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Es handelt sich um einen Band mit zweiundzwanzig in sich abgeschlossenen Erzählungen unterschiedlicher Länge. Erzählt werden Geschichten aus der ostdeutschen Vor- und Nachwendezeit von unspektulären Menschen in alltäglichen Situationen, die plötzlich außer Kontrolle geraten. So ist von einem Mann die Rede, der sich während des politischen Umbruchs seiner Ehefrau heillos entfremdet und auf der Suche nach der verlorenen Zuwendung glaubt, einem schweigsamen Leidensgefährten wiederzubegegnen. Von einem jungen Paar, das sich auf eine Bootsfahrt über die Havelseen begibt und eine scheinbare Normalität in der Abnormität des geteilten Deutschlands lebt. Von einer jungen Lehrerin, die sich aus Verzweiflung über den ihr aufgezwungenen Lebensplan dem Alkohol verfällt und dabei einen früheren Kommilitonen nicht aus der Verantwortung entlässt. Von einer Komponistin, die dem Staatssicherheitsdienst der DDR zu verdanken hat, dass sie ihren Job an einem Klubhaus verliert, worauf sie an der neuen Unsicherheit ihres Lebens zu verzweifeln droht. Von einem berühmten Kammerchor, der in Jugoslawien auf eine Frankreichtournee vorbereitet werden soll und wegen der egoistischen Tat einer Sängerin in Gefahr gerät, mit einem Schlag alle seine Errungenschaften zu verlieren ... und von vielen anderen mehr.
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Beim vorliegenden Buch handelt es sich um einen Band mit zweiundzwanzig in sich abgeschlossenen Erzählungen unterschiedlicher Länge. Erzählt werden Geschichten aus der ostdeutschen Vor- und Nachwendezeit von unspektakulären Menschen in alltäglichen Situationen, die plötzlich außer Kontrolle geraten. So ist von einem Mann die Rede, der sich während des politischen Umbruchs seiner Ehefrau heillos entfremdet und auf der Suche nach der verlorenen Zuwendung glaubt, einem schweigsamen Leidensgefährten wiederzubegegnen. Von einem jungen Paar, das sich auf eine Bootsfahrt über die Havelseen begibt und eine scheinbare Normalität in der Abnormität des geteilten Deutschlands lebt. Von einer jungen Lehrerin, die sich aus Verzweiflung über den ihr aufgezwungenen Lebensplan dem Alkohol verfällt und dabei einen früheren Kommilitonen nicht aus der Verantwortung entlässt. Von einer Komponistin, die dem Staatssicherheitsdienst der DDR zu verdanken hat, dass sie ihren Job an einem Klubhaus verliert, worauf sie an der neuen Unsicherheit ihres Lebens zu verzweifeln droht. Von einem berühmten Kammerchor, der in Jugoslawien auf eine Frankreichtournee vorbereitet werden soll und wegen der egoistischen Tat einer Sängerin in Gefahr gerät, mit einem Schlag alle seine Errungenschaften zu verlieren ... und von vielen anderen mehr.
Bandreisser
Dienen
Regenbogen
Flaute
Entschuldige aber ich habe deinen Hut auf
Kleistischer Versuch über die Leidenschaft
Schneckenhaus
Ich will den Kreuzstab gerne tragen
Kleiner Grenzverkehr
Komparsen
Angst
Die richtige Welt
Wie ich die Revolution hassen lernte
Doppelte Wende
Die Fähre
Akte R., Geständnis
Engelchen feilt
Quarzit
Das Vorwerk
Zahlreich die Kräfte, die mich hindern
Verspätung
Schöne Wohnung
Stammtisch
Anmerkungen
Als Franz ein Kind war, legten ihm seine durch die Zumutungen dreier deutscher Staaten und einer russischen Besatzung geschulten Eltern nahe, er solle vermeiden, fremden Kreaturen, Tieren wie Menschen, fest in die Augen zu blicken, man wisse nie, was geschehe, wenn sich die Gegenüber provoziert fühlten statt fixiert. Umso mehr wunderte es ihn wenig später an den Montagabenden während der Zirkelstunden in der Station junger Tierfreunde, dass sich eines der geheimnisvollen weiblichen Arbeitsgemeinschaftsmitglieder gegen alle Regeln darum bemühte, ihn mit Blicken festzunageln. Das Unglück nahm seinen Lauf, als auch Franz für einen Moment den Rat seiner Eltern außer Betracht ließ, denn er vermochte sich dem Zauber der fremden erdfarbenen Mandelaugen nicht zu entziehen. Nach den montäglichen Unterweisungen an den Axolotl, die sie Axel und Lotte tauften, pflegten Franz und das Mädchen, das er in ferner Zukunft Frauchen nennen würde, auf der gerade erst erbauten F 91 gemeinsam heimwärts zu radeln, wobei sie zwar angehalten waren, auf die vielen Schlaglöcher zu achten, aber trotzdem immer öfter Gelegenheit fanden, einander näherzukommen, sei es kraft der Wechselreden, die er ihr und sie ihm über den Lenker hinweg zukeuchte, sei es wegen einer wackligen Schlussleuchte, die ein Vergehen war und deshalb gerichtet werden musste. Schließlich verschlug es Frauchen in die Bezirksstadt, wo es in einem Büro für Rationalisierung und Neuererwesen die Stempel säubern lernte. Franz hingegen sah sich gezwungen, in die Diesterwegkaserne zur Nationalen Volksarmee einzurücken. Ein tüchtiger Wehrdienstleistender wurde nicht aus ihm, wohl auch, weil sich die Vorgesetzten von seiner fatalen Angewohnheit, bei der Entgegennahme von Befehlen die Augenlider zu senken, auf die Schippe genommen fühlten.
Erst Jahre darauf — längst war Franz mit dem niedrigsten aller möglichen Dienstgrade aus der soldatischen Tretmühle entlassen — traf er, von einem Kongress der Bandreißer heimkehrend, kurz hinter Prag im Karlex zufällig das Frauchen wieder, das aus dem Urlaub in der Malá Fatra kam. Franz wagte ein Blinzeln und fand, er fühle sich, obwohl noch unterwegs, schlagartig heimisch. In dem dämmrigen Abteil, in dem nur die Notbeleuchtung eingeschaltet war, verabredeten sich die beiden für ein Treffen an den nächsten Tagen oder Wochen. Frauchen bestand darauf, von Franz in der Bezirksstadt besucht zu werden, zumal Franz noch immer in dem Kaff bei seiner inzwischen verwitweten Mutter hauste, die ihre Hand über ihn hielt, in einer schrägwandigen, neun Quadratmeter engen Mansarde unter dem Dach. Die Vorstellung, nun in der Nähe jener Felder, auf denen er berufshalber aus den Stangen der Königsweide flache Bänder für die Böttcher spleißte, eine Person zu haben, bei der er wenigstens zeitweise unbewacht einen Unterschlupf würde finden können, bereitete Franz ein stilles Vergnügen. An einem Montag nach Feierabend reiste er mit einem eigenhändig umbänderten Butterfässchen zum Verschenken in die Bezirksstadt und fand den zweiten Hinterhof mit einiger Mühe. Ohne mit der Wimper zu zucken, führten die beiden ihre Fahrradlenkerwechselreden von der F 91 fort, als wären sie darin nie unterbrochen worden. Stunde um Stunde brachten sie damit zu, ohne zu bemerken, wie die Kerzen niederbrannten. Schließlich zog die Frau die Tagesdecke vom Bett, wobei sie sich vornüber beugte. Ein erstes Mal fiel Franz ihr breites Becken auf, das ihn befremdete. Er würgte den aufsässigen Gedanken ab und kürte einen Schlager aus der Musiktruhe, in dem es hieß, jemand hätte jemanden tausendmal berührt und tausendmal sei nichts passiert und dann plötzlich doch, zu ihrer Partnerschaftshymne. Da waren sie dreißig, und ihre Republik war es auch.
In Frauchens Haushalt lebte seit seiner Geburt ein rothaariger Kater, europäisch Kurzhaar, der nicht umhin konnte, in dem Neuzugang einen Rivalen zu erkennen. Dem Tier, von seinem Frauchen der Fellfärbung wegen Der Rote genannt, blieben die Freuden eines freien Jagdlebens außerhalb der vier Wände verwehrt. Darum ließen sich Begegnungen zwischen dem einen und dem anderen Männchen schlecht vermeiden. Zumeist mündeten sie in einen Rangordnungskampf, der sich an beiden Fronten in Fauchen und Zischen austobte. Allerdings war der felis catus schlau genug, die physische Überlegenheit seines zweibeinigen Gegners anzuerkennen und sich, wenn es hart auf hart kam, im Rückwärtsgang unter dem Plüschsofa zu verkriechen. Diese Siege waren die einzigen, die Franz in einem Duell je errungen hatte. Doch trotz solcher Genugtuung, oder gerade ihretwegen, hasste er die Bestie mit dem zänkischen Buckel wie nichts sonst auf der Welt.
Kaum war die Frau im Gefolge einer turnerischen Übung auf dem blau gestrichenen Küchenstuhl in andere Umstände gelangt, flüsterten ihr wohlmeinende Freundinnen aus dem Büro für Rationalisierung und Neuererwesen die Angst vor einer heimtückischen Krankheit ein, die von Haustieren, namentlich Katzen, auf Schwangere und von den Schwangeren auf die Leibesfrucht übertragen werde. Frauchen, außer sich vor Angst, weinte viel und zitterte und mied das Tier. Fortan übernahm es Franz freiwillig, wenn auch widerständlerisch, die ätzend nach Ammoniak stinkende Katzenkiste zu säubern. Zwar wusch er sich nach einer jeden Verrichtung die Hände mit Arztseife, doch verweigerte sich ihm seine Frau standhaft, indem sie behauptete, es gebe trotz aller Reinlichkeit nicht nur die Bedrohung durch Den Roten, sondern auch die durch jene Sporentierchen von den Weidenstangen, die in Franzens Haaren nisteten. Sie schmiedete wohl auch Pläne für eine Abtreibung aus Sorge, ihr Kind könnte blind zur Welt kommen. Aber Franz, der die Ohrenbläserei der Einflüsterinnen mit einer Handbewegung abtat, wenngleich nur, um niemandem Recht geben zu müssen, machte seinem Frauchen dann doch wieder Mut mit seiner abgeklärten Bandreißergelassenheit.
Beider Sohn kam, soweit es sich einschätzen ließ, gesund zur Welt. Nur dass er seine Augen viel eher öffnete als die Neugeborenen sonst, beunruhigte den Vater. Mit einem Schlag änderten sich daheim die Vorzugsrechte. Von jenen Orten, an denen der pausenlos schreiende Plagegeist zwischengelagert war, blieb Der Rote ausgesperrt. Der Kater lernte jedoch rasch, sich den veränderten Gegebenheiten anzupassen, auf die Türklinken zu springen und sie, die Vorderpfoten als Hebel auf dem Griff, mit dem Gewicht seines Körpers nach unten zu drücken, so dass die Schlösser aufsprangen und ihm die verbotenen Wege öffneten. Als Franz etwa zur selben Zeit an dem Tier vergrößerte Pupillen wahrzunehmen meinte wie bei einem Kokser, gewöhnte er sich an, alle Türen abzuschließen, sobald er aus dem Haus ging. Als er es einmal vergaß und gottlob noch vor Frauchen von dem kurzen Einkauf heimkehrte, bot sich ihm unerwartet ein denkwürdiges Bild: Kind und Kater hockten einander stumm, beinahe gelangweilt, Auge in Auge gegenüber und dachten nicht im Entferntesten daran, eines dem anderen an die Gurgel zu gehen.
Das Klo in der zugigen Hinterhofwohnung lag auf halber Treppe, dem einzigen Ofen, der in dem Stübchen stand, einem so genannten Berliner Ofen, igelten sich die Kacheln ab, und anstelle eines Küchenherdes nannte die Kleinfamilie lediglich ein zweiflammiges Elektrokocherchen ihr Eigen, bei dessen Inbetriebnahme jedes Mal sämtliche Sicherungen herausflogen, so dass die Versuche, den Inhalt des Windeltopfs zum Sieden zu bringen, in unschöner Regelmäßigkeit scheiterten. Wie eine schleichende Vergiftung kroch mit dem beginnenden Herbst in Franz die Furcht empor, sein Sohn könnte unter solchen misslichen Umständen über den Winter Schaden nehmen. Obwohl er nicht zu den Vorzeigemalochern seines Kollektivs gehörte, entschloss er sich zu einer Tat, die so bizarr war, dass ihm der Gedanke daran nachts vor dem Einschlafen den Atem verrenkte: Er trat, gesenkten Lids, vor seinen Vorgesetzten hin und erbat Beistand. Was er nicht zu hoffen gewagt hatte, geschah. Der große Vorsitzende verschaffte ihm eine Dreiraumwohnung. Ein bisschen Glück war natürlich auch dabei. Die Wohnung gehörte zum Kontingent der Bandreißerproduktionsgenossenschaft und war soeben frei geworden, weil ihr eigentlicher Mieter von einer Dienstreise nach Hetlingen in der Haseldorfer Marsch nicht nach Hause zurückgefunden hatte. Der Elfgeschosser mit Franzens erster eigener Wohnung stand außerhalb der Altstadt auf einer Brache, die im Laufe der Zeit mit weiteren Elfgeschossern bebaut werden sollte. So einsam, nahezu verloren, wirkte das Haus wie ein Obelisk in der Lehmwüste. Wenn Franz von nun an nach getanem Tagwerk mit der Straßenbahn anreiste, an der Haltestelle Industrietor ausstieg, die Straßenschuhe mit den Gummistiefeln tauschte und bei Regen und Wind und Sonne und Schnee quer über den Acker marschierte, zwei Kilometer weit oder mehr, wies ihm der rechteckige Turm mit den Lichtern hinter den Fenstern den Weg, und er fühlte sich selbstverliebt wie ein Eroberer von Neuland. Abends hörte er mit Frauchen den Wind um die scharfkantigen Winkel des Hochhauses heulen wie ein Rudel Wölfe. Dann weinte Frauchen wieder. Ach, Gott, wie oft hatte Franz sein Frauchen nun schon weinen hören?
In der alten Wohnung hatte der Rote gleich nach Franzens Auftauchen in allen erreichbaren Ecken Duftmarken gesetzt gehabt, um die Grenzen seines Reviers abzustecken, weswegen jene Bücher, die in den untersten Regalreihen lagerten — darunter bedauernswerterweise auch das Volksbuch vom deutschen Handwerk — noch Jahre später muffelten wie die nahegelegenen Chemiewerke bei bedecktem Himmel. Nach dem Umzug in den Lehmwüstenobelisk begann er ostentativ mitten in die Stube zu pinkeln statt in seine Klokiste mit der Katzenspreu. Ein Wunder, dass Franzens und Frauchens Sohn unbeschadet dessen prächtig gedieh. Noch bevor er hätte eingeschult werden können, war er vom Vater im Schachspiel nicht mehr zu schlagen, die Eröffnung galt als seine besondere Stärke. Auch auf der Viertel-, dann auf der halben Geige machte er höchst bemerkenswerte Fortschritte. Eine Guarneri, die er begehrte, war für seine Eltern freilich nicht erschwinglich. Franz behalf sich mit einem Exemplar aus dem Vogtland, das ein in Pension gehender Orchestermusiker preiswert abgab. Um das Instrument vor den pestilenzialischen Unflätigkeiten des Katers in Sicherheit zu bringen, hing er es in ein Gestell an der Betonwand des Kinderzimmers, das er aus Haselnussholz und geschälten Bandstockweidenruten gebastelt hatte.
An demselben Wochenende gab es im Fernsehen einen merkwürdigen, wenn nicht gar befremdlichen Bericht. In der Metropole eines der wenigen Paktstaaten, in die zu reisen den Bürgerinnen und Bürgern seiner Republik noch vergönnt war, es handelte sich wohl um Prag, hoben, ja: warfen, Eltern ihre Kinder über die pfeilspitzen Pfähle von Eisenzäunen, die zum Garten einer noch viel ausländischeren Botschaft gehörten, bei der es sich dem Augenschein nach um die bundesdeutsche handelte. Franz glaubte, Nachbarn aus dem Neubauviertel zu erkennen. Um nicht allzu fest hinsehen zu müssen, schaltete er die Glotze aus. Auf die Straße, wie Frauchen und Sohn, um für einen freien Zugang zu Guarneris Geigen zu kämpfen, ging er nicht. Auch die umzäunten Gärten von Botschaftsvillen übten auf ihn keinerlei Anziehungskraft aus. Eher schämte er sich für die anderen. Dass das Land, in dem er aufgewachsen war, verschwand, zumindest von den Plänen und Karten, stimmte ihn traurig, wohl auch ein bisschen besorgt, jedoch blieb ihm nichts anderes übrig, als den Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen. Er fand nicht, dass eine derart übertriebene Maßnahme nötig gewesen wäre, zumindest nicht seinetwegen. Zu Franzens Kummer entschloss sich der Sohn, die Geige am Weidengestell im Kinderzimmer hängen zu lassen. Der Computer, den anzuschaffen sich der Vater wenig später überredet sah, kam ihn zwar entschieden billiger als einst das Musikinstrument, doch indem der Metallklotz unaufhörlich elektrische oder weiß der Teufel was für welche Vibrationen aussandte, kitzelte er, ein neuer Feind, den umso destruktiveren Geist des Katers. Bald miefte es in der Wohnung wie in den Raubtierkäfigen des städtischen Zoos. Als Frauchen eines Abends beim Einsetzen der Dämmerung mit dem kläglich maunzenden Tier auf dem Arm im Flur stand und, von Trotz gestählt, kundtat, es schaffe jetzt Den Roten nach draußen, und zwar auf immer und ewig, gab es Franz einen Stich im Magen, was ihn erstaunte. Verlegen blickte er zu Boden, als suchte er nach etwas, unterließ es jedoch, gegen den Gewaltstreich einzuschreiten, was ein Leichtes gewesen wäre. Von jener Stunde an öffnete er an einem jeden Abend beim Einsetzen der Dämmerung das Fenster der Küche, um in den Hof hinab zu lauschen und das verzagte, helle Quäkestimmchen zu vernehmen. Vergebens.
Im Frühjahr darauf saß Franz auf der Straße. Bandreißer brauchte niemand mehr. Die Bänder für die Fässer fertigte man inzwischen aus Plaste, die jetzt Plastik hieß. Franz zögerte, zum Arbeitsamt zu gehen, wohl weil es in der ehemaligen Diesterwegkaserne untergebracht war. Angesichts des immer knapper werdenden Familienbudgets konnte sich Frauchen nicht enthalten, die abgeklärte Bandreißergelassenheit ihres Mannes zu beklagen. Erst als sie begann, putzen zu gehen, um zu ihrem spärlichen Gehalt als Sonderbeauftragte für die Abwicklung des Büros für Rationalisierung und Neuererwesen ein paar Kröten hinzu zu verdienen, fasste Franz sich ein Herz und katzbuckelte beim Amt. Sein Sohn, der seit kurzem Betriebswirtschaft studierte, zählte bereits nach dem ersten Semester zur Elite seiner Fakultät. Franz hätte stolz auf ihn sein können, insofern er in der Lage gewesen wäre, noch so etwas wie Stolz zu empfinden. Statt bei seiner Frau zu liegen, strich er des Nachts durch den Stadtpark, einen Beutel mit Katzenfutter in der Hand, auf der fruchtlosen Suche nach einem Quäkestimmchen. Bald erkannten ihn die streunenden Tiere schon von weitem. Schnurrend kamen sie angeschwänzelt und schuffelten ihre Flanken an seinen Waden. Er mästete die Kreaturen mit billiger Fertignahrung aus der Dose. Manchmal, wenn ihn die Traurigkeit besonders heftig überfiel, übte er im Beisein seiner Lieblinge das Stöckebasten, wie man das Entrinden der langen Weidenruten nennt. Mit seinem Franz wurde es dem Katzenvolk nie langweilig.
Nur wenige solcher Nächte brauchte es, und seine Frau setzte ihn vor die Tür. Von heute auf morgen sah sich Franz, dem die erneute Hilfe seines früheren Vorsitzenden versagt blieb, behördlich genötigt, mit einer Achtzigjährigen in einer der letzten übrig gebliebenen Teilwohnungen zu hausen, bei gemeinsamer Nutzung der Toilette, die wenigstens nicht außen auf halber Treppe lag. Allerdings sammelte seine Mitbewohnerin über die Woche ihre fäkalischen Abfälle in Zellophanbeuteln, um sie an den Sonntagnachmittagen batterieweise ins Klobecken zu stopfen. Sobald er auf der Suche nach dem Quäkestimmchen ein paar Tage lang abwesend gewesen war, fand Franz bei seiner Rückkehr den Lokus von erdbraunem Wasser überschwemmt vor, auf dem die luftdicht verpackten Kotwürste schaukelten wie kleine Boote.
Die Verhandlung über die Ehescheidung ging friedlich und schiedlich über die Bühne, zumal Franz keine Ahnung davon hatte, dass sein Frauchen inzwischen mit dem Ex-Vorsitzenden der Bandreißerproduktionsgenossenschaft, zu dem sie putzen gegangen war, Tisch und Bett teilte. Die Hoffnung, wenigstens sein Sohn würde zu ihm halten, erfüllte sich nicht. Immer, wenn Franz ihn einlud, zum Bratwurstessen am Imbissstand in der Galgenbergschlucht oder zum Heimspiel von FC Blau-Weiß 98, wo man in der zweiten Halbzeit ins Stadion durfte, ohne bezahlen zu müssen, schützte er mit falschem Zungenschlag vor, für Prüfungen pauken zu müssen oder epidemisch erkrankt zu sein.
In Betracht ziehend, dass Franz einst einen der Natur verbundenen Beruf ausgeübt gehabt hatte und sich eine Umschulung nicht mehr rechnete, beorderte ihn das Arbeitsamt in den Stadtpark, wo er mit einer Handvoll Schicksalsgenossen seines fortgeschrittenen Alters die Grünanlagen vom Unrat entmisten sollte. Man händigte ihm eine orangefarbene Weste aus, die von zwei silbernen Streifen umringelt war. Sie erinnerte ihn daran, dass er im Kindesalter die Männer mit den dicken Brillengläsern, die dergleichen trugen, für Idioten gehalten hatte. Er und die anderen klaubten mit einer Art großer Scheren und Spieße den Müll von Wegen und Wiesen und konfiszierten die Schabefleischreste und Fischköpfe, die zweifellos für die streunenden Katzen bestimmt waren. Ein paar der Brocken ließ Franz stets liegen, wie aus Versehen. Sobald er sich unbeobachtet wähnte, schob er sie mit der Fußspitze heimlich unter immer denselben Haselnussstrauch, in den hinein er mit spitzen Ohren horchte. An einem nebligen Montagvormittag bückte er sich ächzend nach einer durchfetteten Tüte mit Resten von Kräppeln, die jemand weggeworfen hatte, der seinem Sohn verdammt ähnlich sah. Da entdeckte er, wie in dem Haselnussstrauch eines der Tiere zusammenzuckte. Es schien zu scheu, sich ganz zu zeigen, steckte aber neugierig seine rosarote Nase durchs Gestrüpp. Franz ließ das Kräppelpapierknäuel fallen. Komm, sagte er sanft und schlug mit der flachen Hand einladend auf den Oberschenkel, komm, Roter, komm!
Am ersten Tag, in der ersten Stunde, die sie dort zubrachten, hatte man sie in einen großen, graugrünen Saal mit verhängten Fenstern geführt. Später erfuhr er, dass es der Filmvorführungsraum gewesen war. Lange saßen sie auf den kugelschreiberbekritzelten Holzbänken, warteten auf irgendetwas, von dem sie nicht wussten, was es war, von dem sie lediglich ahnten, dass es kommen musste, eine Ansprache vielleicht, oder ein Befehl, vielleicht endlich eine Bewegung irgendwohin. Noch spürte er nicht die Angst, die bereits auf ihn lauerte hinter den Übergardinen auf seiner zukünftigen Stube, im Radioapparat des Klubraums, auf dem Tellerrand beim Mittagessen im Speisesaal. Aber schon wirkte alles trostlos. Wohl deshalb fragte er sich, warum er auf dem Weg hierher einen Schlager gepfiffen hatte. Der Straßenbahn entstiegen, zwei Stationen eher, als es nötig gewesen wäre, den Beutel mit den wenigen Habseligkeiten geschultert, hatte er eine Schnulze gepfiffen, die ihm zufällig in den Kopf gekommen war. Ein lustiges Tralala, das alle die mahnenden Worte übertönte, die ihm nachflogen wie krächzende Krähen. Was sich in seinem Leben bislang begeben hatte — und viel war es nicht gewesen — lag hinter ihm als schmaler Schatten bei der Biegung des Flusses, den er so frei und weit wie an diesem Tage noch nie hatte einsehen können. Von den Hügeln des Ufers her war er in die Stadt gelangt, zwischen die ersten Reihenhäuser. Er war an die Ampel-Kreuzung gekommen und hatte sich sofort erinnert, in welche Richtung er gehen musste. Schon nach wenigen Minuten war er auf die stacheldrahtbekränzte Ringmauer gestoßen und dahinter auf die Kaserne mit den hundert in Reih‘ und Glied ausgerichteten Fenstern — schwarze Augen, die ihn wissend angestarrt hatten, und unter ihnen hindurch war er in den schwarzen Schlund des Eingangsportals marschiert wie durch das Tor zur Hölle, das zum ewigen Schmerz führt, ihn aber nur in ein Vestibül geleitete, wo es nach Bohnerwachs und Leder roch und ein bisschen nach dem Muff feuchter Gemäuer. Im Kinosaal, den er nur mit Mühe gefunden hatte, fühlte er sich endgültig fremd unter all den anderen, die ihm ihre breiten Nacken vors Gesicht schoben und sich nassforsch miteinander bekannt zu machen begannen, als träfen sie sich auf dem Bolzplatz. Nach einer Weile kamen Uniformierte herein und setzten sich vorne an die Tische, die an der Rampe unterhalb der kleinen Bühne in einer langen Reihe aneinandergefügt waren. Die Männer zogen große Papierbögen aus ihren Aktenmappen und begannen, Namen vorzulesen und Zahlen aufzusagen. Endlich kam Bewegung in den Saal. Vorne bei den Tischen fügte sich ein vielgliedriger Lindwurm, der in sanften Windungen durch den Seitengang bis hin zu den Flügeltüren wuchs. Er wurde als einer der letzten aufgerufen, überreichte mit klopfendem Herzen seinen Ausweis und bekam zwei Zahlen genannt, die er sich zu merken hatte. Ihm wurde befohlen, sich gemeinsam mit einem Dutzend anderer in den Gang neben die Sesselreihen zu stellen und zu warten. Nach einer Ewigkeit baute sich vor ihnen jemand auf, von dem er schon bald wissen würde, dass es ein Unterführer war. Der hielt die Beine leicht gespreizt, in Hüfthöhe die Daumen hinter das braune Koppelleder geklemmt und den Kopf ein wenig in den Nacken gelegt, als wolle er im nächsten Augenblick unvermutet mit seiner Nase zupicken. Zackig machte er kehrt und stiefelte los, die Neuen ihm hinterher durch die verwirrend futuristische Ineinanderschachtelung von Fluren, Treppenaufgängen und pförtnerlogenähnlichen Glaskästen, durch einen Schleier von stumpfem Braun und Graugrün, bis sie zu der Stube kamen. Jetzt erst, als er das Blechschild über der Tür sah, wusste der Bursche, was die zwei Zahlen bedeuteten, die er sich hatte merken müssen. In der Tür stand ein Mann, der sein Stubenältester werden würde. Wegen seiner dunklen, tief in den Höhlen liegenden Augen und den langen, spindeldürren Extremitäten glich er einer Spinne. Der Neue würde ihn also »Spinne« nennen.
Das Bett konnte er sich nicht aussuchen, genauso wenig wie seine Zimmergenossen. Das obere gleich links neben der Tür war bereits für ihn reserviert, am Pfosten des Stahlgestells klebte ein schreibmaschinenbetippter Papierstreifen mit seinem Namen. Später bemitleidete er sich oft wegen dieser verhängnisvollen Zuteilung, denn der andere Ankömmling, ein Maurer und Boxer, kräftig wie ein Bernhardiner, der unter ihm schlief, hatte es in Zukunft beim allmorgendlichen Bettenbauen einfacher als er, weil er aus dem Stand an jeden Zipfel seines Bettlakens herankam, während der Bursche, wollte er in die hintersten Winkel seiner Schlafstelle langen, immer erst auf einen Stuhl klettern musste oder, unter dem Protest des Maurers, auf die Kante der unteren Pritsche.
Nachdem er aus der Bekleidungs- und Ausrüstungskammer zurückgekehrt war, auf den ausgebreiteten Armen Drillich, K 1, K 2, Käppi, Stahlhelm, Koppel, Unterwäsche lang, Sportzeug, Socken gestapelt, an den seitab gestreckten Zeigefingern zwei Paar Stiefel bei den Laschen aufgefädelt, erklärte ihm der Unterführer von vorhin, der immer noch oder schon wieder die Daumen hinter das Koppel gesteckt hielt, wie er seinen Spind einzuräumen hatte, nämlich »auf Kante«, und wie das berüchtigte »Päckchen« gebaut werden musste. Abends vor dem Zapfenstreich hatte er fortan einen Stuhl neben seinem Bett zu postieren, auf dessen Sitzfläche er, nach strengem Reglement geordnet, Unterwäsche, Socken und Drillich mit sauberer Kragenbinde zu legen hatte, so gefaltet, dass die Kanten der Kleidungsstücke mit denen des Stuhlholzes abschlossen, und auf dieser Dekoration musste, zusammengerollt, das Koppel liegen, das wiederum das Käppi in seiner Mitte umschloss wie eine sich windende Schlange ihre Beute. Das war das »Päckchen«. Es widerte ihn an. Es machte ihn bange. Es war zu nichts anderem nütze als dazu, seinem Besitzer zu helfen, sich im Falle eines Alarms binnen kürzester Frist ankleiden zu können, auch im Finstern. Er begann, sich vor allem zu fürchten, was mit Nacht und Düsternis zu tun hatte. Er wollte nicht, dass es überhaupt je Nacht würde oder Alarm gäbe. Wenn er im ersten Monat, während dem er noch zum Ausbildungszug gehörte, abends mit dem Falten und Legen und Zupfen und Rollen seines Päckchens beschäftigt war, kroch in ihm die Angst hoch wie der Schüttelfrost bei einer Grippe, als spürte er den UvD mit der Trillerpfeife im Mund schon hinter sich stehen und tief Luft holen und »AUSBILDUNGSZUG — ALAAARM!« schreien, und wenn er kurz vor dem abschließenden Stubendurchgang ins Bett kroch, zuckten die Muskeln seiner Arme und Beine, als wären sie von elektrischen Stromstößen getroffen, und dann konnte er mit dem Zucken nicht aufhören, weswegen er immer lange keinen Schlaf fand. Sogar aufs Klo zu gehen, traute er sich eine Zeit lang nur ausnahmsweise, in Sorge, ihn könne ein Einsatzbefehl genau in dem Augenblick treffen, da er hilflos war.
Am ersten Abend war es, lange nach dem Beginn der Nachtruhe, als die Spinne offensichtlich glaubte, er und der Boxer schliefen bereits. In Wirklichkeit starrte er mit großen Augen sehnsüchtig auf den Vorhang am Fenster und lauschte den Motorengeräuschen nach, die von der unweit der Fliederwegkaserne in die Innenstadt führenden Straße, auf der entlang er an jenem Morgen von zu Hause her gekommen war, zu ihnen herein drangen, gedämpft wie durch ein Filter. Da fragte die Spinne, die, wie der Bursche bald erfahren würde, achtundzwanzig Jahre alt und der älteste unter allen Wehrpflichtigen der Kompanie war, in stubenelterlicher Besorgnis den anderen Alten auf der Stube, den mit der Brille, der unaufhörlich Faxen machte und Grimassen schnitt, weswegen ihn der Bursche insgeheim »Clown« taufte, wie sie es schaffen könnten, den spacken Neuen durchzubringen, diese halbe Portion, und der Clown entgegnete, dass sie es damit schwer haben würden. Das versetzte dem Burschen einen Stich durch die Brust. Niemals zuvor hatte er Angst davor haben müssen, etwas nicht zu schaffen. Immer war ihm alles, wie seine Mutter zu sagen pflegte, zugeflogen. Anders als auf dem Weg in die Truppenunterkunft betrachtete er sein Zuhause auf einmal als etwas endgültig Verlorenes, das, da er es noch besessen hatte, schön gewesen war und auf eine beruhigende Art vertraut, als etwas das man ihm weggenommen hatte, ohne dass er sich dagegen hätte wehren können. Ihm fiel seine kleine Katze mit dem verschrumpelten Blutohr ein und er spürte, wie ihm die Augen zuquollen.
Bald nach der Vereidigung auf dem zugigen Appellplatz, bei der sie auf einen Wink hin im tausendstimmigen Männerchor markig ein »-AG -OSSE -AL« zu skandieren gehabt hatten, was bei den Zaungästen, zumeist Familienangehörigen, den Eindruck erwecken sollte, als hätten sie ihrem obersten Chef ein kerniges »Guten Tag, Genosse General!« entgegengeschleudert, sah man sich gezwungen, den Anwärter wegen einer Fischschuppenhaut, die ihm angeboren war, und trotz vieler Ermahnungen, sich endlich zusammenzureißen und öfter an die frische Luft zu gehen, innendiensttauglich zu schreiben. Ein beschönigendes Wort, das ihm eine Tauglichkeit bescheinigte, ohne ihm die viel wichtigere Untauglichkeit zuzusprechen, nämlich diejenige für den Außendienst. Ausschlaggebend war wohl der Anblick jener klaffenden Risswunden an seinen Händen gewesen, die immer dann entstanden, wenn er erst mit dem kalten Leitungswasser im Waschraum und anschließend mit dem Frost des Winters in Berührung kam — aufgeplatzte Fleischfugen, auf deren Grund sich die weißen Knochen der Fingergelenke erspähen ließen. Die Spinne, die im Zivilberuf Grafiker war und in einem Atelier unterm Dach beim Stab arbeitete, für den er aus rotem Stoff und langen Leistengestellen Transparente fertigte, sprach beim Politoffizier vor. Er kenne einen, der spiele Klavier, habe Abitur und ernähre sich von Marmelade. Sein Wort hatte Gewicht, wohl auch, weil er seinem Dienstgrad nach zwar nur ein Unterwachtmeister war, seiner Dienststellung nach jedoch Leutnant hätte sein können. Schon ab der nächsten Woche war der innendiensttaugliche Neue angewiesen, die Wandzeitung im Klubraum zu bestücken und mit dem Chor der Anwärter aus dem ersten Diensthalbjahr zweistimmige Lieder einzubimsen (»Mein Mädel hat einen Rosenmund«).
Als man in Polen den Ausnahmezustand ausrief, erhielt er den Befehl, seine Stube tagsüber zum Büro umzurüsten, denn weil zu erwarten stand, dass die Truppe von jetzt auf gleich in Alarmbereitschaft versetzt werden würde, sollte er seine Arbeitskraft ganz auf die politische Agitation richten und kämpferische Artikel für die polizeiinterne Zeitschrift verfassen. So ließ es sich nicht vermeiden, dass ihn immer häufiger die Unterführer heimsuchten, ohne besonderen Grund, wie sie behaupteten, aber dessen ungeachtet beinahe regelmäßig. Sie setzten sich ihm gegenüber an den einzigen Tisch in seinem Stubenbüro, so dass er ihnen nicht ausweichen konnte, machten kein Hehl daraus, dass sie ihn um den Trick mit der Fischschuppenhaut und um seine Beziehungen zum Politoffizier beneideten, weil sie selbst es sogar dann nicht geschafft hatten, vom Dienst frei zu kommen, wenn sie eine ganze Dose Butter in einem Rutsch aufgefressen hatten, um eine Blinddarmreizung auszulösen, und dann zwangen sie ihm Gespräche auf, die er nicht mochte, weil sie ihn zu etwas verpflichteten, was ihn nichts anging. Er war aus der Bedrängnis des Exerzierens, Schießens, Sturmbahnlaufens und der Nahkampfausbildung auf seine Stube geflohen wie andere vielleicht in den Maschinenpark oder in die Küche, und nun schnürte dieselbe Fessel gerade dort wieder seine Kehle zusammen. Sie machte ihm das Herz klopfen vor Wut darüber, dass sie ihn nicht in Ruhe ließen mit ihren Geschichten über Arschlöcher von Vätern, die von ihnen in den Geräteschuppen gesperrt worden seien, und von Weibern mit Titten, so groß, rund und straff wie Medizinbälle.
Am Vormittag nach der Frühjahrsinspektion kam wieder einer dieser Unteroffiziere, sein Gruppenführer, ein kleiner Mensch, der sich immer duckte und den Rücken krümmte, so dass es aussah, als hätte er einen Buckel. Der schmale Kopf, das Gesicht mit dem fliehenden Kinn, hing wie angeklebt zwischen den Schultern, die er immer ein wenig nach vorn geneigt hielt. Er sprach mit einer klaren Kinderstimme, näselnd, aber in Sätzen, deren Glieder daher geschlängelt kamen wie die eines Tausendfüßlers. Seine Bildung war mäßig, seine Haltung nachlässig. Beides gab in der Kompanie Anlass zu Spott. Für einen Moment hatte es den Anschein, als wollte Buckelchen bloß ein wenig tratschen, was daraus zu schließen war, dass er das Zimmer zögerlich betrat, dann aber öffnete er wie nebenher einen Spind, entdeckte vorgebliche Unregelmäßigkeiten, blickte angewidert zu dem mit beschriebenem Papier überhäuften Tisch, hinter dem der Bursche saß und, im Schreiben gestört, verärgert aufsah, und riss schließlich, ohne ein Wort gesagt zu haben, Trainingsanzüge, Sportzeug, Handtücher, Uniformen und Stiefel aus den Fächern, warf sie, vor Anstrengung und Eifer keuchend, auf den Fußboden, worauf er schweigend verschwand. Gleichmütig stand der Anwärter vom Tisch auf und sammelte die Utensilien ein. Er schob in die Turnhemden die schmalen Pappstreifen zurück, damit sie beim Knick glatt auf Kante lagen, wenn er sie übereinander stapelte. Sein Wertfach mit den Noten und den Fotos von seiner Katze Mauzi verschloss er jetzt. Er dachte, es gäbe nur noch eine einzige, unendliche Bewegung in seinem Leben, einen zähen Kreislauf von Aufbauen und Zerstören und wieder Aufbauen und wieder Zerstören, als ob es sich um ein Naturgesetz handelte.
Im Gegensatz zu ihm berührten den Clown solche Gemeinheiten nicht. Wenn er, während er seinen Vorgesetzten gegenüberstand, seine Brille absetzte und sich dabei sein Gesicht verkniff, wusste niemand einzuschätzen, ob er wegen seiner Kurzsichtigkeit Grimassen schnitt, oder weil er frech grinste. Dann lachten die meisten vorsichtshalber, sogar die Offiziere, damit sie sich keine Blöße gaben. Als der Clown einen Kreismeisterpokal in Form eines mit Gravuren verzierten Metalltellers, den er ein paar Stunden zuvor im Querfeldeinlaufen für die Bereitschaft, das heißt für fünf Kompanien, gewonnen hatte, über den Flur scheppern ließ, indem er ihn senkrecht stellte, schnell um seine Achse drehte und austrudeln ließ, bis er mit dem Rand krachend auf die Steinfliesen schlug, schob der Chef der Schützenkompanie bloß kurz seinen Kopf hinter der nächsten Mauerecke hervor und drohte, als er erkannte, wer der Auslöser des Krachs war, lediglich mit dem erhobenen Zeigefinger. So wie der Clown hätte der Bursche sein mögen. Aber er war nicht so, ganz und gar nicht. An ihm glitten die Launen der anderen nicht ab wie an einem polierten Metallteller. Er gehörte zu jenen verlorenen Kindern, deren Eltern seit dem Ende des Kriegs schwiegen und stillhielten, um nicht nachträglich noch aufzufallen. Seiner Mutter war er von einem der wenigen alten Männer gemacht worden, die das Gemetzel übrig gelassen hatte, einem u. k. geschriebenen Hänfling, der ihr kein Mann und ihm kein Vater sein konnte und der ihm keine Beachtung schenkte. Ängstlich hatte sich seine Mutter mit ihrem Kontrollwahn an ihren Sohn gesaugt wie ein achtarmiger Krake. In seiner Klasse an der Penne war er der einzige Junge ohne Moped gewesen und davon, wie man es anstellte, sich eine eigene Wohnung zu besorgen, hatte er noch immer keinen blassen Schimmer. Manchmal trug er ein bisschen Trotz mit sich in der Kehle herum, wenn er befürchten musste, sich vor den anderen zu verraten in seiner Ahnungslosigkeit.
An der Innenseite ihrer Stubentür in der Kaserne hing, mit Reißzwecken festgepinnt, ein handgeschriebener Dienstplan für die Reinigung. Nie hatte der Bursche zu bemängeln gewagt, dass der Name der Spinne auf dem Papier gar nicht erst auftauchte. Auch der Clown, dessen Name pro forma eingetragen war, drückte sich regelmäßig, mit Billigung der Spinne. Der Hierarchie der Dienstgrade entsprach eine inoffizielle Hackordnung. Die aus dem dritten Diensthalbjahr nannten sich Entlassungskandidaten, kurz E. K., und beanspruchten solche Vorrechte wie die Spinne, diejenigen aus dem zweiten Diensthalbjahr hießen Vize und pochten auf die halben Privilegien, während dann erst, am unteren Ende der Rangfolge, die Pieper kamen, die so gerufen wurden, weil sie die Tage, die ihnen in der Kaserne blieben, zählten, indem sie Bandmaße, die sie in den aufgeschlitzten Bäuchen piepsender Gummitiere versteckten, Zentimeter um Zentimeter abschnitten, je einen Zentimeter für jeden Tag. Der Bursche war ein Pieper, auch der Boxer. Darum blieb die ganze Arbeit an den beiden hängen, weil sie Pieper waren. Immer zu den Wochenenden musste die Stube gesäubert werden. Die Fenster putzten sie mit klarem Wasser, Lappen und Zeitungspapier, denn flüssiger Glasglanz war verboten. Das dauerte natürlich, und es dauerte vor allem dann lange, wenn sie Ausgang hatten und in die Stadt gehen wollten. Oft geschah es, dass, nachdem sie soeben den Fußboden blankgewienert hatten, die Spinne hereinkam, um etwas von der Pritsche herunterzuholen oder auf sie zu legen, und sich im Hinausgehen, nicht immer mutwillig, aber manchmal eben doch, beim Standfuß auf der Hacke, beim Spielfuß auf der Spitze drehte, wobei dort, wo die Spitze sich drehte, das Sohlenleder des Schuhs einen viellinigen Kreis ins Wachs schrammte, der wie gedrechselt aussah und durch simples Überbohnern trotz Aufbietung aller Kräfte nicht wieder herausgeschliffen werden konnte. Aber auch zwischen dem Burschen und dem Boxer gab es eine Rangfolge, die sich nach und nach eingeschlichen hatte. Einmal, als der Bursche nach einer Besprechung abends als letzter zurückkam, sah er seine Kameraden um den Tisch beim Fenster sitzen und Kuchen mampfen. Der Boxer hatte ihm seine Weihnachtsstolle aus dem Spind gestohlen, die ein Geschenk seiner Mutter gewesen war.
Nach und nach hatte sich das Unbehagen überall im Blut des Burschen verteilt, sodass er es nicht mehr loswurde. Die Bettlaken, die frühmorgens faltenlos über die Holzkante zu ziehen waren, ekelten ihn an wie einst die weißen Schürzen seiner Kindergärtnerinnen, die in seinen Träumen Gummischürzen waren. Das Klo mit dem eingetrockneten Schleim grauer Wichsflecken an den Wänden und auf dem Fußboden reizte ihm die Magenschleimhaut. Das Zumessenmarschieren fand er so widersinnig, dass er glaubte, darüber verrückt werden zu müssen.
An einem der ruhigeren Tage, an dem ein Teil der Kompanie zu einem Manöver ausgerückt war, schlich wieder einmal der bucklige Gruppenführer in die Stube. Der Anwärter machte sich darauf gefasst, gleich wieder seinen Spind einräumen zu müssen, doch Buckelchen setzte sich ganz friedlich ihm gegenüber an den Tisch. Sein Mund stand blöde offen und zeigte noch weniger Kinn als sonst. Er sagte leise, das von vor ein paar Tagen tue ihm leid. Fast versagte ihm die Stimme. Der Anwärter tat, als mache er sich Notizen zu einem Zeitungsartikel. Zögerlich flocht Buckelchen mit seiner Kinderstimme ein, er habe sich doch immer alle Mühe gegeben und abends bis spät noch am Küchentisch gesessen, die Lampe runtergezogen. Aber immer hätten ihm alle gesagt, er solle wegbleiben. Nirgendwo hätten sie ihn gebrauchen können außer hier. Der Anwärter, der wieder den Ansatz von Trotz in seiner Kehle spürte, fragte den Oberwachtmeister, warum er ihm das erzähle und ob er nicht sehe, dass er zu arbeiten habe. Da verzog Buckelchen nach ein paar Sekunden ungläubigen Staunens die Mundwinkel und trollte sich.
Während der nächsten Wochen glaubte der Anwärter zu beobachten, dass Buckelchen noch krummer ging als vorher. Außerhalb des Dienstes schien er einem jeden auszuweichen. Er mied die heimlichen Treffs, auf denen nach Dienstschluss Skat gedroschen und, sobald auf dem Kompanieflur nur noch die Notbeleuchtung brannte, geschmuggelter Doppelkorn getrunken wurde. Nur einmal begegneten einander ihre Blicke flüchtig, als Buckelchen seine Gruppe zum Politunterricht antreten ließ.
Durch Zufall entdeckte der Clown die Striemen, die dem Buckelchen quer über den Rücken liefen. Rote Ströme erst jüngst wieder zusammengewachsenen Fleisches, koppellederbreit. Bei der Normüberprüfung auf dem Sportplatz hatten alle wegen der Hitze darauf verzichtet, sich mit Turnhemden zu panzern. Lediglich der Gruppenführer wollte darin eine Ausnahme machen.
»Willst wohl deine Unschuld nicht verlieren?«, flachste der Clown und zog dem Unterführer aus Jux den Dress über die Schultern.
Der Anblick beschäftigte den Clown mehr, als er anfänglich eingestehen mochte. Ein paar Nächte lang legte er sich in einer kleinen Seitenflucht des Kompanieflurs auf die Lauer. Die Nische befand sich vis-à-vis des Zimmers, in dem neben dem Buckelchen auch jener Hauptwachtmeister untergebracht war, der den Burschen am ersten Tag in Empfang genommen hatte. Im stillschweigenden Einverständnis mit den Wachtmeistern vom Dienst, die er mit je einer Schachtel Salem Gelb bestochen hatte, hockte der Clown stundenlang auf den Fußbodenfliesen und fror, während er Buckelchens Tür nicht aus Augen ließ.
Nie zuvor war der Anwärter so sehr im Einklang mit der Gewalt gewesen wie in jenem Augenblick, als sie sich von ihm weg richtete und ihn zu einem Gerechten stempelte. Es machte sich erforderlich, auf den Verdacht des Clowns hin Buckelchens Stubengenossen, den besagten Hauptwachtmeister, unter Druck zu setzen. Als ihn die mehrheitlich gewählte Abordnung herausgeklopft hatte aus seinem sicheren Führerbunker, zeigte er sich in seiner Lieblingspose. Die Beine leicht gespreizt, in Hüfthöhe die Daumen hinter das Koppelleder gesteckt, den Kopf ein wenig in den Nacken geneigt, so als wolle er im nächsten Augenblick unvermutet mit seiner Nase zupicken. Lässig wartete er ab. Nach einer Weile sagte der Clown:
»Schönes Koppel.«
Er stippte seinen Zeigefinger auf das blanke Metallschloss. Das hielt ein braunes Koppel zusammen, wie es nur Offiziere und Berufsunterführer tragen durften, die Koppel der anderen waren schwarz, zumindest die für die Ausgangsuniformen. Der Mann war das, was man in der Truppe einen Zehn-Ender nannte, weil er sich auf zehn Jahre verpflichtet hatte. Einer von der Sorte, die im Politunterricht von Kriegskunst redeten. Sein Koppel war gepflegt, fast ohne Risse und glänzte wie poliertes Linoleum.
»Nimm‘s ab!«, sagte die Spinne.
Als sich der Hauptwachtmeister immer noch nicht rührte, stießen ihn die Deputierten mit ihren Fäusten gegen den Brustkorb, worauf er in seine Stube zurücktaumelte. Bis ins Mark erschüttert im Glauben, gegen solche Angriffe gefeit zu sein, tat er, was man von ihm verlangte, und klinkte den Haken am Koppelschloss auf. Die anderen zogen einen engen Kreis um ihn. Einer schloss die Tür von innen, ein anderer stand draußen Schmiere.
»Ihr wisst, dass der Kompaniechef mein Kumpel ist«, sagte der Zehn-Ender.
»Unserer auch«, erwiderte der Clown und nahm seine Brille von der Nase, woraufhin er sein Gesicht verzog, als ob er feixte.
Der Boxer ergriff das Koppel und schwenkte es in kühnen Schleifen dicht vor dem Kopf des Hauptwachtmeisters.
»Ihr könnt mir nichts beweisen«, sagte der Zehn-Ender, ohne dass ihm bereits irgendetwas vorgeworfen worden wäre.
»Schau’n wir mal«, sagte die Spinne.
Sekunden später traf den Zehn-Ender das Koppel am Hals. Der Mann hob den angewinkelten Arm vors Gesicht und stürzte, nach Luft ringend, zu Boden. Der Clown steckte seine Brille in die Drillichjacke und sagte:
»Das war erst der erste.«
Der Zehn-Ender richtete sich im Knien auf und wollte, indem er sich am Tisch abstützte, in den Stand gelangen, als ihn der Riemen ein zweites Mal traf, diesmal quer über den Scheitel. Erneut ging er auf die Bretter.
»Hört auf, ihr Idioten!«, schrie er.