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Das Symbol der EU ist der Sternenkreis. Lange Zeit haben wir dieses Motiv im Rahmen der offiziellen Rhetorik der EU als Symbol für die ‚Einheit in der Vielfalt’ gesehen. Heute müssen wir uns jedoch mit größerem Ernst fragen: Was hält die Sterne noch zusammen und davon ab, auseinanderzufallen? Besitzt Europa ein Leitbild? In Analogie zum ‚amerikanischen Traum’ entfaltet Aleida Assmann in diesem Buch den ‚europäischen Traum’ und meint damit vier Lehren, die die Europäer aus der Geschichte gezogen haben. Sie machen das offene Projekt Europa aus. Ob es eine Zukunft hat oder nicht, hängt deshalb nicht zuletzt davon ab, ob diese Lehren weiterhin als eine gemeinsame Grundorientierung anerkannt und umgesetzt werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Aleida Assmann
Der europäische Traum
Vier Lehren aus der Geschichte
C.H.Beck
Das Symbol der EU ist der Sternenkreis. Lange stand er im Rahmen der offiziellen Rhetorik der EU für die ‹Einheit in der Vielfalt›. Heute müssen wir uns jedoch fragen: Was hält die Sterne überhaupt noch zusammen? Besitzt Europa ein Leitbild? In Absetzung vom ‹amerikanischen Traum› führt Aleida Assmann das Stichwort vom ‹europäischen Traum› ein und bezieht sich damit auf vier Lehren, die die Europäer aus der Geschichte gezogen haben. Sie machen das offene Projekt Europa aus. Ob es eine Zukunft hat oder nicht, hängt nicht zuletzt davon ab, ob diese Lehren weiterhin als gemeinsame Grundorientierung in Kraft bleiben.
Aleida Assmann ist Professorin em. für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem A. H.-Heineken-Preis für Geschichte (2014), dem Karl-Jaspers-Preis (mit Jan Assmann, 2017), dem Balzan Preis (mit Jan Assmann, 2017) und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (mit Jan Assmann, 2018). Bei C.H.Beck sind von ihr erschienen: Erinnerungsräume (52011, Paperback 2018), Der lange Schatten der Vergangenheit (32018), Geschichte im Gedächtnis (22014) und Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur (32020).
Vorwort
Vorbemerkung zur fünften Auflage
Erster Teil: Kann man aus der Geschichte lernen?
Zur Geschichte der EU
Vier Lehren aus der Geschichte
1. Lehre: Friedenssicherung – Wie aus Erzfeinden kooperierende Nachbarn werden
2. Lehre: Die (Wieder-)Herstellung von Rechtsstaatlichkeit oder der Umbau von Diktaturen in Demokratien
3. Lehre: Historische Wahrheit und der Aufbau einer deutschen Erinnerungskultur
Friedenssicherung und Zukunftsorientierung durch Vergessen
Gewaltgeschichte, Recht und Zeugenschaft
Die Rückkehr der Erinnerung
Was ist neu an der neuen Erinnerungskultur? Fünf Punkte
1. Sie hat es mit schwerwiegenden Verbrechen in der eigenen Geschichte zu tun.
2. Die neue Erinnerungskultur ist selbstkritisch.
3. Die neue Erinnerungskultur braucht historische Forschung.
4. Die neue Bedeutung der Zeugenschaft.
5. Die neue Erinnerungskultur ist dialogisch.
Vom Schlussstrich zum Trennungsstrich
4. Lehre: Die Wiederentdeckung der Menschenrechte
Bürgerrechte und Menschenrechte in West und Ost
Die Geburt einer neuen Menschenrechtsbewegung aus dem Terror der südamerikanischen Militärdiktaturen
Migration und Menschenrechte
1945 – 1989 – 2015: Zäsuren in der Geschichte der EU
Der europäische Traum
Zweiter Teil: Fallbeispiele
1. Lehre: Friedenssicherung
Der 8. und der 9. Mai – Zwei europäische Gedenktage?
2014/18 – Die europäische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg
2. Lehre: Demokratisierung
Deutsche Antworten auf zwei Diktaturen – Ähnlichkeiten und Unterschiede
Zwei verschiedene Enden der Diktatur: 1945 und 1989
Kommunikatives Beschweigen und demokratische Aufklärung
Die Mörder/Spitzel sind unter uns: Die Stasi-Zentrale und die zentrale Stelle Ludwigsburg
Vergessen und Erinnern am Beispiel des Spanischen Bürgerkriegs
3. Lehre: Erinnerungskultur
Die Rolle der 68er für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit
Monologisches und dialogisches Erinnern in Europa
Gedächtnisrahmen
4. Lehre: Menschenrechte
Die vergessene deutsche Migrationsgeschichte
Schicksalsvergleiche – Zwischen Empathie und Abwehr
Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft
Schicksalsvergleiche
Differenzen, Defizite, Desiderate
Linkes und rechtes Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur
Ost-West-Spaltungen
Let’s go West! – Der Nachahmungsimperativ
Let’s go East! – Die Aufrüstung der Nation
Gespaltene europäische Erinnerung
Das koloniale Erbe Europas
Epilog
Anmerkungen
Vorwort
Erster Teil: Kann man aus der Geschichte lernen?
Zur Geschichte der EU
1. Lehre: Friedenssicherung – Wie aus Erzfeinden kooperierende Nachbarn werden
2. Lehre: Die (Wieder-)Herstellung von Rechtsstaatlichkeit oder der Umbau von Diktaturen in Demokratien
3. Lehre: Historische Wahrheit und der Aufbau einer deutschen Erinnerungskultur
4. Lehre: Die Wiederentdeckung der Menschenrechte
Der europäische Traum
Zweiter Teil: Fallbeispiele
1. Lehre: Friedenssicherung
2. Lehre: Demokratisierung
3. Lehre: Erinnerungskultur
4. Lehre: Menschenrechte
Differenzen, Defizite, Desiderate
Epilog
Personenregister
Das Buch ist den Trägern und Stützen der Willkommenskultur gewidmet
Europa kann auf eine lange Tradition positiver Selbstbilder zurückblicken. Hier war einmal der Nabel der Welt, hier stand die Wiege der Zivilisation, hier wurden die Grundlagen gelegt zu allen möglichen kulturellen Errungenschaften, die sich dann über den Erdball verbreitet haben. Im populären Selbstverständnis gilt Europa nach wie vor als Hort der Vernunft, der Freiheit und der Demokratie. Aus einer nicht-europäischen Perspektive erscheinen diese Deklamationen dagegen als Teil einer ‹Europa-Ideologie›. Natürlich wissen wir heute, dass in Europa auch der Nationalsozialismus und der Stalinismus mit ihren verheerenden, destruktiven Folgen ihre Wurzeln haben. Was aber nach wie vor kaum thematisiert wird, ist die Tatsache, dass das zivilisierte Europa sich über Jahrhunderte als eine überlegene Herrenrasse empfand, was den Europäern als Legitimation diente, andere Menschen und Kulturen herabzusetzen. Der Gegensatz zwischen ‹wild› und ‹zivilisiert› wurde dazu benutzt, Menschen in Gruppen zu teilen, um sie nicht nur missionieren und zivilisieren, sondern auch besser bekämpfen, ausbeuten oder versklaven zu können. All das ist nicht nur Geschichte, sondern in gewissem Sinne noch Gegenwart, denn wir leben heute in der zwar eng vernetzten, aber zugleich auch äußerst ungleichen Welt, die der europäische Imperialismus geschaffen hat. Neu an dieser Situation ist, wie Pankaj Mishra feststellt, dass die anderen inzwischen ihre eigenen Geschichten schreiben. Europa kann sein Selbstverständnis deshalb nicht mehr selbstbezüglich nach innen entwerfen, sondern muss angesichts der globalen Verflechtung auch die Existenz anderer Nationen außerhalb Europas mit berücksichtigen. Mishra fasst zusammen: «Der Boden ist bereitet für komplexere Formen des Selbstverständnisses, frei von Selbstgefälligkeit, nationalistischer Mythenbildung und Rassendünkel».
Der Begriff des ‹europäischen Traums›, der im Titel dieses Buches erscheint, gehört nicht in die lange Tradition stolzer europäischer Selbstbilder, sondern soll hier für eine komplexere Form des Selbstverständnisses und der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte stehen, wie Mishra sie einfordert. Als Pendant zum ‹amerikanischen Traum› gebildet, wird der ‹europäische Traum› als ein gemeinsames Leitbild des Denkens und Handelns für die Nationen der EU vorgeschlagen, die miteinander in einer Geschichte der Gewalt verbunden sind. In Europa ist die Geschichte der Stoff, aus dem nicht nur Alpträume und Traumata, sondern eben auch der Traum einer friedlichen gemeinsamen Zukunft gemacht ist. Jene Gewaltgeschichte zu überwinden verlangt aber, sie zu kennen und anzuerkennen, um daraus gemeinsame Normen und Ressourcen für die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu gewinnen.
Die Grundgedanken dieses Buches haben verschiedene Fassungen durchlaufen. Unter dem Titel «Aus der Geschichte lernen? Der Sonderweg und die Krise der EU» konnte ich einige Thesen innerhalb einer Wiener Vorlesung im September 2017 vorstellen und mit Hubert Christian Ehalt und Oliver Rathkolb diskutieren, denen ich dafür sehr dankbar bin. Dass das Buch nicht auf die lange Bank geschoben wurde, ist einem unerwarteten Zwischenfall zu verdanken. Die Zuerkennung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2018 an Jan Assmann und mich, von der wir im Juni 2018 erfuhren, hat ebenso plötzlich wie kurzfristig ein Zeitfenster für die Realisierung des Projekts geöffnet. In dieser Phase genoss ich die atmosphärische Unterstützung des Wissenschaftskollegs zu Berlin und die anregenden Gespräche mit Fellows wie Paweł Machcewicz, Luca Giuliani, Charles Maier, James Simpson und Dieter Grimm.[1] Der Verlag C.H.Beck, vertreten durch Stefanie Hölscher und Andreas Wirthensohn, hat das Buch in diesem Eilverfahren umsichtig, kompetent und zuverlässig betreut. Jan Assmann danke ich für die erste Lektüre, viele Korrekturen und unser wunderbares Dauergespräch.
Traunkirchen, im August 2018
«Wer war denn Ihr Zielpublikum, als Sie dieses Buch schrieben?», wollte vor kurzem ein Schüler von mir wissen, als wir an einer Schule über Der europäische Traum diskutierten. Diese Frage hat mich überrascht. Ich musste kurz nachdenken und sagte dann: «Ich selber.» Das stimmt, denn ich habe dieses Buch geschrieben, um mir selbst unter dem Druck der Ereignisse eine gewisse Klarheit über die Probleme zu verschaffen. Ich freue mich, dass das Buch dennoch viele Leser*innen gefunden hat, die vielleicht ein ähnliches Bedürfnis hatten und sich für die Profilierung einiger ‹Kristallisationspunkte einer europäischen Erinnerungskultur› jenseits von politischer Funktion und fachlicher Spezialisierung interessierten. Ich möchte hier all denen ausdrücklich für ihre Offenheit, ihre wichtigen Impulse und ihre Kritik danken, mit denen ich Gelegenheit hatte, die Thesen dieses Buches persönlich zu diskutieren.
Die ‹Zwischenlage› dieses Buches hat auch ihre Probleme; unter den Reaktionen gab es solche, die aufgrund ihrer Spezialisierung zum Beispiel in Fragen der Rechtsgeschichte einen ganz anderen Blick auf Europa hatten. Daneben ist mir der zu lockere Umgang mit den Begriffen ‹Europa› und ‹EU› vorgeworfen worden. Europa ist geographisch und kulturgeschichtlich gesehen ein inklusiver Oberbegriff, der ja auch Russland mit einschließt, während die EU ein wechselhafter Verbund von mehr oder weniger Mitgliedstaaten ist, deren Identität und Rolle in diesem Bündnis Gegenstand permanenter Diskussionen ist. Wer aus der EU austritt, bleibt natürlich in Europa, aber wer in der EU verbleibt, ist auch Teil Europas.
Ich habe die Gelegenheit dieser Neuauflage zum Anlass genommen, kleinere Ergänzungen vorzunehmen. Sie betreffen die Periodisierung der EU zwischen 1945 und der Gegenwart, die Geschichte der Menschenrechte in Zentral- und Osteuropa, die Migrationsgeschichte, den Begriff des ‹Westens› vor und nach 1989 sowie den Schluss des Buches. Mein großer Dank geht noch einmal an Stefanie Hölscher und Andreas Wirthensohn, die mich auch in dieser Phase wieder tatkräftig unterstützt haben, und an den Verlag C.H.Beck, der keine Mühen gescheut und das Buch zügig wieder aufgelegt hat.
Traunkirchen, im September 2019
Kann man aus der Geschichte lernen? Wir alle kennen die Standardantwort auf diese Frage: Alles, was wir aus der Geschichte lernen können, ist, dass wir nichts aus ihr lernen können. In diesem Punkt waren sich so unterschiedliche Denker wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel und George Bernard Shaw einig. Reinhart Koselleck hat ihnen später noch eine Begründung für ihre pessimistische Antwort geliefert. Er konnte nämlich genau angeben, wann und warum der alte Topos von der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens (historia magistra vitae) aus dem Verkehr gezogen wurde. Das geschah mit dem Bruch der Aufklärung. Aus der Geschichte können wir nichts mehr lernen, so stellte Koselleck fest, seit sich die Gesellschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts einer Kultur der Modernisierung verschrieben und damit auf Innovation und Wandel umgestellt hat. In einem dynamischen Geschichtsprozess traten seither Vergangenheit und Zukunft, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont deutlich auseinander. Wo vorher ein Kontinuum bestand, herrschte nun ein Gegensatz. Das hatte zur Folge, dass die Lehren von gestern nicht mehr für die Lösung der Probleme von morgen taugen.
Paul Valéry gehörte ebenfalls zu denen, die sich nicht vorstellen konnten, aus der Geschichte zu lernen. 1931, nach dem Ersten Weltkrieg und vor dem Zweiten, konnte er beobachten, wie zum Beispiel in Deutschland die Geschichte national aufgerüstet und damit in einen gefährlichen ideologischen Kampfstoff verwandelt wurde. «Die Geschichte ist das gefährlichste Elaborat, das die Chemie des Intellekts produziert hat. Seine Eigenschaften sind allbekannt. Es bringt die Völker ins Träumen, versetzt sie in Rausch, gaukelt ihnen eine Vergangenheit vor, übersteigert ihre Reflexe, hält ihre Wunden am Schwären, stört sie in ihrer Ruhe auf, treibt sie zu Größenwahn oder auch zu Verfolgungswahn und macht, dass die Nationen verbittert, auftrumpfend, unausstehlich und eitel werden.» Und weiter heißt es: Die Geschichte «rechtfertigt alles, was man will. Sie lehrt überhaupt nichts, denn sie enthält alles und gibt Beispiele für alles.»[1]
Das sind gerade heute wieder hochaktuelle Worte. Meine These ist jedoch, dass aus der verheerenden Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich auch Lehren gezogen wurden und die EU als Produkt dieses Lernprozesses zu verstehen ist. Valéry starb 1945. Er hat das Ende des Krieges noch miterlebt, aber nicht mehr den Aufbau eines neuen Europas. Könnte er zurückkehren, um sich zu erkundigen, würden wir ihm erzählen, wie die Geschichte weitergegangen ist. Ich jedenfalls möchte, gegen Valérys pessimistische Thesen, die Idee des Lernens aus der Geschichte verteidigen, denn woraus, um alles in der Welt, soll man denn sonst lernen?
Tatsächlich müssen wir auf die Vorgeschichte der EU noch einmal zurückkommen, wenn wir die heutigen Entwicklungen differenzierter beurteilen und die Krise des Zusammenhalts der europäischen Föderation besser verstehen wollen. Dafür möchte ich eine Perspektive anbieten, die in historischen Darstellungen bisher noch nicht zum Tragen kommt, und das ist die Frage nach dem kollektiven Selbstbild der EU und der Rolle, die dabei die historische Erinnerung ihrer Mitgliedstaaten spielt oder spielen kann.
Vor 130 Jahren machte sich der französische Philosoph Ernest Renan Gedanken über die Zukunft des Nationalstaats. Dabei kam er zu dem Ergebnis: «Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal begonnen, sie werden einmal enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen.»[1] Heute sind viele geneigt, diese Prognose umzudrehen und zu sagen: Die EU ist nichts Ewiges. Sie hat einmal begonnen, sie wird einmal enden. Die Nationalstaaten werden sie wahrscheinlich (wieder) ablösen. War die europäische Idee einer transnationalen Allianz ein neues, geschichtswirksames Modell eines demokratischen Staatenbunds oder war sie nur ein ephemeres historisches Ereignis, das schon bald wieder folgenlos verschwindet? Der amerikanische Historiker Tony Judt sprach 1996 bereits von der «großen Illusion Europa». Kurz zuvor hatte der britische Politologe Alan Milward in einer klassischen Studie die EU als «Retterin der Nationalstaaten» bezeichnet.[2] Möglicherweise ist es schon verfehlt, die Frage, wie Renan es tat, in der Form eines Entweder-oder zu stellen, da sich die Nationalstaaten in diesem Verbund keineswegs auflösen, sondern auch stabilisieren. Es gehört zu den Besonderheiten der EU, dass sie trotz Vergemeinschaftung von Verantwortungen und Entscheidungen eher zu einem Impuls für die Stärkung als für die Schwächung nationaler Tendenzen geworden ist.
Könnte Renan zurückkehren, um sich zu erkundigen, wie die Geschichte weitergegangen ist, würden wir ihm erzählen, dass seine Prognose einer europäischen Konföderation tatsächlich wahr geworden ist, allerdings unter ganz anderen Umständen, als er sie sich hätte vorstellen können. Es gab nämlich keinen einfachen evolutionären Schritt vom Nationalstaat zur europäischen Föderation, sondern es waren revolutionäre und katastrophische Umwälzungen, die nach zwei verheerenden Weltkriegen schließlich zur Verwirklichung des Europa-Gedankens führten. Das praktische Nachdenken über Europa als einen ‹Völkerbund› begann zunächst nach dem Ersten Weltkrieg als pazifistisches Projekt und damit als direkte Antwort auf diesen Krieg, in dem sich fünf europäische Imperien, zum Teil durch ihre kolonialen Truppen verstärkt, in unvorstellbaren Materialschlachten gegenseitig aufgerieben hatten. Bevor aber die friedlichen Europa-Gedanken Fuß fassen konnten, musste erst noch ein ganz anderer geopolitischer Europa-Gedanke militärisch bezwungen und begraben werden, und das war der ungehemmte imperiale Expansionswille des deutschen NS-Staats, den Hitler mit dem Namen Europa verband. Sein wahnhaftes Ziel, ein tausendjähriges Reich auf europäischem Boden zu errichten, hat er nicht erreicht; was er aber auf mörderische Weise erreicht hat, war die Beendigung einer tatsächlichen tausendjährigen Geschichte des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden in Osteuropa. Auf diese Erfahrung von Gewalt und Zerstörung musste nach 1945 eine Antwort (im Doppelsinn der Reaktion und des verantwortlichen Umgangs) gefunden werden. Das Nachdenken über eine europäische Föderation war die Form dieser Antwort.
Viele verstehen Europa heute als ein kosmopolitisches Projekt, das die Selbstbezüglichkeit und Ausschließungsgewalt homogener Nationalstaaten in einer gemeinsamen Anstrengung überwindet. Dieser Gedanke stand jedoch nicht am Anfang der Europäischen Union. Jene Antwort hatte zunächst den Charakter einer Prävention. Es durfte sich auf keinen Fall jemals wiederholen, was sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ereignet hatte. Es sollte nie wieder auch nur den Ansatz einer Voraussetzung dafür geben. Aus diesem Gedanken entstand 1950 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die auch Montanunion genannt wurde. Vordergründig ging es dabei um einen zollfreien Zugang zu den Rohstoffen der Schwerindustrie. Hintergründig ging es bei dieser wirtschaftlichen Zusammenarbeit jedoch um etwas ganz anderes, nämlich um die Zähmung Deutschlands in der Mitte Europas. Es musste unter allen Umständen verhindert werden, dass Deutschland noch einmal eine Schwerindustrie aufbaute, mit der es sich für einen weiteren Krieg hochrüsten und damit für seine Nachbarstaaten wieder gefährlich werden konnte. Die Wirtschaftskooperation der sechs Gründungsmitglieder Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande diente damit primär einer dauerhaften Friedenssicherung. Deutschland, das sich im Zweiten Weltkrieg so gewalttätig ausgebreitet hatte, das so viel Leid über die europäischen Nachbarn gebracht und die europäischen Juden vernichtet hatte, durfte in Europa nie wieder so viel Spielraum erhalten und musste deshalb zunächst einmal gezähmt, eingehegt und eingegliedert werden.
Die Prävention als angemessene Antwort auf die Erfahrung der beiden Weltkriege wurde allmählich abgelöst durch die Antwort der Reparatur. Mithilfe des US-amerikanischen Marshall-Plans verwandelte sich die Strategie des Kontrollierens und Kleinhaltens in eine umfassende und nachhaltige Wirtschaftsförderung. Die USA investierten in großem Maßstab in Westdeutschlands Modernisierung und wirtschaftlichen Aufbruch. Die nationale Währung der D-Mark wurde zu einer Erfolgsgeschichte und einem Markenzeichen im Rahmen der neuen Allianz von NATO-Staaten. Mit diesem militärischen Bündnis des Kalten Krieges wurde Westdeutschland zu einem Teil Westeuropas. Im Zentrum dieses West-Bündnisses stand ein Konzept westlicher Demokratie und Kultur, das in Deutschland besonders von der jüngeren Generation emphatisch angenommen wurde, weil es transnationale Horizonte eröffnete und eine neue Zukunft ermöglichte. Europa modernisierte sich durch eine globale Jugendkultur und die Protestbewegungen der 68er-Generation. In diesem kulturellen Rahmen westlicher Modernisierung wurde die Frage ‹Was ist europäisch?› zurückgedrängt, und Bestrebungen in Richtung einer eigenen nationalen Identität wurden als unzeitgemäß bzw. reaktionär ausgeklammert.
In den 1970er Jahren wuchs die Zahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft durch den Beitritt Dänemarks, Irlands und Großbritanniens auf neun. Gleichzeitig verwandelten sich die letzten westeuropäischen Diktaturen Portugal, Spanien und Griechenland in Demokratien, was das politische und wirtschaftliche Binnenklima Westeuropas vereinheitlichte. Diese Länder wurden in den 1980er Jahren zu Mitgliedern der EU. Der Fall der Mauer führte nach vier Jahrzehnten feindlicher Nachbarschaft im Kalten Krieg zur unerwarteten und euphorisch gefeierten deutschen ‹Wiedervereinigung›. Mit der Öffnung ehemals hermetischer Grenzen kam es nach 1989 zu einem erheblichen Mobilitätsschub und Bevölkerungsaustausch, der aber auch seine Probleme mit sich brachte. Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik mussten in Deutschland zwei miteinander fremdelnde Bevölkerungsgruppen wieder zusammenfinden; es gab die Arroganz der Bevormundung, es gab die ‹Ostalgie›, und es gibt noch immer Verbitterung und Misstrauen. Nach dem Zusammenbruch des Staatskommunismus kam es 1995 zunächst zum EU-Beitritt dreier weiterer westeuropäischer Staaten (Finnland, Österreich und Schweden) und ein Jahrzehnt später, zwischen 2004 und 2007, zum Beitritt von zwölf mittel- und osteuropäischen Staaten, in denen der Systemwechsel nicht so glimpflich verlaufen war wie in Leipzig und anderen ostdeutschen Städten. In Litauen zum Beispiel, das 1990 unabhängig wurde, gab es im Januar 1991 einen Militärputsch, bei dem moskautreue Kräfte mit Unterstützung sowjetischer Militärs die Entwicklung wieder umkehren wollten. Dabei starben insgesamt 14 Zivilisten und über 1000 weitere wurden verletzt. Beim anschließenden Referendum stimmten 90,5 Prozent der Wähler für ein unabhängiges Litauen.
Diese letzte Phase in der Entwicklung der EU, in der das Erbe des Kalten Krieges historisch überwunden wurde, wird oft als ‹Osterweiterung› bezeichnet. Dieser Begriff hat sich inzwischen als problematisch erwiesen, denn was nach dem Zusammenbruch des Ostblocks als eine zwar völlig unerwartete, aber doch konsequente Entwicklung erschien, wurde vom Nachbarland Russland unter ganz anderen Vorzeichen wahrgenommen. Der russische Staatspräsident Wladimir Putin hat 2005, umgekehrt zur Lesart der Erfolgsgeschichte der EU, den Zusammenbruch der Sowjetunion als «die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» bezeichnet und tut seitdem das Seine, um die EU von Osten her in ihre Schranken zu weisen. Historische Wahrnehmungen sind nichts Triviales, und wenn sie kollidieren, kann das unerwartete Folgen haben. Ein erstes Zeichen, das allerdings von den europäischen Staaten damals noch kaum begriffen wurde, war die russische Reaktion auf die Umsetzung der Statue eines russischen Soldaten aus der Mitte der estnischen Hauptstadt Tallinn auf einen Friedhof am Stadtrand. Auf diese symbolpolitische Provokation folgte von Seiten Russlands die erste große Cyberattacke, die es darauf abgesehen hatte, alle wichtigen Institutionen des Landes lahmzulegen.[3]
Die Annexion der Krim im März 2014 und der Krieg in der Ukraine haben die Spannungen zwischen Russland und der EU inzwischen erheblich verschärft. Der Aufbau neuer Koalitionen zwischen osteuropäischen Mitgliedstaaten und Russland ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die friedliche Ausdehnung der EU nicht in ihrer Konsolidierungsphase angekommen ist, sondern es neuerdings mit neuen Kriegen und Aushöhlungsprozessen zu tun bekommt. Auch der Krieg auf dem Balkan von 1992 bis 1995 ist hier zu nennen. Bei dem serbischen Massaker in der Stadt Srebrenica kamen 8000 bosnische Muslime um. Hier gelang es den niederländischen Blauhelmtruppen der Vereinten Nationen nicht, rechtzeitig zur Rettung von Menschenleben einzuschreiten. Von den Ländern, die damals vom Krieg betroffen waren, ist Kroatien seit 2016 Mitglied der EU, Bosnien hat einen Antrag gestellt, und Serbien, Montenegro und Nord-Mazedonien stehen auf der Kandidatenliste.
Genau genommen wurde die europäische Konföderation zwei Mal gegründet, wobei die historischen Voraussetzungen sehr unterschiedlich waren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verhinderte die EU in Deutschland das Wiederaufleben eines selbstzentrierten und aggressiven Nationalstaats und bot gleichzeitig Staaten wie Frankreich eine neue Perspektive, die sich von kolonialen Imperien in Nationen zurückverwandelten. Nach dem Ende des Kalten Krieges entstand Europa nicht mehr auf dem Trümmerberg der Weltkriege, sondern aus der Konkursmasse des zerfallenen Sowjetimperiums. Damit haben sich auch die Voraussetzungen für den europäischen Staatenbund deutlich verschoben. Mit der Aufnahme ehemaliger Ostblockstaaten ging der zündende Impuls innerhalb der EU nicht mehr vom Nationalen zum Transnationalen, sondern vom Transnationalen zum Nationalen. Diese Richtungsänderung beförderte, wie Tony Judt und Alan Milward bereits in den 1990er Jahren konstatierten, eine Wiederentdeckung und Wiederbelebung von Nationalstaaten in Ost und West.
Nach annähernd 70 Jahren Erfahrung mit europäischen Allianzen stellen wir fest, dass sich die Dynamik, die in den 1990er Jahren angelegt war, nach 2015 im Zeichen der Migrationskrise erheblich verstärkt hat. Die mittel- und osteuropäischen Staaten, die einst Teil des sowjetischen Blocks waren, verstanden den Verbund der EU vorwiegend als Sicherung ihrer Nation gegen den kommunistischen Zwangsverband. Deshalb gründeten sie ihre Identität und Einheit auf ein kommunistisches Feindbild und ein nationales Opfernarrativ. Die Namen ihrer Geschichtsmuseen sprechen für sich: das ‹Besatzungsmuseum› in Riga, das ‹Genozidmuseum› in Vilnius und das ‹Haus des Terrors› in Budapest. In Budapest wird die Geschichte des Kommunismus weiterhin als eine massenwirksame Horrorstory inszeniert – was jedoch nicht verhindert, dass der Präsident des Landes inzwischen sehr viel mehr Sympathien für Putins Regierung als für die Europäer in Brüssel zeigt. Die europäische Konföderation beginnt zu bröckeln, der Zusammenhalt der EU steht unter großem Druck. Alles ist zurzeit im Fluss, seit der Aufbau neuer Allianzen und politischer Konstellationen zu einer möglichen Alternative zur EU geworden ist.
Noch einmal zurück zu Valérys Frage: Kann man aus der Geschichte lernen? Seine Beschreibung von 1931 ist heute aktueller denn je, denn wir können allseits beobachten, wie Nationen verbittert, auftrumpfend, unausstehlich und eitel werden. Tatsächlich, auch darin ist Valéry Recht zu geben, lehrt die Geschichte überhaupt nichts, insofern sie alles rechtfertigt, was man will. Die Geschichte ist zur politischen Beute geworden. In autokratischen Regimen werden Historiker, die nicht die offizielle politische Linie vertreten, eingesperrt und Museen werden geschlossen oder Gedenkstätten beseitigt, um eine eindeutige und staatstragende Botschaft an ihre Stelle zu setzen (siehe unten, S. 144–148). Und dennoch können wir Valérys Fazit nicht einfach akzeptieren. Immerhin haben wir inzwischen Begriffe, Konzepte und Normen gewonnen, die es zu seiner Zeit noch nicht gab: ‹Genozid›, ‹Verbrechen gegen die Menschlichkeit›, ‹Achtung der Menschenrechte›. Diese Lehren sind weithin bekannt, aber nicht in einer Konkretheit präsent, in der sie auch ihre Wirkung entfalten können. Sie werden in politischen Reden immer wieder aufgezählt, verblassen dabei aber und entleeren sich in der puren Wiederholung. Wenn man jedoch den Weg vom Aufzählen zurück zum Erzählen beschreitet, um genauer zu erfahren, wann und wie diese Lehren gewonnen wurden, lassen sich die Begriffe wieder mit konkreter Anschauung füllen. Wenn man weiß, dass sie unter historisch kontingenten Bedingungen errungen wurden, kann man sich vorstellen, dass diese Lehren auch schnell wieder verschwinden können. Denn sie erhalten und bewähren sich nicht in wohlmeinenden Reden, sondern allein dadurch, dass man sich für sie einsetzt und sie umsetzt. Das beginnt damit, dass man sich für sie interessiert und sie etwas von ihrer gedankenlosen Selbstverständlichkeit verlieren. Die vier Lehren, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde, sind nicht gleichzeitig gefunden oder erfunden worden. Zwei von ihnen, das Friedensprojekt und das Demokratisierungsprojekt, sind nach 1945 entstanden und wurden nach 1989 neu getestet, zwei weitere, die Erinnerungskultur und die Menschenrechte, sind erst nach 1989 dazugekommen. Um ein präziseres Bild von diesen Lehren zu bekommen, lohnt es sich zu wissen, unter welchen historischen Umständen sie errungen und erworben wurden.
«Wir haben in Europa einen dauerhaften Frieden geschaffen, der auf die Versöhnung von Erzfeinden gegründet ist. Das ist ein historisches Beispiel für die Welt.» Mit diesen Worten hat der ehemalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso die Erfolgsgeschichte der EU auf die kürzeste Formel gebracht.[1] Die Tradition der Friedensschlüsse und der Beendigung von Erbfeindschaften ist ein Motiv, das die europäische Geschichte vom Edikt von Nantes im Jahre 1598 bis ins 19. Jahrhundert begleitet. Leider haben diese Friedensschlüsse den Rückfall in immer größere und gewaltsamere Kriege nicht verhindert.
Das europäische Projekt der Friedenssicherung begann bereits nach dem Ersten Weltkrieg mit den Verträgen von Locarno im Jahr 1925. Diese Verträge sicherten die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich und beendeten die Isolation Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg mit der Aufnahme in den Völkerbund. Ein Jahr später erhielten Aristide Briand und Gustav Stresemann dafür den Friedensnobelpreis. Dieser Friede hielt aber nicht lange; er endete mit der Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg der Nationalsozialisten. Wie aber konnte man sich in Europa nach 17 Millionen Toten im Ersten und 55 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg, nach präzedenzlosen Menschheitsverbrechen und umfassender Zerstörung von Städten und Kulturerbe überhaupt auf einen Neuanfang einstellen?
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Friedenssicherung am Anfang des europäischen Projekts. Diese begann mit einer Allianz zur Entschärfung der Bedrohung durch Deutschland und später mit der vollen Integration Deutschlands in diese Allianz. Aus deutscher Perspektive bleibt an diesem zweiten Friedensprojekt der Verzicht der Alliierten auf Hass und Vergeltung überraschend. Tatsächlich hat sich Winston Churchill bereits 1946 dafür eingesetzt, dass den Deutschen und denen, die mit den Achsenmächten kollaboriert hatten, nicht länger ihre Vergangenheit vorgehalten wurde. Nachdem die Verantwortlichen in Nürnberg verurteilt worden waren, verlangte er «ein Ende der Abrechnungen» und plädierte für ein gemeinsames Vergessen. Mit diesem Plädoyer fürs Vergessen, auf das wir noch ausführlicher zurückkommen werden (siehe unten, S. 41–46), hoffte er, Gefühle des Hasses und der Rache zu unterbinden und einen nachhaltigen Frieden zu befördern.
Der Verzicht auf Rache war damals Konsens unter den Siegermächten und wurde sogar von Holocaust-Überlebenden wie Robert Antelme mit Nachdruck vertreten, dessen Wort in dieser Sache unschätzbares Gewicht hatte. Der Fall von Elie Wiesel lag etwas anders. Er, der die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald überlebte, hat sein erstes Erinnerungsbuch zunächst auf Jiddisch geschrieben. Das 800 Seiten lange Manuskript hat er dann auf Anraten des französischen Schriftstellers François Mauriac stark gekürzt und unter dem Titel La Nuit 1958 in einer bereinigten französischen Fassung veröffentlicht, aus der die Eruption von Gefühlen des Hasses und der Rache getilgt war.