Die Wiedererfindung der Nation - Aleida Assmann - E-Book

Die Wiedererfindung der Nation E-Book

Aleida Assmann

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Beschreibung

Bei Intellektuellen steht der Begriff der Nation unter Generalverdacht. Doch wer sagt denn, dass Nation automatisch ethnische Homogenität und eine "Volksgemeinschaft" bedeutet, die andere ausschließt? Das ist die Sicht von Rechtsextremen, die den aufgegebenen Nationsbegriff inzwischen für sich erobert haben. Die Friedenspreisträgerin Aleida Assmann ruft dazu auf, die Nation neu zu denken und sie gegen ihre Verächter zu verteidigen.

Die Tabuisierung der Nation hat in Deutschland zu einem Mangel an Aufklärung und Diskussion über Sinn und Rolle der Nation geführt. Aleida Assmanns neues Buch möchte zu einer solchen Debatte anregen: Es plädiert für die Wiedererfindung einer Form von Nation, die sich als demokratisch, zivil und divers versteht und sich solidarisch auf die gewaltigen Zukunftsaufgaben einstellen kann. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist nicht nur in Deutschland ein Problem. Um die aktuelle Krise der Nation auch in anderen Ländern besser zu verstehen, ist es unabdingbar, die Narrative zu untersuchen, mit denen gesellschaftliche Gruppen ihre Vergangenheit, Zukunft und Identität bestimmen. Sie erweisen sich als ein Schlüssel für die Frage, was Nationen spaltet – und was sie wieder zusammenbringen kann.

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Aleida Assmann

Die Wiedererfindung der Nation

Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen

C.H.Beck

Zum Buch

Bei vielen Intellektuellen steht der Begriff der Nation unter Generalverdacht. Doch wer sagt denn, dass Nation automatisch ethnische Homogenität und eine ‹Volksgemeinschaft› bedeutet, die andere ausschließt? Das ist die Sicht von Rechtsextremen, die den aufgegebenen Nationsbegriff inzwischen für sich erobert haben. Die Friedenspreisträgerin Aleida Assmann ruft dazu auf, die Nation neu zu denken und sie gegen ihre Verächter zu verteidigen.

Das verbreitete Schreckbild der Nation hat in Deutschland zu einem Mangel an Diskussion und Interesse an diesem Thema geführt. Mit ihrem Buch regt Aleida Assmann zu einer neuen Debatte und der Wiedererfindung einer Form von Nation an, die sich als demokratisch, zivil und divers versteht und sich solidarisch auf die gewaltigen Zukunftsaufgaben einstellen kann. Das erfordert jedoch eine Selbstaufklärung. Eine besondere Rolle spielen dabei die unterschiedlichen Narrative, mit denen gesellschaftliche Gruppen ihre Vergangenheiten und Identitäten in die Zukunft projizieren. Sie erweisen sich, nicht nur in Deutschland, als ein wichtiger Schlüssel für die Frage, was Nationen heute spaltet – und was sie wieder zusammenbringen kann.

Über die Autorin

Aleida Assmann ist Professorin em. für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem A. H.-Heineken-Preis für Geschichte der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften (2014), dem Karl-Jaspers-Preis, dem Balzan Preis (beide mit Jan Assmann, 2017) und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (mit Jan Assmann, 2018). Bei C.H.Beck sind von ihr erschienen: Erinnerungsräume (52011, Paperback 2018), Der lange Schatten der Vergangenheit (32018), Geschichte im Gedächtnis (22014), Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur (42020) und Der europäische Traum (52020).

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Die These: Überwindung und Wiedererfindung der Nation

Der Mythos von Europa und die Abschaffung der Nation (Ulrike Guérot, Robert Menasse)

‹Methodischer Nationalismus› und der blinde Fleck der Modernisierungstheorie

Der Nationalstaat und seine Denationalisierung

Das Gegenmodell: Die EU als Schutzschirm des Nationalstaats

Meine drei Europas

Was hält die Sterne Europas zusammen? Der europäische Traum

Die Bedeutung der Nationen in der EU

Die EU als Eidgenossenschaft

Einheit in der Vielfalt

2. Zur Grammatik der Identitäten

Das Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel

Eine kurze Geschichte des Identitätsbegriffs

Idem-Identität und Ipse-Identität (Paul Ricœur)

Von der Modernisierungstheorie zur Kulturtheorie

Kollektive Identitäten (Carolin Emcke, Lutz Niethammer)

Kollektive Identität als Kompensation – das DHM in Berlin

Geschichte versus Gedächtnis (Pierre Nora)

Es gibt keine kulturelle Identität (François Jullien)

Plädoyer für eine ‹Grammatik der Identitäten›

3. Zur Grammatik nationaler Narrative

Identität und Thymos (Francis Fukuyama)

Es gibt kein nationales Narrativ (Jill Lepore)

Verfassungspatriotismus

Israel – ein Land mit drei Narrativen

Vertikale Verbindungen zwischen Geschichte und Gegenwart

Vom Ort zum Raum: Die Schaffung einer tabula rasa nach 1948

Ein Land, drei Erzählungen: Holocaust, Unabhängigkeitskrieg, Nakba

Zochrot – Erinnerungsarbeit im Medium von Führungen

Konstruktion und Transformation nationaler Narrative

Gedächtnisrahmen oder die Auswahlkriterien des nationalen Gedächtnisses

Die Nation und das Heilige

Säkularisierung und Sakralisierung: Geschichtsschreibung und nationale Mythen

Was ist heilig? Symbole der Bekenntnisnation

Kollektive Selbstsakralisierung und die Sakralität der Person

Ehre und Würde

Der Wandel des Geschichtszeichens

‹Deutschlands Wiedergeburt› oder Was die Deutschen über ihre Narrative wissen sollten

4. Zivile und militante Nationen

Der Thymos-Komplex

Der Mythos des Kriegserlebnisses (George Mosse)

Das Freund-Feind-Denken (Carl Schmitt, Raphael Gross)

Der Wächter des Seyns in einer Welt ohne Juden (Martin Heidegger, Alon Confino)

Die Entgiftung der Nation (Stefan Zweig)

Wie werden Kriege beendet?

Die Beendigung des Zweiten Weltkriegs

Die Beendigung des Ersten Weltkriegs

Die Toten kehren zurück

Der 8. Mai als deutscher und europäischer Erinnerungstag

Die Erinnerung an die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs

5. Inklusion und Exklusion

Ost- und Westdeutsche – die ver(n)einte Nation

Denk ich an Deutschland

Schwierigkeiten bei der Einordnung der DDR-Geschichte

Wende-Narrative und der Austausch von Geschichten

Missverständnisse zwischen Ost und West – ein Briefwechsel

Probleme mit der deutschen nationalen Identität

Holocaust und Nationalstolz, ‹positive› und ‹negative› Identität

Migration: Das neue Wir

Moderne, Mobilität und Migration

Heimat und Heimaten

Umbau des nationalen Wir

Erweiterung des Narrativs: Die Kolonialgeschichte

Koloniale Vergangenheit in Bremen und Berlin

Verknüpfte Erinnerungen – ‹touching tales›

Neue Heimat

Corona und Gemeinsinn: Krise und Chance

Was ist Gemeinsinn?

Du musst dein Leben ändern – Corona als Chance

Fazit: History matters – Gemeinsinn, nationale Narrative und historische Aufklärung

Nation und Solidarität

Gespaltene Nationen und gegensätzliche Narrative

Der Umbau nationaler Narrative – USA und Israel

Deutsche Narrative – drei Brennpunkte

Anmerkungen

Einleitung

1. Die These: Überwindung und Wiedererfindung der Nation

2. Zur Grammatik der Identitäten

3. Zur Grammatik nationaler Narrative

4. Zivile und militante Nationen

5. Inklusion und Exklusion

Fazit: History matters – Gemeinsinn, nationale Narrative und historische Aufklärung

Personenregister

Für Jan

Vorwort

Du musst dein Leben ändern! Dieser letzte Satz aus einem Rilke-Sonett wurde in den Corona-Wochen und -Monaten häufig zitiert. Für mich hatte er eine besondere Bedeutung. Von einem Tag auf den anderen wurden alle Termine aus dem Kalender gestrichen. Die Folge war eine ungekannte gleichförmige Regelmäßigkeit, die mich zu Hause und am Schreibtisch festhielt. Dieses Buch müsste ich eigentlich Corona widmen, gehe aber nicht so weit, sondern widme es in großer Dankbarkeit Jan Assmann, dem Denkpartner und Gefährten in der Zweisiedelei und ersten Leser dieser Kapitel.

Die Idee zu diesem Buch geht auf eine Debatte im Januar 2019 zurück. Damals bat mich Swantje von Brück um ein Interview in der Welt. Es ging um Robert Menasses Thesen zur Abschaffung der Nationen zugunsten eines Europas der Regionen. Im Juni 2019 konnte ich zentrale Thesen dieses Buches auf einer Konferenz der Memory Studies Association in Madrid vorstellen und diskutieren; weitere Diskussionsrunden organisierten Shalini Randeria im Oktober am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien sowie Estela Schindel und Timm Beichelt im Januar 2020 am Viadrina Institut für Europa-Studien in Frankfurt/Oder. Mein Konstanzer Kollege Daniel Thym ließ nicht locker und schuf trotz Corona-Bedingungen eine digitale Plattform für den Vortrag an der Universität Konstanz. Ihm und Christina Wald danke ich sehr für ihr Interesse und die Moderation der Diskussion. Ein besonderer Dank geht an die Dr. K. H. Eberle Stiftung, die seit März 2020 ein Forschungsprojekt zum Thema ‹Gemeinsinn› an der Universität Konstanz fördert. Dieses Buch ist auch ein Beitrag zu diesem neuen Themenschwerpunkt.

Im Lockdown waren Reisen und Begegnungen ausgeschlossen, aber der digitale Austausch von Ideen und Gedanken kam glücklicherweise nicht zum Stillstand. Till van Rahden danke ich für viele einschlägige Texte und Hinweise, die mir neue Perspektiven erschlossen haben und Thomas Oberender für sein inspirierendes Buch, das ich lesen durfte, bevor es erschienen ist. Jonas Zipf und Hanno Loewy waren wichtige Gesprächspartner, der eine digital, der andere in vivo. Mein besonderer Dank gilt dem Verlag C.H.Beck für sein Interesse an diesem Manuskript sowie Stefanie Hölscher, Beate Sander und Andreas Wirthensohn, die die Redaktion wieder so konstruktiv begleitet und sich dabei auf ein sehr sportliches Tempo eingestellt haben.

Nach einem 25-jährigen Vorlauf verpackten Christo und Jeanne-Claude das Reichstagsgebäude. Vom 24. Juni bis zum 7. Juli 1995 war ihr temporäres Kunstwerk in Berlin zu besichtigen. Damals schwärmte Friedrich Schorlemmer: «Hat jemals der höchste Ort der Demokratie so viel Annahme erfahren wie während dieses künstlerischen Spektakels? Da versammelt sich ein friedliches Volk vor dem eher monströsen Gebäude unserer gebrochenen deutschen Geschichte und steht davor wie vor einem Geheimnis.» Die Bilder, die von der Verpackungsaktion geblieben sind, vermitteln noch etwas von diesem Geheimnis. Verpackung ist auch eine Art von Verpuppung; eine Umkleidekabine, in der sich die deutsche Nation mehrfach radikal gewandelt hat. Sie war damals auch eine Projektionsfläche für eine Gesellschaft, die sich gerade wieder neu erfand. Inzwischen empfinden wir das Reichstagsgebäude nicht mehr als monströs, wohl aber die Bilder vom 30. August 2020, auf denen Rechtsradikale und Reichsbürger die Treppen des Gebäudes stürmen und die Reichskriegsflagge schwingen. Dieser Alptraum war ein Weckruf, denn die Aufgabe, dieses Gebäude und damit auch die Nation, die wir haben, zu verteidigen, können wir nicht allein der Polizei überlassen.

Traunkirchen, August 2020

Aleida Assmann

Einleitung

Die Forschung zum Thema Nation füllt ganze Bibliotheken. Die meisten Bücher handeln von der Geschichte der Nationen oder von ihrer Theorie. Die Fragen und Thesen des vorliegenden Buches gehen in eine etwas andere Richtung. Sie machen auf eine Lücke aufmerksam, die den meisten vielleicht noch nicht einmal aufgefallen ist. Es scheint bisher auch niemand ein solches Buch vermisst zu haben. Ich schon, deshalb habe ich es geschrieben. Als ich einer Freundin in Leipzig von meinem Projekt berichtete, reagierte sie überrascht. Hier ein Auszug aus ihrer Mail vom 8. Mai 2020:

Seit ich weiß, was Du da treibst, entdecke ich Nationalismen auf Schritt und Tritt. Sogar unser sachlicher Bundespräsident hat in seiner heutigen Rede von Patriotismus gesprochen, freilich (zum Glück) einem, dem man nur mit zerrissenem Herzen anhängen kann, sagt er. Ich habe mir noch kein eigenes Modell meines Verhältnisses zu Deutschland, einig Vaterland gezimmert, merke aber am deutlichsten an einem Gefühl der Betroffenheit und (gewöhnlich nicht unmittelbar begründbarer) Mitverantwortung, dass ich dazugehöre. Kürzlich las ich, dass Grillparzer 1849 «Von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität» gesprochen hat – wie klug vorausschauend – oder zeitdiagnostisch? Napoleon lag da bereits hinter ihm. Im Leipziger Stadtrat hat sich jüngst die Grüne Partei mit dem Antrag durchgesetzt, die Ernst-Moritz-Arndt-Straße innerhalb eines Ensembles von zeitgenössischen Poeten und politischen Denkern seiner Zeit umzubenennen (in Hannah-Arendt-Straße!) wegen Nationalismus und Antisemitismus.

Das Beispiel zeigt, dass kluge, geschichts- und DDR-erfahrene Menschen in diesem Land höchst sensibel auf das Wort ‹Nation› reagieren und sofort ein Abgleiten in Nationalismus und Nationalsozialismus befürchten. Wer A (Nation) sagt, so die Logik dieses Reflexes, wird sicher bald B (Nationalismus) und schließlich vielleicht auch C (Nationalsozialismus) sagen. Ich schätze diese Empfindlichkeit sehr; zeigt die Reaktion doch so etwas wie einen Impfschutz gegen die Krankheit des Nationalismus. Während die einen hypersensibel sind und sich deshalb jeden Gedanken an die Nation verbieten, gibt es aber leider viele andere, die hier keinerlei Hemmungen haben, sondern vollauf damit beschäftigt sind, die Nation wieder nationalistisch umzudeuten und sie für ihre Zwecke anzueignen. Vor diesem Hintergrund scheint mir die Abstinenz gegenüber dem Nationsbegriff eher ein Problem zu befördern als die Lösung dieses Problems zu sein. Das Buch, das keinem fest etablierten Diskurs verpflichtet ist, möchte diesen verlassenen Raum zurückgewinnen und zum Nachdenken anregen. Die Kapitel können dabei auch als einzelne Essays gelesen werden. Sie stellen Argumente und Analysen aus unterschiedlichen Disziplinen bereit, die das unübersichtliche Feld neu vermessen und für eine Selbstaufklärung hilfreich sein könnten.

Durch die unterschiedlichen Themen der folgenden Kapitel zieht sich ein klarer roter Faden. Das ist die These, dass es enge Verbindungen gibt zwischen Staatsform, Nation und Narrativ. Die Beschaffenheit und der Wandel einer Nation und ihrer Staatsform lassen sich deshalb besonders klar am Wandel ihrer Narrative und an der Auseinandersetzung mit ihnen ablesen. Damit stellt sich zugleich die Frage nach der Auswahl und Deutung identitätsbildender historischer Ereignisse und nach der Dynamik von Erinnern und Vergessen im Wandel der Geschichte.

Deutschland steht gerade an einem historischen Wendepunkt, wo sich durch die Aufnahme von Einwanderern der Fundus dieses Gedächtnisses deutlich verschieben wird. 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bereiten wir uns auf eine Situation vor, in der die Zeitzeugen des Holocaust nicht mehr in Schulen, an Gedenkstätten und zu Jahrestagen auftreten werden. Gleichzeitig haben nachwachsende Generationen nur noch sehr verschwommene Vorstellungen von der deutschen Geschichte. Darin unterscheiden sich die neu Zugewanderten nicht mehr wesentlich von jungen Menschen, die in einheimischen und in Migrantenfamilien aufgewachsen sind. Der Fundus des nationalen Gedächtnisses löst sich an diesem Punkt aber nicht einfach auf, sondern wird einerseits an Jahrestagen für die Inszenierung der Nation und ihrer Demokratie wiederaufbereitet und andererseits zur Beute derer, die historische Mythen hemmungslos für ihre nationalistischen Zwecke ausschlachten. Was die eine Seite würdigt und reaktiviert, wird von der anderen Seite entwertet und vergessen. Und umgekehrt. Auf diese Weise erlebt die Gesellschaft gerade ein Verwirrspiel und den Verlust klarer Orientierung.

Hier nur einige Beispiele. Im Prospekt ‹Deutscher Buchdienst› vom Frühjahr 2020 kann man die zweibändige Deutsche Volksgeschichte von Adolf Helbok (1883–​1968) bestellen. Seit 1924 war der Autor Herausgeber der Zeitschrift Volk und Rasse. 1933 trat er in die NSDAP ein, im gleichen Jahr erklärte er die «völkische Blutsgemeinschaft» zum Subjekt der Geschichte. Ab 1950 hatte er Berufsverbot. Jetzt werden «die umfangreichen Forschungsergebnisse» des «Ordinarius für Geschichte, Volksforschung und Siedlungsgeschichte» wieder aufgelegt. Von Werner Symanek kann man ein Buch bestellen, in dem er erklärt, warum Hitler die Wehrmacht aus purer Notwehr am 1. September 1939 in Polen einmarschieren ließ, und es gibt weitere Titel zum Vorgang der «Umvolkung». Daneben kursieren heute massenhaft Fake News in den sozialen Medien, die sich mit viraler Geschwindigkeit ausbreiten. Es gibt Webseiten, auf denen nicht nur Hans und Sophie Scholl, sondern auch Anne Frank zum Kampf gegen Islamisierung aufrufen. Auf anderen werden Aufkleber angeboten, die die Buchstaben «AfD» in einem Judenstern vor dem Hintergrund einer KZ-Streifen-Uniform zeigen. Die Unterschrift lautet: «Heute sind die Andersdenkenden die Juden (…) Wir können nur mahnen: Wehret den Anfängen!» All das konnte man sich in Deutschland bis vor kurzem noch nicht vorstellen. Das war jedenfalls nicht die Welt, in die ich aufwuchs, und es war auch nicht die Welt, in die meine Kinder aufwuchsen. Aber es ist jetzt die Welt, in die meine Enkel aufwachsen.

Das, woran man sich während des Nationalsozialismus erinnert hatte und was längst aussortiert worden war oder von selbst ins Vergessen zurücksank, wird gerade wieder hochgeholt, neu drapiert und als Gegengedächtnis aufbereitet. Das ist eine neue Stufe in der andauernden Auseinandersetzung in der deutschen Gesellschaft um die nationale Erinnerung. Sie vollzieht sich als ein Deutungskampf, der mit dem Brechen von Tabus und Formen der Desinformation einhergeht, um die Legitimität der liberalen Demokratie und der Europäischen Union gezielt zu untergraben. Verständlicherweise werden heute an den Schulen ein kritischer Umgang mit sozialen Medien und eine feste Etablierung des Faktenwissens gefordert. Doch das pure Wissen über Ereignisse und Jahreszahlen bleibt abstrakt, wenn nicht auch die damit verbundenen nationalen Narrative in die Selbstaufklärung einbezogen werden. Damit meine ich den emotionalen Bodensatz dieser Geschichte in der diffusen Gestalt eingefleischter Haltungen, eingeprägter Bilder, Texte und halbbewusster Vorstellungen, die die nationale Imagination gesteuert haben und sich über unterschiedliche Metamorphosen nationaler Identitäten hinweg gehalten haben – auch über den Wandel von Staatsformen hinweg. Dieses Buch versteht sich als eine Anleitung zur Selbstaufklärung über den verwickelten Fundus des deutschen nationalen Gedächtnisses mit dem Ziel, klarer unterscheiden zu können, welche Bestände sich wie und warum als toxisch erwiesen haben, welche weiterhin zu beerben sind und welche erneuert werden müssen. In einem Betrieb nimmt man sich dafür einmal im Jahr einen Tag Zeit und nennt das ‹Inventur›. Dieses Buch unternimmt eine solche Inventur des deutschen nationalen Gedächtnisses.

Das erste Kapitel enthält die These. Ausgehend von der Beobachtung, dass das Thema ‹Nation› im akademischen Diskurs seit geraumer Zeit kein aktuelles Forschungsthema mehr ist, frage ich nach den Gründen für die Abstinenz gegenüber dem Thema. Ein wichtiger Grund ist der, dass in der Forschung die Trennlinie zwischen demokratischer Nation und nicht-demokratischer Nation nicht klar gezogen wird. Also lieber die Nation gleich ganz fallenlassen, um zu vermeiden, dass man auf der falschen Seite landet. Im zweiten Kapitel werden Begriffe und Konzepte vorgestellt, die es ermöglichen, neu über den Zusammenhang von Kultur, Nation und Identität nachzudenken. Dafür wird die Geschichte der Neubestimmung des Identitätsbegriffs in den letzten 40 Jahren rekapituliert. Daran schließt sich das dritte Kapitel über Konstruktionsformen nationaler Narrative an, in dem der Horizont durch einen vergleichenden Blick auf die aktuelle Situation in den USA und in Israel erweitert wird. Das vierte Kapitel geht in der Geschichte zurück und widmet sich der NS-Ideologie, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg aufgebaut wurde, in den Zweiten Weltkrieg geführt hat und im Holocaust kulminierte. Dieser historische Teil schließt mit der Frage, wie man das Gift dieser Ideologie entschärfen und in Europa Kriege, die latent weiterschwelen, effektiv entschärfen und wirklich beenden kann. Das fünfte Kapitel über Exklusion und Inklusion kehrt in die Gegenwart zurück. Es ist dem Thema Gemeinsinn gewidmet und zeigt, wie er gegenwärtig in unterschiedlichen Handlungsfeldern neu geschaffen und errungen werden muss. Die schlechte Nachricht ist, dass die Spaltung auf der Ebene der EU, der Nation, der Städte und der Nachbarschaften überall zunimmt. Die gute Nachricht ist aber, dass das auch den Gemeinsinn gestärkt hat, für den gerade neue Handlungsformen entwickelt werden.[1]

Jahrestage wie der 8. Mai sind ein Anlass, das zu thematisieren, was sonst nicht im Fokus der Aufmerksamkeit steht: die Befindlichkeit der eigenen Nation. Die Präsidenten des Landes erfüllen bei dieser Selbstthematisierung eine wichtige Aufgabe. Während sich Joachim Gauck bei solchen Anlässen vor allem über die Binnengrenzen Europas hinweg engagierte und die Beziehung zu anderen Nationen gepflegt hat, nutzt Frank-Walter Steinmeier herausgehobene Jahrestage für komplexe und gehaltvolle Reflexionen über das Selbstbild der Nation. Bereits am 9. November 2018, diesem janusköpfigen Jahrestag, der sowohl in Richtung November-Pogrom 1938 als auch in Richtung Mauerfall 1989 weist, sprach er sich zum Beispiel für ein inklusives nationales Selbstbewusstsein aus: «Wir können stolz sein auf die Traditionen von Freiheit und Demokratie, ohne den Blick auf den Abgrund der Shoah zu verdrängen. (…) Wir können uns der historischen Verantwortung für den Zivilisationsbruch bewusst sein, ohne uns die Freude über das zu verweigern, was geglückt ist in unserem Land.»[2] Genau diese Verbindung von Licht und Schatten gehört nämlich zur deutschen Identität, und beide Seiten sind nicht mehr voneinander zu trennen. Das hat Steinmeier auch am 8. Mai 2020, dem Tag des Kriegsendes, wiederholt, der inzwischen allgemein als ‹Tag der Befreiung› begangen wird. In seiner Ansprache bei der zentralen Gedenkveranstaltung auf dem regennassen und coronabedingt leeren Platz vor der Neuen Wache in Berlin sagte er: «Die deutsche Geschichte ist eine gebrochene Geschichte – mit der Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid. Das bricht uns das Herz bis heute. Deshalb: Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.»

Mit diesem Buch möchte ich die widersprüchlichen deutschen Narrative auseinanderfalten und das Verdeckte klarer vor uns ausbreiten. Nur wenn wir die deutsche Geschichte in ihrem Zusammenhang überschauen, können wir besser verstehen, in welche Abgründe bösartige Narrative die deutsche Nation getrieben haben. In seiner Rede zum 8. Mai 2020 hat Steinmeier auch auf die Voraussetzungen hingewiesen, die nötig sind, dass sich Deutschland als eine friedliche und weltoffene demokratische Nation in Europa bekennen kann. Dafür musste nämlich nicht nur die Wiedervereinigung geschehen, es mussten auch die Vorbehalte gegen alles Nationale überwunden werden. Er räumt dabei ein: «Viele Deutsche meiner Generation (haben) erst nach und nach ihren Frieden mit diesem Land gemacht.»

Viele haben ihren Frieden mit diesem Land aber noch nicht gemacht und andere sind schon wieder dabei, diesen Frieden durch symbolische Markierungen von Stolz, Stärke und Kriegsverherrlichung zu untergraben. Das zeigen die Kommentare auf Steinmeiers Rede im Internet, die von verständnislos und abweisend bis bösartig und feindlich reichen. Der Ton ist erstaunlich rau, was zeigt, dass das von ihm formulierte Bekenntnis zur Nation alles andere als ein Selbstläufer ist. Ein Grund mehr also für dieses Buch und sein Angebot zur Reflexion und zum Selberdenken für alle, die sich noch kein eigenes Verhältnis zu Deutschland, einig Vaterland gezimmert haben, aber aufgrund eines Gefühls der Betroffenheit und Mitverantwortung wissen, dass sie dazugehören.

1. Die These: Überwindung und Wiedererfindung der Nation

Der Mythos von Europa und die Abschaffung der Nation (Ulrike Guérot, Robert Menasse)

Europa ist das Ergebnis einer langen und intensiven Verflechtung von Menschen und Ideen unterschiedlicher Städte, Regionen und Nationen. Die ebenso produktive wie destruktive Beziehungsgeschichte Europas hat eine beeindruckende Gestalt in dem dreibändigen Lesebuch Europa – Die Gegenwart unserer Geschichte (2019) gefunden, an dem über 100 Wissenschaftler*innen aus aller Welt mitgearbeitet haben.[1] Unter den 133 Kapiteln gibt es auch eines über die junge Nymphe Europa und ihre Verfolgung und Verführung durch Zeus. Erzählt wird dieser Mythos von der Politologin Ulrike Guérot, die ihn mit aktuellen Referenzen anreichert. Als die phönizische Prinzessin in bester Laune und freudiger Erwartung ihrer Hochzeit sich gerade ihren Brautstrauß pflückte, mischte sich der oberste Olympier in ihre Angelegenheiten ein und betörte sie mit dem edelsten aller Gewürze, dem Geruch von Safran. Das genügte bereits, um Europa dazu zu bewegen, sich auf den Rücken des Stiers zu setzen, in dessen Gestalt ihr der erotomane Zeus erschien. Die bildliche Konstellation von Europa und dem Stier enthält ein unerschöpfliches Reservoir symbolischer Ausdeutungen, auf die Guérot genauer eingeht. Dazu gehört nicht nur der Gegensatz zwischen lokaler Sesshaftigkeit und dynamischer Bewegung. Europa und der Stier vertreten viel allgemeiner «das Prinzip einer spannungsgeladenen Affinität, die immer auf neue und widersprüchliche Art alle nur vorstellbaren Grenzziehungen übersteigt und die permanenten Veränderungen unterworfen ist (…): Die Grenzen Europas haben sich in der Geschichte stets verändert, fast als ob die Lust auf Grenzveränderung das Wesensmerkmal Europas ist.» Eine weitere Spannung, die in diesem Mythos zum Ausdruck kommt, ist die zwischen Verführung und Entführung. Guérot stellt hier eine nahtlose Verbindung zur #MeToo-Debatte her: «Der Mythos symbolisiert mithin Liebesbeziehung und Geschlechterkampf zugleich, der permanent neu austariert werden muss, jenen Moment, in dem eine Verführung in die sexuelle Übergriffigkeit kippen kann, der bis heute in feministischen Magazinen diskutiert wird.»[2]

Es gibt noch eine andere Bildgeschichte Europas, auf die Guérot in ihrem Beitrag eingeht. Auf mittelalterlichen Landkarten wird die Prinzessin als «ein üppiger Frauenkörper mit wallendem Kleid» dargestellt, «in dem alle damaligen Monarchien und Völker – Germania, Francia, Bulgaria, Scotland, Greca – ihren angestammten, organischen Platz haben». Diese «königliche, ja erhabene Darstellung der Europa», die Ulrike Guérot auch an den Garten Eden erinnert, «verströmt Fruchtbarkeit und Geborgenheit.» Dieser matriarchalischen Idylle stellt Guérot die patriarchalische Bedrohung Europas durch die Nationalstaaten gegenüber. Mit dieser Bedrohung endet für sie der Flirt mit dem Stier und wird zur brutalen Vergewaltigung Europas durch den Nationalstaat, den sich Thomas Hobbes bekanntlich im Rückgriff auf die Bibel als ein Monster, genauer: einen männlichen Leviathan vorstellte. Das Fazit von Guérots Bildgeschichte ist klar: «Überwiegt also das Männliche in der Geschichte – festgemacht an Topoi wie Nationalstaat, Krieg, Macht, Militär –, leidet die Europa.» Dann gibt es nur eines: sie muss den Stier kastrieren, denn: «Europa heißt nachnationales Matriarchat!»[3]

Nachnational – dieser Begriff hat sich in deutschsprachigen Diskursen während der letzten zwei Jahrzehnte immer mehr durchgesetzt. Eine effektive Strategie, um die Nation loszuwerden, beginnt mit der Sprache. Bereits durch Wiederholung des Wortes ‹nachnational› bzw. ‹postnational› können Selbstverständlichkeiten etabliert werden, die allmählich zu einer allgemeinen Norm werden und dann gar nicht mehr diskutiert werden müssen. Durch eine solche Sprachregelung wird an den Universitäten die Nation seit längerem für tot oder obsolet erklärt. Sie gehört auf den Müllhaufen der Geschichte und ist für die meisten Intellektuellen kein Thema mehr. Man kann es auch so formulieren: Der Begriff ‹Nation› ist eingefroren worden. Seit geraumer Zeit werden zu diesem Thema reflexartig immer dieselben Referenzen aufgerufen. Dazu gehört der Hinweis auf Benedict Andersons Imagined Communities, Eric Hobsbawms und Terence Rangers Invented Traditions sowie auf Ernest Gellners Nations and Nationalism. Alle drei Publikationen stammen aus dem Jahr 1983. An diesem Zeitpunkt wurde das Thema stillgestellt, was dazu geführt hat, dass der Nationendiskurs zu einem Zombie-Diskurs verkommen ist. Er bewegt sich in erstarrten Formulierungen und in vorhersehbaren Bahnen. In dieser Form wird er von Generation zu Generation weitergegeben. Das Problem gilt als ein für alle Mal abgeschlossen; wer weiter nachdenkt, fragt oder darüber forscht, wird verdächtigt, nationalistischem Denken anzuhängen. Kurz: In der wissenschaftlichen Forschung ist die Nation durch Ignorieren erfolgreich abgeschafft worden. Das wurde mir bestätigt, als ich kürzlich einen Politologen fragte, was seine Zunft denn heute zu diesem Begriff zu sagen habe. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: «Das Standardwerk zu dieser Frage ist immer noch Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates!»[4]

Mit diesem Konsens kann ich mich seit längerem nicht mehr abfinden. Ich sehe nämlich mit Sorge, wie gutmeinende aber auch realitätsblinde und in ihrer kritischen Grundhaltung erstarrte Intellektuelle die wachsende politische Gefahr verkennen, die von diesem Ignorieren ausgeht. Die Wiedererfindung der Nation ist eine wichtige Aufgabe, die gemeinsame Aufmerksamkeit verdient. Dabei dürfen wir Nation nicht automatisch mit Nationalismus gleichsetzen, denn damit überlassen wir diesen Begriff den Nationalisten und machen uns zu Gehilfen einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Im Gegenteil sollten wir den Begriff genauer prüfen, ihn neu besetzen und auf diese Weise zurückerobern. Damit wir uns in Zeiten der politischen Gefahr auch aktiv für sie einsetzen können, müssen wir lernen, mit der Nation auch positive Werte und Ideen zu verknüpfen.

Genau das ist in den USA geschehen. Dort hat die renommierte Harvard-Historikerin und Publizistin Jill Lepore gerade ein Manifest für eine bessere Nation veröffentlicht.[5] Ihr Plädoyer hat so große Nähe zu diesem Buch, dass ich den Klappentext der deutschen Ausgabe zitieren möchte: «Im Zeitalter der Globalisierung und der kosmopolitischen Eliten schien die Nation ein obsoleter Begriff geworden zu sein: Eine Vokabel, deren Gehalt sich auf dem Weg zur Weltgesellschaft historisch überlebt hatte, eine Parole der Reaktion. Doch in einer Welt, die nach wie vor aus Nationalstaaten besteht, bleibt die Nation der verlässlichste Garant für Recht und Gesetz und das wirkungsvollste Instrument, um die Macht der Vorurteile, Intoleranz und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Wer den Liberalismus gegen die autoritäre Welle unserer Zeit verteidigen will, der muss die Nation neu denken.»

Ulrike Guérot gehört nicht zu denen, die die Nation einfach durch Ignorieren abschaffen wollen. Das Wort ‹nachnational› hat für sie eine kämpferische Bedeutung. Es steht im Zusammenhang mit der Vision einer global-kosmopolitischen Bürgergesellschaft, für die die engagierte Baumeisterin eines neuen Europas gerade auch die Jugend als Avantgarde gewinnen und begeistern möchte. Nachnational, postnational, international, transnational – die Vermehrung solcher Adjektive signalisiert den starken Wunsch nach einer Zukunft, in der Nation keine Rolle mehr spielen soll. Darüber hinaus kämpft Guérot aber auch mit klaren Argumenten für die Abschaffung von Nationalstaaten und ihre Ersetzung durch eine ‹Europäische Republik› der Regionen. Durch Abbau der Binnengrenzen soll Europa zum Territorium einer einzigen ‹Staatsbürgergemeinschaft› werden, in der alle Menschen die gleichen Rechte haben und politisch direkt partizipieren.

Guérots EU-Kritik kommt von links. Sie will mehr Demokratie und hält die bisherige EU für undemokratisch; aber mit ihrer Diffamierung der EU trifft sie sich mit der Kritik von rechts. In dem Satz: ‹Wir haben ein Monster geschaffen›, stimmen beide Seiten überein. Die Parallele ist aufschlussreich: Beiden politischen Extremen ist die EU in gleicher Weise ein Dorn im Auge. Während die Linken kritisieren, dass die EU noch aus Nationalstaaten besteht, beklagen die Rechten, dass die EU die Macht der Nationalstaaten einschränkt. Beide Richtungen fordern, dass die Europäische Union in ihrer jetzigen Form verschwindet. So präzis und kompetent Ulrike Guérot die demokratischen Strukturen der neuen Europäischen Republik beschreibt, so unklar bleibt, wie sie die leidigen Nationalstaaten loswerden will. Das ist für sie aber kein Thema, weil sie davon ausgeht, dass Nationen über kurz oder lang von selbst verschwinden werden, weil ihre historische Zeit abgelaufen ist und sie es nur noch nicht gemerkt haben.

Warum die historische Zeit für die Nation abgelaufen ist, kann der Autor Robert Menasse genauer erklären. Wie Guérot bekämpft auch er die EU der Nationen und will sie durch eine Europäische Republik der Regionen ersetzen. Dafür bringt er ein historisches Argument in die Diskussion. Er geht dabei zur Gründergeneration der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zurück und versichert uns, es sei das politische Projekt dieser weisen Männer gewesen, den Nationalismus zu überwinden und die Nationalstaaten zu zerschlagen. Das sei nämlich im Kern die Lehre von Auschwitz gewesen, und diese Lehre findet er in den Texten des ersten Kommissionspräsidenten der EWG, Walter Hallstein, wieder, die er mit großer Zustimmung studiert hat.[6]

Menasse hat aber noch andere Argumente für das absehbare Absterben der Nationen. «Die Idee der Nation hatte einen historischen Beginn und wie alles, was in der Geschichte einen Beginn hat, wird es ein Ende haben.»[7] Die Älteren unter uns könnten sich das vielleicht nicht vorstellen, aber die jungen Menschen, so Menasse, verstehen es und werden es auch erleben. Seine Erwartung beruht auf der Geschichtsphilosophie des linken Internationalismus. Die Proletarier aller Länder vereinigen sich; sie haben die Nationen überwunden, denn ihr Stolz besteht ja gerade darin, ‹vaterlandslose Gesellen› zu sein. Dieser Internationalismus sei auch die Gründungsidee der EU gewesen. Heute, 50 Jahre später in der neuen Ära der Globalisierung, habe diese EU einen großen Vorsprung vor allen anderen Nationen, denn Globalisierung sei ja nichts anderes als «die Zertrümmerung aller nationalen Grenzen». Deshalb müsse sie diese Entwicklung nicht nur passiv erleiden, sondern habe dank ihrer historischen Erfahrung im Überwinden nationaler Grenzen eine besondere Expertise und könne deshalb die Globalisierung auch politisch konstruktiv gestalten.

Wie Menasse bin auch ich ein Fan des Europa-Projekts und stimme ihm in vielen Punkten zu. So bin auch ich der Meinung, dass es das Projekt Europas war, auf Auschwitz zu reagieren und den Nationalsozialismus zu überwinden. Das Projekt einer föderalen Wirtschaftsunion mit einem gemeinsamen Markt war dafür ein wirksamer Hebel. Es beförderte das Verschmelzen von Volkswirtschaften und vertiefte damit die internationale Europäische Gemeinschaft. Es ist auch richtig, dass es insbesondere Walter Hallstein war, der sich für diese Entwicklung einsetzte und unter den Mitgliedstaaten für die Beschleunigung der ökonomischen Verflechtung sowie die Abgabe nationaler Souveränität warb. Außerdem bin ich wie Menasse der Meinung, dass Europa als transnationale Gemeinschaft ein einzigartiges Experiment in der Geschichte ist. Es wird heute mehr denn je gebraucht und könnte als Vorbild für andere Staatenverbände dienen in einer Zeit, in der nationale Alleingänge immer gefährlicher werden und alle großen Probleme wie Finanzströme, Klimawandel, Flüchtlingsbewegungen und Digitalisierung, aber auch die Bedrohung durch Überwachung und die Aushöhlung von Bürgerrechten nur noch transnational gestaltet und geregelt werden können.

Der Punkt, bei dem ich jedoch nicht folgen kann, betrifft Menasses Rekonstruktion des europäischen Projekts. Gewiss, die weisen Männer in Brüssel wollten nach zwei Weltkriegen das Konzept der Nation erneuern, sie dachten aber nicht daran, den Nationalstaat abzuschaffen. Sie waren eben keine Kommunisten – von dieser Option hatten sie im Kalten Krieg ja eine lebhafte Anschauung –, sondern Anwälte einer bürgerlichen Modernisierung, die das Heil nicht in einer politischen Ideologie, sondern in einer gemeinsamen Wirtschaft suchten. Anders als heutige Intellektuelle waren sie in der Lage, zwischen Nation und Nationalismus zu unterscheiden. Die These, nationale Identität sei eine «schäbige Ideologie, die regelmäßig zu Kriegen und Verbrechen wider die Menschlichkeit geführt hat» und weiter führt, hätten sie in dieser Form für ihre Vaterländer nicht unterschrieben.[8] Ich kann mich einer Argumentation, die Differenzierungen verweigert und in polemischen Zwangsalternativen wie ‹aggressiver Nationalismus versus transnationaler Einheitsstaat› verharrt, nicht anschließen. Die Gründungsväter der EU wollten die Nationalstaaten keineswegs zerschlagen, noch wollten sie, dass sie mir nichts dir nichts so einfach ‹absterben›. Ihr Ziel war ein anderes, nämlich der Umbau des Nationalstaats. Nur wer Nation mit Nationalismus gleichsetzt, hat ein so schlechtes Bild von den Nationen und will sie unbedingt abschaffen. Es gibt aber ganz unterschiedliche Varianten des Nationalstaats. Auf der einen Seite ethnisch homogene Nationen, die geistige und kulturelle Vielfalt unterdrücken, Minderheiten verfolgen und ganze Bevölkerungsgruppen vernichten. Es gibt aber auch Nationen, die einen Verfassungsstaat haben, der Meinungsfreiheit garantiert, Vielfalt schützt und sich für Menschenrechte einsetzt. Die einen nennt man Diktaturen, die anderen liberale Demokratien. Nationen sind sie alle, aber man sollte sie auf keinen Fall über einen einzigen Kamm scheren.

Die Gleichsetzung von Nation und Nationalismus ist noch aus einem weiteren Grund gefährlich, denn wir erleben gerade, wie das autoritäre Bekenntnis zur Nation den Rahmen der EU sprengt. In immer mehr Ländern wird ein heroisches nationales Selbstbild von oben politisch und pädagogisch verordnet und immer weniger von den freien Bürgern des Landes definiert. Der Staat monopolisiert die mediale Öffentlichkeit, wer gegen die verordnete kollektive Identität verstößt, wird als unpatriotisch diffamiert, denunziert, zensiert und verfolgt. Umso wichtiger also, die Nation nicht pauschal zu verurteilen oder gar abzuschaffen, sondern das historische Projekt der EU zu würdigen, die die Nationen in einem demokratischen Staatenverbund zusammengebracht und gezähmt hat. Demokratien sind aber kein Bollwerk gegen autoritäre Bewegungen. Deshalb bedarf es eines besonderen Rahmens und Schutzschilds, um demokratische Nationen zu stärken. Genau das ist das Projekt und die wichtige Aufgabe der EU. Europa wird deshalb gebraucht und muss in der Krise verteidigt werden – gegen die Verächter der Demokratie ebenso wie gegen die Verächter der Nation.[9]

‹Methodischer Nationalismus› und der blinde Fleck der Modernisierungstheorie

Im Rahmen der Modernisierungstheorie ging man lange davon aus, dass sich die Nationen auf dem Weg in eine kosmopolitische ‹Weltgesellschaft› früher oder später von selbst erledigen, sprich: auflösen würden. Diese Entwicklung war vorherbestimmt durch die Kraft der Globalisierung, von der man annahm, dass sie automatisch nationale Grenzen durch neue Kommunikationskanäle und einen grenzenlosen Markt überwinden würde. Modernisierungstheoretiker, Technokraten, Manager, aber auch linke Intellektuelle teilten ein Geschichtsbild, in dem sich die Nation von selbst aus der Geschichte verabschiedet. «Von den großen Soziologen wie Parsons, Merton oder Bourdieu bis hin zu Habermas und Luhmann hat keiner die systematische Frage nach der Bedeutung des Nationalen für Staaten und Gesellschaften in der Moderne gestellt. Merkwürdigerweise wurden diese nations-blinden Theorien der Moderne in einem Umfeld formuliert, in dem neue Nationalstaaten entstanden, oder, wie in Zeiten von Max Weber und Émile Durkheim, vor oder nach nationalistischen Kriegen.»[10] Man könnte hier auch den Soziologen Ulrich Beck erwähnen, der als Modernisierungstheoretiker ebenfalls die Transformation der Nationalstaaten auf dem Weg in eine ‹Weltgesellschaft› verfolgt hat, in der sie ihre Souveränität gegenüber transnationalen Konzernen verlieren und den neuen Typus des kosmopolitischen Weltbürgers hervorbringen.[11] Um diese neue Phase zu markieren, hat er den Begriff der ‹Zweiten Moderne› geprägt.

Die These der Modernisierungstheoretiker ist klar: Mit Eintritt in das Zeitalter der Globalisierung sind die Nationalstaaten durch beschleunigten technischen Wandel und transnationale Dynamiken wie die entschränkte Bewegung von Menschen, Ideen, Information, Waren und Kapital überholt worden. Man könnte die These aber auch umdrehen und argumentieren, dass es gerade diese Erfahrung der Globalisierung war, die den Nationalstaaten neuen Auftrieb und Bedeutung gegeben hat. In dieser Sicht war der moderne Nationalstaat nämlich plötzlich nicht mehr der Träger für beschleunigte Modernisierung, sondern auch die Instanz für Gegenbewegungen zu diesem universalen Trend, von der aus die Globalisierung kritisch beurteilt werden konnte und ihr Schranken gesetzt wurden. Es gibt also mehrere Gründe, warum wir noch nicht in der ‹nachnationalen› Welt angekommen sind: Erstens hat die Globalisierung die Nationalstaaten nicht nur nicht beseitigt, sondern zum Teil auch neu bestätigt, zweitens sind um 1990, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, empirisch viele neue Nationalstaaten in Europa entstanden, und drittens gewann das Modell ‹Nationalstaat› im 21. Jahrhundert auch außerhalb Europas neue Attraktivität. Wladimir Putin zum Beispiel hat Russland von einem sozialistischen Staat unter Beibehaltung Stalins als zentralem Helden in einen kapitalistischen Nationalstaat umgebaut, und auch China hat trotz Beibehaltung des Maoismus viele Elemente des Modells Nationalstaat übernommen. Diese Entwicklungen zeigen, dass die Zeiten des Nationalstaats noch nicht vorüber sind und man gut daran tut, davor nicht die Augen zu verschließen, sondern sich kritisch mit ihm auseinanderzusetzen und um Differenzierung zu bemühen.

Genau das tun Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller, die als Sozialwissenschaftler die These vom allmählichen Verschwinden der Nationen genauer unter die Lupe nahmen. Sie veröffentlichten 2002 einen Aufsatz, mit dem sie eine neue Reflexion über Gegenwart und Zukunft des Nationalstaats anregten.[12] Ihre Neubestimmung des Nationsbegriffs beginnt mit der Anerkennung eines blinden Flecks in den Sozialwissenschaften, die der Nation nie einen bedeutenden Platz in ihren Theoriegebäuden zugewiesen haben. Alle Theorien der Moderne gingen von der Nation als einem Übergangsphänomen bzw. atavistischen Überbleibsel aus, das im Laufe der sozialen, politischen und historischen Evolution neuen Strukturen Platz machen würde. Diese in kommunistische ebenso wie in soziologische Groß-Theorien eingebaute Fehlannahme ist nach Ansicht der Autoren vor allem durch strikte Arbeitsteilung innerhalb der Disziplinen entstanden. Denn während sich Historiker, Ethnologen und Psychologen weiter mit der Nation als Teil der menschlichen Geschichte beschäftigten, entwarfen die Sozialwissenschaften Szenarien der Transformation und Erneuerung für Gegenwart und Zukunft, an die sie schließlich mehr glaubten als an die Realität um sie herum. Es gab Ausnahmen wie den Soziologen Karl Otto Hondrich, der sich bereits in den 1990er Jahren öffentlich dafür entschuldigte, Nation und Nationalismus als Thema der Soziologie übersehen und vergessen zu haben. Eine weitere kritische Stimme war die des Nationalismusforschers Anthony Smith, der feststellte, dass die allgemeine Präsenz der Nationalstaaten dazu geführt hat, dieses Thema als banal und einer wissenschaftlichen Erforschung unwürdig zu bewerten. Die Grenzen des Projekts der Moderne blieben außerhalb des soziologischen Sichtfelds.

Mit der Einführung des Begriffs ‹methodological nationalism› haben Wimmer und Schiller ihr Ziel, eine neue Debatte über den Nationsbegriff anzustoßen, erreicht. Darunter verstehen sie eine unreflektierte Haltung und Sichtweise, die das Format des Nationalstaats als natürliches, ewiges und fragloses Prinzip moderner Staatenbildung unterstellt. Die Autoren wollen eine solche ‹Naturalisierung›, ‹Reifizierung› oder ‹Essentialisierung› der Nation in Frage stellen, die auf blinden Flecken, einer starren Pfadabhängigkeit des Denkens und dem sturen Absehen von Kontexten beruht. Dieses Standardmodell von Nationalstaat charakterisieren sie als Verklammerung von vier Komponenten:

Volkssouveränität auf der politischen Ebene,

Staatsbürgerschaft auf der rechtlichen Ebene,

obligatorische Solidarität auf der sozialen Ebene und

ethnische Homogenität auf der kulturellen Ebene.

Die Autoren sind daran interessiert, dieses Standardmodell des Nationalstaats in Frage zu stellen, um Nationalstaaten in Interaktion und Austausch zu beobachten und alternative Modelle der Staatenbildung entwickeln zu können. Insbesondere aber ist Migration ein transnationales Geschehen, das innerhalb nationaler Grenzen gar nicht abgebildet werden kann und, schlimmer noch, aus der Sicht dieses Standardmodells der Nation in einem negativen Licht als Störfaktor und prekäre Ausnahme erscheint. Vor diesem Hintergrund gilt der Migrant automatisch «als politisches Sicherheitsrisiko, als kultureller Fremder, als soziale Randfigur und als Verstoß gegen die Norm territorialer Einhegung und Sesshaftigkeit».[13]

Deshalb kritisierten die Autoren ein Denken, das von der Nation als einer «natürlichen sozialen und politischen Größe in der modernen Welt» ausgeht und dabei die Vorstellung von der Gesellschaft als einem geschlossenen Container automatisch reproduziert. Sie empfehlen dringend, die Brille des methodischen Nationalismus abzunehmen, die den Blick auf die derzeit anstehenden großen Fragen globaler Transformationen verstellt. Die paradoxe Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – hier fortschreitende Globalisierung, dort fortschreitende Renationalisierung – erzwinge ein Umdenken und eine epistemische Wende. In einer Zeit, da die drängendsten Probleme wie Markt oder Migration, ökologische Krise oder Digitalisierung nur auf einer transnationalen Ebene gelöst werden können, ist die Vorstellung vom in sich abgeschlossenen und autonomen Nationalstaat ein problematischer Faktor geworden, der unbedingt neu definiert werden muss.

Da das Modell des modernen Nationalstaats, wie es Wimmer und Schiller charakterisieren, den neuen Realitäten der Globalisierung immer weniger gewachsen ist, plädieren die Autoren für ein ‹transnationales Paradigma› und entwickeln neue Fragestellungen und Begriffe, um bislang ausgeblendete Kontexte einzubeziehen und neue Phänomene wie ‹transnationale Gemeinschaften› oder ‹Heimat auf Distanz› zu erfassen. Sie machen es sich dabei aber nicht so leicht wie ihre Fachkolleg*innen, die die Nation einfach für tot erklären, sondern holen das Thema in einen kritischen Nationen-Diskurs zurück, in dem sie «den Gegensatz zwischen Staat und Nation auflösen, ohne dabei in die Falle eines als natürlich erklärten Nationalstaates zu fallen». Sie erkennen an, «dass der Nationalstaat den Stürmen von Postsozialismus, Postkolonialismus und Globalisierung stärker standgehalten hat» als in der Forschung angenommen. Dem Kosmopolitismus-Hype stehen sie eher skeptisch gegenüber. «Dem Konzept des ‹Kosmopolitismus› können wir uns nicht anschließen, weder als Beschreibung eines nach-nationalen Stadiums von Identität noch als ein anzustrebendes politisches Ziel. Eine solche Sicht mag sinnvoll sein, um Nationalismus zu dekonstruieren und andere Wege zu entwerfen im Imaginieren von Gemeinschaften, aber sie erkennt nicht an, dass die Nation weiterhin ein starker Signifikant ist, der von vielen Akteuren mit unterschiedlichen Bedürfnissen und politischen Zielen besetzt wird.»[14]

Obwohl der Kosmopolitismus eine schöne Vision und wichtige regulative Idee ist, bleibt der Sprung von der Nation zu dieser Ebene problematisch, weil er alle konkreten Probleme überdeckt, mit denen ich mich in diesem Buch auseinandersetzen möchte. Eine Steilvorlage für mein Projekt verdanke ich dem akademischen Ehepaar Herfried und Marina Münkler. Sie beenden ihr Buch Die neuen Deutschen (2016) mit einem Absatz, der sich als idealer Einstieg in das vorliegende Buch eignet: «Zweifellos kann man die Auffassung vertreten, die Vorstellung der Nation sei in der Welt des 21. Jahrhunderts antiquiert, und deswegen dafür optieren, den Nationsbegriff völlig aufzugeben und nur mit dem Begriffspaar von Staat und Gesellschaft zu operieren. Das hat aber zwei bedenkenswerte Konsequenzen: Erstens überlässt man dann das stark emotional besetzte Nationskonzept anderen, die es politisch nutzen; zweitens verzichtet man auf eine politische Kategorie, die wie kaum eine andere in der Lage ist, Solidarität und gegenseitige Hilfsbereitschaft zu mobilisieren. Tatsächlich ist die Vorstellung von nationaler Zugehörigkeit und Identität das Gegenmittel zu einer Gesellschaft, die allein aus Tauschakten unter gegenseitiger Nutzenerwartung besteht. Dass wir uns in einigen Lebensbereichen weiter in diese Richtung entwickeln werden, ist absehbar. Umso dringlicher brauchen wir jedoch den Solidaritätsgenerator Nation – freilich auch eine Vorstellung von Nation, die hinreichend modernisiert ist, um den Herausforderungen unserer Gegenwart und Zukunft zu begegnen.»[15]

Der Nationalstaat und seine Denationalisierung

Werfen wir noch einen weiteren Blick auf die Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Nationalstaats, diesmal aus juristischer Perspektive. Ich orientiere mich dabei an einer Publikation von Alexander Thiele, der die Entwicklung des modernen Staates vom frühneuzeitlichen Europa bis in die Gegenwart nachzeichnet.[16] Üblicherweise wird der moderne Staat als eine Komposition aus den drei Elementen Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt definiert. Der Autor schließt sich dieser These nicht an, weil er das Element ‹Staatsvolk› zunächst zurückstellen möchte. Er definiert den modernen Staat als eine «geistige Schöpfung», bei der acht Merkmale zusammenkommen: (1) Zentralisierung der Macht- und Herrschaftsverhältnisse, (2) Säkularisierung und Konfessionalisierung, (3) territoriale Abgrenzung und Entpersonalisierung, (4) Gestaltung durch Gesetzgebung, (5) Ausbildung einer zentralen Bürokratie, (6) Errichtung eines stehenden Heeres und (7) umfassende Steuerfinanzierung. Wenn er das achte Merkmal, die Idee eines Staatsvolks, abzieht, dann passt seine Definition des modernen Staates auf so unterschiedliche Regierungsformen wie eine absolutistische Monarchie, ein totalitäres Regime, eine Militärdiktatur, eine konstitutionelle Monarchie oder eine Demokratie.

100 Seiten später und mit einer historischen Verschiebung von 200 Jahren nimmt Thiele das Merkmal ‹Staatsvolk› in seinem Buch wieder auf. Grund dafür ist, dass mit dem besonderen Verhältnis zwischen Staatsvolk und Staat eine neue Ära beginnt, in der das Gebilde des Nationalstaats die Bühne der Geschichte betritt: «Das Staatsvolk ist nicht einfach die Summe aller Angehörigen eines Staates; es ist vielmehr die sich als politische Gemeinschaft verstehende Nation.»[17] Wie Thiele betont, werden im Englischen die Begriffe ‹state› und ‹nation state› synonym verwendet. Tatsächlich erscheint den meisten der Zusammenhang zwischen Nation und Staat inzwischen als so selbstverständlich, «dass bisweilen in Vergessenheit gerät, dass der moderne Staat jahrhundertelang ohne Nation, ohne ein besonderes (formales und rechtlich fundiertes) Staatsvolk auskam». Das neue Modell war dann allerdings historisch so erfolgreich, dass wir es längst ‹naturalisiert› haben: «Aktuell sind (…) praktisch alle Staaten Nationalstaaten und sehen sich als politischer Zusammenschluss einer bestimmten Nation.»[18] Die Frage ist deshalb: Warum hat sich der Nationalstaat in dieser Weise durchsetzen können, woher bezieht er seine anhaltende Überzeugungskraft und Unwiderstehlichkeit?

Hier ist offensichtlich wieder ‹methodischer Nationalismus› am Werk. Man kann sich den Staat einfach nicht mehr anders vorstellen. Diese unreflektierte Selbstverständlichkeit wird besonders klar in dem Zitat ausgesprochen, das Thiele seinem Nationalstaats-Kapitel voranstellt: «Wie die Menschheit in eine Anzahl von Nationen geteilt ist, so soll die Welt in ebenso viele Staaten zerlegt werden. Jede Nation ein Staat. Jeder Staat ein nationales Wesen.» Damals war dieser Satz aber noch keine historische Selbstverständlichkeit, sondern wurde gerade erst mit ideologischer Kraft und rhetorischer Emphase zu einer politischen Norm erhoben. Er stammt aus einem öffentlichen Vortrag, den Johann Caspar Bluntschli 1870 in Berlin hielt, also mitten im Krieg gegen Frankreich. Ein Jahr später wurde das Kaiserreich gegründet, das 25 sehr heterogene Staaten umfasste. Wenn der moderne Staat, wie Thiele überzeugend formuliert, als ein «geistiges Prinzip» zu verstehen ist, dann könnte man Nation als ein Argument von großer emotionaler und symbolischer Bindungskraft definieren. Dieses Argument lautet: ‹Die Bevölkerung wächst zu einem Volk zusammen und dieses Volk wird mit seinem Willen, Wirken und Leiden zum Subjekt der Geschichte erhoben.› In Kriegs- und Gründerzeiten stieß dieses Argument auf offene Ohren.

Wie kam es dazu, dass der Nationalstaat in allen Weltregionen zu einer so geschichtsmächtigen Neuauflage des modernen Staates werden konnte? Der Zusammenschluss zu einer Nation beruhte auf unterschiedlichen Bindungskräften, die hier in neuartiger Weise zusammenwirken. Erstens gehören dazu bestimmte historisch gewachsene Grundlagen wie Landschaften, Bauten oder Traditionen, zweitens kommt die Stabilisierung durch nationale Symbole, politische Mythen, kulturelle Bilder und Narrative hinzu, und drittens gewinnt das kollektive Selbstbild mit der Forderung nach Selbstbestimmung, einer bestimmten historischen Aufgabe oder einer besonderen Mission in der Geschichte ihr politisches Profil.

Die moderne Nation entstand erst im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung, aber von Anfang an nahm sie in säkularer Zeit auch religiöse Züge an. Sie ist in gleicher Weise Produkt wie Bewältigung der Modernisierung und damit ein Stück Wiederverzauberung einer entzauberten Welt, das den atomisierten Einzelnen in einer Gesellschaft eine kollektive Überhöhung ermöglicht. Auf der höheren Ebene kollektiver Vergemeinschaftung eröffnet die Nation dem Individuum eine säkulare Unsterblichkeit in der Gruppe über den eigenen Tod hinaus.