Geburt sei ohnehin eher gering. Eine Schwangerschaft sei ein Vorgang, der über einen komme, dessen Ablauf man nicht in der Hand habe. Die Natur habe ihn ausgestaltet, lange bevor wir alle hier auf die Welt gekommen seien.

„Als Frau kann man nur demütig und neugierig beobachten, was da mit dem eigenen Körper vor sich geht.“

Beim zweiten Kind habe sie die Signale dieser Natur bereits besser zu deuten gewusst als die Ärzte und Hebammen im Krankenhaus. Sie lag mit Wehen da, wissend, dass die Geburt beginnt. Obwohl sie sicher war, dass es bald losgehen würde, hätten die Helfer sich mit der festen Überzeugung verabschiedet, es würde noch dauern, bis die Geburt einsetzte. Sie wollten lieber erst mal eine Kaffeepause machen. Minuten später musste der Vater sie in größter Eile zurückholen, denn die Geburt begann sofort, nachdem die Ärzte zum Kaffeeautomaten aufgebrochen waren, ganz wie Carmen vorhergesagt hatte.

„Du Armer!“, wirft Sandra nun mit gespieltem Bedauern in meine Richtung ein, die Tassen sind längst geleert. „Er muss sich andauernd diese Frauengeschichten anhören.“

Ich sage nicht, dass ich stolz bin, dass die Runde mich als ihren stillen Zuhörer akzeptiert hat, doch freue ich mich darüber. Denn die Gesellschaft erzählender Frauen gehört für mich zu den ältesten Kindheitserinnerungen. Die ersten Jahre wuchs ich nicht bei meinen Eltern auf, sondern bei meiner Großmutter, meiner Tante und deren Tochter, meiner Cousine.

Ich erinnere mich gut an das einfache Bauernhaus, mit Stube, Küche und dem langen Flur, von dem eine Tür direkt in den Stall führte. Tiere waren da aber schon länger keine mehr, abgesehen von Hühnern und Katzen. Im Schweinekoben lagerte jetzt Kohle. Der schiefe Backsteinboden mit den betonierten Futtertrögen, wo einst drei oder vier Kühe gestanden hatten und gemolken wurden, war mit Gerümpel vollgestellt und einem Öltank, der mit fettigem dunklen Staub bedeckt war.

Wir Kinder wurden in der Stube gebadet, weil es kein richtiges Badezimmer gab. Nicht selten machte sich meine Cousine einen Spaß daraus, kreischend um die graue Metallwanne herumzulaufen, das Scheffle. Vielleicht hasste sie Wasser und Seife oder wollte einfach nur wetzen und gefangen werden. In der Ecke flimmerte der Fernseher. Meine Oma saß auf dem Sofa auf ihrem angestammten Platz und schaute zu, wie ihre Tochter ihre Enkelin teils fluchend, teils Verärgerung vorspielend einzuholen suchte.

Von diesem Platz am Ende des Sofas mit den bestickten Kissen im Rücken, neben dem im Winter rußenden, fast glühenden Ölofen, gegenüber dem Schrank mit den Heiligenbildchen und den versilberten Kreuzen und Rosenkränzen darin, dazwischen die Türe zur Stube mit dem Bild ihres im Krieg gefallenen Mannes darüber, meines Großvaters, den ich anders nie zu Gesicht bekommen hatte als auf diesem romantisch verwischten Schwarz-Weiß-Foto, von diesem Platz aus hatte sie alles im Blick.

Manchmal musste ich ihr hier die glatte, schwartige Haut am Rücken kratzen, einem großen Rücken, wie mir schien, während sie sich an meinen Fingern rieb, wie ein Bär am Baum, jedenfalls so, wie ich es von Bär und Baum im Fernsehen gesehen hatte. „Kratz“ mir den Buckel!“, bat sie und machte den oberen Knopf ihrer Schürze mit dem blauen Blümchenmuster auf. „Oh, ja, a bissl mehr links, mhm, ja, a bissl ’nauf, a bissl rechts, do, ja genau do!“ Dabei kniff sie ihr Gesicht zu einer Grimasse, spitze ihren Mund, kräuselte ihren Nasenrücken, wie meine Mutter sagt, ich würde heute meinen Nasenrücken kräuseln, kniff die Augen zusammen und gab Töne des Entzückens von sich.

Wenn der Fernseher abgeschaltet war, dann hätte sie von der Feldarbeit erzählen können, von der Mühsal, als Frau und Mutter allein einen kleinen Bauernhof zu bewirtschaften und vier Kinder großzuziehen, weil der Mann auf dem Foto im Krieg gefallen war, in Lothringen. Sie hätte von meinem Großvater erzählen können oder von meinem Onkel, einem Hallodri, wie sie später sagten, der mich öfter in die Wirtschaft zu seinen Zechbrüdern mitnahm, der ein teures Fernglas, das die Amerikaner auf dem Hof vergessen hatten, kurzerhand verscherbelt und das Geld verjubelt hatte. Aber das erzählte sie nicht. Meine Großmutter erzählte mir nicht von ihrem Leben.

Der Zauber des Erzählens

All das dachte ich nicht, während ich zuhörte. Aber ich hätte es denken können und ganz sicher fühlte ich es, ohne dass meine Empfindungen dabei die Gestalt von Wörtern angenommen hätten. Irgendwann unter dem brüderlichen Dioskurenpaar müssen mir diese Gedanken über das Erzählen gekommen sein und darüber, welcher seltsame Zauber ihm innewohnt.

Geschichten lassen eine enge soziale Gemeinschaft unmittelbar spürbar werden. Sie wecken Erinnerungen oder Phantasien. Sie sind allgegenwärtige Begleiter unseres Lebens und stehen doch – geht es nicht gerade um große Literatur im zwirnfeinen Kulturbetrieb – kaum einmal im Mittelpunkt. Erzählen wird oft übersehen und ist doch so eine Art Grundeinstellung. Es ist das, was Menschen freiwillig und mit Lust machen. Gibt es sonst nichts zu tun, oder ist die Arbeit nur Routine, die kein weiteres Nachdenken erfordert, dann beginnt das Plappern, das Ratschen und das Quasseln.

Beim Spazierengehen, im Aufzug, beim Rauch einer Zigarette in einem zugigen Eingang, beim Erdbeerpflücken, beim Reparieren eines Wasserhahns, im Bett oder an der Bushaltestelle. Über den Zaun hinweg und durchs Mobiltelefon, im Kino und im Auto, am Küchentisch, in Festhallen und in Konferenzräumen, im tiefsten U-Boot und in der höchsten Raumstation. Das Lagerfeuer als klassisch-kitschiger Ort, an dem Menschen Storys zum Besten geben, ist überall, wo Menschen sind. Sie erzählen immer und so selbstverständlich, dass es der Rede nicht Wert zu sein scheint, wie man so schön sagt.

Das Wort ist nicht mehr bei Gott allein

In der Bibel heißt es, dass am Anfang das Wort gewesen sein soll, und dieses Wort soll bei Gott gewesen sein. Heute lässt sich sagen: Bei dem Wort blieb es nicht – und es blieb auch nicht bei Gott. Das musste auch der französische Philosoph und Schriftsteller Roland Barthes (1915 – 1980) feststellen, der vor der quasselnden Menschheit fast zu kapitulieren schien. In seinem Buch Das semiologische Abenteuer schrieb er:

Die Menge der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunliche Vielfalt an Gattungen, die wieder auf verschiedene Substanzen verteilt sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet erschiene, ihm seine Erzählungen anzuvertrauen: Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild […], der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch. Außerdem findet man die Erzählung in diesen nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften; die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit; nirgends gibt oder gab es jemals ein Volk ohne Erzählung; alle Klassen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen, und häufig werden diese Erzählungen von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Kultur gemeinsam geschätzt: Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur; sie ist international, transhistorisch, transkulturell und damit einfach da, so wie das Leben.

Wir leben in der Zeit des in seiner Bedeutung weiterhin explosionsartig wachsenden Internets. Das hat zwar eine Krise der Zeitungen und Zeitschriften mit sich gebracht, der womöglich eine Krise des gedruckten Buches folgen wird, aber gleichzeitig eine Blütezeit neuer Erzählformen (nicht zu verwechseln mit neuen Erzählungen). Die Menschen jagen Tweets durch den Äther, sie berichten zu Milliarden in Facebook über ihre kleinen und großen Erlebnisse. Und Webtagebücher, kurz Blogs, tummeln sich im Netz in einer millionenfachen Vielfalt. Kurzum, das Web, so technisch es daherkommen mag, es steht für die Konjunktur des Erzählens.

Dabei war die Erzählung eigentlich nie aus der Mode gekommen. Die Helden des antiken Dichters Homer, der, wahrscheinlich im 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr. lebte und die Ilias oder die Odyssee verfasste, sind 3500 Jahre alt und prägen unsere Kultur bis heute, über fast vier Jahrtausende hinweg. Odysseus existiert, Achilles existiert und Helena existiert – in den Figuren der schönsten Frau, des listigsten Helden und des unverwundbaren, strahlenden Kämpfers.

Das Glaubensbekenntnis der Abrahamitischen Religionen, der Christen, der Juden, der Moslems, das, wonach mehr als die halbe Menschheit ihr Leben ausrichtet, was Alltagskultur und Architektur des halben Globus seit Jahrtausenden prägt, das gründet auf gesammelten Geschichten – in dieser Form begegnen uns Erzählungen häufig als Erstes. Die Texte in den heiligen Büchern widmen sich den für den Menschen essenziellen Fragen nach der Entstehung der Welt, des Menschen selbst und danach, wie moralisches Handeln in der Gesellschaft aussehen könnte.

Der Homo narrans

Es gibt für all dies gute Begründungen. Erzählungen zu verfassen oder sie zu rezipieren, das ist die These, die ich hier vertrete, ist alles andere als ein unterhaltsames Spiel, ein Zeitvertreib, wenn man gerade nichts Besseres zu tun haben sollte. Es handelt sich dabei vielmehr um einen Grundinstinkt des Menschen, ein Bedürfnis, das fortwährend nach Erfüllung strebt, wie sonst nur Essen, Trinken, Schlafen, Menschen um sich zu haben und Sex.

So beiläufig und alltäglich es auch daherkommen mag, was den Mündern tagtäglich entströmt, was in Zeitungen, Büchern, Blogs und den Abermilliarden SMSen geschrieben steht, so viele abwertende Begriffe die Sprache auch kennen mag für langweiligen oder bösartigen Tratsch, zu dem sich Worte kombinieren lassen. All dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Erzählen einen höheren Sinn hat, der weithin und viel zu lange und von viel zu vielen übersehen wurde.

Denn nicht Vernunft oder Analyse, nicht Intuition oder Gefühle, sondern das Erzählen ist die wichtigste Form menschlichen Denkens. Wir organisieren alle unsere Erlebnisse, unser Gedächtnis, unsere Ziele und Wünsche, Begründungen, Rechtfertigungen, Entschuldigungen, Ausreden, unser gesamtes Leben auf eine narrative Art und Weise.

Nicht Logik, nicht Mathematik oder Physik vermögen die Ungewissheiten zu lösen, denen der Mensch in einer sozialen Gemeinschaft ausgesetzt ist. Nur Erzählungen liefern einen einigermaßen verlässlichen Kompass in der vagen Welt des Miteinanders, wo sich Koalitionen häufig ändern. Das ist deswegen von zentraler Bedeutung, weil der Mensch in der Gemeinschaft anderer Menschen entstand, sie waren und sind seine wichtigste biologische Umwelt. Gute Erzähler navigieren also besser durch die Untiefen der sozialen Gemeinschaft, und das ist ein evolutionärer Vorteil. Den US-Philosophen Walter Fisher bewog das dazu, den Menschen umzutaufen. Kein Homo sapiens sei dieses Wesen, sondern ein Homo narrans, ein erzählender.

Dieser Homo narrans reißt ständig die Klappe auf. Viel wichtiger aber ist, dass das Erzählen von Geschichten seine psychologische Grunddisposition darstellt. Fisher war davon überzeugt, dass Menschen sich selbst und ihre Umwelt weniger durch die Anwendung von Vernunft oder vorurteilsfreie Beobachtung erfahren als durch das Erzählen glaubhafter Geschichten. Wir weben uns das Bild der Welt und unserer Mitmenschen aus Erzählungen zusammen. Der schottisch-amerikanische Philosoph Alasdair McIntyre war gar sicher, der Mensch sei ein Geschichten erzählendes Tier, ein „storytelling animal“.

Wer bin Ich? Die Antwort ist eine Erzählung

Nicht nur die Bibel gibt in ihren Texten Auskunft über die Herkunft des Menschen, die Ursprungsmythen aller Völker dieser Welt tun das. Und jeder Einzelne gibt sich selbst, für sich ganz persönlich, Auskunft über sein Leben, und zwar in Form von Geschichten. Sie sind es, die das Ich, seine Existenz und seine Identität beschreiben und die Fragen nach seiner Vergangenheit und seiner Zukunft beantworten. Wer bin ich? Was ist mir wichtig? Wie wurde ich zu dem, der ich bin? Wohin wird mein Leben sich wenden?

Auskünfte darüber erteilt die Autobiografie, die natürlich erzählerischen Gesetzen folgt, wie der französische Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre (1905 – 1980) wusste: „Der Mensch ist immer ein Geschichtenerzähler, er lebt umgeben von seinen eigenen Geschichten und den Geschichten seiner Mitmenschen. Er betrachtet alles, was ihm passiert, in Bezug auf diese Geschichten, und er versucht, sein Leben zu leben, als würde er die Geschichten nacherzählen.“

Ja, wir leben Storys hinterher. Von klein auf lernen Kinder, was dazugehört, um eine eigene Geschichte zu erzählen. Und von jenen Erzählungen, die vom Ich handeln, führt ein direkter Weg zu jenen, die größere soziale Gemeinschaften, Nationen und übernationale Kulturräume einen und prägen. Narrative stiften nationale Identitäten und stellen damit das geistige Instrument bereit, mit dessen Hilfe der Mensch Zivilisationen schafft: Sie spannen mit ihrer zauberhaften Fernwirkung viele Individuen über große Zeit- und geografische Räume hinweg zu einer Werte- und Sinngemeinschaft zusammen. Erzählungen bilden das zivilisatorische Bewusstsein des Menschen.

Und am Ende wird alles gut

Also sind wir alle Geschichtenerzähler. Auch ich bin ein Geschichtenerzähler, ein Homo narrans. Ich bin es nicht nur, weil ich ohnehin keine andere Wahl habe. Ich bin es gerne, und zwar auf die einfachste denkbare Weise: Ich erzähle gerne Geschichten, ich höre ihnen zu oder lese sie, auf gedrucktem Papier oder dem Bildschirm. Und ich bin überzeugt: Wer sich des Homo narrans nicht gründlich annimmt, wird den Menschen und seine Existenzbedingungen nie verstehen. Erzählungen und die darin ausgedrückten mythischen Bedürfnisse haben – anders als die Religion in Europa – die Aufklärung völlig unbeschadet überstanden. Gerade deswegen steigt ihre Bedeutung, denn sie bleiben nach dem schwindenden Einfluss des Glaubens das einzige Feld, auf dem mythisches, widerspruchsvolles Denken erlaubt bleibt.

Schließlich bekommen selbst die schlimmsten Katastrophen im Erzählen einen Sinn, nämlich den, sich mit der fatalen Wirklichkeit zu versöhnen, eine neu erzählte Zukunft zu entwerfen und anderen davon zu berichten, auf dass sie doch lernen mögen.

So wird am Ende alles gut. Die Logik will es so, dass, wer von seinen Krisen erzählen kann, sie mit den Seinen überstanden haben muss. Doch was, wenn die Geschichte nicht gut, sondern hässlich auszugehen droht, wie so viele menschliche Dramen und Katastrophen? Die Frage und die Antwort schickte die Konstanzer Psychologin Maggie Schauer, die von Bürgerkriegen oder Misshandlungen traumatisierte Menschen mit Hilfe ihrer eigenen Erzählungen heilt, in einer E-Mail und lieferte damit den endgültigen Anstoß zu diesem Buch.

Ganz einfach: Dann war es noch nicht das Ende!

1Der Ursprung des Erzählens

Lieber Maurice,

erinnerst Du Dich an den französischen Kurzfilm Der rote Ballon aus dem Jahr 1956? Er wurde mit dem Oscar prämiert und war bei unseren Nachbarn extrem erfolgreich. Der Film erzählt die Geschichte eines sonderbaren Luftballons. Die Kugel in Kirschrot besitzt einige Eigenschaften, die sie von anderen Luftballons unterscheidet. Sie bewegt sich nicht nur eigenständig, als wäre sie ein Lebewesen mit einem eigenen Willen und eigenen Absichten.

Der Ballon folgt dem Jungen Pascal, der Hauptperson im Film, gespielt vom fünfjährigen Sohn des Regisseurs Albert Lamorisse, auf Schritt und Tritt. Die beiden verbringen viel Zeit miteinander, ziehen durch die Straßen des Arbeiterviertels von Ménilmontant in Paris und haben Spaß zusammen – unbeachtet von den Passanten. Sitzt Pascal in der Schule, wie es sich gehört, schwebt der Ballon vor dem Fenster. Es sieht so aus, als würde das Wesen auf seinen Freund warten oder auf ihn aufpassen. Als seine Großmutter den lästigen Begleiter loswerden will, setzt der Ballon alles daran, wieder mit seinem Freund zusammen sein zu können. Er drückt sich gegen die Fensterscheiben, weil er weiß, dass Pascal sich in der Wohnung aufhält.

Die Geschichte bleibt nicht ohne dramatische Wendung, sonst wäre es ja keine Geschichte. Der rote Ballon wird gestohlen. Wobei das Wort im Sinne von Pascal und auch vom gerührten Millionenpublikum gar nicht passend ist. Der Luftballon wird also entführt, woraufhin der Junge ihn befreit. Die Krise geht weiter: Eine Schar böser Kinder bewirft den Ballon mit Steinen, sodass er am Ende platzt. Die Luft entweicht wie die Seele aus dem Körper, und der Ballon ist nur noch eine leblose schlaffe Hülle. Pascal trauert um seinen Kameraden – und es fällt beim Nacherzählen nicht schwer, diese Geschichte der Absurdität preiszugeben. Denn er trauert natürlich nicht um eine Hülle aus Gummi mit nichts als Luft darin. Er trauert, als sei gerade sein Freund zu Tode gekommen.

Menschen wollen überall Absichten erkennen

Ob das vielleicht lächerlich sein könnte, fragte sich aber weder die Hauptfigur im Film noch das, wie gesagt, millionenfach gerührte Publikum. Auf der Ebene der menschlichen Intuition war es eine Gewissheit, etwas völlig Unzweifelhaftes, dass der aufgeblasene Kunststoff zu einem lebenden Wesen geworden war. Es besaß einen eigenen Willen und Absichten, eigene Emotionen, es ging Bindungen ein und erwies sich als sterblich. Niemand fand das sonderbar, im Gegenteil. Vermutlich löste gerade die gebrochene Poesie beim Publikum Verzückung aus. Wäre der Ballon ein Junge gewesen aus Fleisch und Blut und mit einem Körper und sonst ohne Besonderheiten – die Geschichte wäre so nie verfilmt worden. Es sei denn, wir reden von Freundschaften vom Schlage eines Huckleberry Finn und Tom Sawyer oder der Gang von Pippi Langstrumpf.

Wir Menschen neigen dazu, die Welt lebendig werden zu lassen und machen dabei auch vor dem Unbelebten nicht Halt. Das ist nicht logisch, aber logisch denken wir nicht – oder vielleicht nur dann, wenn wir uns besonders anstrengen. Vernünftig ist es dennoch, wie wir sehen werden, überall Absichten, Gefühle und einen Geist erkennen zu wollen, den man nicht einfach sehen, also sinnlich wahrnehmen kann, sondern erspüren muss. Man kann das eine Art Über-Sinnlichkeit nennen oder eine grundlegende Intuition des menschlichen Daseins.

Der US-Philosoph Daniel Dennett, dessen Hauptgebiet die Bewusstseinsforschung ist, spricht dem Menschen eine intentionale Grundhaltung (intentional stance) zu. Intentional steht für Absichten oder Intentionen, die ein Element in der Umwelt aufweisen könnten. Die Formulierung muss so vage sein, denn ein Element ist nicht notwendigerweise eine Person oder ein Tier. Es kann sich dabei auch um eine Sache handeln, darum geht es ja gerade, dass der menschliche Geist auf zauberhafte Weise Unbelebtes zum Leben erweckt. Der Begriff der Grundhaltung sagt aus, dass Menschen überall Absichten, Wünsche, Pläne oder Gefühle erkennen wollen, sei es nun eine Flut, die Sintflut oder ein Rascheln im Busch, wie es bei Shakespeare heißt. Dennett erklärt es so: „Bei der intentionalen Grundhaltung handelt es sich um eine Strategie, das Verhalten einer Einheit (Person, Tier, Artefakt, was auch immer) zu interpretieren, indem man sie als einen rationalen Agenten behandelt, der in der ‚Auswahl‘ seiner ‚Handlungen‘ durch Berücksichtigung seiner ‚Einstellungen‘ und ‚Wünsche‘ geleitet ist. Die grundlegende Strategie der intentionalen Grundhaltung besteht darin, die fragliche Einheit als Agenten zu behandeln, um dessen Handlungen oder Bewegungsweisen vorzusagen – und damit zu verstehen.“

Sich jagende Dreiecke

Die intentionale Grundhaltung war einer der ersten Forschungsobjekte der frühen Psychologie – vermutlich weil sie so auffällig war. Die Forscher wollten wissen, welche Phänomene sie auslösten. Dazu präsentierten sie Versuchsteilnehmern Dreiecke und Kreise unterschiedlicher Größe, die sich etwa um ein leeres Rechteck bewegten. Man könnte auch „jagten“ zu dieser „Tätigkeit“ sagen, aber das ist es ja wohl erst, was die Zuschauer daraus machten. Sie ließen sich kaum davon abhalten, den geometrischen Objekten und ihrem Bewegungsmuster mentale Haltungen zuzuweisen, also etwa Ziele und Gefühle. Das schien die Folgerung zu gestatten, dass es neben der scheinbaren Fähigkeit zur autonomen Bewegung das Muster der Richtungsänderung sowie die daraus ablesbare mögliche Reaktion der einen Figur auf die Bewegungen der anderen die Annahme von Intentionalität hervorriefen.

Der Eindruck von Belebtheit sei aber nicht zu verwechseln mit Intentionalität, wendeten andere Wissenschaftler ein. Daher stellten die Forscher Versuche mit zwölf Monate alten Babys an. Die Kleinkinder können in diesem Alter zwar noch nicht sprechen und ihre Wahrnehmungen mitteilen, sie sind aber bereits neugierige und talentierte Beobachter des sozialen Miteinanders. Registrieren sie ein Verhalten, das für sie neu und unerwartet ist, bleibt ihr Blick länger auf die Situation gerichtet, gerade so, als würden sie auf eine Auflösung warten. Bei den Experimenten mit den Figuren zeigten sich die Säuglinge eher überrascht, wenn eine aus dem Rahmen fiel und sich vergleichsweise zufällig oder chaotisch bewegte, als wenn sie sich so verhielt, als würde sie ein Ziel verfolgen. Andere Versuche zeigten, dass fünf Monate alte Säuglinge selbst einer Kiste eine eigene Zielsetzung zuwiesen, wenn sie sich selbst bewegen konnte.

Doch auch das Aussehen des Objekts scheint eine Rolle zu spielen. Einer menschlichen Hand, die Greifbewegungen ausführt, wird leichter Intentionalität zugeschrieben als einer Stangenkonstruktion, die handähnlich aussieht und zugreift. Eine Hand ziehen die Säuglinge einer Hand vor, die einen Handschuh übergezogen hat. Gewannen sie aber den Eindruck, der Handschuh gehörte zu einem Menschen, stuften sie die Greifbewegungen eher als intentional ein. Einem Blick folgen sie bereitwilliger, wenn das Objekt an ein Gesicht mit Augen und einem Mund erinnert.

In der Summe lassen sich als Faustregeln folgende fünf Eigenschaften ableiten, die den Eindruck von Intentionalität entstehen lassen. Erstens: gesichtsartiges Aussehen mit Auge, Nase, Mund; zweitens: Asymmetrie entlang einer Längsachse; drittens: Formbarkeit, also wenn sich ein Körper ausdehnen und wieder kontrahieren kann; viertens: die Fähigkeit zur eigenständigen Bewegung und fünftens: die Befähigung, auf andere zu reagieren und sich dabei schlüssig zu verhalten.

Diese fünf Faktoren beantworten leider nicht die Frage, welche von ihnen notwendig oder ausreichend sind, um den Eindruck von Intentionalität zu erzeugen. Sicherlich bewerten Menschen nicht automatisch alle sich bewegenden Objekte, etwa Schneeflocken, oder solche, die entlang einer Achse asymmetrisch sind, etwa eine Blume, als intentional. Der Eindruck eines Gesichtes dagegen ist offenbar hilfreich, aber es geht auch ohne.

Die Frage ist ungeklärt und gehört vielleicht zu jener Sorte von Bewusstseinsfragen, die unserer Einsicht dauerhaft verborgen bleiben. Aber für unsere Untersuchung ist ein ganz anderer Aspekt von Bedeutung: Warum irren wir uns scheinbar so leichtfertig? Warum sind wir so schnell darin, Elementen, wenn sie nur ein paar simple Eigenschaften aufweisen, Intentionalität zuzuweisen? Und warum geschieht das so spontan, ohne dass wir darüber nachdenken müssen und ohne es gar verhindern zu können, wie die Geschichte mit dem roten Luftballon zeigt?

Die Evolution hält zum Rätsel der spontanen Intentionalität zwei Antworten bereit: Zum einen bleiben die Fehler ganz offenbar ohne Folgen, sonst wären sie vermutlich längst verschwunden. Die spontane Annahme von Agenten – man könnte es auch Geisterglaube oder symbolhaft belebte Winde, Gewitter oder Mutter Erde nennen – schadet offenbar nicht. Zum anderen scheint es in der Realität des menschlichen Alltags in der Mehrzahl der Fälle schlichtweg die bessere, die zutreffendere Annahme zu sein, davon auszugehen, diese Elemente hätten uns gegenüber Wünsche, Gefühle und folgten mit ihren Handlungen einer Absicht. Mit anderen Worten: Der größere Irrtum bestünde offenbar nicht darin, unbelebten Elementen eine Intentionalität zuzuweisen, die sie nicht haben, sondern die Intentionalität belebter Elemente zu übersehen, obwohl sie eine haben. Der evolutionäre Sinn dahinter wird erst verständlich, wenn wir uns anschauen, wie das Denken des Menschen entstand, nämlich in der Gesellschaft anderer Menschen.

Gedankenlesen, die tägliche Zauberei

Menschen versuchen, sich ein Bild darüber zu machen, was andere Menschen denken. Sie lesen deren Gedanken, zumindest versuchen sie es. Man kann auch sagen, sie bilden Theorien darüber, was andere wohl hinter der Stirn aushecken mögen. Theorien sind nichts weiter als plausibel wirkende, kausal aufeinander aufbauende Aussagen und Annahmen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zutreffen, vielleicht aber auch nicht. Was die Mitmenschen und deren Absichten angeht, bewegt man sich nämlich in einer völligen Unsicherheit. Denn nicht einmal in den intimsten Verhältnissen, zwischen Mutter und Kind, zwischen Liebespaaren, weiß der eine, was im anderen wirklich vorgeht. Diese Grundbedingung unserer Existenz ist in der Literatur immer wieder ein Thema, zum Beispiel auch beim Dichter Georg Büchner (1813 – 1837), der Medizin studiert hatte und sich mit dem Organischen des Denkens beschäftigte. Die ersten Zeilen seines Dramas Dantons Tod lauten:

Danton: Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab – wir sind sehr einsam.

Julie: Du kennst mich, Danton.

Danton: Ja was man so kennen heißt. Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst immer zu mir: „lieber Georg“. Aber (er deutet ihr auf Stirn und Augen) da, da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.

Wir wissen, dass man aus Hirnfasern nichts zerren kann. Die einzige Alternative ist die ewige Frage der Liebenden: „Woran denkst du?“ Sie ist genauso kitschig wie sinnlos. Denn woher sollte man schon wissen, ob die Antwort die Wahrheit ist – ganz abgesehen davon, ob die Wahrheit in ihrer Banalität oder Schonungslosigkeit überhaupt jemand wirklich wissen wollte. Solange es also kein Gerät gibt, mit dem Freunde oder Feinde in das Gehirn des anderen hineinschauen können – und tragbare Gehirnscanner hat weder der heutige Mensch noch hatten sie Vormenschen in der afrikanischen Steppe –, müssen wir uns an Theorien halten, um die Absichten der Mitmenschen zu erkennen. Liebst du mich? Betrügst du mich? Wie bringe ich dich dazu zu tun, was ich will? Die Antworten sind für das tägliche Zusammenleben von entscheidender Bedeutung.

Daher ist Gedankenlesen auch nichts Übersinnliches, wie es vielleicht ein Zauberer vorspielt, der vorgibt, eine Karte zu erkennen, die sich jemand im Raum gemerkt hat. Es ist auch nichts, was Neurowissenschaftler in ersten Ansätzen reklamieren erreicht zu haben, sondern etwas, das wir täglich tun, ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Wir sagen das Verhalten anderer Menschen voraus und erklären es, indem wir von inneren Zuständen ausgehen, die sie leiten: Wünsche, Befürchtungen, Erwartungen, Absichten oder Intentionen, Gefühle wie Freude, Zorn oder Angst.

Philosophen und Neurowissenschaftler sprechen hierbei von einer Theory of Mind. Theorie ganz einfach deswegen, weil alle Gedanken zu den Gedanken anderer zwar begründet sein mögen, es sich aber nur um Vermutungen oder Theorien handeln kann. Unter Psychologen ist auch der Begriff des Mentalisierens gebräuchlich.

Wie der Philosoph Dennett beschreibt, scheint es keinen großen Unterschied zu machen, ob sich die Theorien auf Menschen, Tiere oder Gegenstände beziehen. Die eigene Intuition kann federleicht und wie ein Zauberer alles mit Absichten versehen, was einem so begegnet. Das legen klassische Versuche der österreichischen Psychologen Fritz Heider und Mary-Ann Simmel nahe, die sie im Jahr 1944 veröffentlichten. Die Wissenschaftler zeigten Probanden in einer kleinen Animation drei sich bewegende Körper, ein großes Dreieck, ein kleines Dreieck und einen kleinen Kreis. Nachdem sie eine Zeit lang den Film angeschaut hatten, sollten die Teilnehmer beschreiben, was sie gesehen hatten. Daraufhin erzählten die Probanden Geschichten, als hätten sie Agenten, also selbstständig handelnde Wesen, beobachtet, die miteinander in Bezug stehen. Aus den beiden Dreiecken wurden Männer im Streit um einen Kreis, eine Frau. Die Aussagen lassen sich grob folgendermaßen zusammenfassen: Das große Dreieck bedrohte das ängstliche kleine Dreieck, die beide um die Aufmerksamkeit des Kreises konkurrierten, der Beziehungsklassiker der Eifersucht, speisende Energie vieler Dramen.

Der menschliche Geist besitzt also wahrhaft die Fähigkeit zur Zauberei: Er erschafft Leben, haucht Geist ein, unterstellt Absichten und knüpft Bezüge – als besäße er geradezu einen göttlichen Odem. Und er tut dies in einer erzählenden Weise.

Schon Babys verstehen Absichten

Fortwährendes Mentalisieren ist dem Homo narrans, dem erzählenden Menschen, in die Wiege gelegt. Babys beherrschen es bereits im zarten Alter von sechs Monaten. In einem Test zeigten Psychologen kleinen Probanden verschiedene Zeichnungen eines Mondgesichtes mit zwei weißen und schwarzen Kreisen als Augen. Das Wesen versuchte, mehrmals einen steilen Berg hinaufzurollen, fiel aber wie Sisyphos im griechischen Mythos – die Parallelen können kaum zufällig gewesen sein – immer wieder ins Tal zurück. In einer zweiten Szene stellte sich dem Gesicht ein „Blockierer“ in den Weg und hinderte es zusätzlich am Aufstieg. In einem dritten Bild bekam die Kreisfigur Unterstützung von einem „Helfer“ in Form eines Dreiecks, das ebenfalls über Augen verfügte, der sie anschob. Die Babys versetzten sich nicht nur in die Absichten der Figuren hinein und verstanden sie. Sie entschieden sich zudem dafür, den Sisyphos zu unterstützen und bevorzugten das Bild, bei dem die Kreisfigur einen Helfer bekam.

Anschließend wiederholten die Psychologen die Versuche, entfernten aber die Augen von den Figuren. Die Babys verloren dadurch ihre eindeutigen Präferenzen und entschieden sich zufällig für eine der beiden Alternativen. Dies bedeutet, so die Folgerungen der Forscher, dass es ihnen um die soziale Einbettung der Situation, sagen wir: das menschliche Miteinander, ging und nicht etwa um eine jeweilige Vorliebe für parallel oder gegeneinander laufende Bewegungen.

Doch in den Beispielen mit dem roten Luftballon, Mondgesichtern und geometrischen Formen steckt weitaus mehr. Um eine Frau oder weibliches Verhalten zu erkennen oder einen Mann und männliches, ist offenbar weder die körperliche Anwesenheit noch das deutliche Abbild einer Frau oder eines Mannes erforderlich. Scheinen Figuren in einer typischen Weise zu agieren, nehmen sie typische Charakterzüge an, die jeder versteht. Sie stehen für etwas, nehmen also die Position eines Stellvertreters bzw. eines Symbols ein. Ein geduldig wartender, freundlich folgender Luftballon kann für einen Freund stehen. Zwei Punkte verwandeln sich in Augen, wenn sie von einem größeren Kreis umgeben sind, und das gesamte Gebilde wird zu einem sozialen Akteur, wenn es sich im Raum bewegt. Darstellungen werden zu Symbolen, die immer auch auf die Anwesenheit einer sozialen Gemeinschaft verweisen. Ein Pfeil kann kein Wegweiser oder Fingerzeig sein, weil sich ein einzelner Mensch das mal eben so ausgedacht hat. Er hat für alle Menschen diese Bedeutung, und alle wissen darum. Menschen bilden kommunikative Gemeinschaften.

Ähnlich verhält es sich mit der Zeigegeste. Es ist geradezu unmöglich, die Finger in der Handfläche zu ballen und den Zeigefinger, dessen Name schon alles sagt, auszustrecken, ohne damit die Aufmerksamkeit auf das Bedeutete zu lenken. Wer das tut, begeht einen kommunikativen Akt, er erzählt eine Geschichte: Am Ende der gedachten Linie, in der Verlängerung der Fingerachse, ist irgendetwas, das die gemeinsame Aufmerksamkeit verdient. Vielleicht schaukelt dort ein roter Luftballon freundlich dem Horizont entgegen. Vielleicht droht ein Gewittersturm, und es wäre besser, eine schützende Behausung aufzusuchen. Möglicherweise deutet der Finger an, dass ich das Weißbrot und nicht den Kuchen in der Vitrine haben möchte. Im Unterricht heißt der gereckte Finger, dass Max und nicht Moritz dran ist. Immer ist es dieselbe Geste. Was wirklich gemeint ist, welche Geschichte erzählt wird, das legen erst die Umstände fest, der Bezugsrahmen, den man auch die Bühne nennen könnte, auf der die Geste spielt. Das Verständnis des Theaters, das nichts anderes tut, als Handlungen einen Rahmen oder eine Bühne zu geben, ist also gleichsam biologisch angelegt – diese Vermutung darf man getrost anstellen.

Der Brutkasten des Erzählens

Symbolisches Denken, fortwährendes Interpretieren der Absichten und Innenwelten anderer sowie ein differenziertes Sprachvermögen sind drei wichtige Kennzeichen menschlichen Denkens. Im Vergleich zu Tieren sind diese Verstandesleistungen einmalig. Keine Spezies bedient sich dieser Talente mit einer solchen Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, selbst Primaten besitzen nur Ansätze davon. Dennoch leuchtet es ein, wenn Evolutionsbiologen der Überzeugung sind, dass die Denkleistungen ihre Wurzeln im Tierreich haben. Sie können nicht aus dem Nichts in die Welt gekommen sein, sondern benötigten aufgrund ihrer Komplexität mutmaßlich Millionen von Jahren, um zu entstehen. Es wird sich also um Lebewesen gehandelt haben, die zugleich die Vorfahren des Homo sapiens narrans und unserer nächsten Verwandten im Tierreich, also der vergleichsweise erzählfreien Schimpansen, Bonobos und Gorillas, waren. Doch welche Fähigkeit war es, die die Linie der Menschen von jenen unserer späteren Vettern trennte? Welches Verhalten und welche Eigenschaften charakterisierte sie?

Man muss sich vielleicht einmal kurz klarmachen, dass niemand dabei war und die Wissenschaftler auf Rückschlüsse angewiesen sind, um Millionen von Jahren in der Zeit zurückzuverfolgen. Aber sie tun dies recht überzeugend in Form eines Gedankengebäudes, das man als Argumentation oder als Narrativ verstehen kann. Sie erzählen eine Geschichte, wie gut belegt sie ist, kann jeder selbst entscheiden.

Die Antwort auf obige Fragen lautet: Es war Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit gegenüber ihren Artgenossen. Die Vorfahren der Menschen begegneten anderen weniger misstrauisch und hatten Methoden entwickelt, entstehende Aggressionen zu bändigen. Dies versetzte sie in die Lage, sich zu relativ großen Gruppen zusammenzuschließen. Zwar leben auch Schimpansen oder Paviane in sozialen Verbänden, doch die Vorläufer des Homo sapiens konnten sowohl mehr Mitglieder in ihre Gemeinschaft einschließen als auch die dabei entstehenden Spannungen moderieren. Vermutlich war die Sprache das wichtigste Schmiermittel für die Beziehungen der Gruppenmitglieder. Sie konnte aber nur entstehen, weil unseren biologischen Ahnen eine grundsätzliche Freundlichkeit gegenüber anderen zu eigen war.

Die Story: Schimpansen im Flugzeug

Heute unterscheiden sich Schimpansen, Bonobos (häufig auch Zwergschimpansen genannt) und Menschen auf eklatante Weise in ihrer sozialen Verträglichkeit. Das tritt in einem Gedankenexperiment auffällig zutage, das sich die Evolutionsbiologin Sarah Blaffer Hrdy ausgedacht hat. Und natürlich kann man ihre Überlegungen auch als eine Erzählung bezeichnen, die in den allgemeinen Erfahrungswerten des menschlichen Alltags, aber auch in Beobachtungen von Feldforschern begründet ist. Was würde passieren, fragte sich Blaffer Hrdy, steckte man wechselweise 150 Schimpansen, 150 Bonobos oder 150 Menschen in ein Flugzeug?

Bei letzteren ist die Vorstellung Realität. Weltweit fliegen 1,6 Milliarden Passiere jährlich um die Welt, in kleinen Maschinen mit zwei Fluggästen oder im riesigen Airbus A380 mit 555 Personen an Bord. Mancher empfindet es als belastend, auf engem Raum mit anderen über Stunden eingepfercht zu sein. Doch verläuft die Reise zumeist problemlos. Der Mensch besitzt sehr viele Mittel, diese für das soziale Miteinander so herausfordernde Konstellation zu meisten.

Die Passagiere nutzen Gesten, grüßen, nicken, lächeln sich freundlich an, entschuldigen sich, wenn sie mit dem Mantel oder einem sperrigen Stück Handgepäck einen anderen belästigt haben. Schreit ein Baby, werden vor allem Frauen ihr Verständnis ausdrücken oder gar Hilfe anbieten (gerade dies ist ein entscheidender Wesenszug des Menschen, wir werden noch darauf zurückkommen). Kurzum: Die Passagiere geben Zeichen eines grundsätzlichen Einvernehmens in der Gruppe, des Mitgefühls, des Sich-Hineinversetzens in die Situation des anderen. Und es überrascht ganz und gar nicht, wenn sich Menschen, die zwar nicht die gleiche Sprache sprechen und ganz unterschiedlichen Kulturen und Weltanschauungen entstammen, aber auf dem Flug zufällig Sitznachbarn sind, gegenseitig mit einem Kopfhörer, einem Taschentuch oder einer Schmerztablette aushelfen.

Die Bonobo-Brüder und -Schwestern im Flugzeug wären ebenso friedlich miteinander. Selbst dem wehrlosen Baby würde nichts passieren – vorausgesetzt, die Gruppengröße von 150 Köpfen würde die Tiere nicht völlig überfordern. Doch die Maschine könnte womöglich nur verzögert starten, denn die pelzigen Passagiere hätten zunächst nur Sex im Kopf, um den Stress abzubauen.

Und die Schimpansen? Bei 150 Individuen auf engem Raum würden Aggressionen und Gewalttätigkeit ein grausames Regiment führen. Das Baby, so ist anzunehmen, würde verstümmelt, auf den Gängen lägen blutige Ohren, Genitalien oder andere Körperteile herum, einige Tiere wäre erschlagen. „So viele hoch impulsive und sich fremde Individuen auf einem so engen Raum zusammenzubringen, wäre gerade die richtige Rezeptur für Chaos und Selbstverstümmelung“, erläutert Blaffer Hrdy.

Das Gehirn ist ein soziales Organ

Das Verhalten im Miteinander ist es, das die drei Primaten, Mensch, Schimpanse und Bonobo, voneinander abhebt, mithin ist das ausschlaggebend, was im Oberstübchen passiert. Genetisch sind sich der Homo sapiens und seine nächsten Verwandten zwar extrem ähnlich, doch sein Gehirn ist fast dreimal so groß. Das Neuronennetzwerk im Kopf ist so riesig, dass es etwa 20 Prozent der täglich aufgenommenen Energiemenge für sich beansprucht. Und dennoch lohnt sich sein Unterhalt. Warum? Was könnte – evolutionär gesprochen – das Gehirn des Menschen so aufgeblasen haben?

Der Mensch selbst, gab der US-Psychiater Leslie Brothers Anfang der 1990er-Jahre zur Antwort. Es sei die soziale Umgebung gewesen, meinte er, und nicht unbedingt die externen Lebensbedingungen, welche das Denken des Homo sapiens entscheidend beförderte. Damit nahm er einen Gedanken des Anthropologen Loren Eiseley (1907 – 1977) auf. Den Menschen interessiere nicht nur, was wo wächst und läuft, sondern wie der andere über ihn denke, ob er sein Freund ist oder Feind. Unter den Wissenschaftlern fungiert Brothers’ Idee unter dem Begriff „das soziale Gehirn“. Der Begriff „sozial“ meint hier erst in zweiter Linie „fürsorglich“, in erster Linie „im sozialen Verbund lebend“. Der Aspekt des Kümmerns und der Fürsorglichkeit folgt erst daraus.