Der falsche Orden - Gerhard Gemke - E-Book

Der falsche Orden E-Book

Gerhard Gemke

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Beschreibung

Eine wunderschöne Erzählung, lesenswert bis zur letzten Seite (Jugendschriftenausschuss Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnen-Verband). Die ehemaligen Breselner Mönche Klumpp, Bankratz, Schorff und Bramsch sitzen schon seit über einem Jahr in einem Augsburger Gefängnis. "Mönche" waren sie auch vorher nur noch zum Schein gewesen. In Wahrheit bemächtigten sie sich des uralten Geheimordens der Knodomarianer. Übers Internet verkaufen nun Bruder Klumpp und die drei anderen "Erleuchtungen" an gutgläubige Zahlungswillige, die sich in immer höhere Stufen des Geheimordens aufgenommen fühlen, wo sie die alten Gesetze des Alemannenkönigs Knodomar kennenlernen. Gesetze, die Klumpp frei erfunden und in einer merkwürdigen Runenschrift aufgeschrieben hat. Lisa Favretti findet eines Tages eine quadratische Tontafel auf dem Breselner Friedhof – mit besagten Runen auf der einen Seite, und einer Windrose mit Westen oben auf der anderen. Lisa benutzt die Schriftzeichen, um ihrer Freundin Jo "geheime" Botschaften zu schicken. Eines Tages findet Paul Ranunkel (der neue Totengräber von Bresel) eine Vase mit seltsamen Zeichen. Schnell gilt die Vase unter Forschern als Sensation, doch die seltsame Schrift kann kein Experte übersetzen. Lisa erkennt endlich den mörderischen Sinn der 13 mal 13 Zeichen – die Drohung, dass von Bresel nur Schutt und Asche übrigbleibt, wenn die vier Mönche nicht vor dem Heiligen Abend auf freien Fuß gesetzt werden. Denn irgendwo unter Bresel tickt eine Bombe! Ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Schließlich versammelt sich ganz Bresel am Heiligin Abend auf den verschneiten Feldern im Osten der Stadt. Wo die Bombe explodiert, und wer sie dorthin geschafft hat, das verraten jetzt nicht mal Carlo und Ede, die von Bürgermeister Radolf Müller-Pfuhr angeheuert worden sind, um … lest selbst.

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Gerhard Gemke

Der falsche Orden

Bresel-Krimi 3

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Grußwort von Bruder Klumpp

Ein Freund, ein guter Freund

Schriftzeichen

Großer Go-hott

Außerirdisch

Fliegentod

Halleluja

Paresis

Knuti

Erbsensuppe

Silbersterne

Breselner Runen

Grüezi

Walli

MäcPommes

Angst geht um

Neptun

Weiiiiihnachtsmann

Karpfen und Bulldogge

Bresel Breakdown

Eis

Suomar

Tharalios

Bomben unter Bresel

Carlos Daumen

Knodomars Gesetz

Serapis

Schnee

Vorbei

Plan B

Enkel auf den Feldern

Ssssssssssst

Anhang

Mehr zu Bresel

Impressum neobooks

Grußwort von Bruder Klumpp

Grußwort von Bruder Klumpp

Erleuchtete!

Ihr, die ihr wandelt auf Knodomars Spuren,

die ihr dereinst zu den Sternen reist,

seid gegrüßt!

Glück ist euch schon heute beschieden. Ihr seid die würdigen Wissenden. Ihr tragt das Erbe der Sieben durch die Fluten der Zeit. Der Sieben Könige der Alemannen, die sich im Jahre 357 westirdischer Zeitrechnung verschworen haben. Gegen Rom, gegen die unerträgliche Besatzung. Für die Freiheit!

Ursicin, Serapio, Ur, Vestralp, Suomar, Hortar und der verehrungswürdige Knodomar.

Die Sieben opferten dem Erhabenen Serapis am Altar der Mitte und schrieben seine Ewigen Gesetze auf den Schwarzen Würfel. Diese Gesetze werden seit Generationen weitergereicht. Von den Großmeistern an die Erleuchteten.

An euch!

Der fünfzackige Silberstern soll euer Zeichen sein. Klebt ihn an eure Ostfenster und sie werden erkennen, dass ihr zu den Auserwählten gehört, wenn sie dereinst wiederkommen, um mit euch zu den Sternen zu reisen.

Zu Knodomar!

Für nur 1000 Euro tretet nun ein in den Ersten Kreis der Erleuchtung. Eine neue, wunderbare Welt eröffnet sich den Suchenden. Schreitet weiter zum Zweiten Kreis. Erlebt die höchste Erfüllung im Innersten Kreis, wo euch Knodomars Gesetze erwarten, niedergeschrieben in den uralten, magischen Schriftzeichen der Sieben!

Macht euch auf. Noch heute!

Besucht uns auf knodomar.de. Dort findet ihr auch die Kontonummer.

Ein Freund, ein guter Freund

„Ein Freund, ein guter Freund,

das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt.

Ein Freund bleibt immer Freund,

und wenn die ganze Welt zusammenfällt.

Drum sei doch nicht betrübt,

wenn dein Schatz dich nicht mehr liebt.

Ein Freund, ein guter Freund,

das ist das Schönste, was es gibt.“

Carlo sang wie ein junger Gott. Es war schrecklich. Die ersten Gäste winkten bereits dem Kellner.

„Die Rechnung bitte!“

„Sonniger Tag! Wonniger Tag!

Klopfendes Herz und der Motor ein Schlag!

Lachendes Ziel! Lachender Start

und eine herrliche Fahrt!

Rom und Sankt Veit waren nicht weit.

So ging das Leben im Taumel zu zweit!

Über das Meer, über das Land

haben wir eines erkannt:

Ein Froooind, ein guter Froooind,

das ist das Sch…“

Der schwitzende kleine Kellner presste dem Sänger mit letzter Verzweiflung die Hand vor den Mund. Carlo würgte und prustete. Gnädig lockerte der Kellner seinen Griff – und bereute es auf der Stelle.

„…önste, was es gibt auf der Welt.

Ein Frooo…“

Carlo glaubte, ersticken zu müssen, so fest drückte der Kerl ihm Mund und Nase zu. Carlos Kugelbauch bebte, seine kurzen Arme ruderten durch die Oktoberluft. Neben ihm spielte der lange Ede ungerührt weiter die Ukulele und versuchte mit dem linken Fuß einen verbeulten Hut näher zum ersten Tisch zu schieben.

Das kleine Straßencafé, das die beiden Musikanten mit ihrem Auftritt beehrten, leerte sich innerhalb von Minuten. Eine korpulente Dame schob ihre heulenden Blagen, so schnell sie konnte, vorbei.

„Du hast es versprochen. Ein Eis!“, greinten die zwei wie aus einem Munde. Auch sonst glichen sie sich wie eine Heulboje der anderen.

„Kurt und Knut!“, schimpfte die Korpulente. „Nur wenn ihr brav seid!“ Was offensichtlich nicht der Fall war. „Wenn ihr weiter so ein Theater macht, fahren wir nicht zur Burg Knittelstein. Dann fahren wir überhaupt nicht nach Bresel. Nirgendwohin. Verstanden?“

Das Gezeter entfernte sich. Was blieb, war Carlos Schnaufen. Und das blanke Entsetzen in seinem Gesicht. Bresel. Allein der Klang dieses Namens verursachte ihm Schweißausbrüche. Schlimmere, als es der Würgegriff des Kellners vermochte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass es seinem langen Kumpel nicht viel besser ging.

Der kleine Kellner schüttelte Carlos Kopf wie einen Milchshake. Nein, sie waren nicht in Bresel, sie standen vor einem Café in Augsburg, mindestens dreißig Kilometer von Bresel entfernt. Gott sei Dank!

„Du wirst nicht mehr singen! Versprich es!“

Carlo blickte dem Kellner in die Augen. Der meinte es ernst. Bitterernst. Carlo nickte mit hervorquellenden Pupillen. Vorsichtig löste der livrierte Kerl die Hand von Carlos Nase.

Der Sänger japste nach Luft. „Willst du mich umbringen?“

Statt einer Antwort bekam das Gesicht des Kellners einen hasserfüllten Ausdruck. Carlo schluckte. Ede hatte endlich aufgehört zu spielen. Er bückte sich nach dem Hut. Der war genauso voll wie immer. Ede klopfte den Staub von der Krempe und setzte ihn auf sein Raubvogelgesicht.

„Lass ihn!“, knurrte er, ohne den Kellner eines Blickes zu würdigen.

„Wenn ihr noch mal hier auftaucht“, fauchte der Kerl und wischte seine Hände an der Schürze ab, als hätte er etwas Ekliges angefasst.

„Was dann?“, fragte Ede ohne Interesse. Er hängte sich die Ukulele über die linke Schulter. „Komm!“

Carlo nickte und trottete hinter dem Langen her.

„Dann, dann …“, hallte es ihnen aus der Cafétür hinterher.

Carlo hatte noch den Geschmack der verschwitzten Kellnerhände auf den Lippen. Und Hunger. Großen Hunger. Vor ihm trabten Edes zerschlissene Schuhe durch das Herbstlaub. Ein kalter Wind wehte durch die Baumkronen. Carlo sah wehmütig einem Ahornblatt bei seinem letzten Flug zu. Er konnte nur zu gut verstehen, wie es sich fühlte. Leise sang er:

„Ein Freund, ein guter …“

„Schnauze“, knurrte Ede und verlangsamte seine Schritte.

„Ja, Ede“, flüsterte Carlo und blieb dicht hinter der Bohnenstange stehen.

Ein riesiges Eisentor versperrte ihnen den Weg. Dahinter befand sich ein viereckiger Hof. Der Wind trieb trockene Blätter über den löchrigen Asphalt. Müsste mal gefegt werden, dachte Carlo. Zwei Besen standen in der Ecke. Carlo blinzelte. Hatten sie genickt?

Ede hob den Kopf. Carlo auch.

Justizvollzugsanstalt stand in schmiedeeisernen Buchstaben über dem Tor.

Ede kam Carlos Frage zuvor. „Ein Knast.“

Carlo erschauderte.

„Zwo, drei“, sagte Ede und hieb seine Fingernägel über die Saiten der Ukulele.

Carlo holte tief Luft. „Ein Froooind, ein guter Froooind …“

Nach einer endlosen Viertelstunde hatte das Geschrei aufgehört: „Ein Freund, ein guter Freund!“

Ein paar verirrte Strahlen der Abendsonne fanden ein Loch in der Wolkendecke. Sie fielen durch die Gitterstäbe auf Bruder Klumpps knochiges Gesicht und färbten es rötlich, was aber auch an seinem erhöhten Blutdruck liegen konnte. Langsam verzog sich sein Gesicht zu einer hässlichen Grimasse. Vor seinem Bauch surrte die Töpferscheibe; das einzige Geräusch in der engen Zelle. Eine halb fertige Vase drehte sich in Klumpps lehmverschmierten Händen.

Jetzt stellten sie also schon Sänger vors Gefängnis. Vermutlich als strafverschärfende Maßnahme. Klumpps Hände legten sich um den Hals der Vase. Sein Blick folgte dem trüben Licht durch die Gitterstäbe bis in den längst wieder lückenlos grauen Himmel.

Nicht mehr lange, dachte er. Nicht mehr lange, dann sind wir draußen. Ich und Bankratz und Bramsch. Klumpp fischte nach einem Zahnstocher und steckte ihn zwischen die gelben Zähne. Seit er das Rauchen aufgegeben hatte, kaute er diese hölzernen Stäbchen.

Ich, Bankratz und Bramsch, wiederholte er. Vielleicht auch Bruder Schorff. Vielleicht. Wieder wanderte ein Grinsen durch sein Gebiss. Unermüdlich wurde der Holzsplitter damit zermalmt.

Der Wärter, dieser walrossbärtige Trottel, würde mitspielen. Ganz sicher. Warum? Nun, Klumpp kannte den Grund. Und wenn er nicht mitspielte … Langsam schlossen sich Klumpps Finger um den Vasenhals. Fester. Noch fester. Der Kopf der Vase klatschte auf den Rand der Töpferscheibe. Spritzer von nassem Ton wurden in den Raum geschleudert.

Bruder Klumpp lachte.

„Sie kommen wegen der Stellenanzeige?“ Der Walrossbart hinter der Scheibe des Pförtnerhäuschens bewegte sich beim Sprechen kaum einen Millimeter. Er saß unter der geröteten Nase des Gefängniswärters, der misstrauisch aus seiner Kabine heraus die beiden Gestalten musterte. Den kleinen Kugelförmigen, auf dessen Rücken sich ein Rucksack wölbte. Wie beim Nikolaus. Und den baumlangen Lulatsch daneben, der seinen Hut tief in die Stirn gezogen hatte. Über seiner linken Schulter hing so etwas wie eine Schrumpfgitarre. Er starrte am Pförtner vorbei auf das Gefängnisdach. Eine zerzauste Elster saß dort und starrte zurück.

„Wegen der Stellenanzeige?“, fragte der Walrossbart noch einmal.

Der Nikolaus sah ihn mit unruhigen Äuglein an. „Wir können singen“, wisperte er. „Soll ich mal …“

„Schnauze“, knurrte der Lange, ohne den Blick von der Elster abzuwenden. Ede war, als würde er sie kennen. „Genau. Wegen der Stellenanzeige.“

„Aber Ede …“

Ein einziger Blick genügte und Carlo verstummte.

„Aha“, sagte der Pförtner. Etwas sparsam, die Vögel. „Der letzte Koch hat’s nicht lange ausgehalten. Hier bei uns. Was können Sie denn? Kartoffeln, Reis, Nudeln?“

Edes Augen richteten sich auf den Walrossbart. Sie wurden feucht. Dann holte Ede tief Luft.

„Kalbssteak unter der Steinpilzkruste an Cognacrahmsoße mit Kartoffelgalettes und Trüffelsauercreme serviert mit glasierten Karotten und gegrilltem Wolfsbarschfilet, begleitet von geräucherter Entenbrust an Orangenhonigsoße mit Fingermöhren und Gärtnerinsalat zur Gänsestopfleber und bretonischer Trüffel neben Zuckermaispüree und glaciertem Kaviar an Weinbergschnecken auf jungem Atlantik-Steinbutt umrahmt von Honig-Lavendel-Krokant über Currymayonnaise auf Avocadotörtchen unter karamellisiertem Ochsenschwanz und bayerischen Flusskrebsen zu grünen Spargelspitzen und Erbsenminzpüree!“

Dem Pförtner standen Augen und Mund weit offen. Wie hätte er auch wissen sollen, dass Ede all die Speisekarten der Restaurants, in denen sie einen Auftritt gewagt hatten, auswendig gelernt hatte. Vor lauter Hunger.

„Na wenn das so ist“, nuschelte es unter dem Walrossbart – da hatte Ede erneut seine Lungen gefüllt.

„Geschmortes Bandscheibenragout vom Weiderind mit warmem Artischockensalat und Kapernsardellentapenade in einer Sinfonie von eingelegten Kaiserstühler Kirschen und geröstetem Buttermilch-Dessert auf …“

„Haaalt!“, schrie das Walross und kletterte ächzend aus seiner Kabine. Umständlich schloss er das Eisentor auf und bat das ungleiche Paar herein.

Auf dem Hof standen noch immer die zwei Besen. Eigentlich hatten die beiden Wanderer nur nach einer leichten Arbeit fragen wollen. Zum Beispiel den Hof fegen. Für einen Teller Suppe und eine Mütze voll Schlaf auf einer richtigen Matratze. Die Nächte im Wald wurden täglich kälter. Und wenn es demnächst noch zu schneien begann … die Besen nickten verständnisvoll. Über ihnen blickten fünf Reihen vergitterter Fenster auf den Hof hinunter. Carlo war, als starrten sie ihn alle an. Und sein Magen fühlte sich, als drehe sich dort eine Schweinshaxe nach Müllerinart oder wie das Zeug hieß, von dem Ede gerade dem Pförtner vorgeschwärmt hatte.

„Und sagen Sie …“ Der Walrossbart hüpfte mittlerweile voll kindlicher Freude. „… das Hirschfilet begleiten Sie mit mariniertem Steinpilzsalat?“

Carlo sah Ede heftig nicken. Carlo nickte ebenfalls.

„Sehr gut, sehr gut.“ Der Wärter leckte sich genüsslich die Lippen. Er öffnete die Tür zu einem Nebengebäude. Der Flur war schlecht beleuchtet und noch schlechter belüftet. Es roch nach ranzigem Fett und Kohlsuppe, was Ede nicht eine Sekunde aus seiner Hochform brachte. Er plauderte, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, über Cannelloni an braisiertem Chicorée mit Crostini und eingelegter Pattaya-Mango. Vermutlich hatten weder der Wärter noch Ede jemals in ihrem Leben so etwas gesehen. Geschweige denn gegessen. Die Ukulele auf Edes Rücken machte dazu bei jedem Schritt ein leises Pling.

Carlo trabte hinter ihnen her. Seinem Magen war es schnurzpiepe, was braisierter Chicorée sein mochte. Und was das um alles in der Welt mit ihm und Ede zu tun hatte. Und was sie in diesem muffigen Flur wollten. Mit den schwer gesicherten grau lackierten Türen. Und diesem schmuddeligen Schaukasten, in dem ein noch schmuddeligerer Zeitungsartikel hing, offensichtlich schon seit längerer Zeit.

Köche gesucht lautete die Überschrift.

Ach so. Zumindest Carlos immer verzweifelter knurrendem Magen gefiel die Antwort.

Eine halbe Stunde später standen die beiden frischgebackenen Küchenchefs zwischen Töpfen und Pfannen, Tiegeln, Tellern und Tassen. Und waren einigermaßen ratlos.

„Und jetzt?“, wagte Carlo zu fragen.

Ede antwortete nicht. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, wanderte er von Schrank zu Schrank. Ein paarmal grunzte er anscheinend zufrieden, dann stöhnte er so schrecklich, dass Carlo begann sich Sorgen zu machen. Walross hatte sie mit einem seligen Lächeln verlassen und gesagt, sie sollten doch bitte gleich das Abendessen bereiten. Für fünfzig Häftlinge und zehn Mann Personal – und für die beiden Vorkoster. Dabei hatte Walross sie augenzwinkernd angegrinst. Wenn die Vorkoster es überlebten, hatte er noch hinzugefügt, bekämen auch alle anderen was. Carlo hatte nur genickt. Er war sich sicher, dass ihm heute alles schmecken würde. Selbst kalter Reis mit Ketchup.

Ede hatte seinen Rundgang beendet. Er hängte die Ukulele an einen Fleischerhaken, schnappte sich einen riesigen Topf und drückte ihn Carlo vor den Bauch.

„Vollmachen“, knurrte er.

Carlo nickte und hievte den Bottich in ein badewannengroßes Waschbecken.

„Was gibt’s denn?“

Spritzend plätscherte der Wasserstrahl in den Topf.

„Risotto alla tomato“, brummte Ede.

Carlo sah ihn mit großen Augen an.

Wie so oft hatte Ede das Gefühl, sämtliche Fragen, die Carlo in diesem Leben noch stellen würde, bereits zu kennen. „Reis mit Ketchup.“

Klumpp hatte den Zellenboden und sich selbst halbwegs von den Lehmspritzern befreit. Ächzend setzte er sich auf den Drehhocker und angelte nach einem neuen Zahnstocher. Neben ihm sackte der Rest der erwürgten Vase auf der Töpferscheibe zusammen. Klumpp starrte auf die graue Masse. Wenn er eins hasste, dann Töpfern. Mit jedem Tag mehr. Mit jedem Tag in diesem elenden Knast. Und wer war schuld daran, dass sie hier hockten, töpferten und dünne Suppe zu löffeln bekamen? An der dünnen Suppe zumindest der alte Koch. Er war schließlich auf Klumpps Drängen entlassen worden. Hoffentlich fand man bald einen neuen. Einen besseren! Klumpps Augen suchten wieder den inzwischen schwarzen Himmel hinter den Gitterstäben. Und seine Gedanken wanderten um ein gutes Jahr zurück.

Mönche waren sie gewesen. Im Kloster Sankt Florian, mitten in Bresel. In Bresel, diesem elenden Kaff. Klumpp lachte lautlos. Sicher, Abt Florestan war gestorben. Ertrunken, nun ja. Aber hatte man ihnen etwas nachweisen können? Und auch Todd war tot. Todd Emmerich, der Totengräber von Bresel und der letzte Großmeister der Knodomarianer. Auch bei dem alten Knacker hatte man ihnen nichts wirklich beweisen können. Gar nichts! Indizien, hatte es geheißen, die Indizien hätten ausgereicht, um sie lebenslänglich hinter Schloss und Riegel zu sperren. Ihn, Bankratz und Bramsch. Und Schorff, um den es ihm nicht leidtat. Klumpp bleckte die gelben Zähne. Fast sah es so aus, als wollte er wieder lachen, aber kein Laut drang aus seiner Kehle.

Ja, Todd Emmerich und die Knodomarianer! Die waren ihr Glück und ihr Unglück gewesen. Klumpp spuckte den Zahnstocher in die Vasenreste. Geheimbund und so. Mit den sogenannten drei Kreisen der Erleuchtung. Wenn man die betrat, durfte man sich Erleuchteter des ersten Kreises nennen. Oder des zweiten oder … schon klar. Und sich für was Besonderes halten. Für auserwählt und so. Man bekam auch diese bescheuerten Gesetze zu lesen: Knodomars Gesetze. In dieser bescheuerten Schrift. Wie hatte sie Todd genannt? – Breselner Runen! Klumpp drückte mit einem neuen Zahnstocher ein paar Striche und Häkchen in den Tonmatsch.

Der alte Todd war der letzte Großmeister von diesem Hokuspokus gewesen, wie gesagt. Und er hatte die Sache richtig ernst genommen. Die Welt durch Knodomars Gesetze zu einem glücklicheren Ort machen, das wollte er, und was solchen Leuten noch alles einfiel. Und alles vollkommen gratis! Dummerweise wollte die Welt nicht so wie Todd. Er war alt und gebrechlich geworden und ein Nachfolger war weit und breit nicht in Sicht. So hatte er sich in seiner Verzweiflung eines Tages an einen der Florian-Mönche gewandt. An Bruder Klumpp. Genau an den Richtigen!

Klumpp erhob sich mühsam. Er hatte es vom endlosen Töpfern im Kreuz. Verflucht! Er schlurfte hinüber zu einem Eimer. Eine dreckige, stinkende Brühe befand sich darin. Klumpp zog eine Vase daraus hervor. Spritzend klatschte die Jauche zurück in den Eimer. Schmutzige Schlieren hafteten in den Rillen auf der Außenwand der Vase.

Todd hatte ihn damals zu seinem Nachfolger erwählt, zum neuen Großmeister der Knodomarianer, hatte ihn in alle Feinheiten des Knodomar-Ordens eingeweiht. In seine Gesetze, seine Schrift, das volle Programm. Vor … das mochten jetzt drei Jahre her sein. Und Bankratz und Bramsch zu seinen Stellvertretern ernannt. Bankratz und Bramsch, die jetzt in den Nachbarzellen hockten und auf Klumpps Ideen hofften.

Als Klumpp damals zusagte, hatte er schon längst andere Pläne. Warum, um Himmels willen, sollte es Erleuchtung zum Nulltarif sein? Wer nahm etwas ernst, das es umsonst gab? Nein, man musste die Sache ganz anders anpacken. Klumpp richtete eine entsprechende Seite in diesem praktischen Ding ein, das man das World Wide Web nannte. Knodomar.de, wie originell. Und siehe da, es waren viele, massenhaft – Klumpp grinste –, die bereit waren, für diesen Schmu zu bezahlen. Einen Tausender hier, einen dort. Und sie durften sich Erleuchtete nennen, durften den nächsten Kreis betreten und die bescheuerten Gesetze des Knodomar in dieser bescheuerten Schrift lesen.

Klumpp betrachtete noch immer versonnen die Vase. Wer es nicht besser wusste, konnte ihr Alter leicht auf viele hundert Jahre schätzen. Entstehungsdatum: etwa Knodomars Zeit. Falls es diesen Kerl überhaupt je gegeben hatte. Todd hatte es immer steif und fest behauptet. Der arme Trottel! Und wie war er wütend geworden, als er von Klumpps Geschäftsidee Wind bekam. Wie hatte der alte Totengräber getobt. Doch sein Fehler war nicht, dass er mit der Polizei gedroht hatte. Was Klumpp und die anderen taten, war ja nicht strafbar. Die Leute glaubten eben dran und zahlten dafür, kein Problem! Nein, Todds tödlicher Fehler war, dass er an die Öffentlichkeit hatte gehen wollen. Dass er die Gesetze des Knodomar der Allgemeinheit hatte zugänglich machen wollen. Wer würde dann noch dafür zahlen? Tja, kurz darauf verstarb Todd, verabschiedete sich sozusagen zu Knodomar. Und sie hatten endlich freie Hand: Klumpp, Bankratz und Bramsch. Und später auch Schorff, weil er ihnen auf die Schliche gekommen war. Nun gut, es reichte auch für vier. Längst.

Mittlerweile landeten täglich Hunderte auf dieser Internetseite. Je geheimnisvolleres Zeug Klumpp dort reinschrieb, desto mehr Besucher meldeten sich an. Je größer der Kuhfladen, desto mehr Fliegen schwirren um ihn herum. Altes Breselner Sprichwort. Klumpp grinste. Und eines von Knodomars Gesetzen.

Dass sie mittlerweile im Knast saßen, änderte kaum etwas an ihrer geschäftlichen Tätigkeit. Auf die Internetseite hatte Klumpp weiterhin Zugriff, dank dieses erleuchteten Wärters. Dem Riesenwalross. Und wenn nur einer von den täglichen Hundert anbiss … die Rechnung war nicht schwer. Hatten sie dann erst mal angefangen, wollten die meisten nicht mehr aufhören. Wollten bis zu den letzten Geheimnissen vordringen. Plus der Erlaubnis, dann selbst seine Mitmenschen erleuchten zu dürfen. Sprich: abzukassieren.

Nur ein Schönheitsfehler trübte doch das Bild. Dank dieses vermaledeiten Breselner Kommissars und der Augsburger Gerichte saßen sie nun in diesem Bau. Alle vier, wenn man Schorff dazurechnete. Und sahen den weiten Himmel nur noch durch Gitterstäbe.

Aber nicht mehr lange, das hatte Klumpp sich geschworen. Und er hatte schon so einiges in die Wege geleitet. Dazu gehörte auch diese Vase. Er drehte sie in seinen Händen. Sie sah wirklich echt aus, echt alt. Zumindest älter als zwei Tage. Klumpp hatte wahllos ein paar Kringel eingeritzt. Keine dieser Runen, nur irgendwas. Die Leute waren trotzdem ganz verrückt danach.

Und dazu gehörte auch der Wärter, dieser Trottel. Gleich würde er kommen und eine der Vasen abholen. Wie jeden Mittwoch. Dann verkaufte er sie auf einem dieser Antikmärkte. Auch das gehörte zu Klumpps Plan, an dessen Ende nichts weniger als die vollständige Zerstörung Bresels stand.

Und wie hatte schon Einstein, der große Mathematiker, gesagt: Zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher. Klumpp lachte meckernd. Aber bei der Dummheit, da war sich Klumpp ganz sicher! Sorgfältig legte er die tropfende Vase zurück in das Schlammbett neben die sich allmählich auflösenden Schriftzeichen.

Auf dem Regalbrett darüber standen zwei bereits getrocknete Exemplare. Bald würden ein paar Dummköpfe für die echt alemannischen Runenvasen ein Heidengeld ausgeben. Einstein hatte ja so recht!

Da klopfte es. Klumpp wischte hastig die Zeichen weg. Der, der jetzt eintreten würde, war zwar ein Erleuchteter, aber erstdes zweiten Kreises. Er hatte noch nicht genug gezahlt, um die Schrift kennenzulernen.

Klumpp nahm die zwei getrockneten Vasen. Von irgendwoher glaubte er wieder diesen Gesang zu hören. Diese Mischung aus Schreien und Schluchzen. Klumpps Hände verkrampften sich. Draußen wurde der Schlüssel im Schloss gedreht und die Tür aufgeschoben. Im Türrahmen stand der Erleuchtete des zweiten Kreises. Sein Walrossbart zitterte.

„Verkauf sie nicht zu billig“, knurrte Klumpp.

Der Wärter nickte.

„Und halbe-halbe!“

Wieder ein Nicken.

„Wer schreit da so?“

„Die neuen Köche.“

„Kochen die, wie sie singen?“

Der Wärter verbeugte sich, bis sein Schnauzbart fast Klumpps Füße abwischte. „Hoffentlich nicht“, flüsterte er.

„Ich habe einen Spezialauftrag für dich“, sagte Klumpp.

Langsam richtete sich der Wärter wieder auf. „Einen Spezialauftrag?“

Klumpp nickte ungeduldig. „Weißt du, wo Bresel liegt?“

Schriftzeichen

31 Kilometer südwestlich. Bresel. Spätnachmittag.

Paul Ranunkel hatte sich längst an alles gewöhnt. An wirklich alles. An seinen Namen. An das Runkel-Geschrei der Breselner Gören. An seine Nase, die der Grund dafür war. Und an seine Arbeit, an die ganz besonders.

Paul Ranunkel war der neue Totengräber von Bresel. Seit Todd Emmerichs Tod, um genau zu sein. Seit Paul den alten Todd gefunden hatte, damals, auf den Altarstufen der Friedhofskapelle. Vor anderthalb Jahren. Als es noch ein Kloster in Bresel gegeben hatte, mit richtigen Mönchen drin. Jetzt war es umgebaut worden zu einem Event-Center, was auch immer das war. Und als noch die alte Baronin Burg Knittelstein regierte. Hoch auf dem Breselberg. Paul nickte. Und der Bürgermeister von Bresel noch nicht Radolf Müller-Pfuhr hieß.

Brummend stieg Paul die Stufen vor der Kapelle hinab. Es war schon lange niemand mehr gestorben in Bresel. Schon zu lange. Wahrscheinlich war also bald wieder einer dran. Aber einen wie Paul konnte man mit so was nicht überraschen. Längst hatte er ein Grab vorbereitet und ein zweites in Arbeit. Paul schulterte den Spaten und machte sich auf den Weg. An der Ruhestätte der Baronin vorbei.

Tusnelda von Knittelstein-Breselberg

1959 – 2008

Kürzlich hatte der Baron – wie hieß der noch gleich? Eduard! – eine neue geheiratet. Paul hatte den Namen vergessen. Pauls Gedächtnis war so löchrig wie seine Socken.

Schnaufend stieg Paul die Leiter in das halb fertige Grab hinab. Also dann. In hohem Bogen flog die erste Ladung Erde durch die Oktoberluft und landete auf einem stetig wachsenden Hügel. Die Erdklumpen zerbarsten beim Aufprall in lauter Brocken, die Lisa vor die Füße kullerten. Ein Brocken war fast quadratisch und sah nicht aus wie ein Brocken. Lisa bückte sich und hob ihn auf.

Lisa war auf der Burg gewesen. Bei ihrer Freundin Josephine von Knittelstein-Breselberg. Also bei Jo. Sie hatten Mathe gelernt, denn die 7 b des Adalbertinums schrieb am kommenden Montag einen Test. Jetzt war Lisa auf dem Heimweg zur Eisdiele Favretti, der besten weit und breit. Und der kürzeste Weg führte nun mal quer über den Friedhof.

„Hallo Paul“, sagte Lisa und wich einer neuen Ladung Erde aus.

„Pass doch auf!“, brummte Paul. Sein knallroter Kopf ragte gerade noch aus dem Loch.

„Selber!“, rief Lisa und streckte ihm die Zunge raus. Wenn Paul ihr so kam, zeigte sie ihm auch nicht das quadratische Ding. Im Weitergehen kratze sie etwas Erde davon ab. Es hatte eine raue Oberfläche. Auf beiden Seiten. Rillen, dachte Lisa. Ein Muster, vielleicht eine alte Fliese. Ließ sich zumindest noch als Blumentopfuntersetzer verwenden.

Lisa verließ das Friedhofsgelände und trabte an den Fischteichen entlang. Noch zwei Monate und man konnte darauf wieder Schlittschuh laufen. Die Oktobersonne war schon fast hinter der Breselbergspitze verschwunden. Lisa hielt die Scherbe in die letzten müden Strahlen – und blieb wie festgenagelt stehen. Deutlich war darauf eine Windrose zu erkennen. Ohne Zögern drehte Lisa den West-Pfeil nach oben, wie alle Breselner. Seit Jahrhunderten.

Bresel war die einzige Stadt auf dem Erdkreis, in der Westen oben lag. Vermutlich weil man die Welt mit Blick Richtung Burg betrachtete und dann lag Westen eben oben. Und genauso hatte man die Stadtpläne gezeichnet. Zumindest die alten. Bei einigen neuen war Norden nach oben gelegt worden wie sonst auch überall auf dem Globus. Seitdem konnte man regelmäßig Breselner beobachten, die sich in der eigenen Stadt verliefen oder die Stadtpläne einfach um 90 Grad drehten, damit Westen wieder dort lag, wo sie es gewohnt waren.

Inzwischen hatte Lisa die Lehmreste von der Rückseite gekratzt. Auch hier eingeritzte Linien.

Zwei Stunden später saß das Mädchen in ihrem Zimmer. Lisas Zeichentalent war berühmt und so hatte sie nicht lange gebraucht, um die Rückseite Strich für Strich auf ein Blatt Papier zu übertragen. So gut sie zu entziffern gewesen war. Eine Art Stern. Mit drei Lücken und sechsundzwanzig komischen Dingern. Sechsundzwanzig – ja, was? Kreuze, Schleifen, Häkchen, Kringel. Und keins war doppelt. Wie … wie bei einem Alphabet. Lisa nahm ein neues Blatt und schrieb die Zeichen unter die bekannten Buchstaben.

Sie schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit. Unten rief Mama Favretti zum Abendessen. Undeutlich konnte Lisa noch die Umrisse ihrer alten Grundschule erkennen. Mittlerweile ging sie aufs Adalbertinum in Bresel-Neustadt. Und der Direktor vom Adalbertinum war gleichzeitig der ehrenamtliche Vorsitzende des HMB, des Historischen Museums Bresel: Clemens Zuffhausen. Würde den die kleine quadratische Scherbe interessieren? Vielleicht.

Aber ganz bestimmt interessierte sie Jo. Und Jan und Freddie, aber Jungs müssen ja nicht alles wissen.

Was werden die zwei verzweifeln, wenn ich Jo am Montag Briefe schreibe, dachte Lisa. In der seltsamen Geheimschrift.

„Lisa!“

Mama Favretti! Und es klang nicht mehr allzu geduldig.

„Ich komme ja schon!“

Montag, 5. Oktober. Adalbertinum

Lisa ließ den Zettel sinken, auf dem die Nachricht in ihrer neuen Schrift stand, und schaute mitfühlend nach schräg rechts vorn. Dort saß Jo und nickte mit sorgenvollem Gesicht zurück. Kurt und Knut, ihre Cousins aus Augsburg, hatten sich angedroht. Die Kukies. Zwillinge. Doppelter Krauskopf, doppeltes Grinsen, doppelte Sprüche. Alles in allem: doppelt nervig. Kurz und Gut nannte sie Jo. Manchmal auch Kurz und Schlecht. Und eigentlich waren sie gar keine richtigen Cousins. Jos Stiefmutter Baronin Tusnelda (die im letzten Jahr verstorben war) hatte eine Schwester in Augsburg gehabt: Adelgunde. Stieftante Adelgunde, konnte man sagen. Und die hatte ihre Kindheit auf Knittelstein verbracht und glaubte daher, ein Besuchsrecht auf Lebenszeit zu haben. Jedenfalls benahm sie sich so. Sehr zum Verdruss von Jos Vater, Baron Eduard, und seiner neuen Frau Elvira. Tja, und in gut zwei Wochen war’s mal wieder so weit. Die Kukies standen vor den Toren.

schrieb Lisa zurück. Äußerst praktisch, diese Geheimschrift. Und praktisch, dass Jo sie ruck, zuck gelernt hatte. Freddie und Jan linsten schon neugierig herüber. Aber alles, was sie erkennen konnten, waren Ketten von unverständlichen Zeichen. Freddie zeigte mit fragenden Augenbrauen auf Lisas Zettel. Lisa machte nur ein verwundertes Gesicht, als könne sie Freddies Interesse gar nicht begreifen. Sollte er sich doch ausmalen, was er wollte. Jungs mussten nicht alles wissen, wie gesagt.

In der großen Pause hielt es Freddie, wie zu erwarten war, nicht mehr aus.

„Okay“, sagte er, „du hast dir ’ne Geheimschrift ausgedacht. Jetzt zeig schon her.“

„Warum?“, fragte Lisa und sah Freddie mit großen Augen an. Und einem kleinen Lächeln. Sie drehte sich um und steuerte auf das Schultor zu, wo Jo wartete.

Jan lachte sich kringelig. Er hatte alles beobachtet.

„Das musst du schon geschickter anfangen“, brachte er zwischen zwei Schluckauf heraus, „wenn du was von Lisa willst.“

„Ich will überhaupt nichts von Lisa“, fauchte Freddie und trabte mit extra langen Schritten davon.

„He, warte doch!“, rief Jan hinterher. „Mensch, Freddie, hab dich nicht so. Wann ist heute Nachmittag Probe?“

Die Probe, die Jan meinte, fand um 15 Uhr statt. Im Keller der Musikschule. Schnürs Enkel, die beste Rockband zwischen Ulm und Augsburg, hatten dort ihr Equipment aufgebaut. Egon am Bass, Ulli der Langhaarige an der Gitarre, Strothkötter blies das Tenorsax und Jenny hinter den Drums. Und Freddie war für die Keyboards zuständig, obwohl er gerade erst dreizehn war und die andern schon vierzehn oder fünfzehn. Strothkötter (niemand wusste, wie er mit Vornamen hieß) war sogar noch älter. Wahrscheinlich. Seine Familie war zugezogen. Aus Ostwestfalen. Manche Breselner hielten das für mutig.

Jan hatte sich nach den Sommerferien in die Feinheiten des Mischpults eingearbeitet und sorgte dafür, dass Egon nicht alles überdröhnte, sosehr der sich auch anstrengte. Einen von der Sorte hatte man ja immer dabei.

Jenny zählte ein und das Gitarren-Intro startete. Eine Eigenkomposition von Ulli. Metal, was sonst. Freddie stieg mit einem schrägen Orgelriff ein und dann wurde es richtig laut. Egon versuchte es eben immer wieder. Jan regelte ihn entnervt fast auf Null.

„Jetzt tust du ihm aber unrecht“, brüllte eine Männerstimme in Jans Rücken.

Jan fuhr erschrocken herum. Er hatte ihn nicht kommen hören. Wie auch. Der lange Rubens Bogdanov grinste von einem Ohr zum anderen. Klavierlehrer an der Musikschule, zum Beispiel auch von Freddie. Er schaute öfter mal rein.

„Bass ist zu wenig. Dafür könnte Jenny etwas runter.“

Jan wurde auf der Stelle rot wie eine Tomate. Hastig nahm er die Korrekturen vor. Freddie zog ihn auch schon damit auf. Jan hätte wohl seine Vorliebe fürs Schlagzeug entdeckt. In der Preisklasse eben. Dabei fand Jan nur, dass Jenny es echt draufhatte. Musikalisch.

„Und auch sonst“, hatte Freddie vor ein paar Tagen lässig ergänzt und die Augenbrauen dabei hochgezogen. Jan hatte kaum gewusst, wo er hinschauen sollte. Und jetzt auch noch Bogdanov. Hauptsache, da kam nicht noch was nach. Letzter Refrain, Jenny trommelte ein Solo in den Schlussakkord, und Zang!

Bogdanovs Mähne nickte begeistert. „Nicht schlecht!“, brüllte er in die plötzliche Stille. „Jungs, kommt mal her.“

Jenny wandte sich auf der Stelle um und war schon halb aus der Tür, als Bogdanov schaltete.

„Und Mädel natürlich“, grinste der lange Lehrer. „Was bin ich unaufmerksam.“

„Männer!“, sagte Jenny und kam betont langsam zurückgeschlendert. Sie stellte sich neben Jan hinters Mischpult und sah Bogdanov auffordernd an. „Was gibt’s denn, was auch ein Mädchen interessieren könnte?“

Bogdanov hielt ihrem Blick stand. „Es betrifft euch alle miteinander“, sagte er. „Leider.“

Zehn Minuten später war die Stimmung auf dem Nullpunkt.

Bresel wurde größer. Wie schön. Bresel hatte einen Einwohnerzuwachs von sieben Prozent zu verzeichnen. Strothkötter grinste, als wäre er allein dafür verantwortlich. Und die Musikschule schätzte sich glücklich, mehr Anfragen zu haben als je zuvor. Und – o Wunder – trotz aller Sparzwänge wurden drei neue Lehrer eingestellt. Na prächtig. Bis auf einen kleinen Schönheitsfehler: Das Kellergeschoss des alten Gemäuers sollte saniert und umgebaut werden. Für weitere Unterrichtsräume. Ab nächster Woche.

„Ja, und wir?“, fragte Blitzmerker Egon.

Bogdanov nickte. „Eben.“

Freddie war wie immer in Sekundenschnelle auf hundertachtzig. „Für ’n Event-Center ist Geld da. Wird ja nächste Woche eröffnet. Mit Erlebnisbad und Spaß-Therme und weiß der Geier.“

„Ist ja auch nicht halb so laut wie wir.“ Ulli der Langhaarige trat gegen Egons Verstärker.

„Pass bloß auf, Junge!“ Bei seinem Verstärker war Egon eigen.

„Ich bin für das Event-Center“, sagte Jenny und nahm eins von Jans Kaugummis. „Gibt doch sonst kein brauchbares Hallenbad in Bresel.“

„Jaja, weil dein Alter da Bademeister ist“, blaffte Ulli.

„Manager“, entgegnete Jenny kühl.

„Ich find den Namen scheiße“, sagte Jan. „Aber das Schwimmbad ist okay.“

„War klar.“ Freddie blickte gelangweilt an Jan vorbei auf Jennys kauende Kiefer.

„Nun macht mal halblang.“ Rubens Bogdanov war aufgestanden. „Das sind wirklich zwei verschiedene Paar Schuhe, das neue Event-Center und die Musikschule. Fest steht, ihr braucht einen anderen Proberaum.“

„Und den gibt’s nicht in den Heiligen Hallen.“ Ulli gähnte. „Weder in diesen hier noch in den neuen.“

„Wann wird denn das Teil eröffnet?“, fragte Egon.

„Samstag“, antwortete Freddie.

Ulli stand auf. „Gehen wir hin?“

„Jungs, macht keinen Quatsch“, warf Bogdanov ein.

„Danke!“, sagte Jenny schnippisch und schlenderte zur Tür. „Das Mädel jedenfalls wird da sein.“

Freddie beobachtete Jan scharf. Jan blickte interessiert auf die Regler seines Mischpults.

Was für ein gutes Team waren sie immer gewesen. Die letzten Jahre. Lisas Augen wanderten von einem zum anderen. Schon in der Grundschule. Und erst recht auf dem Adalbertinum. Und was für eine Freude, als sie alle in einer Klasse landeten. Der 6 b. Letztes Jahr. Hitzkopf Freddie, der schlaksige Jan. Und Jo, die sie in einer finsteren Höhle kennengelernt hatten. Tief im Breselberg. Schnee von gestern. Jetzt waren sie in der 7 b angelangt und alles sollte anders sein? Als ob jeder – Lisa suchte nach einem passenden Ausdruck – seine eigenen Wege einschlug. Wie oft hatten sie früher zusammengesessen, genau wie jetzt, in Favrettis Eisdiele, und hatten eine XXL-Portion gevierteilt. Nachdenklich stopfte Lisa einen Löffel Kiwi-Mango-Eis in den Mund. Freddie schimpfte schon wieder, wie so oft in letzter Zeit. Diesmal über das blöde Event-Center im ehemaligen Florian-Kloster. Und über die noch blödere Musikschule, die den Proberaum gekündigt hatte.

„Eigentlich braucht ihr ein ganzes Haus“, warf Lisa dazwischen, um Freddies Redestrom zu unterbrechen. „Am besten ohne Nachbarn. Da kann eure Band Krach machen, soviel sie will.“

„Krach!“, schnaubte Freddie und verdrehte die Augen.

„Du weißt, wie ich das meine“, sagte Lisa und reagierte nicht auf Freddies Gesten. „Und einem Ausstellungsraum für meine Bilder.“

„Die dann beim ersten Gitarren-Solo von den Wänden fallen“, nervte Freddie.

„Und Jonny braucht Platz für seine Eisenbahn.“ Es war nicht klar, ob Jan das ernst meinte. Jonny war sein kleiner Bruder. Jetzt verdrehte Lisa die Augen. Es war der Wurm drin. Ganz eindeutig. Regen prasselte an die Fensterscheibe. Herbst.

Jo saß schweigend in einen Sessel gekauert. Sie strich sich die langen dunklen Haare aus dem Gesicht und starrte in den Regen. Ihre Blicke trafen sich. Lisa wusste sofort, dass Jo den gleichen Gedanken hatte wie sie.

„Sag du’s“, forderte Lisa sie auf.

Jo zog einen Zettel aus der Hosentasche. Und grinste, endlich. Der zerknitterte Wisch war bedeckt mit seltsamen Zeichen.

„He Jungs. Wollt ihr’s nun wissen oder nicht?“

Großer Go-hott

In Augsburg war auch Herbst.

„Bresel wird in die Luft fliegen!“, murmelte Bruder Klumpp leise. „Vernichtet, ausradiert!“ Er bleckte die Zähne. Ein heiserer Laut verließ seine Kehle, der entfernt an ein Lachen erinnerte. Er nahm die Vase aus dem Eimer und legte sie zum Trocknen unter das vergitterte Fenster. Eine neue Vase mit ein paar krakeligen Zeichen drauf wurde in die stinkende Brühe getaucht.

Wo blieb der Kerl bloß? Der Erleuchtete des zweiten Kreises. Klumpp spuckte in den Sud und schob einen weiteren Zahnstocher zwischen die Zähne. Das Walross!

Klumpp hatte sich beim Hofgang am Morgen mit seinen Mitbrüdern beraten. Mit Bankratz und Bramsch. Nicht mit Schorff. Bankratz und Bramsch waren zuverlässig, waren hart. Schorff nicht. Die beiden waren jetzt in Klumpps Pläne eingeweiht.

Klumpp grinste wieder. Sicher, auch sie waren Dummköpfe. Aber anders als Schorff. Und noch brauchte er sie.

Wo zum Teufel blieb der Kerl?

Ein Schrei zerriss die Stille des Gefängnisses. Gefolgt von einem zweiten. Einem dritten. Begleitet vom heftigen Schlagen einer Gitarre oder so was. Klumpp presste die Handballen auf die Ohren. Das war nicht fair. Sicher, die vier Ex-Mönche saßen wegen Mordes. Trotzdem war Folter verboten. Auch in Augsburg!

„Wenn die schon nicht kochen können, sollen sie wenigstens nicht singen!“, fluchte Klumpp. Dann trommelte er mit beiden Fäusten gegen die Zellentür. Wo blieb der Schnauzbart bloß?

Draußen rasselte ein Schlüsselbund. Jemand brummte ärgerlich. Endlich fand der Wärter den richtigen. Quietschend öffnete sich die Tür.

„O Großmeister der erleuchteten Mitte und Hüter der Gesetze Knodomars!“ Walross buckelte, so tief es seine alten Knochen zuließen. „Ich bringe Eurer Erleuchtung das Abendbrot.“

„Wenn’s nicht wieder so ’ne Pampe ist wie gestern“, knurrte Klumpp. „Tritt ein, Erleuchteter des zweiten Kreises.“

Er betrachtete den Hinterkopf des Wärters. Wie eine Wanze kroch er vor dem Großmeister. Bereit, sich zertreten zu lassen. Aber nicht jetzt. Noch nicht. Klumpp brauchte auch ihn noch.

„Setz dich!“, befahl er.

Walross stellte ein Tablett mit belegten Broten auf den Tisch und ließ sich schnaufend auf einem hölzernen Hocker nieder.

„Hab ich selbst geschmiert“, flüsterte er. „Weil doch gestern dem Großmeister das Abendbrot nicht …“

„Schon gut, danke“, unterbrach ihn Klumpp. Das unterwürfige Getue ging ihm auf die Nerven. Einerseits. Andererseits kam es ihm natürlich gerade recht. „Hör zu!“ Klumpp fischte ein Schnittchen vom Tablett. Lachs mit Mayonnaise – ja doch! Er zog einen gefalteten Zettel aus der Häftlingsjacke. „Hier“, schmatzte er. „Ein paar Bestellungen.“

Der Wärter griff nach dem Zettel. „Ich … ich …“, begann er leise, „ich würde euch ja herauslassen. Aber Ihr wisst, Herr, ich habe keinen Generalschlüssel für …“

„Jaja“, unterbrach ihn Klumpp ungehalten. „Lies! Kannst du das besorgen?“

Walross überflog den Zettel. Mit jeder Zeile wurde er blasser. „Aber … Meister …“

„Kannst du oder kannst du nicht?“ Klumpp kam zentimeterweise näher.

Walross zögerte mit der Antwort.

„Dein nächster Aufstieg wäre der dritte Kreis.“ Klumpps Stimme war nur noch ein beschwörendes Raunen.