Vergangenheit, die nicht vergeht - Aleida Assmann - E-Book

Vergangenheit, die nicht vergeht E-Book

Aleida Assmann

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Beschreibung

Mit Sicherheit kann man die Vergangenheit nicht ändern, aber man kann sie unter veränderten historischen Umständen neu deuten. Darin sieht Aleida Assmann, Friedenspreisträgerin, eine Chance für Gesellschaften, in denen dieselbe Geschichte von unterschiedlichen Gruppen in gegensätzlichen Narrativen erzählt wird. Das führt zu Spaltungen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt untergraben. Denn solange unterschiedliche Narrative einander unversöhnlich gegenüberstehen, ist nicht nur die Möglichkeit sozialer Anerkennung und politischer Gleichberechtigung blockiert, sondern auch die Perspektive auf eine gemeinsame Zukunft versperrt.

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Seitenzahl: 46

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wiener vorlesungen

Band 211

Herausgegeben für die Stadt Wien von Anita Eichinger

Vortrag

am 28. Februar 2023

aleida assmann

vergangenheit, die nicht vergeht

gespaltene gesellschaften und gegensÄtzliche narrative

picus verlag wien

Copyright © 2023 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

ISBN 978-3-7117-3031-2

eISBN 978-3-7117-5499-8

Informationen zu den Wiener Vorlesungen unter

www.wienervorlesungen.at

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

inhalt

die wiener vorlesungen

vorwort

einleitung

kann man die vergangenheit reparieren?

gespaltene nationen und gegensÄtzliche narrative – zwei beispiele

vergangenheit, die nicht vergeht

die (un-)sichtbarkeit der denkmÄler

die neugestaltung des karl-lueger-denkmals in wien

die bedeutung von narrativen

erinnern in der migrationsgesellschaft

kann man die vergangenheit reparieren?

nationen als »imagined communities«

NATIONEN UND IHRE NARRATIVE – Aleida Assmann im Gespräch mit Birgit Dalheimer

die autorin

die wiener vorlesungen

Die Wiener Vorlesungen sind seit über drei Jahrzehnten ein offenes Dialogforum der Stadt Wien und eines der wichtigsten Formate für Wissens- und Kulturvermittlung in dieser Stadt. Ihr Ziel ist es, den Analysen, Einschätzungen und Fragen renommierter Denker*innen und Wissenschaftler*innen aus aller Welt Raum zu geben, um gesellschaftliche Herausforderungen der Gegenwart anschaulich zu analysieren und kritisch zu diskutieren. So wird nicht nur der Blick für die Komplexität und Differenziertheit unserer Wirklichkeit geschärft, sondern auch im Sinne eines kritischen, digital weitergedachten Humanismus Demokratie gestärkt, indem wissenschaftliche Betrachtung und Argumentation breit nachvollziehbar gemacht und vermittelt werden.

Es mag ein Paradox unserer durch vielfältige Krisen geprägten Zeit sein, dass gerade in einem Land, in dem seit jeher großartige Leistungen im Bereich der Wissenschaft erbracht wurden und werden, eine steigende Wissenschaftsskepsis zu beobachten ist. Alternative Wahrheiten haben Eingang in den allgemeinen Diskurs gefunden und persönliche Meinungen werden oft mit wissenschaftlichen Analysen gleichgesetzt, da es vielfach an Verständnis für ihre Verfahren fehlt. Wenn Algorithmen nur mehr auf uns zugeschnittene, angepasste »Wirklichkeiten« und »Wahrheiten«präsentieren, lösen sich geteilte Grundwerte und gemeinsame Referenzrahmen in sogenannten Filterblasen auf – Radikalisierung und Erosion von Demokratie sind die Folgen. Die Digitalisierung hat diese Entwicklungen befördert, bietet jedoch auch Chancen für die Zukunft.

Im Duell von Fake News und Fakten tragen die Wiener Vorlesungen dazu bei, antiaufklärerischen Entwicklungen mit Vehemenz entgegenzutreten und das Vertrauen der Menschen in die Wissenschaft wiederherzustellen sowie kritisches Denken zu fördern. Gerade aufgrund der Komplexität der multiplen Krisen (Klima, Krieg, Künstliche Intelligenz u. v. m), mit der unsere Welt konfrontiert ist, braucht es einen zukunftsorientierten Zugang und ein gemeinsames Agieren, um Demokratie und Diskurs zu stärken und Lösungsansätze zu formulieren und umzusetzen. Nichts Geringeres als die Frage »Was ist der Mensch«, die letztlich alle Wissenschaft umtreibt, ist vor diesen Hintergründen neu zu stellen.

Es erfordert kreative, mutige und ungewöhnliche Antworten und Ideen, neue Formen der Kooperation und ein Zusammengehen aller wissenschaftlichen Disziplinen, um den Herausforderungen entgegnen zu können. Vor allem aber braucht es einen auf valide wissenschaftliche Grundlagen gestützten Diskurs auf breiter gesellschaftlicher Ebene, denn diese Probleme und Entwicklungen betreffen alle Teile der Gesellschaft.

Kritische Analyse und Aufklärung im Sinne der Demokratie und einer starken Zivilgesellschaft sind und bleiben zentrale Anliegen der Wiener Vorlesungen. Insofern freue ich mich, dass sie nicht nur digital im Internet jederzeit abrufbar sind, sondern mit vorliegender Publikation auch in gedruckter Form vorliegen.

Veronica Kaup-Hasler

Stadträtin für Kultur und Wissenschaft

vergangenheit, die nicht vergeht

vorwort

In seinem Buch »The Western Canon« schreibt der amerikanische Literaturkritiker Harold Bloom:

Gedächtnis ist schon immer als Kunst angesehen worden, auch wenn diese Kunst manchmal unterhalb der Bewusstseinsschwelle arbeitet. Der amerikanische Philosoph R. W. Emerson hat zwischen der »Partei der Erinnerung« und der »Partei der Hoffnung« unterschieden, aber das war noch in einem ganz anderen Amerika. Heute ist die Partei der Erinnerung zur Partei der Hoffnung geworden, auch wenn die Hoffnung inzwischen immer geringer geworden ist.1

Harold Bloom hat diese Worte in einen ganz anderen Kontext hineingeschrieben. Dennoch können sie einen guten Einstieg in das Projekt bieten, das ich im Februar 2023 in der Reihe der Wiener Vorlesungen vorstellen durfte. Bloom hat hier vornehmlich an die Literaturgeschichte gedacht. Für ihn besteht die Gedächtniskunst und -kraft der Literatur vor allem darin, dass sie ihre Leser und Leserinnen über die Jahrhunderte in ihren Bann zu ziehen vermag. In Emersons Unterscheidung geht es offenbar um einen eher konservativen und einen eher progressiven Modus des Denkens. Der Mythos vom »amerikanischen Traum« ist bis heute ein Beispiel für diese Spannung, denn er steht für eine Abkehr von der Vergangenheit, mit der man nichts mehr anfangen kann, und verlagert das Ziel menschlichen Hoffens und Strebens in eine Zukunft, die man sich als eine permanente Verheißung von Glück und Fortschritt ausmalt. Von einer solchen Zeitvorstellung sind wir heute weit entfernt. Deshalb schließen sich heute auch Vergangenheit und Zukunft, so Bloom, nicht mehr so kategorisch aus. Sie greifen ineinander und können sich gegenseitig stützen, um neue Perspektiven zu eröffnen, auch wenn das große Zukunftsversprechen inzwischen erloschen ist.

Mein Thema wird im Folgenden nicht die große Kunst der westlichen Literatur sein, sondern es wird im Gegenteil um Brocken einer traumatischen Geschichte gehen, die hinter uns liegt, aber noch nicht erledigt ist, weil in ihr noch Konflikte und Probleme begraben liegen, die in die Gegenwart weiter hineinwirken und sie immer wieder heimsuchen. Eine Wiederbegegnung mit dieser Vergangenheit und eine neue Besichtigung der Probleme mit einem neuen, anderen Blick, so die These dieses Buches, könnte sich zu einer wichtigen und noch kaum genutzten Ressource entwickeln, weil sie in einer Welt sozialer Spaltung und politischer Polarisierung Perspektiven für eine gemeinsame Zukunft eröffnet.