Der falsche Erbe - Josephine Tey - E-Book

Der falsche Erbe E-Book

Josephine Tey

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Beschreibung

Latchetts, ein Anwesen in Südengland, das seit mehr als dreihundert Jahren von der wohl­habenden Familie Ashby bewirtschaftet wird. Als der letzte Herr von Latchetts und seine Frau bei einem tragischen Flugzeugunglück ums Leben kommen, hinterlassen sie fünf Kinder. Die zwei ältesten, die Zwillinge Patrick und Simon, sind elf Jahre alt; der wenige Minuten früher geborene Patrick soll einmal alles erben. Doch kurz nach dem Tod der Eltern verschwindet er, auf einer Klippe findet man seine Kleidung und einen Ab­schiedsbrief. Die Familie versucht, ihren Frieden mit seinem Entschluss zu machen, mit der Zeit verblassen die Erinnerungen an den tragischen Tag – bis Jahre später, kurz vor der Volljährigkeit Simons, ein charmanter junger Mann auftaucht, der dem künftigen Erben zum Verwechseln ähn­lich sieht und behauptet, Patrick zu sein. Er kennt Details aus der Vergangenheit der Familie und je­den Zentimeter des Anwesens. Alle glauben, dass der Mann Patrick ist. Alle, bis auf Simon.

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Seitenzahl: 459

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Josephine Tey

Der falsche Erbe

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Harry Kahn

Oktopus

I

»Tante Bee«, sagte Jane und blies heftig auf ihre Suppe,»wer war erfinderischer: Noah oder Odysseus?«

»Iss nicht von der Löffelspitze, Jane.«

»Von der Seite komme ich nicht an die Nudeln.«

»Ruth schon.«

Jane warf einen Blick auf ihre Zwillingsschwester, die adrett und manierlich mit den Vermicelli fertigwurde.

»Sie hat einen stärkeren Zug als ich.«

»Tante Bee hat ein Gesicht wie eine sehr teure Katze«, sagte Ruth, die Tante von der Seite beäugend.

Bee dachte bei sich, der Vergleich sei gar nicht schlecht; aber es wäre ihr doch lieber gewesen, wenn Ruth ihre naseweisen Bemerkungen für sich behalten hätte.

»Also, wer war der Erfinderischste?«, sagte Jane, die sich nie von einem Weg abbringen ließ, auf den sie einmal ihren Fuß gesetzt hatte.

»Der erfinde-ri-sche-re!«, verbesserte Ruth.

»Also wer? Noah oder Odysseus? Simon, was meinst du?«

»Odysseus«, sagte der Bruder, ohne von seiner Zeitung aufzusehen.

Typisch Simon, dachte Bee, die Starterliste für Newmarket lesen, Pfeffer in seine Suppe streuen und der Unterhaltung zuhören, alles zur gleichen Zeit. »Weshalb, Simon? Wieso Odysseus?«

»Der hatte keinen so guten Wetterdienst wie Noah. Wo war denn Firelight beim Rennen für alle Gewichtsklassen, erinnerst du dich daran?«

»Ach, ganz weit hinten«, sagte Bee.

»Eine Volljährigkeitserklärung ist ein bisschen wie eine Hochzeit, nicht, Simon?« Das war wieder Ruth.

»Alles in allem schöner.«

»Ach nein …?«

»Auf seiner Volljährigkeitsfeier kann man dableiben und mittanzen. Was man auf seiner eigenen Hochzeit nicht kann.«

»Auf meiner Hochzeit bleibe ich da und tanze mit.«

»Von dir habe ich das nicht anders vermutet.«

Ach, du meine Güte, dachte Bee, es muss Familien geben, wo bei Tisch wirkliche »Konversation« gemacht wird; wenn ich bloß wüsste, wie die das fertigbringen. Vielleicht war ich nicht streng genug.

Sie blickte den Tisch entlang auf die drei über ihre Teller gebeugten Köpfe, zuletzt auf Eleanors noch leeren Platz, und legte sich die Frage vor, ob sie ihnen gerecht geworden sei. Würden Bill und Nora zufrieden sein mit dem, was sie aus ihren Kindern gemacht hatte? Wenn die beiden durch ein Wunder jetzt plötzlich eintreten könnten, so jung, so hübsch, so froh, wie sie in den Tod gegangen waren, würden sie dann sagen: »Ach ja, genauso haben wir sie uns vorgestellt; selbst dass Jane aussehen würde wie ein Gassenjunge.«

In Bees Augen kam ein Lächeln, als sie sie auf Jane ruhen ließ.

Die Zwillinge gingen ins zehnte Jahr und glichen einander wie ein Ei dem anderen. Das heißt: im sozusagen technischen Sinn des Wortes. Trotz ihrer physischen Ähnlichkeit waren sie unverwechselbar; auf den ersten Blick ließ sich jederzeit sagen, welche von beiden Jane und welche Ruth war. Sie hatten beide die gleichen schlichten, flachsblonden Haare, das gleiche schmale, feinknochige Gesicht mit dem gleichen blassen Teint, auch denselben geraden, offenen Blick mit einem Anflug von keckem Trotz darin; aber damit war die Übereinstimmung auch zu Ende. Jane trug ziemlich schmuddelige, eng anliegende indische Reithosen – sogenannte Jodhpurs – und einen jeder Form entbehrenden Pullover, den herausgezupfte Wollfäden umflatterten wie Festwimpel. Ohne Zuhilfenahme eines Spiegels hatte sie ihre Haare zurückgestrichen und mittels einer unnachgiebigen Klammerspange zusammengesteckt, die so alt war, dass ihre ursprüngliche Stahlfarbe wieder zum Vorschein kam wie bei jahrelang gebrauchten Haarnadeln. Jane war leicht fehlsichtig und trug daher, zumindest in Gegenwart höherer Instanzen, eine Hornbrille. Diese führte jedoch meistenteils ein verborgenes Dasein in der hinteren Tasche der Reithose, und Jane setzte, legte oder stützte sich so oft darauf, dass sich ihre Finanzen in einem Dauerzustand des Bankrotts befanden, da Reparaturen, die über den dafür angesetzten Jahresetat hinausgingen, aus der Sparbüchse beglichen werden mussten.

Zu und von den Schulstunden im Pfarrhaus ritt Jane auf dem alten Schimmelpony Fourposter, wobei ihre schmächtigen Beinchen rechts und links abstanden wie Strohhalme. Fourposter war seit undenklichen Zeiten kein Reittier mehr, sondern ein Verkehrsmittel; er sah einem dickbauchigen Fässchen nicht unähnlich, war breit und weich wie ein Federbett und auch beinahe ebenso zahm.

Ruth andererseits trug einen rosa Baumwollkittel, der noch ebenso frisch aussah wie am Morgen, als sie sich für die Fahrt zum Pfarrhaus aufs Fahrrad gesetzt hatte. Ihre Hände waren sauber, ihre Nägel nicht abgebrochen, und ihre zwei Zöpfe hatte sie mittels eines irgendwo aufgetriebenen rosa Bändchens zu einem Kranz zusammengewunden.

Acht Jahre, dachte Bee. Acht Jahre des Kopfzerbrechens, des Zusammenhaltens, des Rechnens. Nun aber ging es binnen sechs Wochen mit ihrem Amt als getreuer Vormund zu Ende. In wenig mehr als einem Monat wurde Simon einundzwanzig, trat er die Erbschaft seiner Mutter an, und damit waren die mageren Jahre vorüber. Die Ashbys waren nie reich gewesen, aber solange ihr Bruder lebte, hatte es nie an den Mitteln gefehlt, um Latchetts – das Haus und die drei dazugehörigen Bauernhöfe – so instand zu halten, wie es sich gehörte. Lediglich Bills plötzlicher Tod trug die Schuld für den fast an Armut grenzenden Zustand der letzten acht Jahre. Und lediglich Bees Energie war es zu danken, dass das Vermögen ihrer Schwägerin im nächsten Monat unangetastet ihrem Sohn zukommen würde. Auf diese künftige Erbschaft war nicht das kleinste Darlehen aufgenommen worden – selbst nicht, als Mr Sandal von Cosset, Thring & Noble sich bereit erklärt hatte, eine solche Transaktion zu unterstützen. Latchetts musste für sich selbst aufkommen, hatte Bee gesagt. Und jetzt nach acht Jahren erhielt sich Latchetts noch immer selbst und war schuldenfrei.

Über den Blondkopf des Neffen hinweg konnte sie durchs Fenster die weißen Stangen der Südkoppel sehen und das Aufblitzen des Schweifs der alten Regina im Sonnenlicht erhaschen. Ja, die Pferde waren ihrer aller Rettung gewesen. Die Pferde, die ihres Bruders Liebhaberei gewesen, hatten sich als die Erhalter seines Hauses erwiesen. Trotz Krankheiten, Unfällen und sonstigen Unzuträglichkeiten, gegen die man bei der Pferdezucht ankämpfen muss, hatten die Gäule Jahr für Jahr etwas eingebracht. Es hatte sich gelohnt; die Brühe hatte nie mehr gekostet, als die Brocken wert waren. Als es sich herauszustellen schien, dass das kleine Gestüt, an das ihr Bruder all seine Liebe gehängt hatte, allein nicht genügend abwarf, hatte Bee es durch die kleinen abgehärteten Ponys für Kinder ergänzt, mit denen sich die kälteren Weiden am Dünenhang ausnutzen ließen. Eleanor hatte allerhand ausrangierte Gebrauchspferde zu »lammfrommen Reittieren für Damen« abgerichtet und sie mit Nutzen an den Mann oder genauer: an die Frau gebracht. Und nachdem nun das Schloss in ein Landschulheim umgewandelt war, gab sie gegen keineswegs zu verachtendes Honorar Reitstunden.

»Eleanor kommt recht spät, nicht?«

»Ist sie mit La Parslow ausgeritten?«, fragte Simon.

»Mit der kleinen Parslow, jawohl.«

»Der unglückselige Gaul ist vermutlich tot umgefallen.«

Simon stand auf, um die Suppenteller wegzunehmen und den Fleischgang zur Verteilung von der Anrichte zu holen, wobei Bee ihm mit von Kritik nicht ganz freier Wohlgefälligkeit zusah. Zumindest hatte sie es fertiggebracht, Simon nicht zu verziehen, was in Anbetracht von Simons charmantem Egoismus keine kleine Leistung war. Simon hatte eine reizende Art, sich nach außen hin als unselbstständig zu geben, worauf von der Kinderstube an Gott und die Welt hereingefallen waren. Bee hatte die Entwicklung dieses trügerischen Charakterzugs mit Belustigung und zugleich mit etwas wie widerstrebender Bewunderung beobachtet; sie sagte sich, dass, wenn sie von Natur mit dieser Simon eigenen Spezialsorte von Charme ausgestattet gewesen wäre, sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht gezögert hätte, sich auf seine Wirkung zu verlassen. Aber sie hatte dafür gesorgt, dass er bei ihr nicht wirkte.

»Es wäre doch nett, wenn zu einer Volljährigkeitsfeier auch so etwas wie Brautjungfern gehörten«, bemerkte Ruth, während sie ihre Fleischportion mit kritisch prüfender Gabel hin und her schob.

Die Bemerkung fiel jedoch auf steinigen Boden.

»Der Herr Pfarrer sagt, der Odysseus sei wahrscheinlich ein schrecklicher Kerl gewesen, der immer im Haus im Weg gewesen sei«, fing die unbeirrbare Jane wieder an.

»Soso!«, sagte Bee, die dieses auf die klassische Literatur fallende Seitenlicht nicht uninteressant fand. »Inwiefern denn?«

»Er sei bestimmt ein … ein Bastler gewesen, sagte der Pfarrer, und die Penelope wär’ wahrscheinlich schön froh gewesen, als sie ihn für eine Weile los war. Ach, wenn doch Leber nicht so glitschig wäre!«

Eleanor trat ein und nahm sich in ihrer ruhigen, wortlosen Art ihre Portion von der Anrichte.

»Püh!«, rief Ruth aus. »Was für ein Stallgeruch!«

»Du kommst ja recht spät, Nell«, sagte Bee in fragendem Ton.

»Nie lernt die reiten«, sagte Eleanor. »Sie kann noch nicht einmal leicht traben.«

»Vielleicht können Irre nicht reiten lernen«, meinte Ruth.

»Ruth«, sagte Bee, sie energisch zurechtweisend, »die Zöglinge auf dem Schloss sind nicht irrsinnig. Sie sind nicht einmal schwachsinnig. Sie sind nur ›schwierig‹.«

»›Schwer erziehbar‹ lautet der Fachausdruck«, sagte Simon.

»Na schön. Aber sie benehmen sich doch wie die Irrsinnigen. Wenn sich einer wie ein Irrsinniger benimmt, woher soll man dann wissen, dass er keiner ist?«

Da hierauf anscheinend niemand von den Anwesenden eine Antwort wusste, legte sich Schweigen über den Mittagstisch der Familie Ashby. Eleanor aß mit der zielbewussten Eifrigkeit eines hungrigen Schuljungen, ohne die Augen von ihrem Teller zu heben. Simon holte einen Bleistift aus der Tasche und rechnete auf dem Rand seines Zeitungsblattes Wettchancen aus. Ruth, die aus der Keksdose im Pfarrhaus drei Biskuits gemopst und sie auf der Toilette verspeist hatte, machte aus dem Essen auf ihrem Teller eine Ritterburg mit einem Wallgraben aus Soße drum herum. Jane verzehrte ihre Portion mit unbeirrbarem Appetit. Und Bee blickte wieder durchs Fenster hinaus auf die Landschaft.

Drüben über dem fernen Hügelrücken fiel das Land meilenweit in schachbrettförmigen Feldern zur See und den zusammengedrängten Dächern von Westover hin ab. Doch hier, in dem vor den Winden des Ärmelkanals geschützten und zur Sonne hin offenen Hochtal, reckten sich die Bäume mit der heiteren Ruhe des Binnenlandes in die schimmernde Luft, fast als seien sie die Staffage eines Märchenlandes. Der helle Schein darüber, die Abgerundetheit und Reglosigkeit ließen die Landschaft wie ein Traumbild wirken.

Ein schönes Erbe, ein schönes, reiches Erbe. Sie hoffte, Simon werde gut damit umgehen. Es hatte Stunden gegeben, da sie … nun, nicht gerade Angst gehabt hatte. Simon war allzu vielseitig; er hatte einen launischen Charakter, der sich mit den Pflichten eines sein Erbteil antretenden Landjunkers nicht recht vertrug. Von allen Gütern der Umgegend beherbergte nur noch Latchetts eine alteingesessene Familie; Bee gab sich der Hoffnung hin, es werde auch in künftigen Jahrhunderten noch Ashbys auf seiner Scholle beherbergen. Blonde, feingliedrige, langköpfige Ashbys wie die, die hier um den Tisch herumsaßen.

»Jane, musst du unbedingt den Fruchtsaft um dich herumspritzen?«

»Ich kann Rhabarberkompott in langen Stücken nicht leiden, Tante Bee. Ich esse es lieber zerdrückt.«

»Dann zerdrücke es gefälligst etwas vorsichtiger.«

Als sie in Janes Alter war, hatte sie ihr Rhabarberkompott auch immer zerdrückt, an ebendiesem selben Tisch hier. An diesem selben Tisch hatten Ashbys gespeist, die später gestorben waren am Gelbfieber in Indien, an Wunden auf der Krim, an Hunger in Queensland, an Typhus im Kapland und an Leberschrumpfung in den Straits Settlements. Aber immer hatte ein Ashby auf Latchetts gesessen, und sie waren gut mit dem Grundbesitz umgegangen. Hin und wieder war auch einmal ein Tunichtgut dazwischen gewesen – wie Vetter Walter –; doch die Vorsehung hatte dafür gesorgt, dass unersprießliche Charaktereigenschaften im Allgemeinen auf die jüngeren Söhne beschränkt blieben, die ihre Untugenden fern von Latchetts austoben konnten.

Nach Latchetts waren keine Königinnen gekommen, um sich dort bewirten zu lassen, keine Kavaliere, um dort Zuflucht zu suchen. Dreihundert Jahre lang hatte es inmitten seiner Wiesen nicht viel anders gestanden, als es jetzt noch stand, der Sitz eines Landjunkers, nichts drunter und nichts drüber. Und nahezu zwei von diesen drei Jahrhunderten hatten Ashbys darin gehaust.

»Simon, mein Lieber, sieh doch mal nach dem Kaffee.«

Vielleicht war es eben seine Schlichtheit gewesen, die es vor den Stürmen der Zeit bewahrt hatte. Es hatte nicht über sich, es hatte nicht einmal hoch hinausgewollt. Sein Ertrag war wieder ihm selbst zugutegekommen, sein Same wieder in seine Erde gesenkt worden, sein Saft wieder zu den Wurzeln zurückgekehrt. Drüben überm Tal erhob sich, vornehm wie eine Vizekönigin, das lange weiße Herrenhaus von Clare inmitten seines Parks; doch kein Ledingham wohnte und erging sich mehr darin. Die Ledinghams waren mit ihren Talenten so verschwenderisch umgegangen wie mit ihren Reichtümern; Clare war für sie ein Sprungbrett gewesen, eine Schatulle, eine Kulisse, ein Asyl, aber keine Heimstatt. Jahrhundertelang waren sie über die ganze Welt stolziert, die Ledinghams: als Prokonsuln, Forscher, Eroberer, Hofnarren, Wüstlinge und Umstürzler; Clare hatte für all ihre Ausschweifungen aufkommen müssen. Nun waren nur noch ihre Porträts vorhanden. Und das große Haus im Park war ein Landschulheim für schwer erziehbare Sprösslinge von Eltern mit modernen Ansichten und großen Bankkonten.

Die Ashbys jedoch saßen immer noch auf Latchetts.

2

Während Bee den Kaffee eingoss, verzogen sich dieZwillinge, die einen schulfreien Nachmittag hatten, um sich weiter auf eigene Faust zu vergnügen, und Eleanor trank ihre Tasse rasch aus, um sich wieder zu den Stallungen zu begeben.

»Brauchst du den Wagen am Nachmittag?«, fragte Simon. »Ich habe dem alten Gates halb und halb versprochen, ihm auf einem von unseren Anhängern ein Kalb von Westover zu holen. Seiner ist zusammengebro-chen.«

»Nein, ich benötige ihn nicht«, sagte Bee, und es ging ihr dabei die Frage durch den Kopf, was Simon veranlassen könne, sich einer so uninteressanten Arbeit zu unterziehen. Sie wollte doch nicht hoffen, dass die Tochter von Gates dahintersteckte; sie war sehr hübsch, sehr dumm und sehr gewöhnlich. Gates war der Pächter von Wigsell, dem kleinsten der drei Bauernhöfe. Simon hatte im Allgemeinen für ihn und seine Art, sich jede Gelegenheit zunutze zu machen, nichts übrig.

»Wenn du es genau wissen willst«, sagte Simon aufstehend, »ich möchte den neuen Film mit June Kaye sehen. Er läuft im Empire.«

Die entwaffnende Offenherzigkeit würde wohl jedermann ausnehmend gefallen haben; nicht so jedoch Beatrice Ashby, die die Angewohnheit ihres Neffen, zwei Bälle in die Luft zu werfen, um die Aufmerksamkeit von einem dritten abzulenken, allzu gut kannte.

»Kann ich etwas für dich besorgen?«

»Du könntest vielleicht einen der neuen Busfahrpläne mitbringen. Eleanor sagt, es sei eine neue Linie nach Clare um Guessgate herum eingerichtet worden.«

»Bee«, wurde eine Stimme aus der Diele hörbar. »Bist du da, Bee?«

»Mrs Peck«, sagte Simon und ging zu deren Begrüßung hinaus.

»Komm nur herein, Nancy«, rief Bee. »Komm und trink Kaffee mit mir. Die anderen sind schon fertig.«

Alsbald kam die Pfarrersgattin herein, stellte ihren leeren Korb auf die Anrichte und setzte sich, zufrieden aufseufzend.

»Eine Tasse Kaffee kann ich schon vertragen«, sagte sie.

Wenn jemand den Namen von Mrs Peck erwähnte, so setzte der Betreffende immer noch hinzu: »Die frühere Nancy Ledingham, Sie wissen doch«, obwohl es jetzt schon ein Jahrzehnt her war, dass Nancy Ledingham die gute Gesellschaft einfach sprachlos gemacht hatte, indem sie George Peck heiratete und sich in einer Landpfarrei vergrub. Nancy Ledingham war mehr gewesen als »die« Gesellschaftsdebütantin des Jahrgangs; sie gehörte zu den Schätzen der Nation; ihre Schönheit war durch die Boulevardpresse zum Gemeingut geworden. Um sie zu sehen, stellte sich das Publikum auf Stühle und veranlasste Verkehrsstörungen; ihre Teilnahme an einer Hochzeit als Brautjungfer bereitete den Polizeibehörden eine Woche vorher Kopfzerbrechen und Herzklopfen. Ihre Anmut war von jener reinen, klaren, unanzweifelbaren Art, die selbst den böswilligsten Krittler entwaffnete. Mehr als einmal hatte die Sensationspresse sie bereits mit einer Krone ausgestattet; für ihre Bewunderer tat es nichts unter einer Herzogskrone.

Und dann aus heiterem Himmel – sozusagen zwischen einer Nummer des Tatler und der nächsten – hatte sie George Peck geheiratet. Die völlig erschütterte Presse konnte für ihre völlig erschütterte Leserschaft nichts anderes tun, als das Vox-humana-Register zu ziehen und von romantischer Liebe zu tremolieren; aber George hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er war ein langer, hagerer Mensch mit dem Gesicht eines sehr intelligenten, immerhin recht netten Affen. Überdies, wie sich der Gesellschaftsberichterstatter des Clarion ausdrückte: »Ein Geistlicher! Ich bitte Sie! Aus einem Zementmischer könnte ich mehr Romantik herausholen!«

Das große Publikum gab sie also der selbst gewählten Vergessenheit anheim. Ihre Tante, die sie in die Gesellschaft eingeführt hatte, enterbte sie. Ihr Vater starb in einer durch Gram und Schulden verursachten Gemütsdepression. Und aus ihrem Vaterhaus, dem großen, alten weißen Schloss im Park, wurde eine Schule.

Doch nach dreizehn Jahren Pfarrhausdasein war Nancy Peck noch immer von klarer, reiner, unanzweifelbarer Schönheit, und es wurde immer noch gesagt: »Die frühere Nancy Ledingham, Sie wissen doch.«

»Ich komme wegen der Eier«, sagte sie, »aber es eilt nicht damit, nicht wahr? Ist so schön, mal dazusitzen und nichts zu tun.«

Bee blickte sie lächelnd von der Seite an.

»Du hast ein so nettes Gesicht, Bee.«

»Danke. Ruth sagt, es sei das Gesicht einer sehr teuren Katze.«

»Unsinn … Zumindest keine von der langhaarigen Rasse. Ach ja, ich weiß schon, was sie meint. Die mit den langen Hälsen und den kurzen Haaren, bei denen man das feine, schmale Kinn sieht. Die Katzen auf den Wappen. Ja, Bee, meine Gute, du hast ein Gesicht wie ein heraldisches Katzentier. Besonders wenn du den Kopf ruhig hältst und dabei den Blick von der Seite über einen gleiten lässt.« Sie stellte ihre Tasse hin und stieß wieder einen wohligen Seufzer aus. »Ich begreife nicht, wieso den Puritanern der Kaffee entgangen ist.«

»Entgangen, wieso?«

»Na ja, als Schlinge des Bösen. Er übt eine viel stärkere Wirkung auf einen aus als Alkohol. Aber kein Mensch predigt oder unterzeichnet Eingaben dagegen. Fünf Schluck Kaffee, und die Welt sieht rosig aus.«

»War sie denn vorher grau?«

»Sie hatte so eine Schmutzfarbe. Diese Woche war ich so glücklich, weil es die erste Woche in diesem Jahr war, dass man im Wohnzimmer kein Feuer brauchte, ich also kein Feuer anzumachen und keinen Kamin zu reinigen hatte. Aber nichts – ich wiederhole: nichts – wird George jemals davon abhalten, seine abgebrannten Streichhölzer in den Kamin zu werfen. Und um eine einzige Pfeife anzuzünden, braucht er fünfzehn Streichhölzer! Das Zimmer wimmelt von Papierkörben und Aschenbechern – aber nein, George muss dazu den Kamin benutzen. Dabei zielt er nicht einmal, hol ihn der und jener! Ein graziöses, achtloses Schnicken aus dem Handgelenk, und schon landet das Zündholz irgendwo zwischen dem Kamingitter und der hintersten Kohle. Und alle müssen wieder herausgeholt werden.«

»Und er sagt: ›Warum lässt du sie nicht drin?‹«

»Eben. Aber da ich mich nun an Latchetts-Kaffee gelabt habe, bin ich gewillt, noch einmal Gnade für Recht ergehen zu lassen.«

»Arme Nan!«

»Wie steht es mit den Vorbereitungen zur Volljährigkeitsfeier?«

»Die Einladungskarten können in Druck gegeben werden; womit wir immerhin schon in einem erfreulich fortgeschrittenen Stadium sind. Ein Diner hier im Haus für die nächsten Verwandten und Freunde und dann ein allgemeines Tänzchen in der Scheune. À propos: Kannst du mir Alecs Adresse geben?«

»Seine letzte weiß ich nicht auswendig. Ich suche sie dir zu Hause heraus. Jedes Mal, wenn er schreibt, hat er eine andere. Mir schwant, er wird immer an die Luft gesetzt, weil er die Miete nicht bezahlen kann. Allerdings höre ich nicht sehr oft von ihm. Er kann es mir nicht verzeihen, dass ich keine reiche Heirat gemacht habe, sodass ich nicht imstande bin, meinem einzigen Bruder einen Lebensunterhalt zu sichern, wie er ihn einmal gewohnt war.«

»Spielt er momentan?«

»Ich weiß nicht. Er hatte eine Rolle in dem blöden Lustspiel im Savoy; aber das ging nur ein paar Wochen. Er ist ja ein so spezieller Typ, dass sein Rollenfach notgedrungen begrenzt ist.«

»Jaja, das stimmt wohl.«

»Alec kann man nur als Alec auftreten lassen. Du weißt gar nicht, was für ein Glückspilz du bist, dass du es bloß mit Ashbys zu tun hast, Bee. Die Zahl der Wüstlinge ist bei den Ashbys unverhältnismäßig niedrig.«

»Wir hatten immerhin Walter.«

»Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Was ist denn aus Vetter Walter geworden?«

»Ach, der ist gestorben.«

»Im Geruch der Heiligkeit, wie?«

»Nein, in Karbolgeruch. Im Armenspital, glaube ich.«

»Weißt du, auch Walter war gar nicht so schlimm. Er trank nur gern ein bisschen und konnte es nicht vertragen. Aber wenn ein Ledingham einmal ein Wüstling ist, dann ist er’s schon richtig.«

In Gedanken mit ihren jeweiligen Familien beschäftigt, blieben sie eine Zeit lang schweigend sitzen. Bee war einige Jahre älter als ihre Freundin, fast eine ganze Generation sogar. Aber keine von beiden konnte sich einer Zeit entsinnen, da die andere nicht vorhanden gewesen wäre; die Ledinghams waren als Kinder auf Latchetts ein- und ausgegangen, wie wenn sie zu Hause wären, genauso, wie die Ashbys in Clare aus und ein gegangen waren.

»In der letzten Zeit habe ich so oft an Bill und Nora gedacht«, sagte Nancy. »Wie glücklich wären sie wohl in diesen Wochen gewesen!«

»Ja«, sagte Bee nur, versonnen die Blicke zum Fenster gerichtet. Ebendiese Landschaft hatte ihr vor Augen gestanden, als es passiert war. An einem ganz ähnlichen Tag wie dem heutigen, in derselben Jahreszeit. Am Wohnzimmerfenster hatte sie gestanden, von dem Gedanken erfüllt, wie schön dies doch alles anzusehen sei und dass die beiden ebenfalls den Gedanken haben würden, nichts von all dem, was sie in Europa gesehen hätten, sei auch nur halb so schön. Ob Nora wieder besser aussah? Nach der Geburt der Zwillinge war sie sehr mitgenommen gewesen. Bee hatte gehofft, sie selbst habe sich als Stellvertreterin bewährt; immerhin hatte sie sich auch ein bisschen darauf gefreut, am nächsten Tag wieder ihr eigenes Leben in London aufnehmen zu können.

Die Zwillinge hatten geschlafen; die älteren Kinder machten sich im Oberstock für den Empfang der Eltern und für das Abendessen zurecht, zu dem sie diesmal aufbleiben durften. In ungefähr einer halben Stunde musste der Wagen aus der Lindenallee einbiegen, an der Haustüre vorfahren, anhalten, und – dann waren sie wieder da, inmitten eines Getümmels von Lachen und Umarmungen, Geschenken und allgemeinem Wohlbehagen.

So zerstreut hatte sie den Knopf am Radio gedreht, dass sie sich der Gebärde fast gar nicht bewusst gewesen war. »Das Zwei-Uhr-Flugzeug Paris–London«, sagte die kühle Stimme, »ist im Laufe des Nachmittags kurz nach Überfliegung des Kanals an der Küste von Kent abgestürzt. Von den neun Passagieren und der Besatzung ist niemand am Leben geblieben.«

Nein … Niemand war am Leben geblieben …

»Die Kinder waren doch ihr ganzes Glück«, sagte Nancy. »So oft musste ich in der letzten Zeit an sie denken, wo Simon jetzt einundzwanzig wird.«

»Und ich musste an Patrick denken.«

»Patrick?«, sagte Nancy in einem Ton, als wisse sie nicht, wer gemeint sei. »Ach so, ja, gewiss. Der arme Pat!«

Bee warf ihr einen etwas verwunderten Blick zu. »Daran hattest du wohl schon fast nicht mehr gedacht, nicht?«

»Nun, es ist ja auch schon recht lange her, Bee. Und … es ist doch wohl so, dass das Gemüt die Dinge wegräumt, deren Erinnerung es nicht erträgt. Bill und Nora … das war entsetzlich, aber es war etwas, was Menschen eben zustößt. Ich meine, etwas, was zu den alltäglichen Fährnissen des Lebens gehört. Aber Pat… das war etwas ganz anderes.« Sie schwieg einen Augenblick lang. »Ich habe all das so sehr verdrängt, dass ich mich nicht einmal mehr darauf besinnen kann, wie er aussah. Glich er Simon, so wie Ruth Jane gleicht?«

»O nein. Sie waren keine so typischen Zwillinge. Sie wirkten nicht ähnlicher als sonst Brüder. Sonderbarerweise hielten sie viel mehr zusammen als Ruth und Jane.«

»Simon scheint es verwunden zu haben. Meinst du, er denkt noch oft daran?«

»In der letzten Zeit muss er schon sehr oft daran gedacht haben.«

»Jaja. Aber zwischen dreizehn und einundzwanzig liegt eine lange Spanne. Ich nehme an, selbst die Erinnerung an einen Zwillingsbruder verblasst auf diese Entfernung.«

Bee gab das Stoff zum Nachdenken: War auch ihre Erinnerung verblasst an den lieben ernsten Jungen, der nächsten Monat sein Erbe hätte antreten sollen? Sie versuchte, sich das Bild seines Gesichts heraufzurufen; aber es blieb verschwommen. Er war klein und unreif gewesen für sein Alter, aber sonst ein richtiger Ashby. Sie sah mehr den Familientypus vor sich als die individuellen Züge. Wenn sie jetzt nachdachte, erinnerte sie sich von ihm an nichts weiter, als dass er ernst und gut war.

Güte ist ja bei kleinen Buben kein allgemein vorkommender Zug.

Simon hatte eine sorglose Gutmütigkeit, solange es ihm keine Unbequemlichkeit verursachte; aber Patrick hatte eine von Herzen kommende Güte besessen, eine Güte, die nicht bloß gibt, sondern opfert.

»Ich frage mich immer noch«, sagte Bee bedrückt, »ob wir es damals hätten zulassen dürfen, dass die am Strand von Castleton gefundene Leiche an Ort und Stelle drüben begraben wurde. Es war geradezu ein Armenbegräbnis.«

»Aber, Bee! Die Leiche hatte doch monatelang im Wasser gelegen! Es konnte ja nicht einmal das Geschlecht des Toten einwandfrei festgestellt werden! Und Castleton liegt mehrere Meilen von hier. Dort werden doch auch alle Leichen von den Schiffbrüchigen im Atlantik angeschwemmt. Das heißt, die von den in der Nähe liegenden Wracks. Es ist ganz sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen … und … eine Identifizierung …« Ihre Stimme war immer leiser geworden und erstarb jetzt vollends.

»Nein … natürlich, das ist richtig!«, fuhr Bee auf. »Es war bloß so eine verschrobene Idee. Nimm noch eine Tasse Kaffee.«

Während sie den Kaffee einschenkte, nahm sie sich vor, sobald Nancy fort sei, die Geheimschublade in ihrem Schreibtisch aufzuschließen und Patricks jammervollen Zettel zu verbrennen. Ja, es war verschroben gewesen, ihn aufzuheben, wenn sie ihn auch seit Jahren nicht mehr angesehen hatte. Sie hatte nie das Herz gehabt, ihn zu zerreißen, weil er für sie etwas wie ein Teil von Patrick gewesen war. Aber das war ja Unsinn … Der Zettel war so wenig ein Teil von Patrick wie die Verzweiflung, die ihn erfüllt hatte, als er schrieb: Verzeiht, aber ich kann es nicht mehr ertragen. Seid mir nicht böse. Patrick. Ja, sie wollte ihn herausnehmen und verbrennen. Damit verbannte sie ihn gewiss nicht aus ihrem Denken; aber dagegen konnte sie nichts tun. Die runden Schulbubenbuchstaben blieben dort für immer eingeprägt, runde, sorgfältig gezogene Buchstaben, geschrieben mit dem Füllfederhalter, an dem er so hing. Typisch Patrick war es, deswegen um Verzeihung zu bitten, dass er sich das Leben nahm.

Nancy hatte das Gesicht der Freundin beobachtet; um etwas vorzubringen, was sie für einen Trost hielt, sagte sie: »Es heißt doch, wie du weißt, dass man fast augenblicklich das Bewusstsein verliert, sobald man sich von einer gewissen Höhe herunterstürzt.«

»Ich glaube nicht, dass er es auf diese Weise getan hat, Nan.«

»Nein?!«, rief Nancy ganz verdutzt aus. »Aber der Zettel ist doch dort gefunden worden. Ich meine, der Mantel mit dem Zettel in der Tasche. Oben auf der Klippenspitze.«

»Ja, aber am Weg. Am Hohlweg durch die Schlucht zum Strand hinunter.«

»Wie hat er es denn nach deiner Ansicht …«

»Meiner Ansicht nach ist er hinausgeschwommen.«

»Bis er nicht mehr zurückkonnte, meinst du?«

»Ja. Damals, als ich während der Ferienreise von Bill und Nora die Elternstelle vertrat, ging ich mit den Kindern einige Male zu der Schlucht; wir badeten dort und machten Picknick. Einmal, als wir wieder dort waren, sagte Patrick, die beste Art – oder wie er sich, glaube ich, ausdrückte: die schönste Art – zu sterben, sei, ins Meer hinauszuschwimmen, bis man zu müde würde, um noch weiterzuschwimmen. Er sagte das ganz sachlich. Damals … natürlich … wurde darüber rein theoretisch gesprochen. Als ich darauf hinwies, Ertrinken bleibe immer Ertrinken, sagte er: ›Aber man wäre dann so müde, weißt du, dass einem alles gleich wäre. Das Wasser würde einen einfach aufnehmen.‹ Er liebte das Wasser.«

Sie blieb wieder ein paar Sekunden stumm, dann platzte sie mit dem heraus, was seit Jahren wie ein Albdruck auf ihr lag.

»Mir ist immer die Angst nachgegangen, er könnte Reue gespürt haben, als es zu spät war, zurückzuschwimmen.«

»Ach, Bee, nicht doch!«

Bee warf einen Seitenblick auf Nancys schönes Gesicht, in dem der Protest gegen diesen Gedanken zu lesen war.

»Verschroben, krankhaft verschroben. Ich weiß ja. Vergiss, was ich gesagt habe.«

»Ich begreife gar nicht, wie ich das Ganze habe vergessen können«, sagte Nancy nachdenklich. »Das Schlimmste daran, wenn man grauenvolle Dinge ins Unterbewusstsein verdrängt, ist, dass sie, wenn sie dann plötzlich wieder auftauchen, so frisch sind, als wenn sie aus einem Kühlschrank kämen. Man hat der Zeit keinen Zutritt zu ihnen gestattet, dass sie darauf wirken und sie etwas verrotten lassen konnte.«

»Meiner Ansicht nach denkt kaum ein Mensch mehr daran, dass Simon einen Zwillingsbruder hatte«, sagte Bee zu Nancys Entschuldigung, »oder dass er nicht schon immer der Erbe gewesen ist. Tatsächlich hat niemand Patrick auch nur mit einer Silbe erwähnt in der ganzen Zeit, seit von der Volljährigkeitsfeier die Rede ist.«

»Wieso war Patrick denn so untröstlich über den Tod seiner Eltern?«

»Dass er das war, wusste ich nicht. Niemand von uns ahnte das. Alle Kinder waren natürlich zuerst außer sich vor Kummer. Es machte sie fast krank. Doch keines mehr als das andere. Patrick schien eher verstört als untröstlich. ›Bedeutet das, dass Latchetts jetzt mir gehört?‹ Ich erinnere mich noch, wie er das sagte, als wenn das ein ganz befremdlicher, schwer verständlicher Gedanke sei. Simon war ungehalten über ihn, erinnere ich mich. Simon war immer der Begabtere. Mir scheint, es war alles zu viel für Patrick, zu befremdlich: die ihn allen Haltes beraubende Empfindung, plötzlich ohne Vater und Mutter zu sein, das Gewicht von Latchetts auf seinen Schultern zu spüren. Das war zu viel für ihn, und er war so unglücklich, dass er sich davonmachte.«

»Armer Pat! Armer lieber Junge! Es war nicht schön von mir, ihn zu vergessen.«

»Komm, gehen wir die Eier holen. Denk daran, mir Alecs Adresse zu geben, bitte. Ein Ledingham muss eingeladen werden.«

»Ich sehe sofort nach, sobald ich heimkomme, und gebe sie dir telefonisch durch. Kann dein neuester Bauerntrampel eine Telefonnachricht aufnehmen und ausrichten?«

»Mit Müh und Not.«

»Nun, ich werde mich aufs Wesentliche beschränken. Denke übrigens daran, dass Alecs Bühnenname Loding ist.« Sie nahm ihren Korb von der Anrichte. »Ich bin neugierig, ob er kommt. Es ist schon lange her, dass er in Clare war. Das Landleben ist nichts für Alec; seine Vergnügungen sind anderer Art. Aber eine Volljährigkeitsfeier im Hause Ashby dürfte sicher sein Interesse finden.«

3

Alec Lodings vornehmlichstes Interesse an der Voll-jährigkeitsfeier im Hause Ashby bestand jedoch darin, das Fest zu ruinieren. Tatsächlich war er in diesem Moment eifrig damit beschäftigt, zu diesem Zweck die nötigen Fäden zu ziehen.

Oder besser: Er war bemüht, sie zu ziehen, ja sie erst zu legen. Einstweilen wollten sie noch nicht recht.

Er saß in der rückwärtigen Gaststube des »Grünen Manns«, die Überreste seines Mittagessens vor sich auf dem Tisch und neben sich am Tisch einen jungen Mann. Man hätte diesen für einen Knaben halten können, hätte sein Wesen nicht eine Selbstbeherrschung und Zurückhaltung aufgewiesen, an denen nichts Halbwüchsiges mehr war. Loding goss sich Kaffee ein und versah ihn reichlich mit Zucker; dabei warf er hin und wieder einen Blick auf seinen Tischgenossen, der ein fast leeres Bierglas dauernd drehte. Diese Bewegung hatte etwas so Bedächtiges, dass man sie nicht als »Zappeligkeit« einordnen konnte.

»Nun?«, sagte Loding schließlich.

»Nein.«

Loding trank einen Schluck Kaffee.

»Bange?«

»Ich bin kein Schauspieler.«

Der Satz war ganz tonlos gesprochen; doch Loding schien etwas daran aufzureizen; er wurde ein bisschen rot.

»Es werden von Ihnen keinerlei Gefühlsäußerungen verlangt, wenn Sie das meinen. Sohnesliebe brauchen Sie ja nicht zu mimen. Lediglich pflichtschuldige Herzlichkeit gegenüber einer Tante, die Sie seit zehn Jahren nicht gesehen haben, wobei es ja mehr auf die Pflicht als auf das Herz ankommt.«

»Nein.«

»Sie junger Esel, ich biete Ihnen ein Vermögen an.«

»Ein halbes Vermögen. Außerdem bieten Sie mir nichts an.«

»Ich biete Ihnen nichts an? Was tue ich denn?«

»Sie schlagen mir ein Geschäft vor«, sagte der junge Mann. Er hatte die Augen nicht von dem ständig kreisenden Bierglas erhoben.

»Also schön, ich schlage Ihnen ein Geschäft vor, um mich Ihres barbarischen Idioms zu bedienen. Und woran hapert’s mit dem Geschäft?«

»Es ist irrsinnig.«

»Was ist daran irrsinnig unter den gegebenen Umständen? Bei dem Ihnen von der Natur mitgegebenen Grundvorteil?«

»Das bringt kein Mensch fertig.«

»Es ist noch gar nicht lange her, dass ein berühmter General, dessen Gesicht sprichwörtlich ist – wenn Sie mir die Metapher gestatten wollen –, bei hellem Tageslicht und vor aller Augen mit größtem Erfolg von einem Schauspieler verkörpert wurde.«

»Das ist etwas ganz anderes.«

»Das gebe ich zu. Sie sollen nämlich gar niemanden verkörpern. Sie sollen nur Sie selbst sein. Also eine viel leichtere Aufgabe.«

»Nein«, sagte der junge Mann.

Es kostete Loding sichtlich Anstrengung, seinen Zorn zu bemeistern. Sein Gesicht war rosa und eingefallen; es erinnerte an die Unterseite gewisser frisch gepflückter Pilze. Von seinen gediegenen Ledingham’schen Knochen hing das Fleisch in mutloser Schlaffheit herunter, und die beginnenden Tränensäcke unter den Augen beeinträchtigten die unanzweifelbare Intelligenz, die darin lag. Theaterdirektoren, die ihn früher für fröhliche junge Bonvivant-Rollen engagiert hatten, gaben ihm jetzt nur noch heruntergekommene Gestalten zu spielen.

»Mein Gott!«, fuhr er auf. »Ihre Zähne!«

Selbst dieser Ausruf rang dem Gesicht des Jünglings keinerlei Mienenspiel ab. Er hob nur zum ersten Mal den Blick und richtete ihn ohne Neugier auf Loding. »Was ist mit meinen Zähnen los?«

»Daran wird neuerdings die Identität von Personen festgestellt. Die Zahnärzte haben doch Kartotheken, auf denen jedes Gebiss mit jedem Eingriff genau verzeichnet ist. Man müsste wissen, zu welchem Zahnarzt die Kinder seinerzeit geschickt wurden. Darüber müsste man etwas in Erfahrung bringen. Ihre Schneidezähne da, sind die echt?«

»Zwei davon sind überkappt. Sie sind mir ausgeschlagen worden.«

»Die Kinder sind damals zu einem Zahnarzt nach London gefahren, so viel weiß ich noch. Zweimal im Jahr fuhren sie hin, einmal vor Weihnachten und einmal im Sommer. Vormittags gingen sie dann zum Zahnarzt und am Nachmittag im Winter in ein Weihnachtsmärchen und im Sommer zum Reitturnier in die Olympia. Solche Sachen müssen Sie sich übrigens merken.«

»So?«

Diese freundlich geäußerte Silbe erboste Loding.

»Hören Sie mal, Farrar, wovor haben Sie eigentlich Angst? Vor ’nem roten Muttermal oder so was? Ich habe mit dem Jungen so und so oft gebadet, aber ich kann Ihnen sagen, es war auch nicht ein Leberfleckchen an ihm. Er war so normal, dass Sie ihn in jeder englischen Knabenschule dutzendweise hätten finden können. Sie sehen heute seinem Bruder ähnlicher, als der Junge es überhaupt je tat, obschon sie Zwillinge waren. Ich versichere Ihnen, ich glaubte einen Moment lang tatsächlich, dass Sie der junge Ashby seien. Genügt Ihnen das nicht? Sie ziehen für vierzehn Tage zu mir, und wenn die um sind, dann gibt’s nichts über die Gemeinde Clare und deren Bewohner, worüber Sie nicht Bescheid wissen. Und auch nichts über Latchetts. Ich kenne da das hinterste Kämmerchen. Und ebenso über die Ashbys. Können Sie übrigens schwimmen?«

Der junge Mann nickte. Er machte sich wieder mit seinem Bierglas zu schaffen.

»Schwimmen Sie gut?«

»Ja.«

»Können Sie sich nie über etwas näher auslassen?«

»Nur wenn’s unbedingt nötig ist.«

»Der Junge schwamm wie ein Aal. Ja, da sind noch die Ohren. Ihre sehen recht normal aus, seine waren wohl auch ganz normal, sonst würde ich mich an sie erinnern. Wer einmal in einer Zeichenschule nach lebendem Modell gearbeitet hat, schenkt den Ohren Beachtung. Aber ich muss mal sehen, ob noch Fotos von ihm vorhanden sind. Aufnahmen von vorn hätten nichts zu sagen, aber die Großaufnahme eines Ohrs kann zur Entdeckung führen. Ich muss wohl mal einen Abstecher nach Clare machen und ein bisschen herumschnüffeln.«

»Meinetwegen brauchen Sie sich nicht zu bemühen.«

Loding schwieg einen Augenblick lang. Dann sagte er in ruhigem Ton: »Sagen Sie mal, glauben Sie überhaupt an meine Geschichte?«

»An Ihre Geschichte?«

»Glauben Sie daran, dass ich der bin, der ich zu sein behaupte, dass ich aus einer Ortschaft namens Clare stamme und dass es dort einen Menschen gibt, der sozusagen Ihr Doppelgänger ist? Glauben Sie das? Oder meinen Sie, das sei bloß ein Vorwand, um Sie zu mir nach Hause zu locken?«

»Nein, das habe ich nicht angenommen. Ich glaube an Ihre Geschichte.«

»Na, Gott sei Dank, das ist doch wenigstens etwas«, sagte Loding mit einem Hochzucken der Augenbrauen. »Ich weiß ja, dass ich nicht mehr so aussehe, wie ich mal ausgesehen habe; aber es würde mir doch einen Stoß geben, wenn ich den Eindruck eines Bauernfängers machen sollte. Na schön. Da diese Frage erledigt ist, glauben Sie mir auch, dass Sie dem jungen Ashby so ähnlich sehen, wie ich Ihnen versichert habe?«

Die Antwort kam erst nach einer weiteren Drehung des Bierglases um 360 Grad. »Das bezweifle ich.«

»Warum?«

»Aufgrund Ihrer eigenen Angaben, dass Sie ihn lange nicht gesehen haben.«

»Aber Sie sollen doch nicht der junge Ashby sein. Sie brauchen doch bloß auszusehen wie er. Und Sie können mir glauben, das ist der Fall! Wahrhaftiger Gott, das ist der Fall! Und wie Sie ihm ähnlich sehen! Ich hätte so etwas nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen sähe! Ich hatte mir immer eingebildet, so etwas gibt’s nur in Romanen. Für Sie ist das ein Vermögen wert. Sie brauchen bloß die Hand auszustrecken und es an sich zu nehmen.«

»Ach, so ist es doch nicht.«

»Na ja, bildlich gesprochen. Begreifen Sie nicht, dass bis auf das erste Jahr ungefähr Ihre eigene Lebensgeschichte als die Wahrheit gelten würde? Was Sie erzählen, ist bloß, was Sie selbst erlebt haben, und würde also jeder noch so eingehenden Nachprüfung standhalten.« Sein Ton nahm eine theatralische Note an. »Oder – etwa nicht?«

»O ja.«

»Na also. Sie brauchen bloß als blinder Passagier auf der Ira Jones von Westover abgefahren zu sein, statt einen Tagesausflug nach Dieppe gemacht zu haben, et voilà!«

»Woher wissen Sie, dass ein Schiff namens Ira Jones um diese Zeit in Westover war?«

»Um diese Zeit! Sie unterschätzen mich, amigo. Am Tage, da der Junge verschwand, befand sich ein Schiff mit diesem widerwärtigen Namen in Westover. Ich weiß das, weil ich fast den ganzen Tag damit zubrachte, es zu malen. Auf Leinwand, nicht seine Wanten. Und bevor ich noch damit fertig war, fuhr der alte Kahn ab zu den Kanalinseln. Alle meine Schiffe fahren ab, ehe ich sie fertig gemalt habe.«

Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Es fällt Ihnen in den Schoß, Farrar.«

»Da liegt schon meine Serviette.«

»Ein Vermögen. Ein reizendes kleines Landgut. Sicherheit. Eine …«

»Sicherheit, sagten Sie?«

»Nach dem ersten Hasardspiel selbstverständlich«, sagte Loding unbedenklich. In den hellen Augen, die sich eine Sekunde lang auf ihn richteten, war ein leicht belustigter Blick.

»Ist Ihnen noch gar nicht der Gedanke gekommen, Mr Loding, dass das Hasardspiel auf Ihrer Seite ist?«

»Auf meiner Seite?«

»Sie bieten mir doch hier die reizendste Gelegenheit zu einem Gaunerstreich, die mir je vorgekommen ist. Ich lasse mir alles von Ihnen einstudieren, lege vor Ihnen die Prüfung ab, und dann sind Sie Luft für mich. Dagegen können Sie nicht das Geringste ausrichten. Wie haben Sie sich denn eigentlich eingebildet, dass Sie mich an der Strippe behalten können?«

»Das ist mir noch nicht in den Sinn gekommen. Ein Mensch, der so nach Ashby aussieht wie Sie, ist kein Gauner. Die Ashbys sind geradezu Ungeheuer an Rechtschaffenheit.«

Der Jüngling schob das Glas weg.

»Deshalb behagt mir ja wohl der Gedanke auch nicht, mich als Strohmann benutzen zu lassen. Danke Ihnen für die Einladung zum Mittagessen, Mr Loding. Wenn ich gewusst hätte, was Sie bezweckten, als Sie mich dazu aufforderten, würde ich nicht …«

»Schon gut, schon gut. Nur keine Entschuldigungen. Aber laufen Sie nicht gleich davon; wir gehen zusammen. Sie haben nichts übrig für mein Geschäft; na schön, sei’s drum. Aber andererseits faszinieren Sie selbst mich. Ich kann kaum den Blick von Ihnen abwenden und an etwas so Einmaliges kaum glauben. Und da Sie nun davon überzeugt sind, dass es mit meinem unziemlichen Antrag keine persönliche Bewandtnis hat, so steht dem ja nichts im Weg, dass wir zusammen bis zur Untergrundbahn gehen.«

Loding zahlte; dann gingen sie. Beim Fortgehen sagte er: »Ich frage Sie nicht, wo Sie wohnen; Sie sollen nicht glauben, ich werde nun hinter Ihnen her sein wie ein Schweißhund. Ich werde Ihnen bloß meine Adresse geben, in der Hoffnung, dass Sie mich aufsuchen. Nein, nein … nicht wegen des Geschäfts. Wenn Ihnen so etwas einmal nicht liegt, dann liegt’s Ihnen eben nicht; und wenn Sie diese Empfindung haben, dann könnten Sie’s ja auch nicht zum guten Ende führen. Nein, also deshalb nicht. Aber ich habe etwas in meiner Wohnung, das Sie interessieren dürfte.«

Er machte eine Kunstpause und richtete sein Augenmerk auf die Straßenkreuzung, die sie gerade überschritten. Dann fuhr er fort: »Als nach dem Tode meines Vaters unser Stammsitz, Clare, verkauft wurde, packte Nancy alle meine persönlichen Habseligkeiten aus meinem dortigen Zimmer zusammen und schickte sie mir hierher. Ein ganzer Koffer voll Krimskrams, dessen mich zu entledigen ich nie die Energie aufbrachte; ein großer Teil davon besteht aus Fotografien und Momentaufnahmen meiner Jugendfreunde. Das dürfte Sie doch interessieren.«

Er warf einen Seitenblick auf das Profil seines Begleiters, das jedoch keine Reaktion aufwies.

»Sagen Sie mal: Spielen Sie Karten?«, fragte er, als sie am Eingang zu der Untergrundstation stehen blieben.

»Mit Fremden nicht«, sagte der junge Mann liebenswürdig.

»Na, es war nur so eine Frage. Ein echtes Pokergesicht habe ich bisher noch nie gesehen, und es sollte mir doch leidtun, wenn eine solche Gabe an einen puritanischen Tugendbold verschwendet wird. Also gut. Hier ist meine Adresse. Falls ich dort nicht mehr anzutreffen sein sollte, fragen Sie beim Spotlight nach. Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie nicht dazu bekehren konnte, ein Ashby zu sein. Sie würden einen famosen Gutsherrn von Latchetts abgegeben haben. Einen, der sich mit Pferden auskennt und an Freiluftleben gewöhnt ist.«

Der junge Mann, der schon eine Abschiedsgeste gemacht hatte und sich eben zum Fortgehen anschicken wollte, stutzte mit einem Male. »Pferde?«, fragte er.

»Ja«, sagte Loding, leicht überrascht. »Es ist ein Gestüt dort, wissen Sie? Ein recht renommiertes, wie ich höre.«

»Ach.« Der Jüngling blieb noch eine Sekunde stehen, dann ging er weg, die Straße hinunter.

Loding sah ihm nach. Da habe ich einen Bock geschossen, überlegte er. Den einzigen Köder, auf den er angebissen hätte, habe ich nicht ausgeworfen. Wieso ist er gerade auf das Wort »Pferde« angesprungen? Er muss sie doch inzwischen satthaben.

Na ja, vielleicht würde der Junge ihn doch besuchen, um sich mal die Bilder von seinem Doppelgänger anzusehen.

4

Völlig angekleidet lag der Jüngling auf dem Bett undstarrte in die Dunkelheit.

Kein Laternenschein fiel von der Straße in diese Hinterstube dicht unterm Dach; lediglich der schwache Lichtschimmer, der bei Nacht über London hängt, der Widerschein von Millionen Bogenlampen, Gas- und Petroleumflammen tauchte die Zimmerdecke in ein gespenstisch fahles Licht und ließ die Sprünge und Flecken daran hervortreten, dass sie aussah wie eine Weltkarte.

In die Betrachtung einer Weltkarte war der junge Mensch tatsächlich versunken, aber nicht in die an der Zimmerdecke. Er ließ an seinem inneren Auge seine Odyssee vorüberziehen; er machte eine Bestandsaufnahme seines bisherigen Lebens. Die heutige Begegnung und die sich daran knüpfende Unterhaltung hatten ihn stark erschüttert. Es gab also irgendwo auf der Welt einen jungen Menschen, der ihm so ähnlich sah, dass sie beide auf den ersten Blick miteinander verwechselt werden konnten. Für einen, der sein ganzes Leben lang sehr allein gewesen war, immerhin ein verblüffender Gedanke.

Ja, es war das Erstaunlichste, was ihm in seinem einundzwanzigjährigen Leben bisher zugestoßen war. Es war geradezu, als ob all diese Jahre, die jeweils so ergebnisreich geschienen hatten, nur dazu gedient hätten, zu dem Augenblick hinzuführen, in dem der Kerl da, der Schauspieler, auf der Straße gestutzt und zu ihm gesagt hatte: »Hallo, Simon!«

»Ach, Verzeihung!«, hatte er dann allerdings gleich hinzugefügt. »Ich hielt Sie für einen Freund von …« Und dann war er stehen geblieben und hatte ihn angestarrt.

»Wünschen Sie etwas von mir?«, hatte der Jüngling schließlich gefragt, da der andere keine Miene machte, weiterzugehen.

»Ja. Kommen Sie, essen Sie mit mir zu Mittag!«

»Warum?«

»Na, es ist doch Mittag, und hinter Ihnen ist gerade meine Stammkneipe.«

»Aber warum gerade ich?«

»Weil Sie mich interessieren. Sie sehen einem Bekannten von mir so ähnlich. Übrigens: Loding ist mein Name, Alec Loding. Ich spiele eine schlechte Rolle in einer schlechten Posse in dem schlechten alten Theater da drüben.« Und er hatte dabei nach der anderen Straßenseite hingenickt. »Doch die Bühnengenossenschaft, Gott segne sie, hat auch für meine Bemühungen einen Mindesttarif angesetzt, sodass ich, wie ich zu meiner Freude sagen darf, eine Gage beziehe, die erheblich besser ist als die Rolle. Würden Sie mir vielleicht Ihren Namen mitteilen?«

»Farrar.«

»Farrell?«

»Nein, Farrar.«

»Aha!« Noch immer hatte er den belustigt-versonnenen Blick in den Augen. »Sind Sie schon seit längerer Zeit wieder in England?«

»Woher wissen Sie, dass ich von England fort war?«

»Das sehe ich an Ihrer Kleidung, mein Junge. Kleider, das gehört zu meinem Beruf. Ich habe mich für zu viele Rollen entsprechend kleiden müssen, um nicht den amerikanischen Schnitt sofort zu erkennen. Selbst wenn er so bewundernswert unauffällig ist, wie ihn Ihr Anzug zeigt.«

»Warum halten Sie mich dann nicht für einen Amerikaner?«

Worauf der Herr ein breites Schmunzeln aufgesetzt hatte. »Ja, das«, sagte er, »das ist jenes ewig geheimnisvolle Etwas, das man ›Engländer‹ nennt. Wenn Sie nach Italien kommen und Sie sehen eine lange Reihe von Mönchen an sich vorbeiziehen, dann fällt Ihr Auge auf einen ganz bestimmten, und Sie rufen aus: ›Ha! Ein Engländer!‹ Und auf einer Landstraße in Wisconsin sehen Sie fünf Stromer, die sich zum Schutz gegen den Regen alte Zementsäcke über den Kopf gezogen haben, und beim fünften denken Sie: ›Ach, du lieber Gott, der Kerl da ist Engländer.‹ Sie sehen zehn Mann bis auf die Haut nackt vorm Regimentsarzt der Fremdenlegion zur Untersuchung stehen und sagen: … Na ja, kommen Sie mit zum Essen, dann können wir das Thema beliebig weiterspinnen.«

Sie waren also zum Mittagessen gegangen, der Mann hatte immerzu geredet und sich reizend benommen. Doch stets hatte in den lebhaften, etwas vorquellenden Augen der zugleich belustigte und forschende, geradezu ungläubige Blick gelegen. Dieser Blick war beredter als all das, was der Mann dann vorgebracht hatte. Er, Brat Farrar, er musste tatsächlich jenem andern jungen Menschen außerordentlich ähnlich sehen, um diesen Blick ungläubig staunender Belustigung bei jemandem hervorzurufen.

Nun lag er da auf dem Bett und dachte darüber nach. Er hatte großes Verlangen, diesen Zwillingsbruder zu sehen, diesen jungen Ashby. Ashby – ein feiner Name, ein guter englischer Name. Auch den Landsitz würde er gern sehen: Latchetts, wo der Zwillingsbruder aufgewachsen war, in der ruhevollen Gewissheit, dass dies sein Platz auf Erden war, während er, Brat Farrar, rund um die Welt getrudelt war, immer unterwegs, ohne irgendwohin zu gehören, heimatlos, vom Waisenhaus an bis zu jenem Augenblick auf einer Londoner Straße.

Das Waisenhaus. Das Waisenhaus war nicht daran schuld, dass er nirgends hingehörte, keine Heimat hatte. Es war ein sehr anständiges Waisenhaus gewesen; es war dort viel freundlicher zugegangen als in manch einer bürgerlichen Heimstatt, die er seitdem erlebt hatte. Die Kinder waren sehr gern da gewesen. Sie hatten geweint, wenn sie es hatten verlassen müssen, und waren später noch oft zum Besuch hingekommen; sie hatten sogar Beiträge gestiftet; sie hatten die Angestellten zu ihren Hochzeiten eingeladen und die Kinder, die sie dann bekamen, der Hausmutter vorgestellt. Es war kein Tag vergangen, an dem nicht einer der früheren Zöglinge mit fröhlichem Lärm ans Hauptportal gepocht hätte. Aber warum hatte er sich dort nicht ähnlich wohlgefühlt?

Weil er ein Findelkind war? War das der Grund? Weil für ihn nie Besuch kam, kein Brief, kein Paket, keine Einladung? Aber man war mit ihm sehr klug verfahren; man hatte bewusst alles getan, um seine Selbstachtung zu fördern. Gerade wegen seiner Eigenschaft als Findelkind hatte man ihn den anderen Kindern vorgezogen, ihm mehr Liebe erwiesen. Er erinnerte sich noch, wie sein Weihnachtsgeschenk von der Hausmutter den Neid der anderen Kinder erregt hatte, deren einziges Geschenk von einer Tante oder einem Onkel eingetroffen war. Die Hausmutter war es gewesen, die ihn auf der Schwelle gefunden und ins Haus geholt und die auch dafür gesorgt hatte, dass ihm zu Ohren kam, wie gut er gekleidet und wie liebevoll überhaupt er behandelt wurde. (In wohlabgewogenen Zeitabständen hatte er dies fünfzehn Jahre lang immer wieder vernommen, aber es hatte ihm nie etwas wie Befriedigung gewährt.) Es war die Hausmutter gewesen, die mithilfe einer Stricknadel und des Telefonbuchs seinen Namen bestimmt hatte. Die Spitze der Stricknadel hatte auf das Wort »Farrell« gezeigt. Der Name hatte der Hausmutter ausnehmend gefallen; umso mehr, als einst, vor langer Zeit bereits, die Stricknadel auf das Wort »Coffin« – Sarg – gedeutet hatte. Nun, sie hatte dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen und später noch einmal, mit besserem Erfolg, das Orakel befragt.

Über seinen Vornamen hatte nie ein Zweifel bestanden, da er am Bartholomäustag auf der Schwelle gefunden worden war. Vom ersten Tag an hatte er nach dem Heiligen geheißen und war »Bart« gerufen worden. Die Verdrehung dieses Namens zu »Brat« – Bengel – lag zu nahe, als dass die älteren Kinder nicht sofort darauf verfallen wären, und so blieb es auch für die Großen dabei, für die Angestellten des Waisenhauses (ein weiterer Versuch der Hausmutter, ihm Zugehörigkeit zu vermitteln?) und dann auch für die Kinder und Lehrer des Gymnasiums.

Die Schule. Wieso hatte Brat auch dort nicht »dazugehört«?

Weil seine Kleidung einen feinen Unterschied aufwies? Sicher nicht. Er war kein empfindliches, wehleidiges Kind gewesen; er hielt sich nur abseits. Weil er kein Schulgeld zahlen musste? Auch das wohl nicht. Die Hälfte seiner Klassenkameraden musste nicht zahlen. Wieso setzte er sich dann in den Kopf, dass die Schule nichts für ihn sei? Und zwar mit einer so unkindlichen Entschiedenheit, dass keines der Gegenargumente der Hausmutter verfing und sie schließlich seinem Wunsch, eine Arbeit anzunehmen, nichts in den Weg legte.

Dass ihm die Arbeit nicht gefiel, daraus machte er keinen Hehl. Die Bürostelle, die er bekam, war in einem fünfzig Meilen entfernten Ort; und da sein Gehalt nicht zur Bezahlung einer üblichen Unterkunft ausreichte, musste er mit dem »Knabenheim« des Orts vorliebnehmen. Erst dort merkte er, wie gut er es im Waisenhaus gehabt hatte. Er hätte wohl die Stelle oder das Heim ausgehalten, nicht aber beides zusammen. Von den beiden Übeln war das Büro das größere. Es war eine bequeme, durchaus nicht anstrengende Stelle, die ihm dabei gewisse, wenn auch ferne Zukunftsaussichten bot; trotzdem war sie für ihn ein Gefängnis. Stets hatte er das Bewusstsein der ungenutzt verrinnenden, der vergeudeten Zeit.

Wie von ungefähr, jedenfalls ganz ohne Vorsatz, hatte er das Büroleben hinter sich gelassen. Tagestour nach Dieppe hatte auf einer am Fenster eines Zeitungsladens angeklebten Annonce gestanden; der Preis des Ausflugs, mit großen roten Zahlen markiert, hatte, bis auf einen Rest von einer halben Krone, just so viel betragen wie seine Ersparnisse. Trotzdem hätte er der Versuchung wohl kaum nachgegeben, wäre nicht die Sache mit Mr Hendrens Begräbnis dazugekommen. Mr Hendren war der »im Ruhestand« lebende frühere Teilhaber des Geschäfts, und am Tag seiner Beerdigung war das Büro »aus Pietät« geschlossen gewesen. So hatte er einen ganzen Werktag frei und außerdem einen Wochenlohn in der Tasche gehabt; diesen und seine Ersparnisse hatte er also angelegt, um einmal »ins Ausland« zu gehen. In Dieppe hatte er sich, ohne dass sein einjähriges Schulfranzösisch dem Vergnügen hinderlich gewesen wäre, großartig amüsiert, aber dortzubleiben, dieser Einfall war ihm erst gekommen, als er sich schon zur Heimfahrt anschicken wollte. Er war schon im Hafen, als der bestürzende Gedanke sich seiner bemächtigte.

War es angeborene Ehrlichkeit, musste er jetzt denken, da er auf die Zimmerdecke in Pimlico starrte, oder seine gute Waisenhauserziehung, dass die unbezahlte Wäscherechnung in dem jetzt einsetzenden Seelenkampf einen so vordringlichen Platz einnahm? Ein junger Mensch ohne Geld und ohne Bett für die Nacht hätte sich wohl gar keine so großen Sorgen darüber zu machen brauchen, wenn er sich um die Bezahlung einer Wäscherechnung von zwei Shilling und drei Pence drückte.

Der Lastwagen, der aus dem Hafen herausrollte, war seine Rettung gewesen. Er hatte seinen Daumen hochgehalten, und der braune, verschwitzte Räuberhauptmann am Steuerrad hatte auf diese internationale Geste hin die Fahrt verlangsamt. Dann war er der neben ihm vorbeifliegenden Wagenwand nachgelaufen, hatte zugepackt, sich angeklammert und war von einem starken Arm hinaufgezogen worden. Und damit lag sein ganzes früheres Leben hinter ihm.

Er hatte sich vorgenommen, in Frankreich zu bleiben und sich dort Arbeit zu suchen. Als es mit der Zeichensprache nicht mehr weitergegangen war und der Dialekt des Chauffeurs sich als unverständlich herausgestellt hatte, ging er auf der langen Fahrt bis Le Hâvre mit sich selbst zurate, wie er sich am besten seinen Unterhalt werde verdienen können. Aufklärung verschaffte ihm sein Nachbar in dem Hâvraiser Bistro. »Junger Freund«, sagte der Mann und schaute ihn dabei mit dem melancholischen Blick eines Spaniels an, »in Frankreich genügt es nicht, dass man ein Mann ist, um arbeiten zu können. Dazu muss man auch Papiere haben.«

»Und wo«, hatte er gefragt, »muss man keine Papiere haben? Ich meine, in welchem Land? Mir ist jedes recht.« Plötzlich wurde er sich der Weite der Welt und seiner Freiheit bewusst.

»Das mag Gott wissen«, hatte der Mann gesagt. »Die Menschheit wird jeden Tag mehr zu einer Schafherde. Gehen Sie zum Hafen hinunter und auf ein Schiff.«

»Was für ein Schiff?«

»Das ist unwesentlich. Haben Sie bei sich zu Hause so ein Spiel wie …« Er machte mit dem Finger die Gebärde des Abzählens.

»Einen Auszählvers? Jaja. Eene – meene – miene – moh!«

»Sehr gut. Gehen Sie zum Hafen und machen Sie ›Eene-meene-miene-moh‹. Und dann gehen Sie auf ›Moh‹, aber passen Sie auf, dass Sie niemand sieht. Auf Schiffen hat man eine Leidenschaft für Papiere, die schon an Besessenheit grenzt.«

»Moh« war die Barfleur; und Papiere hatte er überhaupt keine gebraucht. Denn er war das Himmelsgeschenk, auf das der Schiffskoch der »Barfleur« seit Jahren gewartet hatte.

Ja, die gute, alte Barfleur mit ihrer schmierigen erbsengrün gestrichenen Kombüse, die nach ranzigem Olivenöl roch, und die grauen Sturzseen, die bergehoch über das Deck hinwegfegten, und das immerwährende Wunder, dass das Schiff ohne Schaden durch sie hindurchschlingerte, und der allwöchentliche Rausch des Kochs, der Brat zu seinem unbezahlten Stellvertreter bei den Töpfen machte, und wie er Mundharmonika spielen und lernte die wunderliche Literatur des Vorderkastells kennen. Ja, die gute alte Barfleur!

Als er sie verließ, hatte er allerhand mitgenommen; das Wichtigste davon war ein neuer Name. Als er dem alten Kapitän Bourdet seinen Namen aufgeschrieben hatte, hatte dieser die beiden »l« am Ende für ein »r« gehalten und Farrar eingeschrieben. Und dabei war es geblieben. Farrell hatte aus dem Telefonbuch gestammt; Farrar entstammte dem Irrtum eines alten Seebären. Es war Jacke wie Hose.

Und: Was nun?

Tampico, Talggestank. Der Lademeister hatte gesagt: »Du Englishman? Du wollen Job an Land?«

Er war hingegangen, um sich den »Job« anzusehen. Wahrscheinlich als Tellerwäscher, hatte er angenommen.

Wunderlicher Gedanke, er könne jetzt noch in dem großen, stillen Hause wohnen, mit dem fliesenbelegten Patio, den leuchtenden, duftlosen Blumen und den kahlen dunklen Zimmern mit den wunderschönen Möbeln. Er könne in luxuriöser Umgebung hausen, statt auf einer wackeligen Bettstelle in Pimlico zu liegen. Der alte Mann hatte ihn gerngehabt, hatte ihn adoptieren wollen; aber auch hier hatte er nicht »hingehört«. Es hatte ihm Freude gemacht, zweimal am Tage die englische Zeitung vorzulesen, indes der Alte, den schmalen gelblichen Zeigefinger über die Zeilen seines Zeitungsexemplars führend, mitlas. (»Wenn er kein Englisch versteht, was soll das nützen, wenn man ihm Englisch vorliest?«, hatte er gefragt, als ihm erklärt worden war, was er zu tun habe. Worauf ihm geantwortet worden war, der alte Herr könne Englisch lesen, das habe er aus einem Lehrbuch gelernt, er wisse aber nicht, wie es ausgesprochen würde, und wolle es daher von einem Engländer gesprochen hören.)

Nein, das war nichts für ihn gewesen. Es war ihm vorgekommen, als lebe er zwischen Filmkulissen.

So hatte er es aufgegeben und war als Koch mit einer Botaniker-Expedition gegangen. Als er sein Bündel schnürte, hatte der Haushofmeister des Alten tröstend zu ihm gesagt: »Ist schon besser, dass du gehst. Wenn du bleibst, bringt dich seine Frau noch um.«

Es war das erste Wort, das er von einer Frau hörte.