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Der Band vereinigt zwei Kriminalfälle unterschiedlicher Art. Der erste in dem Volksstück »Der Fall Stadler« schildert eine authentische Begebenheit aus dem Württemberg des Jahres 1850 und führt uns ins nachrevolutionäre Biedermeier zu einem Goldarbeiter und seiner Geliebten, einer Näherin, die beide ums nackte Überleben und gegen den gesellschaftlichen Druck eines sinnentleerten Ehrbegriffs kämpfen. Der zweite in »Des Bäckers Fluch« fußt auf zwei Erzählungen des japanischen Autors Haruki Murakami und behandelt einen in der fernöstlichen Gegenwart angesiedelten, rein fiktiven Raubüberfall, der hier zum Libretto für eine Opera buffa verarbeitet und ursprünglich für einen von netzzeit Wien, dem Luzerner Theater und von Opera Genesis London ausgeschriebenen Wettbewerb verfasst worden ist. Ein frisch verheiratetes Ehepaar, sie Designerin, er Rechtsanwalt, trifft sich mitten in der Nacht vor dem heimischen Kühlschrank, weil es von einem unerklärlichen Heißhunger geplagt wird. Bei dieser Gelegenheit erzählt der Mann die Geschichte, wie er, Jahre zuvor, zum Verbrecher geworden ist und deswegen einem Fluch unterworfen wurde, bei dem der Hunger die zentrale Rolle spielt.
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Seitenzahl: 97
Veröffentlichungsjahr: 2021
Der Band vereinigt zwei Kriminalfälle unterschiedlicher Art. Der erste in dem Volksstück »Der Fall Stadler« schildert eine authentische Begebenheit aus dem Württemberg des Jahres 1850 und führt uns ins nachrevolutionäre Biedermeier zu einem Goldarbeiter und seiner Geliebten, einer Näherin, die beide ums nackte Überleben und gegen den gesellschaftlichen Druck eines sinnentleerten Ehrbegriffs kämpfen. Der zweite in »Des Bäckers Fluch« fußt auf zwei Erzählungen des japanischen Autors Haruki Murakami und behandelt einen in der fernöstlichen Gegenwart angesiedelten, rein fiktiven Raubüberfall, der hier zum Libretto für eine Opera buffa verarbeitet und ursprünglich für einen von netzzeit Wien, dem Luzerner Theater und von OperaGenesis London ausgeschriebenen Wettbewerb verfasst worden ist. Ein frisch verheiratetes Ehepaar, sie Designerin, er Rechtsanwalt, trifft sich mitten in der Nacht vor dem heimischen Kühlschrank, weil es von einem unerklärlichen Heißhunger geplagt wird. Bei dieser Gelegenheit erzählt der Mann die Geschichte, wie er, Jahre zuvor, zum Verbrecher geworden ist und deswegen einem Fluch unterworfen wurde, bei dem der Hunger die zentrale Rolle spielt.
Der Fall Stadler
Ein Volksstück in fünf Akten
Anmerkugen
Des Bäckers Fluch.
Opera buffa nach zwei Erzählungen von Haruki Murakami »Der Bäckereiüberfall« und »Der zweite Bäckereiüberfall«
Anmerkungen
Die Autorin
Zum dramatischen Schaffen der Autorin
Doris Claudia Mandel
Ein Volksstück in fünf Bildern
nach einem authentischen Kriminalfall aus dem Jahre 1850
Wilhelm Dengler, Goldarbeiter
Vater Dengler, Uhrmachermeister
Emilie Stadler, Denglers Lebensgefährtin, Näherin
Friedrich Frick, Schauspieler
Ein Gendarm
Eine Hospitalschwester
Stimmen aus dem Off (Marschierende, Flüstervolk, Eisenbahnpassagiere, u. U. von Konserve)
KOSTÜME
Biedermeier, bürgerlich, bei Wilhelm Dengler von Bild zu Bild ärmlicher
ORTE DER HANDLUNG:
Werkstatt und Wohnung Wilhelm Denglers in Ludwigsburg
Zimmer Emilie Stadlers in Marbach
Katholisches Hospiz in Ludwigsburg
Bahnhof von Ludwigsburg
ZEIT DER HANDLUNG:
Vom Sommer 1847 bis zum Sommer (22. August) 1850
I. Bild
Sommer 1847. Wilhelms Goldarbeiter-Werkstatt in Ludwigsburg. Emilie, Wilhelm. Später Vater Dengler
Wenn irgend möglich eine naturalistische Einrichtung: Die Werkstatt dient gleichzeitig als Wohnstube. Eine Esse, ein Blasebalg. Ein an einer Seite fest an der Wand verankerter Tisch mit einer massiven Arbeitsplatte aus Holz. In der Tischplatte ist eine große Aussparung in halbrunder Form für den Goldarbeiter freigelassen. In deren Mitte befindet sich der »Feilnagel«, ein Keil aus Hartholz, der in einer Vertiefung in der Kante der Tischplatte verkeilt ist und als Anlegefläche beim Bearbeiten kleinerer Werkstücke dient. Unter der bogenförmigen Aussparung des Werkbrettes das »Fell«, eine sackähnliche Vorrichtung aus Schafleder, in der die beim Bearbeiten der Werkstücke anfallenden edelmetallhaltigen Reste aufgefangen werden. Unter dem Feilnagel Schubladen für Arbeitsgeräte. Auf dem Tisch dahinter eine feuerfeste Abdeckung aus Stahlblech mit der Lötkohle. Überall in Griffweite spezielle Werkzeuge (Feilen, Punze, Stichel, Zangen, Stahlwinkel, Sägen, Reißnadel, Ringriegel usw.). Neben der Arbeitslampe das Bretteisen (ein massiver Stahlwürfel, dessen plan geschliffene und polierte Ober-fläche zum genauen »Richten« der Werkstücke dient). Außerdem ein kleiner Amboss, ein Schraubstock mit diversen Zieheisen usw. Diesem eigentlichen Arbeitsbereich gegenüber die nicht viel gemütlichere Wohnecke mit offenem Regal, darin Wäsche, einem Tisch mit zwei Stühlen und einem Bett vor grell farbiger Biedermeiertapete. Auch eine Kindertrommel findet sich dort. Am Tisch wartet die schwangere Emilie darauf, dass der Mann, mit dem sie in wilder Ehe lebt, der Goldarbeiter Wilhelm Dengler, seine Arbeit beendet und zu ihr herüber kommt. Sie hat Stoff auf dem Schoß und näht.
E
MILIE
Bischt endlich fertig mich deinem Gefiddschl? (
Wilhelm stöhnt
.) Was wird’s diesmal?
W
ILHELM
Ein Kelch. Zwölflötiges Silber. (
Er zeigt ihn
.) Für den muss ich vierundachtzig alte preußische Taler einschmelzen. Ein halbes Jahr Arbeit.
E
MILIE
Du schaffst wie‘n Bronnabuzzr. Wenn‘s danach ginge, müsstest du längst Fabrikbesitzer sein.
W
ILHELM
Würde Arbeit reich machen, hätte der Ochse mehr Geld als der Bauer. Neulich kam jemand, der bot mir Schmuck an. Nachdem ich abgewogen hatte und den Metallwert berechnet, sagte der Herr, er wolle sich für den Betrag einen neuen Schmuck aussuchen. Ich wunderte mich noch. Und war zu blöde zum Misstrauen. Dann stellte sich heraus: Der Schmuck war gestohlen, der Herr ein gewöhnlicher Dieb. Die Polizei hat das Zeug beschlagnahmt, und mir bleibt ein Verlust.
E
MILIE
Den wirst du verschmerzen.
W
ILHELM
Wenn es nur der einzige bliebe.
E
MILIE
Bleibt er nicht?
W
ILHELM
Als ob du das nicht wüsstest. Sieh mich an! Sechzehn Stunden Schufterei jeden Tag. Was kommt dabei herum? Mein Vater muss mir ein Salär zustecken, damit wir nicht verhungern.
E
MILIE
Damit
du
nicht verhungerst.
W
ILHELM
Gehören wir nicht zusammen?
E
MILIE
Wir sind nicht verheiratet.
W
ILHELM
Das liegt nicht an mir. Warum willst du nicht? Dabei heißt es doch, eine Frau mache sich Sorgen um ihre Zukunft, bis sie einen Mann hat.
E
MILIE
Und ein Mann mache sich
keine
Sorgen um seine Zukunft, bis er eine Frau hat. (
Wilhelm lacht.
) Wovon sollen wir leben? Ein halbes Jahr Arbeit für einen Kelch
aus zwölflötigem Silber. Ich müsste eh weiter nähen. Die eine Tretmühle ist mir genug. Die kann ich auch ohne Ehe haben.
W
ILHELM
Als ob’s nur immer ums Geld ginge.
E
MILIE
Es geht immer nur darum. Warum sonst darf niemand heiraten, von Amts wegen, wenn er so arm ist, dass bei ihm die Mäuse verhungern?
W
ILHELM
Wenn i scho koin Baur ben, gohd mr au koin Gaul nedd hee, brichd mr au koin Ochs a Horn, scheissd mr au koi Kaddz ens Korn.
E
MILIE
Sehr witzig!
W
ILHELM
Es tut sich was.
E
MILIE
Was meinst du?
W
ILHELM
Überall rumort es. Unter den Schneidern, den Buchdruckern – und unter meinen Leuten, den Goldarbeitern. Es gibt erste Drohungen gegen die Regierung.
E
MILIE
Von dummen Jungs, die Stoffkappen mit Schirmen tragen, wenn sie auf die Straße gehen, weil sie glauben, dass sie damit die Obrigkeit ärgern.
W
ILHELM
Aber wir gehen auf die Straße!
E
MILIE
Weil in den Wirtshäusern die Bierpreise gestiegen sind.
W
ILHELM
Vor ein paar Tagen ein Massenauflauf in Stuttgart. Der Bäckermeister Mayer hatte kein Brot herausgerückt, obwohl den Bürgern die Mägen knurren. Da sind wir vor sein Haus gezogen. Wir hielten Topfdeckel in den Händen und machten einen entsetzlichen Rabatz.
E
MILIE
Mayers Ofen war kaputt. Der wurde an dem Tag repariert.
W
ILHELM
Behauptet der Bäcker! Und du fällst drauf rein! Mayer wollte den Brotpreis in die Höhe treiben, das war der Grund. Also rufen wir: »Kornwucher! Kornwu
cher!« (
Er fuchtelt mit beliebigen Werkzeugen in der Luft herum
.) Da fliegen die ersten Pflastersteine in die Fensterscheiben. Auch Gaslaternen gehen zu Bruch. Dann die Parole: »Es lebe die Freiheit! Es lebe die Republik!« Der Stadtdirektor eilt herbei, hat die Landjäger im Schlepp, die Bürgergarde vom Rathaus und den Schultheiß. Sie kommen auf den Platz, als ein paar Hitzköpfe gerade versuchen, Mayers Haustür einzutreten.
E
MILIE
Du warst nicht zufällig unter ihnen?
W
ILHELM
Man rückt gegen uns vor, verhaftet uns ...
E
MILIE
Dich nicht.
W
ILHELM
Dann räumen sie den Platz. Aber wir geben nicht klein bei und werfen wieder mit Steinen, weswegen man militärische Hilfe requiriert. Mehrere Reiter-Regimenter rücken an, kriegsmäßig bewaffnet. Der Divisionskommandeur fackelt nicht lange. Er gibt Befehl, auf uns einzureiten und uns auseinanderzutreiben, erst mal mit flacher Klinge. Es dauert aber nicht lange, da soll scharf gehauen werden. An einer Brücke über den Nesenbach werden Barrikaden aufgeschichtet. Dahinter stehen wir, mit Zaunlatten bewaffnet. Sogar der König erscheint, um sich anzusehen, was da los ist. Als wir auch ihn mit Steinen bepflastern, feuern die Soldaten eine Salve in die Menge. Ein junger Bursche, ein Schustergeselle aus Buchheim, erst einundzwanzig Jahre alt, wird getroffen.
E
MILIE
Wie geht es ihm?
W
ILHELM
Er ist gestorben. Ein Märtyrer.
E
MILIE
Ein dummer Junge. Man schmeißt nicht mit Steinen, schon gar nicht nach dem König, das weiß jeder.
W
ILHELM
Ein Postassistent hat Ihre Majestät »Hurenbock« genannt. Jetzt sitzt er wegen Majestätsbeleidigung im Arbeitshaus, die ersten acht Tage bei Dunkelarrest.
E
MILIE
Und Ihr anderen? Habt Ihr Euer Brot bekommen?
W
ILHELM
Was für Brot?
E
MILIE
Na, das vom Bäckermeister Mayer doch.
W
ILHELM
Wieso kommst du jetzt damit? Darum ging’s nicht längst mehr.
E
MILIE
Worum dann?
W
ILHELM
Die Zeit ist reif, dass sich was ändert.
E
MILIE
Indem man Steine schmeißt? Ich mag nicht so bald Witwe werden.
W
ILHELM
Du kannst nicht Witwe werden. Wir sind nicht verheiratet. Im Grunde müsste man es machen wie die anderen und auswandern. Nach Amerika. Dort liegt das Gold auf der Straße.
E
MILIE
Jetzt, wo alles anders wird? Macht dir die Klopperei auf unseren Straßen keinen Spaß mehr?
W
ILHELM
Jedzd isch de Zeid und Schdund da, allwo mir ziehe no Amerika; dr Wage schdehd scho vor dr Tür, mid Weib und Kindern ziehe mir.
Amerika, du schöns Land!
Des isch dr ganze Weld bekannd
da wachsch dr Kle drei Elle hoch,
da gibd s Brod und Fleisch genug.
Ihr Freinde alle, wohlbekannd!
Reichd uns zum ledzde Mal die Hand.
Wir sehe uns nun nimmermehr,
ihr Freinde, woid nedd so sehr!
E
MILIE
Lass mich in Frieden mit dem Quatsch! Was soll ich woanders?
W
ILHELM
Nähen, so wie hier. Überall auf der zivilisierten Welt braucht man Kleider.
E
MILIE
Was ich hier nicht packe, das wird mir auch drüben nicht glücken. Überhaupt. Wie hast du dir das mit unserem kleinen Bastard gedacht? Den bring‘ ich dann wohl auf dem Schiff zur Welt, während der Passage? Das würd‘ was geben!
W
ILHELM
(
beendet seine Arbeit, zieht einen Hausrock über, geht zu Emilie hinüber und legt seinen Kopf auf ihren Bauch
) An den hend i boinahe nemme dachd.
E
MILIE
(
am Weiternähen gehindert
) Macht ihr nur Eure Revolutionen. Wir räumen danach den Dreck weg.
W
ILHELM
(
streichelt Emilies Bauch
) Wie schnell das alles gangen ist.
E
MILIE
So schnell es die Natur zulässt.
W
ILHELM
Ich meine doch: mit uns. Ällig.
E
MILIE
Dass wir uns auf einer Hochzeit kennengelernt haben, könnte man für einen Witz halten.
W
ILHELM
Du warst schon damals saumäßig amüsiert. Leider.
E
MILIE
Wieso leider?
W
ILHELM
In Rührung versunken, hätte ich dich lieber gesehen.
E
MILIE
Das wäre schwer zu machen gewesen. Spätestens als der Bräutigam steif und fest behauptete, jemand hätte seinen »Jabod« und seinen »Zylindr« und seinen »Schbenzr« versteckt. Dabei trug er schon alles am Körper. Aber am verrücktesten war, als du dem Paar den Brautbecher überreicht hast.
W
ILHELM
(
Er stürmt in die Werkstatt, wühlt, holt einen Brautbecher hervor. Der hat zwei Kelche, einen großen [Rock] und einen kleineren, die miteinander verbunden und auf einem Gelenk beweglich gelagert sind.
) E
MILIE
Was wird das?
W
ILHELM
So einer war’s.
E
MILIE
So einer?
W
ILHELM
Brautbecher. Nun mach! (
Emilie und Wilhelm setzen die Kelche an, als wollten sie gleichzeitig trinken
.) Was keinem vorher gelungen ist – eine Kunst! –, den beiden glückte es: Sie verschütteten den Wein.
E
MILIE
Ein böses Omen!
Sie lachen, tun, als verschütteten sie, mit zitternden Händen, den Wein und lassen den Brautbecher zu Boden fallen. Da sie einander ohnehin nahe sind, nehmen sie die Gelegenheit wahr, sich zu umarmen und zu küssen.
Es klopft energisch an der Wohnungstür. Die beiden fahren auseinander. Ohne eine Aufforderung abgewartet zu haben, tritt Vater Dengler auf.
W
ILHELM
Vaddr!
E
MILIE
Der hat mir gerade noch gefehlt! (
Sie richtet ihre Kleidung und setzt sich züchtig auf einen der Stühle
.)
V
ATER
D
ENGLER
(
eintretend
) Offe. Wie immr. Bei dir schoid’s wirklich nix ze gebe, was si lohnd, gschdohle ze werde. (
Er blickt sich gründlich und mit der Selbstsicherheit des Eingeweihten um, entdeckt schließlich Emilie
.) Aha, die Kebse. Au wie immr.
W
ILHELM
Du bischd an rechdr Bäffzger.
V
ATER
Schdimmd s edwa nedd?
W
ILHELM
Ich verbiete dir, so von meiner Frau zu sprechen!
V
ATER
Sie isch nedd doi Frau. Nedd no dem Gesedz. Und ze verbiede haschd mir gar nix. Nedd, solang i doi Rechnunge berabbe.
E
MILIE
Seine Rechnungen vielleicht, aber nicht meine!
V
ATER
Kusch! (
zieht ein Papier aus der Tasche
) Es bressierd. Ich bekomm Mahnunge. Vo moin Kunde. Bin im