Ist die Zeit aus den Fugen? - Aleida Assmann - E-Book

Ist die Zeit aus den Fugen? E-Book

Aleida Assmann

4,4

Beschreibung

Wie einst für Hamlet ist heute die Ordnung der Zeit aus den Fugen geraten. Die Zukunft hält nicht mehr, was sie einmal verspochen hatte, die Gegenwart ist unübersichtlich geworden und die Vergangenheit gibt keine Ruhe und kehrt in vielfältigen Gestalten zurück. Der Grund für dieses temporale Chaos ist der Niedergang des modernen Zeitregimes, das uns bis vor kurzem auf die Zukunft ausgerichtet hatte und die Vergangenheit vergessen ließ. Aleida Assmann blickt zurück auf diese Zeitordnung der Moderne und beschreibt ihre Orientierungskraft an Beispielen aus der Geschichte und der Literatur. Sie fragt nach den Gründen für die Krise des modernen Zeitregimes und zeigt, welche Erfahrungen zu seinem Niedergang geführt haben.

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Hanser E-Book

Aleida Assmann

Ist die Zeit

aus den Fugen?

Aufstieg und Fall

des Zeitregimes der Moderne

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24437-5

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2013

Umschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1   Zeit und Moderne

Baudelaires Entdeckung der Gegenwart

Wie lange dauert die Gegenwart?

2Arbeit am modernen Mythos der Geschichte

Wandlungen des Fortschrittsbegriffs

Zeittheoretische Grundlagen der modernen Geschichtswissenschaft

Modernisierungstheorie und Theorien der Moderne

Wann beginnt die Moderne? Modernisierungsschübe in der westlichen Geschichte

Das goldene Tor der Zukunft: Modernisierung als Kultur am Beispiel der USA

3Fünf Aspekte des modernen Zeitregimes

Das Brechen der Zeit

Die Fiktion des Anfangs

Kreative Zerstörung

Zerstören und Bewahren – Die Erfindung des Historischen

Beschleunigung

4Zeitkonzepte der Spätmoderne

Die Kompensationstheorie

Kompensationstheorie und Gedächtnistheorie – Zwei unterschiedliche Zugänge zur Vergangenheit

5Ist die Zeit aus den Fugen?

Total recall – Katastrophenrhetorik und breite Gegenwart

Der Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

6Vorbei ist nicht vorüber – Reparaturen am Zeitregime der Moderne

Drei neue Kategorien: Kultur, Identität, Gedächtnis

Vorbei ist nicht vorüber: Historische Wunden und das Konzept der reversiblen Zeit

Identitätspolitik – Die Verschränkung von Geschichte und Gedächtnis

Zwei Trends in der Geschichtspolitik

Schluss: Zuviel Vergangenheit und zuwenig Zukunft?

Nachweis Motti

Personenregister

Vorwort

Dieses Buch hat ein klar definiertes Thema: Das Auseinanderbrechen und neu Zusammensetzen des temporalen Zeitgefüges von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es führt zurück in eine verschollene, fremde Zeit, die aber noch gar nicht so lange zurückliegt. Das war eine Zeit, in der es zwei zentrale Begriffe, die heute die Kulturwissenschaften bestimmen und darüber hinaus in (fast) jedermanns Munde sind, noch nicht gab: ›Erinnerungskultur‹ und ›kollektive Identität‹. Dafür gab es einen auratischen Schlüsselbegriff, der heute an Glanz verloren hat: ›Zukunft‹. So, wie man sich heute nicht mehr vorstellen kann, dass im öffentlichen Raum einschließlich der Universitäten, Schulen und Krankenhäuser unbedenklich und hingebungsvoll geraucht wurde, sowenig konnte man sich damals etwas unter Konzepten wie ›kulturelles‹ oder ›kollektives Gedächtnis‹ vorstellen.

Das Buch unternimmt eine Reise in diese vergessene Vergangenheit und versucht, die in ihr wirkende vorherrschende Zeitordnung aus der Distanz noch einmal zusammenhängend vor unser Auge zu stellen. Da diese Zeitordnung implizit in Wahrnehmungsmuster, Handlungsformen und Deutungsrahmen eingegangen, aber nicht als ein kohärenter Diskurs fassbar ist, musste ich mich hier auf eine breit angelegte Such- und Sammelaktion einlassen. In diesem Buch wird den Lesern zugemutet, Befunde aus verschiedenen Geschichtsepochen und kulturellen Bereichen zu besichtigen in der Erwartung, dass sich aus diesen konkreten Fragmenten ein Bild dessen aufbaut, was ich mit einem abstrakten Begriff das ›Zeitregime der Moderne‹ nenne.

Weil der Gegenstand, von dem dieses Buch handelt, überhaupt erst einmal entdeckt und bestimmt werden musste, konnte dieses Projekt nicht so zielstrebig angelegt werden wie andere selbstgesteckte Aufgaben. Den Impuls zu dieser Arbeit bildeten zunächst Intuitionen und Vermutungen eher als klare Fakten. Die Methode war, metaphorisch gesprochen, weniger die einer Sonde als die einer Wünschelrute. An die Stelle einer klar umrissenen Suche trat ein tastender Versuch, bei dem vieles allererst aufzufinden war: durch Zufall, nebenbei, im Hintergrund, im soft focus. Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben sich dann die Konturen dieses zunächst sehr tentativen Themas immer klarer herausgebildet. Fragen, die ich zunächst glaubte in einsamer Abgeschiedenheit für mich selbst klären zu müssen, erwiesen sich immer mehr als ein gemeinsames und inzwischen auch immer dringlicheres Anliegen. So kann ich nun meinen eigenen Beitrag zu diesem Thema in ein größeres Puzzle einfügen und dabei von anderen Darstellungen und Bewertungen des aktuellen Zeitproblems profitieren.

Ich danke Michael Krüger für sein unerschütterlich anhaltendes Interesse an meiner Arbeit und die Bereitschaft, dieses Buch in sein letztes Verlagsprogramm aufzunehmen, auch wenn es nicht, wie einst versprochen, ein Buch über das Lesen geworden ist. Der Konstanzer Exzellenzcluster hat es ermöglicht, dass Janine Firges und Ines Detmers mir umsichtig, flink und gründlich bei der Durchsicht des Manuskripts und der Korrektur der Fahnen helfen konnten. Beiden habe ich sehr zu danken.

Einleitung

»Es war einmal in den strahlenden 60ern, da gab es noch jede Menge Zukunft im Angebot.«1 Dieser Satz steht in Graham Swifts Roman Waterland, der 1983 erschienen ist. Zwei Jahrzehnte später war die Zukunft der strahlenden 1960er Jahre also schon verbraucht; sie war zu einer ›vergangenen Zukunft‹ geworden. Vergangene Zukunft ist auch der Titel eines wichtigen Buches von Reinhart Koselleck, in dem der Historiker uns belehrt hat, dass selbst die Zukunft historischem Wandel unterliegt. Während man bis dahin davon ausgegangen war, dass die Arbeitsdomäne der Historiker die Vergangenheit sei, haben neuere Studien gezeigt, dass zu dieser Vergangenheit auch unterschiedliche Zukünfte gehören.2

Die Zukunft als eine sichere Orientierung und glänzende Versprechung, ja Verheißung, die den eigenen Plänen und Zielen eine klare Richtung wies – das war einmal. Diese Zukunft ist längst Vergangenheit geworden. Sie erreichte ihren Zenit in den 1960er Jahren. Im Jahr 1967 war der Philosoph Ernst Bloch Empfänger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. In seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche sagte er: »Eine Landkarte, worauf das Land Utopia fehlt, verdient nicht einmal einen Blick.«3 Utopia war für Bloch eine Metapher für Zukunftsvisionen und die Antizipation einer besseren und gerechteren Welt für die Schwachen und Erniedrigten. Dieser besseren Zukunft, so erläuterte er damals, bahnen ›menschenfreundliche Revolutionen‹ den Weg. Bloch unterschied deutlich zwischen menschenfreundlichen Revolutionen einerseits und Kriegen andererseits, die nur auf Eroberung und Machterhalt ausgerichtet sind. Revolutionen dagegen seien Geburtshelfer des Guten, Wahren und Gerechten. »Vor allem der russische Revolutionskampf«, so betonte Bloch, »war nirgends erobernd wie ein Krieg, sondern eben nur geburtshelferisch für jene nicht mehr antagonistische Gesellschaft abgezielt, womit die alte schwanger ist.« (11a)

Dieser von Bloch damals vertretenen Geschichtsdeutung kann heute angesichts der Millionen Toten, die das Stalin-Regime gekostet hat, niemand mehr so einfach folgen. Wir konnten jedenfalls erleben, dass nach 1989 diese Zukunftsperspektive mit dem Mauerfall und dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch im Osten Europas abrupt in sich zusammenfiel. Auch die Russen, die die positive Bewertung dieser Wende nicht teilen können – Putin hat den Zerfall des sozialistischen Blocks als die »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnet –, haben sich inzwischen dieser Zukunft entledigt. Sie haben die russische Revolution inzwischen zum »Staatsstreich« degradiert und aus ihren Annalen gestrichen. Der damit verbundene Gedenktag, der 7. November, musste ebenfalls verschwinden und ist dem 4. November gewichen, einer Konstruktion der Historiker im Dienste Putins, die ein vergessenes und eher fiktives Ereignis aus dem 17. Jahrhundert ausgegraben haben, um ihn der russischen Bevölkerung in zeitlicher Nähe des vertrauten Feiertags als Äquivalent anzubieten.4

Einige der Zukunftsszenarien des Kalten Krieges und seiner bipolaren Weltordnung sind erst kürzlich zu Ende gegangen. Im Oktober 2011 erreichte uns die Nachricht von der Zerlegung der letzten amerikanischen Atombombe, die ein Hundertfaches der Sprengkapazität von Hiroshima hatte. Nach deren Zerlegung sei die Welt nun »ein sichererer Ort« geworden, wie der Leiter der amerikanischen ›Behörde für Nukleare Sicherheit‹ erklärte. Die B53 sei »zu einer anderen Zeit für eine andere Welt« entwickelt worden. In den Medien sprach man von einem Meilenstein in der nuklearen Abrüstungspolitik von US-Präsident Barack Obama.5 Bevor er diese Zukunft beendete, hat Obama jedoch einen anderen Zukunftshorizont für sein Land erweitert. 2010 verkündete er im Raumfahrtzentrum der NASA in Florida, dass er ein bemanntes Raumschiff auf den Mars schicken werde. Spätestens im Jahr 2035 rechne er damit, dass Astronauten ihren Fuß auf den Roten Planeten setzen. »And I expect to be around and see it!«, fügte er noch hinzu. Auf den Mond dagegen wolle er nicht mehr: »Da waren wir schon einmal […]. Es gibt viel mehr Weltall zu erkunden.«6

Obamas ungebrochener Entdeckungswille kann jedoch nicht davon ablenken, dass es derzeit in den Bereichen Politik, Gesellschaft und Umwelt um die Ressource Zukunft eher schlecht bestellt ist. Die Erwartungen an die Zukunft sind bescheiden geworden. Sie hat erheblich an Leuchtkraft verloren, seit wir sie nicht mehr so selbstverständlich zum Fluchtpunkt unserer Wünsche, Ziele und Projektionen machen können. Dass spezifische Zukunftshorizonte entstehen und vergehen, ist ja, wie wir von Historikern gelernt haben, an sich nichts Neues. Es sind aber nicht nur bestimmte Zukunftsvisionen in sich zusammengebrochen, sondern das Konzept Zukunft hat sich tiefgreifend verändert. Es ist die Ressource Zukunft selbst, die heute auf dem Prüfstein steht und neu bewertet wird.

Wie kam es zu dieser Ernüchterung? Was sind die Ursachen dafür, dass die Aktie Zukunft so drastisch im Kurs gefallen ist? Die Antworten dafür liegen auf der Hand: Die Zukunft ist erschöpft worden durch den Ausbau der technischen Zivilisation, die einen ungebremsten Ressourcenabbau betreibt. Erfahrungen wie die Umweltverschmutzung, die Verknappung von Trinkwasser, der Klimawandel, aber auch demographische Probleme wie Überbevölkerung und die zunehmende Überalterung von Gesellschaften haben unser Bild von der Zukunft grundsätzlich verändert. Sie ist unter diesen Prämissen nicht mehr das Eldorado unserer Wünsche und Hoffnungen, und damit ist auch das Fortschrittspathos erloschen. Das bezeugen inzwischen auch Umfragen. Auf die Frage: ›Ist die Welt immer besser geworden?‹ antworteten 70% spontan mit Nein, 20% nach längerem Überlegen mit Ja und 10% gaben keine Antwort.7 Wir gehen heute nicht mehr selbstverständlich davon aus, dass Veränderung automatisch Verbesserung einschließt. Die Zukunft, so dürfen wir vielleicht zusammenfassen, ist von einem Gegenstand der Erwartung und Hoffnung zu einem Gegenstand der Sorge und damit zugleich auch der Vorsorge geworden: Man kann sich auf die Zukunft nicht mehr so einfach verlassen, sondern muss etwas für sie tun im Sinne eines verantwortlichen, nachhaltigen Haushaltens: Sonst kann man nicht mehr sicher sein, dass es sie für nachwachsende Generationen auch weiterhin gibt.

Neben dem Verblassen der Zukunft erleben wir heute aber noch eine andere Anomalie der uns vertrauten Zeitordnung, und das ist eine in dieser Form ungekannte Wiederkehr der Vergangenheit. Episoden der Geschichte, die wir glaubten lange und sicher hinter uns gelassen zu haben, werden wieder aufgerollt und bäumen sich vor uns auf. Das betrifft insbesondere Ereignisse, die mit extremer Gewalt verbunden waren. Wir können hier gar von einer ›Kontinentalverschiebung‹ in unserer Zeitordnung sprechen: Während die Zukunft an Strahlkraft verloren hat, macht sich die Vergangenheit immer stärker in unserem Bewusstsein breit. Die Überlast der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts stellt inzwischen gebieterische Ansprüche an unsere Aufmerksamkeit, Anerkennung, Verantwortung und nicht zuletzt: Erinnerung. Diese markante Verschiebung des Akzents von der Zukunft auf die Vergangenheit ist vor mehr als einem Jahrzehnt bereits Andreas Huyssen aufgefallen. Er schrieb damals:

Eines der überraschendsten kulturellen und politischen Phänomene der letzten Jahre ist das Interesse an Erinnerung als Schlüsselphänomen westlicher Gesellschaften und damit verbunden die Hinwendung zur Vergangenheit und Abwendung von der Zukunft, auf die die Moderne in früheren Dekaden des 20. Jahrhunderts ausgerichtet war. Von den apokalyptischen Mythen eines radikalen Durchbruchs und der Hervorbringung eines ›Neuen Menschen‹ im Europa des 20. Jahrhunderts im Rahmen mörderischer Rassen- oder Klassen-Phantasien des Nationalsozialismus und Stalinismus bis hin zum amerikanischen Modernisierungsparadigma des Kalten Krieges war die Kultur der Moderne von dem angetrieben, was wir ›gegenwärtige Zukunft‹ nennen können. Seit den 1980er Jahren, so scheint es, hat sich der Fokus von gegenwärtigen Zukunfts- zu gegenwärtigen Vergangenheitsvisionen verschoben, und dieser Wandel in der Erfahrung und Empfindung von Zeit bedarf einer historischen und phänomenologischen Erklärung.8

Huyssen führt hier weitere wichtige Gründe dafür an, warum das Vertrauen in die Zukunft in den letzten Jahrzehnten stark gelitten hat. Sein Blick auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts erfasst nämlich gerade auch die mit ihr verbundene ›vergangene Zukunft‹, und dabei stellt sich heraus, dass bestimmte Utopien wie etwa die von einem ›neuen Menschen‹ einen wesentlichen Anteil an der politischen Legitimierung und Entfesselung von Gewalt hatten. Vergangenheit und Zukunft bilden hier also keine einfachen Gegensätze. Mit seinem Hinweis auf die Ideologien des Faschismus und Kommunismus zeichnet Huyssen ganz andere, düstere Züge in das Bild der westlichen Modernisierungsgeschichte ein. Emphatische Zukunftsorientierung, deren Ende wir soeben ratlos beklagen, ist offensichtlich nicht nur mit Aufklärung, Emanzipation und Fortschritt, sondern auch mit ideologischen Programmen, apokalyptischen Mythen, Krieg und der Entfesselung von Gewalt verbunden. So positiv und optimistisch das Zukunftsbild aus der Perspektive der Modernisierungstheorie erscheint, so negativ und pessimistisch ist das Zukunftsbild der kulturkritischen Theoretiker der Moderne. Wir werden auf diesen Gegensatz der Perspektiven noch ausführlicher zurückkommen.

Seit den 1980er Jahren, so beobachtet Huyssen, »hat sich der Fokus von gegenwärtigen Zukunfts- zu gegenwärtigen Vergangenheitsvisionen verschoben«. Was hat diese zeitliche Orientierungs-Wende von der Zukunft zur Vergangenheit in Gang gesetzt? Was genau war der Status der Vergangenheit, bevor die Erinnerung plötzlich »zum Schlüsselphänomen westlicher Gesellschaften« wurde, wie Huyssen schreibt? Welche Probleme und Chancen sind mit diesem Wandel unseres westlichen Zeit- und Geschichtsverständnisses verbunden? Auf diese wichtigen Fragen möchte ich mich im Folgenden einlassen, denn dieser »Wandel in der Erfahrung und Empfindung von Zeit bedarf« wie Andreas Huyssen hinzufügt, »einer historischen und phänomenologischen Erklärung«.

Die Kulturwissenschaftler sind uns bisher eine solche Erklärung schuldiggeblieben. Meines Wissens hat noch niemand diese Verschiebung in den Koordinaten unserer kulturellen Zeitordnung systematisch untersucht und erklärt.

Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, möchte ich noch auf den persönlichen Anstoß zu sprechen kommen, der mich auf die Spur dieses Themas gebracht hat. Der Wandel, der in den 1980er Jahren seinen Anfang nahm, war ja für die Zeitgenossen zu jenem Zeitpunkt noch überhaupt nicht absehbar. Erst nach einem weiteren Vierteljahrhundert haben die Umrisse dieses Wandels klare Konturen angenommen und sind ins ›Jetzt der Erkennbarkeit‹ getreten. Diese Verschiebungen im kulturellen Zeitverhältnis wurden dabei keineswegs einheitlich wahrgenommen. Das fiel mir immer wieder in Diskussionen mit Vertretern meiner akademischen Lehrergeneration (insbesondere der Jahrgänge um 1926) auf. Sie wollten von dieser Verschiebung im Gefüge der Zeitordnung nichts wissen; aus dem einfachen Grund, weil sie nichts von ihr hielten. Es waren insbesondere die Lichtgestalten der Modernisierung, die mit ihren Fragen und Konzepten das akademische Leben von Grund auf erneuert hatten, die sich mit der Wiederkehr der Vergangenheit und der Erinnerung als Schlüsselphänomen westlicher Gesellschaften besonders schwertaten. Kulturelle Wenden sind keine Sache abstrakter Einschnitte, sondern schlagen bis auf die Ebene individueller Lebenserfahrung und persönlicher Weltdeutung durch. Sie gehen auch durch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hindurch und berühren deren generationsspezifische Erfahrungen, Emotionen und Investitionen in Lebenswerke und Lebenswerte. Diese Generation der modernen Erneuerer verkörperte eine emphatische Zukunftsorientierung, die mit einer Rückwendung – zumal zur eigenen Vergangenheit – nicht kompatibel war. Da ihre Zukunftsorientierung offenbar mit den Prämissen der Gedächtnisforschung unvereinbar war, stieß ich damit bei meinen akademischen Lehrern immer wieder auf einen erstaunlich starken emotionalen Widerstand.

Der offenkundig affektive Charakter dieser Abwehr interessierte und beschäftigte mich nachhaltig und wurde zum Anstoß für dieses Projekt historischer Selbstaufklärung, das nun die Form eines Buches angenommen hat. In solchen Kollisionen und Reibungen zeichneten sich mir zum ersten Mal die Umrisse einer spezifisch modernen Zeitordnung ab, die ich dann zum Gegenstand einer systematischen Untersuchung machte. Ich stieß dabei auf bestimmte Aspekte der modernen Zeitordnung, die ich selbst bis dahin in alternativloser Selbstverständlichkeit gelebt, gedacht, erfahren und als neutrale Weltbeschreibung wahrgenommen hatte.

Diese historisierende Reflexion führte mich keineswegs zu einer postmodernen Verwerfung des Modernisierungsparadigmas. Ebenso abwegig wäre es, mein kritisches Interesse an einer Durchleuchtung der zeitlichen Grundlagen der Modernisierung einer wertkonservativen Haltung zuzuschreiben. Ich habe die herausragenden Vertreter des Modernisierungsparadigmas unter den akademischen Lehrern bewundert und bin von ihnen zutiefst beeinflusst und inspiriert. Meine kulturelle und geistige Sozialisation macht mich zu einem Produkt dieser Wissenskultur. Seit den 1980er Jahren brachen jedoch nach und nach auch andere kulturelle Stimmen und geistige Traditionen in die westdeutsche Nachkriegswelt ein, darunter jüdische, postkoloniale und weibliche, die im Rahmen des dominanten Modernisierungsparadigmas keinen Platz finden konnten. Sich dem mit Neugier und Interesse zuzuwenden, was vom überlieferten Denkrahmen ausgeschlossen ist, wird für die nächste Generation automatisch zu einem Imperativ. Das galt insbesondere für die Rückwendung zur deutschen NS-Vergangenheit, von der die Modernisierungstheoretiker zum großen Teil nichts wissen wollten.9 Diese Rückwendung führte in Westdeutschland zu einem neuen Interesse an »Erinnerung als Schlüsselphänomen westlicher Gesellschaften« und damit – auch außerhalb Deutschlands – zur Verschiebung des Fokus »von gegenwärtigen Zukunfts- zu gegenwärtigen Vergangenheitsvisionen«.

»Das 20. Jahrhundert endete zwischen 1973 und 1989«, schrieb der amerikanische Historiker Charles S. Maier.10 So präzise können Historiker Zäsuren rekonstruieren und datieren – allerdings immer erst im Nachhinein. Meine These ist, dass in den 1980er Jahren nicht nur das 20. Jahrhundert endete, sondern mit ihm auch die fraglose Geltung der temporalen Struktur des Modernisierungsparadigmas. Von einer markanten ›Wende‹ kann bei diesem schleichenden Bewusstseinswandel allerdings nicht die Rede sein. Als sich zentrale Prämissen der westlichen Zeitordnung veränderten, ist weder eine geistige Revolution ausgerufen worden noch eine Mauer zusammengebrochen. Dieser Orientierungswandel war ganz ausgesprochen nicht das Konstrukt von einfallsreichen Theoretikern, die einen neuen ›turn‹ ausriefen, sondern Teil der veränderten Rahmenbedingungen westlicher Kulturentwicklung.

Parallel zum Verblassen der Zukunftsvisionen des Modernisierungsparadigmas erlebten wir seit den 1980er und 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts die überraschende kulturelle Aufwertung von Vergangenheit und Erinnerung als globales Phänomen. Die damit verbundenen Verschiebungen der Zeitordnung, der Handlungsorientierung und Geschichtsdeutung möchte ich hier unter dem Begriff des kulturellen Zeitregimes zusammenfassen.11 Darunter verstehe ich einen Komplex kultureller Vorannahmen, Werte und Entscheidungen, der menschliches Wollen, Handeln, Fühlen und Deuten steuert, ohne dass diese Grundlagen vom Individuum selbst bewusst reflektiert werden. François Hartog spricht in diesem Sinne von ›régime d’historicité‹ und meint damit die unterschiedlichen Formen, in denen sich Gesellschaften in der Zeit positionieren und mit ihrer Vergangenheit umgehen. Als Zeitregime bezeichnet Hartog eine Form »der zeitlichen Erfahrung, die Zeit nicht nur auf eine neutrale Weise misst und rhythmisiert, sondern obendrein die Vergangenheit als eine Abfolge bedeutungsvoller Strukturen organisiert«.12 Er geht dabei vom Standpunkt des Historikers aus, schließt jedoch weiterreichende Perspektiven mit ein:

Der Begriff erlaubt es nicht nur, unterschiedliche Formen der Geschichtsauffassung miteinander zu vergleichen, sondern auch und vordringlich die unterschiedlichen Methoden des Zeitverhältnisses überhaupt: Formen der Zeiterfahrung, hier und anderswo, heute und gestern; Arten des In-der-Zeit-Seins. […] Es geht dabei ganz generell um historische Existenzformen und die Frage, wie sich die Menschheit zur ihrer Geschichte verhält.13

Die Frage nach kulturellen Zeitregimes eröffnet einen vergleichenden Zugang zur kulturellen Semantik von Zeitordnungen und schärft den Blick für kulturelle Vorannahmen, die als selbstverständliche, alternativlose Orientierungen unter die Bewusstseinsschwelle abgesenkt und als ›implizite Axiome‹ umso wirksamer sind, je weniger sie zum Gegenstand von Reflexionen und Debatten werden. Die Zeit ist jedoch inzwischen gekommen, um diesen Komplex genauer unter die Lupe zu nehmen und auf seine positiven und negativen Wirkungen hin zu prüfen. Mit dem Begriff des Zeitregimes stellt sich die Frage nicht nur nach der Historisierung, sondern noch umfassender nach der ›Kulturalisierung‹ des Themas Zeit. Die besondere Betonung der kulturellen Investitionen in die Formung der Zeit ist keineswegs trivial, denn im Rahmen des Modernisierungsparadigmas wurde Zeit ja gerade nicht als eine kulturelle Schöpfung verstanden, sondern als eine abstrakte, menschlicher Manipulation unzugängliche, rein objektive Dimension definiert, die einer immanenten Eigenlogik folgte. Genau diese Nähe zu neuen Techniken des Messens und den Naturwissenschaften machte sie ja unter anderem so modern und entzog sie dabei zugleich dem Zugriff der Selbstreflexion und Selbsthistorisierung.

Ältere kulturelle Zeitregime stimmten darin überein, dass sie das Gewicht auf die Vergangenheit legten, aus der heraus die Gegenwart und Zukunft ihre normativen Grundlagen bezogen. Mit dieser traditionellen Form der Zeitordnung brach das Zeitregime der Moderne,14 das seine Ausrichtung radikal von der Vergangenheit auf die Zukunft umstellte. Das bedeutete eine revolutionäre Umstrukturierung der kulturellen Zeitordnung, deren Wertbindung damit vom Alten auf das Neue und vom Bekannten auf das Unbekannte, vom Gewesenen auf das erst noch Werdende und Kommende überging. Die Aufspreizung der Zeit in die Wertpole des Alten und des Neuen ist selbst Symptom und Signal dieses Zeitregimes, das menschliches Zeiterleben und historische Sinnbildung unter ein ganz neues Vorzeichen stellte. Im Folgenden soll dieses ›moderne Zeitregime‹, wie wir es von nun an bezeichnen wollen, in seiner Genese, Ausprägung und Wirkung genauer untersucht werden. Da das Zeitregime selbst das verbindende Band einer Epoche und zugleich das gemeinsame Dach für eine Vielfalt kultureller Handlungen, Skripte und Deutungen ist, war es notwendig, die Belege für die Evidenz dieser modernen Zeitorientierung nicht nur aus einem einzigen Diskurs wie zum Beispiel der Geschichtsschreibung abzuleiten, sondern das Bild dieses Zeitregimes aus ganz verschiedenen kulturellen Bereichen zusammenzufügen. Erst wenn das moderne Zeitregime nicht mehr nur als ein theoretischer Begriff, sondern auch als eine kulturelle Modellierung und Gestalt vor uns steht, kann dessen historische Bedeutung ermessen und differenzierter beschrieben werden.

Was ist auf das moderne Zeitregime gefolgt? Warum und unter welchen Bedingungen stieß es an seine Grenzen und verlor an fundierender Geltung und Überzeugungskraft? Welche Elemente haben ihre Gültigkeit behalten, welche sind durch einen weiteren Orientierungswechsel außer Kraft gesetzt worden? Was besagt dieser Abschied vom modernen Zeitregime für die Zeitorientierung und Wertprämissen unserer gegenwärtigen Kultur? Um diese und weitere Fragen wird es in den folgenden Kapiteln gehen, die zunächst die Entstehung und Karriere des modernen Zeitregimes nachzeichnen, daran anschließend Symptome seiner Krise beleuchten, und schließlich mit kritischen Positionen auch Vorschläge für Korrekturen enthalten.

1   Zeit und Moderne

Zeit und Moderne stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Positiv konnotierte Stichworte wie Bewegung, Veränderung, Wandel, Erneuerung, Fortschritt deuten die zentrale Bedeutung der Zeit für Moderne und Modernisierung an. Während Zeit immer schon mit Bewegung und Veränderung gleichgesetzt wurde, scheint die Freude am Wandel jedoch neu und spezifisch modern zu sein. Wandel und Veränderung nicht mehr als Problem, sondern als elementare und wichtigste kulturelle Ressource zu begreifen ist eine Grundüberzeugung der Moderne. Mit der positiven Bewertung von Zeit und der damit verbundenen Dynamisierung der Kultur sind neue Standpunkte und Gegensatzpaare entstanden. Drei solcher Gegensatzpaare hat Hans Ulrich Gumbrecht in einem grundlegenden Handbuch-Artikel ›Modern, Modernität, Moderne‹ im Lexikon historischer Grundbegriffe herausgearbeitet.15 ›Modern‹ bezeichnet demnach

1.

den Standpunkt der Gegenwärtigkeit in Bezug auf etwas Vorangegangenes und Vergangenes

2.

die Qualifikation einer Sache als ›neu‹ in Absetzung von ›Altem‹ und

3.

die Erfahrung des Flüchtigen und Vorübergehenden gegenüber etwas Stabilem und Dauerhaftem.

Der erste Aspekt betrifft die bewusste Positionierung in der Gegenwart, die dadurch zu einer emphatisch modernen Erfahrung wird, dass sie sich beständig von einer nicht mehr aktuellen Vergangenheit absetzt. Der zweite Aspekt deutet die Spaltung aktuell/vergangen mithilfe des dialektischen Begriffspaars als neu/alt. Tatsächlich kann, wie wir noch genauer sehen werden, das Zeitkonzept der Moderne als eine Maschine zur Herstellung sowohl des Neuen wie des Alten aufgefasst werden. Im Zentrum steht dabei der kulturelle Imperativ der Innovation. Das Neue ist ein Differenzbegriff, der stets auf eine Folie angewiesen ist, auf der er überhaupt erst zur Erscheinung kommen kann. Deshalb kommt die Produktion des ›Neuen‹ nicht ohne die Koproduktion des ›Alten‹ aus. Der dritte von Gumbrecht aufgeführte Aspekt betrifft die Zeitbeschleunigung und Dynamisierung der Wahrnehmung als eine spezifisch moderne Erfahrung. Moderne bedeutet somit vor allem gesteigertes Zeitbewusstsein, Zeitreflexivität und Zeitrelationalität unter der Bedingung forcierten Wandels.

Gegenwärtig, neu und flüchtig – alle von Gumbrecht aufgezeigten Bedeutungen von modern laufen auf eine neue Betonung der Zeit hinaus. Ihrem Selbstverständnis nach unterscheidet sich die Epoche der Moderne von vormodernen Zeiten dadurch, dass sie die Zeitordnungen anderer Kulturen und Geschichtsepochen hinter sich lässt und das physikalische Zeit-Konzept des linear irreversiblen ›Zeitpfeils‹ zur verbindlichen Grundlage erhebt. Sie unterstellt sich damit dem Diktat einer Zeit, die kontinuierlich, gleichmäßig und irreversibel durch alle Ereignisse hindurchläuft und sie chronologisch messbar macht.16 Das Entscheidende an dieser neuen Zeit ist, dass sie von natürlichen Abläufen und menschlichen Handlungen vollkommen abgelöst ist. Das macht sie zu einer im strengen Sinne objektiven Dimension, die menschlicher Kontrolle und Manipulation entzogen ist. Die physikalische Zeitordnung und ihre universale Geltung sind eine Entdeckung der Neuzeit. Die Kultur der Moderne wurde auf diese physikalische, von menschlichen Rhythmen und Bedeutungszuschreibungen befreite Zeitordnung gegründet und an ihr ausgerichtet. Tatsächlich wurden jedoch, wie noch genauer zu zeigen sein wird, die objektiven Eigenschaften der physikalischen Zeitordnung mit spezifisch modernen kulturellen Bedeutungen, Werten und Imperativen aufgeladen. Korrekter wäre deshalb die Formulierung, dass die Moderne die physikalische Zeitordnung kulturalisiert hat.

Wenn wir über den kulturellen Zusammenhang von Zeit und Moderne nachdenken, könnten wir mit den ersten Anzeichen der Kostbarkeit von Zeit im Zeichen ihrer Verknappung beginnen. Diese Einsicht findet sich vermehrt im 17. Jahrhundert, als sich die Puritaner von der kurzen, ihnen zugemessenen Lebensspanne explizit Rechenschaft abzulegen begannen. Die Zeit, die die menschliche Existenz im Diesseits bestimmte, galt nicht mehr pauschal als eitel und nichtig im Sinne der ›Vorläufigkeit‹ der allein wichtigen Existenz im Jenseits, sondern als eine Gabe, die die Menschen vor den Augen ihres göttlichen Schöpfers und Richters maximal zu nutzen hatten. Mit diesem neuen, selbstauferlegten Zeitdruck entstand ein Gefühl der Verantwortung gegenüber der zugemessenen Lebensspanne, das sich in neuen Formen der Planung, Selbstkontrolle und Buchführung niederschlug. Max Weber hat anschaulich gezeigt, wie dieses neue Zeitbewusstsein im puritanischen Bürgertum nicht nur zur Grundlage einer ›methodischen Lebensführung‹, sondern auch zum Motor eines blühenden Kapitalismus geworden ist.17

Als Einstieg in den Zusammenhang von Zeit und Moderne wähle ich hier jedoch einen Essay, der zwei Jahrhunderte nach der Entdeckung der begrenzten Zeit durch die Puritaner entstanden ist. Er stammt von Baudelaire und beschreibt die Entdeckung der Gegenwart in der Gestalt des isolierten und exponierten Augenblicks. Das damit verbundene Zeitgefühl ist im Wortsinne grenzwertig. Es eignet sich als ein Paradigma künstlerischer Wahrnehmung, das die Routinen des Blicks und die Konventionen der Darstellung unterläuft. Die temporale Grenzerfahrung von Baudelaires Gegenwart ist jedoch unvereinbar mit menschlichen Grundbedürfnissen wie Erfahrung, Sozialität, Handlung, Sinn oder Identität. Deshalb erleben wir Gegenwart gerade nicht als flüchtigen Jetztpunkt, sondern als eine immer schon gedehnte Zeitspanne, die sich, wie im Folgenden ausgeführt wird, mit ganz unterschiedlichen Formen von Dauer verbinden kann. Von Baudelaires künstlerischer Bestimmung der Gegenwart und dem Zeitroman als einem weiteren emphatisch modernen Zeitexperiment werden wir anschließend der Verbindung von Zeit und Moderne in der neueren Geschichtstheorie nachgehen.

Baudelaires Entdeckung der Gegenwart

Baudelaire war der erste, der die Begriffe ›Zeit‹ und ›Moderne‹ programmatisch miteinander verkoppelt hat. In einem viel zitierten Text mit dem Titel »Der Maler des modernen Lebens« beschrieb er einen neuartigen Malstil, den er bei seinem zeitgenössischen Lieblingsmaler Constantin Guys entdeckte und bewunderte.18 Dieser hatte die behäbige Ölmalerei auf Leinwand hinter sich gelassen und experimentierte mit leichthändigen Techniken wie Aquarell und Kreide auf Papier. Zusammen mit der zeitaufwendigen Studio-Technik gab er die sichere klassische Form des akademischen Malstils auf und entwickelte bewusst flüchtige Verfahren, um eine neue Qualität des Spontanen und Dynamischen zu vermitteln. In seine Reflexionen über diesen neuen Malstil hat Baudelaire wichtige Gedanken über das Verhältnis von Zeit und Kunst einfließen lassen. Der berühmteste Satz seines Essays lautet: »Die Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige« (la modernité, ç’est le transitoire, le fugitive, le contingent).19 Das Wort ›transitoire‹ sollte hier jedoch besser durch ›übergänglich‹ wiedergegeben werden, denn das Zeitempfinden der Moderne, das Baudelaire hier zur Geltung bringt, unterscheidet sich grundsätzlich vom barocken Vergänglichkeitspathos. Im Rahmen der barocken Vanitas-Topik galt alles Sinnliche und Diesseitige als scheinhaft und vorläufig, weil es vor dem Hintergrund eines religiösen Ewigkeitsversprechens wahrgenommen wurde. Baudelaires Augenblick unterscheidet sich aber auch von dem ›fruchtbaren Augenblick‹ der deutschen Klassik, den Lessing als mit Vergangenheit beladen und mit der Zukunft schwanger gehend definiert hatte. Im Gegensatz zum fruchtbaren Augenblick, der über sich selbst hinausweist, weil er mit Vergangenheit und Zukunft angereichert ist, und damit die klassische Qualität der Ganzheit besitzt, ist Baudelaires Augenblick ein fragmentierter, flüchtig und zersplittert ohne Vorher und Nachher, ohne Vergangenheit und Zukunft.

Interessanterweise ist bei Baudelaires Augenblicksdefinition auch von Ewigkeit die Rede, allerdings nicht von einer christlichen, sondern von einer ästhetischen. Das Zitat heißt nämlich vollständig: »Die Modernität ist das Übergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist.« Baudelaire sah die innovative Leistung des von ihm gerühmten Malers darin, dass er die »geheimnisvolle Schönheit« der aktuellen lebendigen Gegenwart zum Vorschein zu bringen wisse, ohne sie dabei, wie bisher üblich, zugleich in das Formenkorsett einer fremden Stilepoche zu pressen. Nur eine Moderne, die in der Lage sei, die spezifische Schönheit ihrer eigenen flüchtigen Gegenwart zu erfassen, verdiene es, ihrerseits zu einer formgebenden Antike zu werden und damit nicht zu verschwinden, sondern in zukünftigen Gegenwarten wieder aufgenommen zu werden.

Baudelaire ging bei seiner Beschreibung der Gegenwart von einem weiteren Gegensatzpaar aus, das den drei von Gumbrecht genannten noch hinzugefügt werden muss. Er unterschied zwischen Klassik und Moderne und stellte dabei der Flüchtigkeit der Moderne programmatisch die zeitresistente Solidität der Antike gegenüber. In der Kunst nämlich ist selbstverständlich, was die physikalische Zeitordnung nicht zulässt: dass es eine Vergangenheit gibt, die nicht vergeht. Tatsächlich nehmen sich alle Kulturen das Recht, einen sorgfältig ausgewählten Teil ihrer Bestände aus dem Fluss der Zeit herauszuheben, zu kanonisieren und zu andauernder Gegenwart zu erklären. Diese Entzeitlichung ist das Produkt performativer Akte der Auswahl, Wertschätzung und Heiligung. Keine Kunst und keine Kultur kommen ohne solche Praktiken der Kanonisierung bestimmter Überlieferungsbestände aus, deren Geltung dauerhaft gesichert wird und die als feste Fluchtpunkte am Horizont der sich immer wieder verändernden Gegenwart mitlaufen. Seit der Renaissance erhoben Künstler Anspruch auf den Titel eines secundus deus, eines zweiten Schöpfers, was ihnen die Anerkennung einer eigenen Form von Sakralität einbrachte und die Hoffnung auf Unsterblichkeit im Sinne eines dauerhaften Weiterlebens im Gedächtnis der Nachwelt eröffnete.

Zeit und Moderne verschmelzen bei Baudelaire in einer Gegenwart, die, sobald sie da ist, schon wieder entschwindet. Damit hat er eine ganz neue Sensibilität für den vergehenden Augenblick geschaffen, für dessen künstlerische Umsetzung es vorerst noch keine adäquaten Ausdrucksmöglichkeiten gab. Eine Generation nach Baudelaire haben sich die Impressionisten auf ihre Weise der Flüchtigkeit, Intensität und sinnlichen Ausstrahlung des Augenblicks angenähert. Eine der neuen Darstellungsformen, die sie auf ihrer Suche nach Annäherung an den Augenblick der Gegenwart erfanden, ist die Serie. Monets Heuhaufen und Cézannes Bilder des Mont St. Victoire beweisen eindrucksvoll, dass wir in jedem Augenblick mit einer veränderten Beleuchtung auch ein neues Motiv vor Augen und damit den Anlass für ein neues Bild vor uns haben.

Baudelaire entdeckte auf seiner Suche nach einer künstlerischen Antwort auf die flüchtige Gegenwart einen neuen Typus des Künstlers: den Flaneur. Der Flaneur verkörpert die temporale Grenzerfahrung der Moderne. Er durchstreift die moderne Großstadt und balanciert dabei ganz bewusst auf dem Grat des Augenblicks. Dieser von keinen besonderen Absichten und Bedürfnissen geleitete Großstadtspaziergänger ist von Theoretikern und Autoren der Moderne immer wieder als idealtypische Verkörperung des modernen Zeiterlebens beschrieben worden. Der Flaneur lebt mit seinen Sinnen und seiner gleitenden, gleichschwebenden Aufmerksamkeit im Baudelaireschen transitorischen Augenblick. Er verkörpert damit den konsequent modernen Menschen ohne Erinnerung, Vergangenheit oder Zukunftserwartung, der sich rückhaltlos der Gegenwart aussetzt. Für dessen fragmentierte, kaleidoskopartige Wahrnehmungsbilder erfanden die Künstler des frühen 20. Jahrhunderts neue, nicht-lineare, collageartige und kubistische Darstellungsformen.20 Hans Robert Jauß hat zurecht betont, dass »der durch die Stadt Streifende, der im Strom der Menge jeden prägnanten Anblick des gegenwärtigen Lebens euphorisch aufnimmt und genießt«, sich zugleich mit seiner bedingungslosen Auslieferung an den Augenblick zur modernen »Erfahrung des zerstückelten, sich selbst entzogenen Ichs« bekennt. Der Flaneur als Künstler verzichtet auf existentielle Bedürfnisse wie Kohärenz, Kontinuität und Identität: »Der hohe Preis für die unerahnte Grenzerweiterung der modernen Welterfahrung ist der Verlust der identitäts-verbürgenden Anamnesis.«21

Dieses ästhetische Konzept moderner Zeiterfahrung sah nicht nur von der Dimension der Vergangenheit ab, sondern schloss auch alle Formen von Utopie, Verheißung, Hoffnung und Fortschritt aus. Die fragmentierten Bilder der Modernisten nahmen die Formlosigkeit des Lebens in der modernen Großstadt auf, die sich ihnen als eine ungeordnete Fülle simultaner Sinnesreize darstellte. In der Nachfolge Baudelaires zielte die künstlerische Reflexion auf die Möglichkeit einer radikal modernen Temporalität des Erlebens und die Möglichkeiten ihrer ästhetischen Umsetzung. Sie kehrte immer wieder zurück zu diesem Konzept eines flüchtigen Augenblicks, der noch von keinem kulturellen Muster überformt und noch nicht Teil eines künstlerischen Repertoires geworden ist.

Wie lange dauert die Gegenwart?

»Komme, was kommen mag: Die Stund und Zeit durchläuft den rauhsten Tag.« (»Come what come may: Time and the hour runs through the roughest day.«)22 Mit dieser Einsicht zügelt Macbeth seine hochfahrende Zukunftserwartung durch ihre Anpassung an das Gleichmaß einer homogenen, leeren Zeit. Der regelmäßige Stundenschlag der mechanischen Uhr und das Ticken der Sekunden unterscheiden sich jedoch grundsätzlich von der Zeit menschlichen Erlebens. Obwohl die Minuten und Stunden unaufhörlich durch unser Leben ticken, ist es nie mechanisch von ihnen getaktet. Die quantifizierende Zeit und das qualitative Erleben lassen sich nicht in Übereinstimmung bringen. Wir sind zwar beständig angewiesen auf den kontrollierenden Blick auf die Uhr, um uns in der Zeit zu orientieren, aber wir gehen nur in Ausnahmesituationen wirklich mit der Bewegung des Zeigers mit und dann meist nur kurz, zum Beispiel wenn wir Eier kochen, in einem Wartezimmer sitzen, die Nachspielzeit eines Fußballspiels erleben oder in der Silvesternacht den Umschlag zum neuen Jahr erwarten. Menschliche Erlebniszeit verläuft nicht chronologisch, sondern bündelt und verdichtet sich in a-chronischen Gegenwarten, die unsere Aufmerksamkeit in aller Regel so in Anspruch nehmen, dass sie den durch sie hindurchlaufenden time code gänzlich vergessen lassen. Die entscheidende Frage ist deshalb: Wie lange dauern diese Gegenwarten, die nicht von der Uhr getaktet sind, und wer oder was setzt ihnen das Maß für ihre Dauer?

Gegenwart als Jetztpunkt

Wenn wir uns die Zeit als einen Strom oder ›Pfeil‹ vorstellen, der sich gleichmäßig und irreversibel in eine Richtung bewegt, dann reduziert sich Gegenwart auf einen ausdehnungslosen Jetztpunkt, der nichts anderes ist als der Umschlag von Zukunft in Vergangenheit. Mit jedem Ticken der Uhr verschiebt sich der Zeiger auf dem Ziffernblatt und mit ihm auch die Gegenwart. Diese Zuteilung an Zeit, die auf der Fingerkuppe des Augenblicks Platz hat, ist mit dem nächsten Wimpernschlag schon wieder zerronnen. Der Jetztpunkt der Gegenwart ist deshalb, wie Baudelaire sehr wohl wusste, ein reiner Übergang. An ihm bleibt nichts hängen, auf ihm kann nichts aufbauen. Menschen sind von ihrer sinnlichen Ausstattung her nicht für diese abstrakte Zeit gemacht. Im Jetztpunkt können sie nicht leben; sie dehnen ihn deshalb aus durch rücklaufende Erinnerung und vorlaufende Erwartung, um Platz zu schaffen fürs Erleben, Erzählen, Erinnern und Erwarten, Denken und Existieren.

Gegenwart als Handlungszeit

Der Gegenpol zur modernen Fokussierung auf den ausdehnungslosen Jetztpunkt ist die archaische Erfahrung von Handlungszeit. In dieser Anschauung ist die Gegenwart immer schon gedehnt, denn Zeit ist gefüllt mit menschlichem Handeln und bezieht ihren Rhythmus aus diesen Tätigkeiten. Die Vielfalt und Verschiedenheit dieser Tätigkeiten machen das Patchwork der Zeit aus. Das hat keiner prägnanter zusammengefasst als der Prediger Salomonis: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: […] Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit.« (Prediger, 3.1, 5–6)

Auch unsere Gegenwart strukturiert sich weitgehend als eine Kette von Handlungsabläufen: die Zeit des Duschens, des Morgenkaffees, der Busfahrt, der Zigarette, der Sitzung, des Gesprächs, des Abendessens, des Kartenspiels, der Weinflasche – der Tag addiert sich zu einer Abfolge von Gegenwarten, deren Länge sich nach den in ihnen vollzogenen Handlungen bemisst und aus ihnen zusammensetzt. Zeit ist Handlung und Handlung ist Zeit – so kommen wir durch die Zeit von einer Gegenwart zur anderen. Solange die Handlung währt, solange dauert die Gegenwart; ist sie vorbei, rüstet man sich für die nächste. Da die meisten dieser Handlungen Wiederholungen von Routinen mit einem festen Ablaufschema sind, bringt diese Zeit stets neue Variationen von bereits Bekanntem und daher Vorhersehbaren.

Gegenwart als erfüllte Zeit

Die Erfahrung von Gegenwart als einer kostbaren, erfüllten Zeit hebt sich ab von solcher Routine des Alltags. Sie beruht auf der modernen Unterscheidung zwischen leerer und erfüllter Zeit, die Tolstoi bei der Tätigkeit des Staubwischens aufgegangen ist. Nachdem er eine Weile gewischt hatte, wusste er plötzlich nicht mehr, ob er einen bestimmten Teil des Zimmers schon gewischt hatte oder nicht. Weil er in Gedanken versunken war und seine Aufmerksamkeit von der trivialen Tätigkeit abgezogen hatte, konnte er sich an seine soeben vollzogene Tätigkeit schon nicht mehr erinnern. Diese Entdeckung berührte ihn tief: Wenn keine Erinnerung die soeben gelebte Gegenwart mehr zurückholen kann, dann ist es ja, als wäre sie nie gewesen. Das nicht bewusst erlebte Leben war für Tolstoi gleichbedeutend mit dem vernichteten oder nicht gelebten Leben. Zu einer ähnlichen Einschätzung kam Virginia Woolf, die zwischen moments of being und moments of non-being unterschied. Die größte Zeit unseres Lebens vergeht ihrer Ansicht nach im Leerlauf der Zeit und im damit verbundenen Zustand des non-being. Davon heben sich die kostbaren Momente erlebter Gegenwart umso leuchtender ab, »eingebettet in eine Art unbestimmbare Watte«. Wie Tolstoi beschäftigte auch Woolf diese Watte der verfehlten, nicht gelebten Gegenwart: »Man geht, ißt, sieht Dinge, kümmert sich um das, was zu tun ist; den kaputten Staubsauger(!); die Anweisungen fürs Dinner; schriftliche Anweisungen für Mabel; waschen; Essen kochen; buchbinden.«23 Der Tag setzt sich aus lauter Gegenwarten zusammen, die mit Handlungszeit gefüllt sind, aber daraus entsteht für sie noch keine erfüllte Gegenwart. Im Gegenteil scheint das Patchwork dieser Gegenwarten die emphatische Gegenwart geradezu auszuschließen. Ähnliches schrieb der russische Kunsttheoretiker Viktor Šklovskij 1916 in einem berühmten Aufsatz, in dem er den negativen Einfluss der Automatisierung auf die Wahrnehmung untersuchte: »So geht das Leben dahin, wird zum Nichts. Die Automatisation verschlingt alles, die Dinge, die Kleider, die Möbel, die Frau und die Angst vor dem Krieg.«24 Durch eine Poetik der Ent-Automatisierung, d.h. durch künstlerische Verfremdungseffekte wollte er deshalb Aufmerksamkeit neu stimulieren und durch die Komplizierung der Form die Wahrnehmung verlängern. Genau das ist für Šklovskij die Aufgabe der Kunst: erfüllte Gegenwart wiederherzustellen und zu verlängern. Auch Woolfs moments of being entstehen aus der Offenheit und Rezeptivität für alles, was die Wiederholungsroutinen unterbricht: die Plötzlichkeit von Überraschungen, Zufällen, Begegnungen. James Joyce sprach von ›Epiphanien‹, von intensiven Augenblicken, die zugleich unverhoffte Durchblicke sind, weil sich in ihnen ein Fenster auf die Realität und den konkreten Zusammenhalt des Lebens öffnet.

Gegenwart als geformte Zeit

Anders als die epiphanen Augenblicke erfüllter Gegenwart, die nicht planbar sind, ist die erfüllte Zeit des Kunstgenusses zeitlich festgelegt oder anderweitig klar dimensioniert. In diese Gegenwart der Kunst treten wir nicht durch Handeln ein, sondern durch das Unterbrechen von Handlungen. Voraussetzung für diese Gegenwart ist die körperliche Ruhe, die den notwendigen Hintergrund bildet für den Zustand angespannter Aufmerksamkeit. Nehmen wir als Beispiel einen Theaterbesuch. Das Theater ist Ort einer anderen Zeitlichkeit, ein Hetero-Chronotop. Während draußen die Zeit kontinuierlich weiterfließt, treten wir ein in eine andere Welt, die durch Anfang, Mitte und Ende definiert ist. Diese Trias ist das A und O künstlerischer Formung, Dehnung und Schließung von Zeit. Durch das Verfahren der Schließung, das künstlerischem und rituellem Gestalten vorbehalten ist, rundet sich die miterlebte künstlerisch geformte Zeitstrecke im Rückblick zu einer Gesamtschau, wie sie in der stets offen und diffus verlaufenden Lebenszeit niemals möglich ist. Die ästhetische Eigenzeit des Kunstwerks steuert den Mitvollzug der Leser, Hörer und Betrachter, der an das Format, die Choreographie der Zeichen, die Erzählung oder die Vorführung gebunden ist. Das wichtigste Signal für den ausgeschnittenen Zeitrahmen im Theater war früher der Vorhang, der sich auf der Bühne öffnete und schloss; heute ist es die Ansage, das Mobiltelefon auszuschalten.

Durch Kunst wird Aufmerksamkeit unter besonderen Bedingungen geformt, fokussiert und zeitlich ausgedehnt. Mit der Eintrittskarte haben die Theaterbesucher ihren Platz bezahlt, aber der Preis, den sie eigentlich zu entrichten haben, ist unbezahlbar: ihre Aufmerksamkeit. Die Gegenwart der geformten Zeit ist aber stets prekär: Ablenkung, Unaufmerksamkeit und Müdigkeit können die Zuschauer jederzeit aus der Gegenwart des Theaters vertreiben. Wenn man als Leser, Zuhörer oder Zuschauer seinen Aufmerksamkeitsanteil nicht kooperativ beisteuert, ist alle Kunst der Illusion, des Hineinziehens in die andere Gegenwart vergeblich. Voraussetzung für diese ist deshalb nicht nur ein fiktionaler Vertrag, der festsetzt, dass man sich ohne Vorbehalt auf die Gesetze des Werks einstellt, sondern auch ein Aufmerksamkeitspakt, der ungeteilte Zuwendung, Hingabe und Mitvollzug sicherstellt. Anders als im Kino muss im Theater eine gemeinsame Gegenwart von Schauspielern und Zuschauern mit jeder Aufführung neu hergestellt werden. Darüber hinaus aber kann auf der Bühne das Erleben von Zeit in der Inszenierung unmittelbar präsentiert, modelliert und thematisiert werden – durch Formen der Verlangsamung und Beschleunigung, der gezielten Verdichtung und Entleerung, sowie der Erregung, Irritation und Störung.

Ebenso wie der Theater-, Kino- oder Konzertbesuch bietet der Besuch eines Sportereignisses im Stadion ein Hetero-Chronotop, der durch geformte Zeit erfüllte Gegenwart verheißt. Massenkulturelle Events des Zuschauersports in der Arena, so der Präsenztheoretiker Hans Ulrich Gumbrecht, ermöglichen eine genussvolle ganzheitliche Empfindung, bei der sich die Grenze zwischen Körper und Bewusstsein auflöst. Der Begriff ›Präsenz‹ steht bei ihm für den rauschhaften Zustand einer vollständigen sinnlichen Auslieferung an die Gegenwart, der mit einer geschärften Aufmerksamkeit einhergeht. Während dieser erfüllten Gegenwart schließen sich die Pforten zur Vergangenheit und Zukunft, sodass sich das Sein im Hier und Jetzt des Kollektiverlebnisses feiern kann.25

Gegenwart als fokussierte Zeit

Die künstlerisch strukturierte Gegenwart hängt eng mit einer weiteren Erfahrungsmöglichkeit von Gegenwart zusammen. Sie entsteht durch die Aufmerksamkeitsspanne, die wir bereit sind, einer Sache zu widmen. Die Gegenwart, die nach der Aufmerksamkeitsspanne bemessen wird, erstreckt sich auch auf alle Ereignisse unserer Umwelt, die für uns in direkter oder vermittelter Form erreichbar sind. Denn Gegenstand konzentrierter Aufmerksamkeit kann im Prinzip alles sein, was unseren Sinnen begegnet und unser Interesse anstößt: Menschen, Tiere, Landschaften, Zeichen und Zufälle.

Das Grundprinzip dieser Aufmerksamkeit hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein in einem Satz zusammengefasst: »Wo Andere weitergehen, dort bleibe ich stehen.«26 Solches Stehenbleiben und Nachdenken kann jederzeit den Einlass in eine neue Gegenwart ermöglichen. Das fokussierende Scharfstellen der Aufmerksamkeit und, nicht weniger wichtig, das ruhige, kontinuierliche Betrachten sind allerdings Fähigkeiten, die kulturell eingeübt sein wollen. 17 Sekunden verweilt ein Besucher durchschnittlich in einem Museum vor einem Bild, weshalb man diese Form der Kontemplation auch ironisch als ein ›Weglaufen von Bildern‹ beschrieben hat. Um die Besucher zu ›fesseln‹, werden sie mit Audioguides ausgerüstet, was ihre Gegenwart vor dem Bild deutlich verlängert. Die sich ständig verkürzende Aufmerksamkeitsspanne, das Weglaufen vor Bildern, Tönen, Worten und Informationen, ist zu einem allgemeinen Problem unserer Kultur geworden. Es ist nur die andere Seite der Selbstbedienung im dramatisch erweiterten Strom von Medien, die in unsere unmittelbare Reichweite gelangt sind und immer verzweifelter und schamloser um die knappe Ressource buhlen. Jeder, der über die nötige technische Ausrüstung verfügt, lebt im Einzugsbereich einer Flut von Nachrichten und kennt diesen Konkurrenzdruck. Dieser Wettbewerb ist heute im Internet besonders radikal ausgeprägt. Videos auf YouTube zum Beispiel sind nicht nur mit einem Titel, sondern vor allem auch mit einem time code versehen. Was länger als fünf Minuten dauert, hat eine eher geringe Chance, angeklickt zu werden. Im Internet heißt es nämlich nicht: »Wo Andere weitergehen, dort bleibe ich stehen«, sondern umgekehrt: »Wo Andere hingegangen sind, da will ich auch hin.« Die Gegenwart des Internets ist demnach im Fünf-Minuten-Rhythmus getaktet. Diese Zeitspanne ist allerdings nicht zu verwechseln mit der Verweildauer im Internet, die sich leicht auf fünf und mehr Stunden ausdehnen kann. Doch ist diese Zeit offensichtlich alles andere als eine fokussierte Gegenwart, weil sie durchschossen ist mit Suchaktionen und Wartezeiten, Unterbrechungen, Abstürzen, vergeblicher Suche und zerstreuten Klicks.

Gegenwart als Zeitgenossenschaft

Die bislang beschriebenen Gegenwarten beziehen sich ausschließlich auf kurze bis absehbare Zeitspannen, die Menschen in ihrem Alltag erleben können. Gegenwart kann aber auch sehr viel länger dauern als die erfüllte Zeit im Hier und Heute und sich über Jahre, Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte erstrecken. Um das zu verstehen, brauchen wir das Wort ›Gegenwart‹ nur durch ›Gegenwärtigkeit‹ ersetzen. Dazu ein Beispiel. Im Jahre 1967 erhielt Heinrich Böll den Büchner-Preis. Seine Dankesrede trug den Titel: »Büchners Gegenwärtigkeit«.27 Böll erklärte dazu: »Die Unruhe, die Büchner stiftet, ist von überraschender Gegenwärtigkeit, sie ist da, anwesend hier im Saal. Über fünf Geschlechter hinweg springt sie einem entgegen […].« (376) Böll entdeckte und beschwor in seiner Rede die Zeitgenossenschaft zwischen dem ›Revolutionär‹ Büchner und der damaligen Jugendprotestbewegung der später sogenannten 68er. Er hätte seine Rede auch unter einen Satz von Walter Benjamin stellen können: »Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.«28 Diese Gegenwart entsteht performativ durch reklamierte und proklamierte Zeitgenossenschaft mit einer historischen Epoche, durch ein Herbeizitieren des zeitlich Fernen, zu dem eine innere Wert- und Geistesverwandtschaft entdeckt und bestätigt wird. Das missing link für die historische Synapse, mit der Böll die Zeitgenossenschaft zwischen Büchner und der Protestbewegung herstellte, hieß Karl Marx: »Es wäre da eine von der Geschichte versäumte Begegnung zweier Deutscher zu beklagen. Die Begegnung zwischen Büchner und dem wenige Jahre jüngeren Marx. Die kraftvolle, so volkstümliche wie materialgerechte Sprache des ›Hessischen Landboten‹ ist zweifellos eine ebenso wirkungsvolle politische Schrift wie das ›Kommunistische Manifest‹ […].«29 Durch die zeitgemäße Verbindung mit Marx wurde Büchner von Böll aus der Vergangenheit, in die jeder Autor zurückzufallen droht, in die Aktualität der Gegenwart zurückgeholt.

Gleichzeitig hat Böll in seiner Rede einen Teil der damaligen Gegenwart abgeschlossen, zur Geschichte erklärt und so als vergangen verabschiedet. Er sprach voller Ironie und Aversion von einer »großen Beerdigung«. Wer hier zu Grabe getragen wurde, wurde nicht erwähnt; im Rahmen des impliziten Wissens politischer Gegenwart und Zeitgenossenschaft war das für das Darmstädter Publikum damals auch gar nicht nötig. Wir dagegen müssen heute das Google-Gedächtnis bemühen, um zu erfahren, dass am 25. April 1967 Konrad Adenauer in einem aufwendigen Staatsakt im Kölner Dom unter Anwesenheit internationaler Prominenz zu Grabe getragen wurde. Während Böll das Ende der Gegenwart der Adenauer-Ära betonte, stellte er gleichzeitig selektiv die Zeitgenossenschaft mit einem fernen Geistesverwandten her.