Narrseval in Bresel - Gerhard Gemke - E-Book

Narrseval in Bresel E-Book

Gerhard Gemke

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Beschreibung

"Das Jugendbuch ist durchaus geeignet, auch Erwachsene zu unterhalten. Unbedingt empfehlenswert", schrieb Erik Schreiber im "Fantastischen Bücherbrief". Hier kommt ein neues Abenteuer aus Bresel. Fridun borge dir, Frida fuoret den tod! In Bresel ist Narrseval – weiß der Urban warum dieses Fest nur hier so heißt und überall sonst auf der Welt Karneval, Fasching, oder … jedenfalls ist der Marktplatz voll der absonderlichsten Gestalten. Mittendrin "beichtet" eine betagte Ordensschwester einem offensichtlich verkleideten Priester einen Mord … und Lisa, Jan, Freddie und Jo klettern mit anderen Schaulustigen in die Garbkammer unter dem Urbanturm, um beim jährlichen "Sarglüften" von Ritter Kunibalds letzten sieben Knochen, dabei zu sein. Unter dem steinernen Sarg sieht man ein gefliestes Quadrat, das – wie Elfriede Sievers erklärt – das Feld für das alte Knittelsteiner Burgspiel ist. Ein ebensolches Spiel existiert auch auf Burg Knittelstein. Wieder im Trubel auf dem Marktplatz treffen sich alle an einem merkwürdigen Stand mit dem Namen Erbarme Dich Unser, der von zwei schwarzgeschminkten Gestalten betreut wird und angeblich Spenden für arme Kinder sammelt, die dringend eine sehr teure Operation benötigen. Eggbert Kniest, der Chef von EDU, verschwindet wenig später mit dem blassen Robin, dem neuen Bassisten von Schnürs Enkel, jener fantastischen Breselner Rockband. Lisa folgt den beiden, bis sie in Eggberts Mercedes steigen. Plötzlich kommt Robin zu keiner Bandprobe mehr. Lisa und Jo erfahren, dass er im Sanatorium des EDU-Vereins liegt. Stück für Stück kommen sie den Machenschaften diese Vereins auf die Spur – und Freddie und Jan durchschauen (jeder auf seine Weise) das Geheimnis hinter dem Knittelsteiner Burgspiel und die Verbindung zu der "Hinkenden Frida". Freddie singt auf dem Marktplatz eine abenteuerliche Ballade über die "Frida". Jan beschließt einen waghalsigen Plan, den er beim nächsten Narrseval in die Tat umsetzen will. Lisa und Jo besuchen zum Schein einen Erste-Hilfe-Kurs im Sanatorium Sorgenfrey – und machen dort eine grausige Entdeckung. Und dann ist wieder Narrseval und in Bresel ist der Teufel los …

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Seitenzahl: 386

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Gerhard Gemke

Narrseval in Bresel

Bresel-Krimi 5

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Narrseval 1

Erbarme dich unser

Miserere nobis

Nasendienstag

Aschermittwoch

Kinderheim

Achter Oktober

Turm zu Turm

Lederband

Villa Sorgenfrey

Fotos

Hirntumor

Höret mein Lied

Die hinkende Frida

Rinderhirn

Formaldehyd

Paula

Neptun

Doppelkopf

Kunibalds Revenge

Das Lied von der Glocke

Pistazien

Turmführung

Weiberfastnacht

Glunz

Gefangen

Flucht

Narrseval 2

Fridun borge dir

Kegeln

Die Elster

Das Spiel

Anhang

Zugabe

Impressum neobooks

Narrseval 1

Schön war was anderes.

Nicht die wimmernden und knarzenden Geräusche, die dieser braune Tontopf von sich gab, und nicht der Rest, den man vielleicht im weitesten Sinne Gesang nennen konnte (im allerweitesten Sinne), und der das Gekreische der feiernden Breselner zu übertönen versuchte. Doch Freddie ließ sich weder durch die bösen Blicke der Buckelsäcke, noch durch Elfriedes knochige Zeigefinger beirren, die die tüdelige Oma mit abgewinkelten Ellenbogen in ihre Ohren bohrte.

Tief Luft geholt und los:

Höret mein Lied, hört die Klage des Glöckners.

Einst lebte ich droben in Knittelsteins Mauern.

Meister war ich in der Schrift, doch ich schrieb

– zu Herrn Adalberts großem Bedauern –

die Wahrheit über Kunibald,

durch dessen giftig Schlangenring

Aurelio der Goldschmied starb,

und zwar im Jahre Tausend,

weil er gewann beim Spiel im Turm,

hoch überm Markt von Bresel! –

„Du lügst!“, schrie Adalbert

und jagt' mich fort wie einen Esel.

Die letzten Worte gingen bereits unter im keifenden Streit zweier Buckelsäcke und Elfriedes schrillem Organ.

„Wer dem Himmel näher als die Hinkende Frida“, meckerte die Oma und wackelte dabei so heftig mit dem Kopf, dass ihr Dutt sich aufzulösen begann, „liegt bald eine Turmlänge tiefer!“

„Eine bodenlose Frechheit!“, fauchte einer der Buckelsäcke, der Elfriedes Sprichwort aus unerfindlichen Gründen auf sich bezog.

Wie auch immer. Es kam eh nicht mehr drauf an. Nicht hier auf dem Breselner Marktplatz und nicht heute, denn in Bresel boxte der Bär. Es war Narrseval! Nur der Heilige Urban wusste (vielleicht), warum der Narrseval überall sonst auf der Welt Karneval hieß. Oder Fasching, Fasnacht, Fastelovent. Nur nicht in Bresel. Und warum nur Breselner auf die Idee kamen, sich gräuliche Wunden an die Stirn zu schminken und stinkende Leinensäcke mit merkwürdigem Inhalt über die Schultern zu werfen. Wer dann erriet, was sich in so einem Buckelsack befand, dem winkte Glück im folgenden Jahr. Oder im darauf folgenden. Oder im … ach, weiß der Urban, wie gesagt.

„Verschwinde mit deiner toten Katze im Sack, du!“, kreischte Oma Sievers zurück.

Der Buckelsack wurde blass und verschwand hastig hinter dem Kunibald-Brunnen, von dem ihn der eiserne Ritter Kunibald streng musterte. Und Elfriede überlegte, in welchem Jahr ihr jetzt wohl das Glück winken würde. So viele Jahre standen ja nicht mehr zur Auswahl.

Die plötzliche Kreischpause nutzte Freddie, rubbelte an seinem Rummelpott, und krähte:

So sitze ich heute und sing meine Lieder

im Chor mit der schreienden Elster

zum Rummelpott, hoch in Sankt Urbans Turm,

ach, seht meine zitternden Glieder –

über mir schlägt die Hinkende Frida.

RAWOMMM! Hoch oben vom Urbanturm.

Ein Aufschrei über dem Markt. Dann, als hätte jemand (Sankt Urban selbst?) bei einem durchgedrehten Kinderkarussell den Stecker gezogen, herrschte schlagartig Stille auf dem Platz. Wie von einem gemeinsamen Faden gezogen klappten sämtliche Köpfe in die Nacken und ein paar hundert Hälse reckten sich in die Höhe.

Einige meinten, die Kirchturmspitze würde noch zittern. In Zeitlupe wie ein böses Omen sackte der Wetterhahn zur Seite. Ein angstvoller Seufzer kroch über den Markt. Dann ertönte ein gellender Schrei und eine zerzauste Elster schoss pfeilgerade aus dem runden Dachfenster, überschlug sich im Flug, stürzte herab, direkt auf Elfriede Sievers zu, fing sich wie von Elfriedes starrem Blick gebannt kurz vor dem erwarteten Zusammenprall, und flatterte davon.

Und krächzte. Hässlich und laut.

Als ob der Vogelschrei die Breselner ins Leben zurück gerufen hätte, begann sich das Narren-Karussell wieder zu drehen. Ein Buckelsack schimpfte „Nein, ich habe keinen Stuhl im Sack!“, Kinder weinten, die halbe Blaskapelle schaffte einen Einsatz, und Bäcker Blume krakeelte „Kauft Lebkuchen-Nasen!“

Nur Freddie starrte mit offenem Mund zum Eingang des Sankt-Urban-Turms und sah Kommissar van der Velde in der Tür verschwinden, dicht gefolgt von Kriminalassistent Hinrich und Pastor Himmelmeyer.

Und war es wirklich nur Freddie, der wenige Augenblicke darauf zwei Buckelsäcke aus eben dieser Tür herauskommen sah? Einen langen Dürren, der mit schnellen Schritten den Marktplatz überquerte, gefolgt von einem Kugelförmigen, der mit doppelter Beinarbeit das Tempo des Langen zu halten versuchte. Dann hatte sie das Gewühl der Lachweiber und Hobelitze, Brandkasper, Schabracken, Hohnepipel, Karusos und Forzheimer, der Käsebohrer und Schwarzmaler und was der Breselner Narrseval noch zu bieten hatte, verschluckt.

Freddie rieb sich die Augen. Er blickte an Sankt Urban hinauf. Sah den Kommissar auf dem Balkon, der den Turm auf halber Höhe umkreiste, nach Luft schnappen und wieder im Inneren verschwinden. Und den Wetterhahn, der kopfunter am Turmkreuz hing, als wollte er einen Blick in das Fensterloch werfen, aus dem die Elster katapultiert worden war. Und hinter diesem Fensterloch …

Jan klammerte sich verzweifelt an die armdicke schmiedeeiserne Stange, den Klöppel der riesigen Glocke, die ihn umhüllte wie ein schützender Mantel. Oder ein tödliches Gefängnis. Ein beinahe tödliches. Eben noch hatte sie dort oben gehangen, in der Mitte der Turmspitze. Jan war in seiner Not auf den niedrigen Tisch, der darunter stand, gesprungen, hatte den Klöppel gepackt, sich in Windeseile nach oben gehangelt, und die Füße auf die kugelförmige Verdickung am unteren Ende des Klöppels gestützt. Und hatte mit angehaltenem Atem den Dicken beobachtet, der unter ihm schwitzend und keuchend diesen Stein in das Mauerwerk drückte. Stein Nummer 5C! Und dann … RAWOMMM!

Der Dicke hatte verdammt Glück gehabt, dass die Glocke ihn nicht erschlagen hatte. In letzter Zehntelsekunde war er zur Seite gerollt. Die Kugel, auf der Jan gestanden hatte, war beim Aufprall abgesprungen und wie von einer Kanone gefeuert davon geschossen, nur einen Wimpernschlag bevor der Rest der Glocke ringsum auf die Bodendielen krachte – ein Wunder, dass die hielten. Und der Klöppel hatte die hölzerne Tischplatte wie Pappe durchbohrt.

Jetzt war der Dicke fort, keine Frage. Jans Finger tasteten an der immer noch summenden Glocke entlang, fühlten die Schrift. Jan wusste, was dort stand.

Fridun borge dir, Frida fuoret den tod.

Etwas pickte von außen an das Metall. Tack-tack-tack. Die Glocke sang mit. Es pickte wieder. Plötzlich, ohne dass er es eigentlich wollte, schrie Jan, schrie wie besinnungslos und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die bronzene Wand. Er saß hier und hatte überlebt. Er ja. Aber Robin? Jetzt war alles zu spät. Da hätten sie früher dran denken müssen. Viel früher.

Doch wer hatte das schon ernst genommen? Robins blasses Gesicht und alles. Was hatten sie von Robin gewusst? Klar, er war der neue Bassmann von Schnürs Enkel, der besten Rockband zwischen Augsburg und Ulm, die heute nicht spielen wollte, ohne Bass. Aber sonst?

Jan lehnte die Stirn gegen die kalte Glocke. Bald würde man ihn finden und befreien. Es war vorbei. Er musste nur noch mit der Erinnerung leben. Der Erinnerung, die beim letzten Narrseval begann. Vor einem Jahr. Dort unten hatten sie gestanden, am Kunibald-Brunnen. Freddie und Lisa und Jan. Nur Jo fehlte zu ihrem Kleeblatt, selbst Lisa wusste nicht, wo sie heute steckte. Um sie herum tobte der Frohsinn mit all den Buckelsäcken und Lachweibern, Hobelitzen, Brandkaspern, Forzheimern und Weiß-der-Geier. Und Bäcker Blume, der seine Lebkuchennasen loswerden wollte, das Stück zu Eins-Fünfzig.

Der übliche wilde Breselner Narrseval. Von dem ein paar verwirrende Fäden ausgingen, die sich im Laufe des Jahres zu einem Strang bündelten und wie eine mörderische Schlinge zusammenzogen.

„Scheiß Musik“, hatte Freddie geschimpft.

„So eine elende Scheiß...“

„Halt's Maul!“ Der Tubaspieler der Schützenkapelle hatte wohl nicht gut geschlafen. Jedenfalls konnte Freddie von Glück sagen, dass er nicht kopfüber in den riesigen Trichter des Blasinstrumentes gesteckt wurde.

Jan lachte sich scheckig. „Naseeeee!“, schrie er und ein besonders finsterer Buckelsack antwortete gewohnheitsmäßig: „Brelau!“

„Oh, Mann.“ Freddie war nicht in Feierlaune. Aus dem Verkleidealter sei er raus, erklärte er lauthals.

Lisa zuckte mit den Achseln. „Das legt sich wieder.“

Freddie sah sie wütend an. „Kümmer dich um deinen eigenen Kram!“ Er hatte wirklich keinen Spaß.

Lisa kehrte ihm demonstrativ den Rücken. „Schwieriges Alter“, kam noch aus ihrer Richtung, bevor sie im Gewühl vor einem der zahllosen Stände verschwand, Jo suchen. EDU prangte auf dem Banner über dem Stand. Erbarme Dich Unser. Toller Name.

„Wenn wenigstens Schnürs Enkel spielen würden, dann ginge hier die Post ab.“ Wenn Freddie schlechte Laune hatte, sollten das auch möglichst viele mitkriegen. „Bisschen was Härteres, Metal oder Punk.“

Jan kannte das auswendig. Gähnte und betrachtete eine der gräulich geschminkten Gestalten. Mit wenigen schnellen Schritten stand er hinter ihr und befühlte den Leinensack. „Ist ja einfach.“ Jan grinste in das wütende Gesicht. „Ein Stuhl, gib's zu.“

„Nicht so laut“, zischte die Gestalt, „sonst kriegen das alle …“

„Ein Stuhl, ein Stuhl!“, krähte ein Haufen Grundschüler. „Jetzt haben wir Glück, jetzt haben wir Glück!“

„Blödmann!“, giftete der Buckelsack in Jans Richtung. Offensichtlich ein ganz schlechter Verlierer.

„Na, na.“

Jan glaubte, die tiefe Stimme zu kennen, doch das Gesicht mit dem struppigen Schnurrbart und den dicken kreisrunden Brillengläsern, das in der kreischenden Menge vorbeitrieb, war ihm völlig fremd. Ein schwarzer Umhang verhüllte den Kerl von den Schultern bis zu den Füßen. Wohl eine Art Priester, oder einer dieser Schwarzmaler, die alles schlecht redeten. Er drohte dem schimpfenden Buckelsack mit erhobenem Zeigefinger und war schon wieder verschwunden. Auch der Buckelsack schob sich missmutig zurück ins Gedränge.

Aus demselben Haufen stolperte Sekunden später ein langhaariger Bengel und steuerte prustend und schniefend auf Freddie und Jan zu. „Da war grade einer.“ Ulli konnte kaum sprechen. „Ich hab bloß gesagt, dass er 'n Stuhl im Sack hat, da hat er mich fast umgebracht!“

„Kennen wir schon“, grinste Jan.

„Uah!“ Freddie zeigte schreckensbleich über Ullis Kopf hinweg: „Jetzt kommt der Höhepunkt!“

„Au scheiße!“ Ulli duckte sich hinter eine Ansammlung von Schabracken. „Mein Alter!“

Und nicht nur der. Aber zuerst noch die Glockenschläge vom Sankt-Urban-Turm. Traditionsgemäß zählten die Breselner mit. „Eins, Zwei, Drei …“ das weitere kann man sich denken, bis „… Elf, Zwölf, Dreizehn!“ Auch das gab's nur in diesem kleinen schwäbischen Kaff. Einmal im Jahr zu Narrseval. Dann aber: Pünktlich mit dem dreizehnten Schlag öffneten sich die riesigen Portaltüren des Breselner Doms, und heraus traten Pastor Himmelmeyer, Bürgermeister Radolf Müller-Pfuhr und Ullis Alter. Also Herr Sterz, der Vorsitzende des Breselner Narrseval-Vereins BNV 1899. Und schrie „Naseeeee!“

„Brelau!“, grölte der Platz.

Ulli versank fast im Boden.

Jetzt wurde auch noch über dem Dreigestirn ein rundes Fenster effektvoll aus dem Dominneren beleuchtet. Deutlich war darin ein Bild erkennbar aus schwarzen verschlungenen Linien und bunten Glasflächen: Das weit über Bresels Grenzen berühmte Drei-Nasen-Fenster.

„Naseeeee!“, schrie Herr Sterz wieder und alle Breselner antworteten wie aus einem Mund. Siehe oben.

„Was für'n Scheiß!“ Freddie wieder.

„Genau.“

Freddie fuhr herum. Irritiert blickte er in die zwei unruhigen Äuglein, die ihm aus einem vielfältigen Gesicht zuzwinkerten.

„Guck nicht so.“ Oma Sievers schlang ihren braunen Kamelhaarmantel um die klapprigen Glieder. „Ich bin nicht verkleidet.“ Gemächlich zockelte sie an Freddie vorbei. „Ich sehe immer so aus.“

„Haltet mich fest“, murmelte Freddie. „Langsam weiß ich nicht mehr, wer hier wirklich spinnt, und wer nur so tut.“

„Naseeeee!“, dröhnte Herr Sterz zum dritten Mal.

„Brelau!“

„Gehn wir zum Sarglüften“, schlug Jan vor.

Freddie nickte mit starrem Blick. „Alles besser als diese drei Komiker.“

„Nehmt mich mit“, stöhnte Ulli. Der langhaarige Gitarrist von Schnürs Enkel war nach jedem Narrseval froh, noch Freunde in Bresel zu haben, denn nun legten die Herren Himmelmeyer, Müller-Pfuhr und Sterz erst richtig los. Ein Feuerwerk des Humors aus gut abgehangenen Pointen und jährlich wiederkehrenden Witzen prasselte auf die Breselner herab, wovon der Bürgermeister-Name noch der aktuellste war.

Schwester Iffigenie – irgendwo zwischen neunzig und Nonnenhimmel – stand unter dem Vordach des EDU-Stands und lachte Tränen. „Müllabfuhr, wie lustig!“ Sie hatte auch den schon wieder vergessen.

„Tief im Keller dröhnt die Bartwickelmaschine“, kommentierte ein griesgrämig vorbei stampfender Hobelitz. „Brakedde pfrieml o knorkde Murpftsch! Runkprakschde Schnorrps!“ Was Hobelitze so sagen.

Schwester Iffigenie und sah ihm erstaunt nach. Dann wischte sie sich die Augen und klopfte einem blassen Jungen auf die Schulter. „Robin, nun lach doch mal.“

Der Junge sah sie mit müdem Gesicht an. Die Breselner waren nun mal für ihren ausgefallenen Humor berühmt. Da bildete die vergessliche Ordensschwester keine Ausnahme.

„Soll ich dir den Witz erklären?“

„Nein, bitte nicht“, hauchte er und ein nicht weniger blasses Mädchen kam ihm zur Hilfe. „Wir lachen später.“

„Aber Felin“, tadelte Schwester Iffigenie. „Das geht doch gar ni...“

„Naseeeee!“, brüllte Herr Sterz.

Iffigenie wendete freudestrahlend den Kopf und jubelte mit allen Breselnern im Chor „…“, schon klar. Als sie ihren Kopf zurückdrehte, waren Robin und Felin verschwunden. Iffigenie blickte erst den langen dürren Kerl hinter dem Wohltätigkeits-Stand an, dann den kleinen Dicken, der genauso pechschwarz geschminkt war wie die Bohnenstange.

„Wo sind sie hin?“

Ehe der Lange oder der Dicke antworten konnte, sagte Lisa schnell: „Zum Sarglüften.“

„Zum Sarglüften?“ Auch diese Breselner Spezialität war Schwester Iffigenie entfallen, wie jedes Jahr. Sie sah Lisa fragend an.

„Lisa“, sagte Lisa.

„Aber …“

Lisa lächelte. „Nase?“

„Brelau“, murmelte Iffigenie. Wie hieß noch gleich der Stand, vor dem sie stand? EDU. Und was glotzen die beiden Schwarzbemalten sie an? Der Dicke reichte ihr ein Prospekt. Erbarme Dich Unser versprach die Überschrift. Helfen Sie uns, wir helfen den Armen. Iffigenie schaute erstaunt auf ihre Arme.

„Naseeeee!“

Die Pflicht rief.

„Brelau!“

Als Lisa den Eingang des Urbanturms erreichte, hatte sich davor schon eine Schlange gebildet. Auch hier von Jo keine Spur. Lisa stellte sich hinten an. Etwas weiter vorn erklärte Freddie gerade, dass das Sarglüften noch das Witzigste am ganzen Narrseval sei.

„So, findest du?“ Elfriede Sievers schob sich grinsend vor Freddie in die Reihe und war komplett taub für die unwirschen Proteste vom Ende der Schlange. Und Freddies Blicke verrieten die Mühe, mit der er Elfriedes Leben rettete. Also die Anstrengung, mit der seine rechte Hand die linke festhielt und umgekehrt, bevor die sich gemeinsam auf die Oma stürzen konnten.

Gut, dass jetzt die Turmtür geöffnet wurde. Ein freundlicher Herr in den Fünfzigern mit einem winzigen Tirolerhütchen bat die Besucher in das ehrwürdige Gemäuer und schob jeden einzeln in den engen Gang. Er nickte den drei Jungs zu, begrüßte Lisa mit einer formvollendeten Verbeugung und wollte gerade die Pforte schließen, als das unglücklichste Gesicht der Stadt den Turm betrat. Dreizehn Jahre alt, rückenlanger dunkler Zopf und ein Blick wie drei Seiten Strafarbeit. Sie nickte dem Mann unter dem Tirolerhütchen mit zusammengepressten Lippen zu. Clemens Zuffhausen hob die Augenbrauen und schloss die Turmtür.

Lisa hatte das Mädchen mit dem traurigen Blick bereits entdeckt und erwartete sie an den Treppenstufen, die zum Turmfundament hinab führten.

„Jo! Da bist du ja endlich! Ich hab dich überall gesucht.“

Jo lächelte gequält. „Ich musste sie erst abhängen.“

Lisa ahnte Böses. „Deine netten Cousins?“

„Und Tante Adelgunde.“

Also noch viel schlimmer. Jos liebe Verwandtschaft war ins Städtchen eingefallen – eine regelmäßig wiederkehrende Plage wie der Narrseval – und hatte sich auf Burg Knittelstein eingenistet, Jos Wohnsitz. Liebe Tochter, nur einmal mit ihnen über den Marktplatz, hatte ihr Herr Papa gesagt. Baron Eduard selbst musste dringend einige unaufschiebbare Geschäfte … leider, leider, du verstehst? Und ob Jo verstand!

Mit hängendem Kopf folgte Jo ihrer Freundin die Treppe hinunter und in die hinterste Ecke des Kellergewölbes, wo bereits Jan, Freddie und der langhaarige Ulli warteten und sich gegenseitig beschuldigten, die Raumluft mit nicht wohlduftenden Partikeln angereichert zu haben. Worauf sich Oma Sievers zwischen sie drängelte, geräuschvoll schnüffelte, und auf der Stelle die alte Geschichte vom Kunibald-Furz zum Besten gab.

Ja, da vorn im Sarg, da liegt er, der Ritter, und stinkt. „Und heulen tut er, jawohl.“

„Ich hör nix“, sagte Freddie.

„Nicht jetzt, sondern immer …“

„… bei Vollmond“, ergänzte Freddie mit unbeweglichem Gesicht.

„Mach dich nicht über mich lustig!“ Elfriede drohte Freddie mit einem der knochigen Zeigefinger.

Freddie hob abwehrend die Hände. „Aber Oma Sievers, was denkst du von mir!“

Elfriedes Gesicht sprach Bände.

„Meine Damen und Herren, verehrte Gäste aus den umliegenden Gemeinden, liebe Breselnärrinnen und Narren!“

Es wurde still unter der niedrigen Gewölbedecke. Sämtliche Gruftbesucher wandten ihre Aufmerksamkeit Clemens Zuffhausen zu, der vor einem mannshohen weißen Vorhang stand und sein Tirolerhütchen zurechtrückte. Dann fasste er mit spitzen Fingern einen Zipfel des Vorhangs. „Der Sarg von Ritter Kunibald!“

Mit einem eleganten Schwung, den er in der vergangenen Woche gewissenhaft geübt hatte, zog er den Schleier beiseite.

„Aaaah!“

Ein steinerner Trog kam zum Vorschein, schlicht und grau, auf einem hüfthohen Sockel. Darunter ein Fußbodenmosaik aus fünf mal fünf Quadraten, mit elefantenbeindicken Säulen auf den vier Eckfeldern, die zuverlässig die Last des Urbanturms trugen. Hoffentlich. Rechts und links vom Sarg hatten sich je zwei Herren in mittelalterlicher Tracht aufgebaut und bemühten sich um würdige Gesichter.

„Ooooh!“

Diese vier offiziell beauftragten Sarglüfter befestigten nun an den Seiten des Sargdeckels stabile Taue, die zu einer Seilwinde an der Gewölbedecke führten und von dort zurück in die Fäuste der vier Herren. Während sich nun der Sargdeckel nach überliefertem Ritual Zentimeter für Zentimeter hob, wurde er von traditionsbewussten Breselner ausgiebig beschnüffelt, um das Aroma zu bestimmen, das der berühmte Kunibald-Furz in diesem Jahr verströmte. Manche Breselner allerdings beschnupperte mehr oder weniger unauffällig ihre Nachbarn.

Endlich hatte der Sargdeckel die Gewölbedecke erreicht. Der vorderen Reihe gelang ein Blick in den Steintrog und die Information wurde bis nach hinten weitergereicht: Alle sieben Knochen lagen noch an ihrem Platz.

„Sieben?“, knurrte ein Herr mit Gamsbart und enttarnte sich damit als Nicht-Breselner.

Clemens Zuffhausen gab bereitwillig Auskunft. „Sieben Knochen sind alles, was von Kunibald nach der Schlacht am Kalbsberg im Jahre 1022 übrig blieb.“

„Quatsch!“ Oma Sievers konnte es einfach nicht lassen. „Das sind die Reste von Ruprecht Stümpel, der zum Narrseval auswärtiges Bier ausgeschenkt hat.“

„Auswärtiges Bier?“ Der Gamsbart wieder. Echt null Ahnung.

„Kein Breselbräu.“

„Ach so.“

Nun zogen die Sarglüfter eine Bahre hinter einer Säule hervor (eine Leihgabe des Vincenzkrankenhauses) und legten feierlich die sieben Knochen darauf. Clemens Zuffhausen schaufelte mit hektischen Armbewegungen einen Weg durch die Besucher und die vier Herren schritten mit feierlichen Mienen zur Treppe. Die vorderen senkten die Bahre auf Kniehöhe, als sie die ersten Stufen erkletterten, die hinteren hoben sie an und balancierten die bleichen Reste von Wem-auch-immer an die frische Breselner Luft. Das jährlich von vielen Touristen bestaunte (und von den umliegenden Gemeinden belächelte) Breselner Sarglüften begann. Einmal um die Mauern der Altstadt.

Nur Oma Sievers wieder: „Früher haben sie den kompletten Sarg getragen. Aber da waren die Kerle auch noch anders gebaut.“ Gerade laut genug, dass die Kerle jedes Wort verstanden und ihr ganz und gar keine liebevollen Blicke zuwarfen.

Wenigstens der Rest der Pilger folgte der Bahre mit gebührender Ehrfurcht und würdigte die Oma keines Blickes, die nun zwischen den Säulen herumhüpfte wie ein Schulmädchen.

„Kennst du das?“, rief sie in Jos Richtung, die mit Lisa noch am Fuß der Treppe stand, als wollte sie die unvermeidliche Wiederbegegnung mit der lieben Verwandtschaft so lange wie möglich hinauszögern. Bestimmt suchten die schon den kompletten Marktplatz nach ihr ab. Jo betrachtete Elfriedes knallende Hacken auf den quadratischen Fliesen.

„Na?“

„Gibt's auch in der Burg“, sagte Jo endlich.

„Genau!“ Woher sie das auch immer wusste. „Das alte Spiel.“ Oma Sievers kletterte hinter den Mädchen die Treppe hinauf. „Hab ich selbst noch gespielt.“

Aber noch vor 1900, dachte Lisa grinsend und schob Jo die Treppe hinauf.

Erbarme dich unser

Lisa und Jo trafen Freddie und Jan an dem Erbarme-Dich-Unser-Stand.

„Das hat mir mein Vater eingebrockt“, beschwerte sich Jo schon zum achten Mal. „Er hat dringende Geschäfte zu erledigen, und ich darf …“

„Du wiederholst dich.“ Freddie war noch nie der Sensibelste gewesen. Lisa hielt Jo fest und verhinderte so Schlimmeres.

„Seht zu, dass ihr Land gewinnt!“, fauchte Jo hinter Jan und Freddie her, die sich schon wieder um neue Freundschaften bemühten. Jan baute sich vor einem überraschten Buckelsack auf, und bevor der etwas Böses ahnte, schrie Freddie, dass es Pastor Himmelmeyer unter dem Drei-Nasen-Fenster hören konnte: „Hier ist der wieder mit dem Stuhl im Sack!“

Gut, dass Buckelsäcke nicht so schnell waren. Jan und Freddie hatten sich längst hinter dem EDU-Stand verbarrikadiert und lachten sich krumm.

„Kinderpack, alle in den Sack, feste draufhaun, zackzackzack!“ Böse knurrend schlich der Kerl davon und bellte jeden an, der ihm zu nahe kam, bis er schließlich vor Elfriedes Regenschirm kuschte und sich im Gewühl verdrückte. Vorsichtig trauten sich Jan und Freddie wieder aus der Deckung.

„Erbarme dich unser!“, keuchte Freddie mit Blick auf Elfriedes erhobenen Schirm. Und Jan zitierte den Plakatspruch: „Helfen Sie uns, wir helfen den Armen.“

„Meinen auch!“ Freddie, wer sonst, reckte die Hände zum Himmel.

„Super.“ Genau diese Sorte Coolness, die Lisa tierisch auf den Geist ging. „Du hast doch nicht die Spur einer Ahnung, was die hier tun.“

„Trau keinem Punkt, er könnte ein Wurm sein.“ Toll, dass Freddie sogar Breselner Sprichwörter kannte.

„Womit er vollkommen recht hat.“ Jetzt auch noch die Sievers! Es reichte. Lisa sah Jo an. Abhauen? Jo nickte.

Elfriede drückte ihren zerzausten Dutt wieder in Form und richtete ihre Knopfaugen auf den EDU-Stand. Und auf den schwarzbemalten Dicken dahinter. „Die Kinder möchten gern wissen, wofür hier gesammelt wird?“

„Kinder!“, schnaubte Freddie. Aber genau das wollte er wissen. Er würde Lisa schon zeigen, wer hier keine Ahnung hatte.

„Also?“

Dem Dicken rannen trotz der winterlichen Temperaturen die Schweißtropfen über die Wangen und hinterließen helle Streifen in der schwarzen Schminke. Elfriede klopfte ungeduldig mit dem Griff ihres Regenschirms auf den Tresen. „Ich höre?“

„Auf dem P...Plakat“, stotterte der Dicke und deutete hinter sich. „Knochenmarkspende.“

„Mein Knochenmark soll ich spenden?“

Freddie verkniff sich ein Grinsen. Elfriede war einfach nicht nett zu dem kleinen Schwarzen.

„Neinnein.“ Der Dicke wackelte mit dem Kopf und mit dem Zeigefinger. „Geld. Also Sie geben uns Geld und wir retten dann …“

„Wen bitte?“

„Wie heißt der noch gleich?“ Der Dicke sah sich hilfesuchend nach dem Langen um, der sich mit finsterer Miene genähert hatte.

„Der arme Pjotr kommt aus Afghanistan und ist sehr krank“, sagte der. „Leukämie. Was wir uns alle nicht wünschen, nicht wahr?“ Er betrachtet Elfriedes Dutt. „Nur eine Operation kann ihn retten. Eine sehr teure. Deshalb eine mildtätige Spende.“

„Aha“, sagte Elfriede.

„Verstanden?“, fragte der Lange und wandte sich einem anderen Interessenten zu. Es war nicht klar, ob er Elfriede oder seinen dicken Kollegen meinte. Beide nickten.

„Dann warten Sie mal, junger Mann.“ Elfriede schenkte dem Kleinen ein Dritte-Zähne-Lächeln und kramte in ihrer Handtasche, bis sie ein abgeschabtes braunes Lederportemonnaie gefunden hatte. Sie öffnete es behutsam und kippte den Inhalt auf den Tresen. Jan prustete und selbst Freddie fiel dazu kein Spruch ein.

„Na los“, ordnete Elfriede an. „Nachzählen. Ja, genau Sie.“

„Ich?“

Elfriedes Gesicht bekam einen mildtätigen Ausdruck. „Bist du etwa der arme Pjotr?“

Die Augen des Kleinen weiteten sich erschrocken. „Neinnein!“

„Na also, dann wirst du Geld zählen können.“

„Äh …“

„Mach schon!“, raunzte der Lange aus der entgegengesetzten Standecke.

Dem Kleinen entwich ein Geräusch, das etwas unanständig klang, und endlich begann er zu zählen. „Eins, Zwei, Zwei-Fünfzig, Zwei-Sechzig, Drei-Zehn, Drei-Dreißig …“

Es dauerte. Schließlich war er bei Siebenundvierzig-Fünfundachtzig angekommen. „Siebenundvierzig-Fünfundachtzig“, sagte er und blickte Elfriede fragend an.

„Kann nicht sein.“ Elfriede tippte auf ein Zehn-Cent-Stück. „Das hat du übersehen.“

„Siebenundvierzig-Fünfundneunzig“, flüsterte der Dicke.

„Sieh mal an.“ Elfriede strich mit der Handfläche die Münzen zurück in ihr Portemonnaie. „Da hat mich Bäcker Blume also beschissen.“

Verständnislos sah der Dicke zu, wie der letzte Cent zurück zu den anderen klimperte.

„Eine Lebkuchennase, sagt er, kostet Eins-Neunzig. Und ich habe mit einem Fünfziger bezahlt. Also müsste ich jetzt wieviel im Portemonnaie haben?“ Noch bevor der Dicke zu Ende gerechnet hatte, fragte Elfriede: „Und was kostet bei euch so eine Spende?“

Jan liefen die Tränen über die Wangen. Freddie brüllte: „Naseeeee!“, und bekam eine aus Lebkuchen über die Schulter gereicht. Jan ebenfalls. Lisa hatte eingekauft, gewissermaßen als Friedensangebot. Vorher hatte sie Jo getröstet, die ihrer Verwandtschaft über den Weg gelaufen war und sich ihr wohl oder übel anschließen musste. „Ich krieg Eins-Fünfzig von euch. Pro Nase.“

„Können wir mit den Pommes von Donnerstag verrechnen.“

„Oki.“

Die drei schoben sich durch das Gewühl Richtung Kunibald-Brunnen, wo erfahrungsgemäß immer jemand zu finden war, und ließen Elfriede mit offenem Mund zurück. Soso, Eins-Fünfzig also! Bäcker Blume konnte sich auf was gefasst machen!

Der langhaarige Ulli saß missmutig auf dem Brunnenrand und wartete auf unterhaltsame Gesellschaft. Einer, der dafür nicht infrage kam, lehnte etwas abseits an einem Laternenpfahl: Der neue Bassist von Schnürs Enkel. Seit der Vater des alten Bassmanns seinen Traumjob in München mit Wohnung und Dienstwagen ergattert hatte, war Robin zu den Enkeln gestoßen. Der stille Robin mit der bleichen, fast durchscheinenden Haut und den schwarzgeränderten Augen. Ulli hatte ihn Mitte Januar angeschleppt. Und noch immer wusste niemand mehr über ihn, außer dass er ein verdammt guter Bass-Spieler war und etwas zu häufig über Kopfschmerzen klagte. Aber wenn einer nichts erzählen will, irgendwann fragt dann auch keiner mehr.

Sieht fast so aus, als hält er sich am Laternenpfahl fest, dachte Lisa. Neben ihm stand dieses Mädchen. Lisa hatte sie schon am EDU-Stand gesehen, vor dem Sarglüften, zusammen mit Robin und der vergesslichen Nonne.

„Ich heiße Felin“, sagte sie, noch bevor Lisas eine Frage gestellt hatte.

Lisa lächelte. „Ich bin Lisa und das sind Jan und der unausstehliche Freddie.“

„Angenehm.“ Felins Lächeln war schnell wieder verschwunden.

„Frauen“, knurrte Freddie und schwang sich neben Jan und Ulli auf den Brunnenrand. Die geballte Männlichkeit. Lisa kommentierte sie mit einem ausgiebigem Gähnen. Als sie sich wieder zum Laternenpfahl umdrehte, waren Felin und Robin verschwunden – möglicherweise geflohen vor dieser klapprigen Ordensschwester, die nun den Pfahl umkreiste, als hätte sie nicht nur die Witze vom letzten Jahr, sondern auch ihr Alter und die Würde einer Nonnentracht vergessen. Mit einer Hand hielt sie ihre schief sitzende Haube, mit der anderen versuchte sie, den Zipfel einer flüchtenden Priester-Soutane zu erwischen. Der Narrseval machts möglich, dachte Lisa und sah den beiden zu.

„Herr Pfarrer, ich muss Sie dringend sprechen.“

Dem Pfarrer war offenbar nicht nach einem Gespräch. Nervös schob er seine viel zu große schwarze Brille die Nase hinauf und versuchte, der beharrlichen Schwester zu entkommen. Bis er schließlich aufgab.

„Also gut Schwester“, brummte es unter seinem angeklebten Schnauzbart. „Wo drückt der Schuh.“

„Iffigenie“, hörte Lisa und grinste. „Sie können mich Iffigenie nennen.“

„Nun denn, Iffigenie. Was kann ich für Sie …“

„O, Herr Pfarrer. Ich muss Ihnen etwas beichten.“

„Mmh.“ Der Pfarrer schien nicht sehr viel Übung im Beichten zu haben. Er drohte ihr mit dem Zeigefinger. „Hoffentlich nichts Schlimmes.“

Iffigenie legte den Kopf schräg, als dächte sie nach, ob es schlimm war oder nicht. Dann lächelte sie und sagte: „Einen Mord.“

Der verkleidete Priester nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. Er fasste die Schwester am Arm. „Kommen Sie bitte.“ Lisa starrte ihnen mit offenem Mund nach, bis sie von einem Lachweiber-Haufen verschluckt wurden. Einen Moment lang glaubte Lisa zu wissen, wer in dem Priesterkostüm steckte. Nur ganz kurz überlegte sie, ob sie mit der geballten Männlichkeit auf dem Kunibald-Brunnen herumturnen, oder dem seltsamen Pärchen folgen sollte.

Der Narrseval-Montag erreichte nun unweigerlich seinen Höhepunkt. Ullis Vater befeuerte die Menge in immer kürzeren Abständen mit Witzen und Naseeeee-Brelau!-Rufen, Buckelsäcke erschreckten wenigstens noch die Kinder, und Bäcker Blume pries (inzwischen heiser) seine Lebkuchennasen an, Stück zu Eins-Fünfzig.

Lisa lehnte wieder am EDU-Stand. Sie war dem Priester und Schwester Iffigenie, die ihm einen Mord beichten wollte, bis hierher gefolgt, hatte sie aber aus den Augen verloren, als zwei angeheiterte Hobelitze meinten, mit Lisa tanzen zu müssen. Da entdeckte sie die Gänsemarsch-Gruppe, die sich vom Domportal näherte.

Vorneweg ein Pitbullgesicht, bei dessen Anblick Lisa fast geschrien hätte. Niemals würde sie diese Visage vergessen [siehe „Theater in Bresel“]. Dicht hinter dem Kerl folgte eine beleibte zeternde Dame mit zwei identischen Krausköpfen im Schlepp, und als Schlusslicht Jo. Ihr Gesicht hätte auch auf einem Plakat des Spendensammelstandes seine Wirkung nicht verfehlt.

„Sieh an, der Chef“, knurrte der schwarz geschminkte Lange hinter dem Tresen leise, aber deutlich genug, dass Lisa es verstehen konnte.

Ein kurzer Blick auf Jos Gesicht reichte. Lisa entschloss sich zu einer Rettungsaktion.

„Nie wieder, das schwöre ich“, flüsterte Jo, als die Freundin neben ihr stand. „Und wenn mein Vater mir eine Jahresration Taschengeld dafür verspricht. Die können sich den ganzen bescheuerten Narrseval sonst wohin schmieren.“

Jo schickte mordlüsterne Blicke zu den zwei Krausköpfen, ihren pappnasigen Lieblings-Cousins.

„Und was macht der hier?“ Lisa deutete mit den Augen auf den Pitbull.

„Ist jetzt der Chef von diesem Verein“, flüsterte Jo. „EDU.“

„Wie man sich wandeln kann.“

Inzwischen hüpften die lustigen Cousins schon um die beiden schwarz geschminkten Gestalten herum und krakeelten „Neger, Neger, Schornsteinfeger“. Wie süß, man musste sie einfach gern haben! Ihre Mutter – also Jos Tante Adelgunde – ließ sich unterdessen vom Pitbullgesicht ausführlich eine der bunten EDU-Broschüren erklären.

In diesem Moment tauchte hinter dem Pitbull eine weitere schwarze Gestalt auf. Augenblicklich ließen die Krausköpfe von den Schornsteinfegern ab und näherten sich mit ungemein listigen Blicken ihrem neuen Opfer.

Lisa tippte Jo auf die Schulter. „Der Priester da, kommt der dir nicht irgendwie bekannt vor?“

„Nein.“ Jo war einfach nur sauer und an keinem Priester interessiert. Auch an keinem, der gerade ihre Cousins wie zwei lästige Stechmücken abschüttelte und direkt auf den EDU-Stand zusteuerte.

„Hochwürden!“ Der dicke Schornsteinfeger wischte sich den Schweiß von der Stirn und hinterließ ein neues Muster in seiner Schminke. „Darf ich Ihnen unsere aktuelle Hilfsaktion vorstell...“

„Der Junge da“, unterbrach ihn der seltsame Priester knapp. „Das ist der Knochenmark-Patient?“

„Ähm, Sie meinen Pjotr?“, fragte der Dicke und deutete mit dem Daumen über die Schulter auf das Plakat mit den Werbesprüchen und dem Bild eines graugesichtigen Jungen, dessen Augen in tiefen schattigen Höhlen lagen, und in dessen linkem Nasenloch ein Schlauch steckte. Das Unangenehmste an dem Bild aber war die Hand, die über die Schulter des Jungen nach vorne kroch. Fünf spinnenbeindünne Finger und zwischen Daumen und Zeigefinger ein silberglänzendes Messer. Ein Skalpell.

„Ich sehe sonst keinen anderen.“ Die Laune des Priesters konnte mit Jos mithalten. „In welchem Krankenhaus liegt der?“

Der Dicke schluckte. „Das … äh … darf ich nicht … Sie müssen verstehen, Diskretion. Also wenn jeder wüsste, wo … äh …“

„Und? Geht's ihm schon besser?“

„Jaja!“ Der kleine dicke Kopf wackelte in verschiedene Richtungen. „Schon besser.“

„Aha.“ Der Priester sah ihn scharf an, was die Schweißtropfen auf der schwarzen Stirn erheblich vergrößerte. „Das heißt, er lebt noch?“

Der Dicke blickte hilfesuchend zum Pitbull, der Adelgunde mit der Broschüre allein gelassen und sich neben dem Priester aufgestellt hatte.

„Kniest“, sagte er. „Eggbert Kniest.“

„Aha“, sagte der Priester wieder und ließ dabei den Dicken nicht aus den Augen.

„Geschäftsführer von Erbarme Dich Unser.“

„Das ist noch keine Antwort auf meine Frage.“

„Dem Patienten geht es den Umständen entsprechend. Er muss bald operiert werden. In meinem Sanatorium. Tja, und das kostet. Diese Afghanen sind ja nicht mal versichert.“

„Ich möchte wissen, ob er noch lebt.“ Mit einem schnellen exakten Schwenk hatte sich der Kopf des Priesters dem Pitbull zugewandt.

„Wie kommen Sie auf so eine lächerliche Frage?“

„Beichtgeheimnis.“ Die Augen des Priesters verengten sich.

„Sie sind doch niemals ein echter Pfaffe.“

„Sind Sie sich da so sicher?“

Der Pitbull war eine Spur in sich zusammengesunken. Eine Winzigkeit, aber der Priester hatte es gesehen. Auch Lisa war das nicht entgangen. Sie fasste Jos Hand und zog sie einen Schritt näher zum Stand.

„Nun?“ Die Stimme des Priesters war um einige Grad kälter geworden.

„Wer hat Ihnen denn so einen Unsinn gebeichtet?“

„Das ist immer noch keine Antwort.“

„Selbstverständlich lebt der … äh …“

„Ich hätte gern Ihre Visitenkarte.“

Einen Moment zögerte der Pitbull, dann hatte er seine Gesichtszüge wieder im Griff und fischte aus der Innentasche seines Jackets ein schmales Kärtchen. „Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie noch Fragen haben.“

„Genau das werde ich tun.“ Langsam drehte der Priester die Pappkarte zwischen den Fingern, als kontrolliere er das Vorhandensein einer Telefonnummer. „Sanatorium Sorgenfrey, soso.“ Dann steckte er sie in eine Tasche der Soutane, drehte sich weg und ging.

Pitbull sah ihm nach. Plötzlich wandte er sich ohne Vorwarnung an den Dicken. „Was redest du einen Stuss! Dem Patienten geht es nicht besser! Der braucht eine teure Therapie! Wofür sammeln wir denn eigentlich?“

Der kleine Dicke fror und schwitzte gleichzeitig. „J...ja, Chef.“

„Neger, Neger, Schornsteinfeger“, krähten wieder lustig die herzigen Zwillinge. Tante Adelgunde war ihnen mit watschelnden Schritten hinter den Tresen gefolgt und versuchte, sie zu ohrfeigen, verfehlte sie aber und traf stattdessen das Plakat mit dem hohläugigen Jungen, was einen spitzen Schrei des kleinen Dicken zur Folge hatte.

Während Adelgunde die Krausköpfe nun hinter dem Tresen hervor zerrte, sah Lisa, dass der seltsame Priester die Stufen von Sankt Urban hinaufstieg und sich neben einen ebenso schwarzgewandeten Mann stellte. Pastor Himmelmeyer. Die beiden schienen sich zu kennen. Und aus den Gesten des bärtigen Priesters, die eindeutig zum EDU-Stand wiesen, konnte Lisa leicht auf das Gesprächsthema schließen. Sie spürte zwei Hände, die sich in ihren Arm krallten.

„Kannst du mich jetzt verstehen?“, flüsterte Jo.

„Ich hab dich schon die ganze Zeit verstanden.“ Lisa hielt es nicht für nötig, leise zu sprechen. Auch nicht dem Pitbull aus dem Weg zu gehen, der sich nun schnaufend an ihr vorbei drängelte, Adelgunde und die Zwillinge hinterher. Erst als sie endlich außer Sicht waren, entspannte sich Jo.

„Und ich hatte gehofft, den nie wiederzusehen.“

Lisa nickte. Am EDU-Stand schimpfte gerade der lange Schwarze mit dem kleinen Schwarzen und bedachte ihn mit Ausdrücken, die selbst die Buckelsäcke hätten erröten lassen. Nur Lisa und Jo nicht. Sie waren bereits unterwegs zum Kunibald-Brunnen, schaun, ob die geballte Männlichkeit inzwischen vom Eisenritter erschlagen worden war. Kurz bevor sie den Brunnen erreichten, gellte ein Schrei über den Marktplatz, der sogar den Breselner Defiliermarsch übertönte, an dem sich die Schützenkapelle gerade versuchte.

„Tante Adelgunde!“, stöhnte Jo.

Tante Adelgunde von Breselberg-Rummelpott war schon etwas … speziell. Als Tochter von Kuno dem Kühnen vom Breselberg (1919 bis 1991) verbrachte sie ihre Jugend zusammen mit ihrer Schwester Tusnelda auf Burg Knittelstein, jener mittelalterlichen Festung auf der Spitze des Breselbergs, die der schon erwähnte Ritter Kunibald um das Jahr 1000 erbaut hatte. Beziehungsweise hatte erbauen lassen. Solche Leute bauten schon damals nicht selbst.

Vor dreizehn Jahren heiratete Adelgunde dann einen gewissen Humbert Rummelpott und zog mit ihm nach Augsburg. Ihre Zwillinge, die auf die lieblichen Namen Kurt und Knut hörten (oder nicht hörten), haben sich ja bereits unbeliebt gemacht. Tusnelda war grün vor Neid auf die jüngere Schwester gewesen und hatte alles daran gesetzt, sich den verwitweten Kaufmann Eduard zu angeln. Mitsamt seiner Tochter Josephine. Wie und warum ihr das tatsächlich gelang, darüber mag der Mantel des gnädigen Schweigens gebreitet bleiben.

Tusnelda starb vor anderthalb Jahren auf mysteriöse Weise, und es erschienen nicht viele Trauergäste an ihrem Grab. Eduard (jetzt Baron Eduard) wohnte seit dem mit seiner dritten Frau Elvira und seiner Tochter Josephine (also Jo) auf Burg Knittelstein und wurde in regelmäßigen Abständen von der Augsburger Fast-Verwandtschaft heimgesucht. Womit wir wieder bei Tante Adelgunde wären.

Man stelle sich eine wohlgenährte Dame vor, um die Fünfzig, die Locken seit neuestem zartlila gefärbt, mit zwei linken Händen und einem Handy am rechten Ohr.

„Nun geh schon dran!“ Das galt ihrem Gatten Humbert, der sich in diesem Augenblick mit dem Familienauto um Bresels Innenstadtring quälte und drei Buckelsäcke anhupte, die es sich auf seiner Motorhaube bequem gemacht hatten. Ausgerechnet jetzt klingelte sein Handy. Humbert tippte auf das Hörersymbol und verzog schmerzhaft das Gesicht, als Adelgundes Schrei seine Gehörgänge durchstach.

Was war geschehn?

Kurt und Knut – auch Kurz und Schlecht, oder einfach die Kukies, krause Locken und ebensolche Ideen darunter – hatten sich an zwei Feuerschlucker herangepirscht. Zwei sogenannte Brandkasper.

„Boah, eh!“

„Voll geil!“

Konnte man so sagen.

Die beiden lebenden Flammenwerfer jedenfalls verstanden ihr Handwerk. Sie schleuderten Lebkuchennasen zu Eins-Fünfzig von Bäcker Blume in die Luft und grillten sie im Flug. Die verkohlten Reste warfen sie den Umstehenden zu.

„Krass, Mann!“

Wieder hatte eine Nase die Feuertaufe bekommen. Und Hepp! flog sie … Das Erstaunliche war jetzt nicht, dass der Brandkasper Adelgunde ausgewählt hatte, sondern dass Adelgunde das verkohlte Teigstück tatsächlich fing! Und das bei ihren zwei nicht so geschickten Händen. Genauer: Sie fing es mit der linken Hand, denn die rechte pappte gerade das Handy ans Ohr. Und jetzt der schon beschriebene Schrei, der die Schützenkapelle übertönte und Humberts Trommelfell durchstieß.

Ein kurzer verwirrter Moment.

Dann warf Adelgunde das Teil so weit sie konnte von sich. Es landete nach circa drei Metern auf dem eisernen Hinterteil von Ritter Kunibalds Rappen, rutschte von dort durch das Schutzgitter des Marktbrunnens und verabschiedete sich in die Tiefe.

Mit der linken Hand presste Adelgunde nun die verkohlte Lebkuchennase an ihr Ohr und quiekte: „Humbert, bist du noch dran?“

Unten im Brunnenschacht betrachtete ein Frosch erstaunt das flache Ding, aus dem eine Männerstimme über irgendwelche blöden Breselner Säcke schimpfte.

Oben betrachtete Adelgunde nicht weniger erstaunt ihre leere rechte Hand.

Lechts und Rinks. Nicht immer leicht.

„Eggbert!“ Adelgunde winkte aufgeregt. „Ich brauche dringend mal dein Hääändy!“ Mit energischen Schritten näherte sie sich dem Herrn, dessen Gesicht arg an eine bullige Hunderasse erinnerte. Der Chef von Erbarme dich unser hatte sich Adelgunde und ihrem Anhang für diesen Narrseval-Spaziergang angeschlossen. Aus alter Verbundenheit, wie man so schön sagt. Ob er es längst bereute, ließ er sich zumindest nicht anmerken.

„Ich brauche dein Handy. Sofort.“ Adelgunde hatte noch nie viel Zeit mit Erklärungen vertrödelt.

„Moment.“ Eggbert durchsuchte seine Manteltaschen. „Siehst du die beiden Pfaffen da?“ Sein Kopf nickte zum Sankt-Urban-Portal. „Der eine ist der Kerl von eben mit seinen blöden Fragen.“

„Dein Handy“, wiederholte Adelgunde.

„Ob der Patient schon tot sei.“

„Und? Ist er tot?“ Einer der Krausköpfe, die hinter Adelgunde auftauchten, hatte das gefragt. Eggbert hatte Kurt und Knut noch nie auseinanderhalten können.

„Dein Handy!“

„Wisst ihr eigentlich, wie sich Mönche vermehren?“

Kurt und Knut wackelten mit den Nasen.

„Eggbert, dein Handy!“

Eggbert hielt ihr sein Mobiltelefon hin. „Ich brauche das aber sofort zurück!“

Adelgunde tippte schon Humberts Nummer. „Der weiß doch gar nicht, wo er uns finden kann.“

„Wie vermehren sich denn …“

Adelgunde packte Knuts Arm. „Jetzt kommt, schnell, Papa ist bestimmt schon … Ja, Humbert, ich bin's wieder!“, schrie Adelgunde das Handy an, während sie an ihren Jungs zerrte. „Jetzt lass mich doch mal ausreden. Also du fährst … dann lass sie auf der Motorhaube sitzen! … Ja, weiter über die Ampel … ach, da bist du schon … dann jetzt …“

Adelgunde zeterte den gesamten Weg bis zum Ulmer Tor. Kurt und Knut schnitten Grimassen und stolperten hinter ihrem breiten Rücken her.

„Da bist du ja!“, schrie Adelgunde plötzlich und steuerte auf ein zahnbelagfarbenes Auto zu, von dessen Motorhaube drei grinsende Buckelsäcke einen traurig blickenden Kollegen grüßten, und bei Adelgundes Gesichtsausdruck schleunigst das Weite suchten. Adelgunde klappte Eggberts Handy zu und hievte sich auf den Beifahrersitz. Kurt und Knut erklärten dem traurigen Buckelsack, dass man den Stuhl in seinem Sack auf den ersten Blick erkennen könne, und flohen auf die Rückbank.

Humbert ließ den Motor aufheulen. Breselner und andere Narren sprangen panisch zur Seite, und ein weinender Buckelsack zertrümmerte auf dem Bürgersteig einen hölzernen Stuhl.

„Naseeeee!“ Auf dem Marktplatz gab Ullis Vater immer noch keine Ruhe und die Breselner antworteten bereitwillig. „Brelau!“

Jo und Lisa lehnten am Kunibald-Brunnen.

„Dann muss ich wohl den Bus nehmen.“ Jos Laune war bei minus 180 angekommen. „Zum Narrseval begleiten darf ich meine geliebte Verwandtschaft, aber wenn Onkel Humbert sie mit dem Auto aufgabelt und zur Burg hinaufkutschiert, hat man mich leider völlig vergessen.“

Lisa sah ihrer Freundin hilflos nach, bis sie im Gewusel einer Horde Forzheimer verschwand. Nein, Jo war wirklich nicht zu beneiden.

Die Kapelle der Schützenbruderschaft Sankt Luitprand hatte wieder zu spielen begonnen und das Volk an den Getränkeständen wurde immer lustiger. Was man so lustig nennt. Ab und zu flogen verkohlte Lebkuchennasen durch die Luft, Bäcker Blume senkte seine Preise auf Eins-Dreißig, und Ullis Vater krähte schon merklich angeschlagen sein „Naseeeee!“

Manchmal fragte sich Lisa, was ihre Eltern bloß bewogen hatte, ausgerechnet hierher zu ziehen. Nach Bresel. Dem einzigen Ort dieser Welt mit Stadtplänen, wo Westen oben lag. Wo man Narrseval feierte. Und wo die berühmteste Touristenattraktion ein Drei-Nasen-Fenster war.

Mama und Papa Favretti hatten sich Mitte der Achtziger Jahre hier niedergelassen und eine Eisdiele aufgemacht, von der manche behaupten, sie sei die beste im ganzen Schwabenland. Lisas große Schwester Franka machte eine Banklehre bei der örtlichen Sparkasse. Lisa selbst ging in die siebte Klasse des Adalbertinums in Bresel-Neustadt. Jo, Hitzkopf Freddie und Jan ebenfalls. Der Rest von SchnürsEnkel besuchte die Parallelklasse.

Außer Robin, dem Bassmann. Da stand er wieder, an den Laternenpfahl gelehnt, blass wie immer, und telefonierte. Auf welche Schule ging der eigentlich? Lisa winkte. Robin steckte sein Handy weg und starrte auf irgendeinen Punkt hinter Lisa. Und rührte sich nicht. Langsam ging Lisa auf ihn zu.

„Da bist du ja.“

Lisa brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass nicht sie gemeint war, sondern Robin. Der Pitbull drängelte an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Der schon wieder.

„Seit einer Stunde suche ich dich. Komm jetzt, ich bringe dich nach Hause.“

Robin wurde noch eine Spur blasser. Pitbull kam dicht an ihn heran und legte den Arm um seine Schultern.

„Deine Schwestern warten auf dich.“

Lisa schlenderte wie unbeteiligt zum Kunibald-Brunnen. Dass Robin Schwestern hatte, war ihr neu. Sie lehnte sich an den Brunnenrand. Mit dem Pitbull hatte sie im letzten Jahr nur indirekt zu tun gehabt, was erklärte, dass er sie nicht erkannte. Im letzten Jahr war er Chef einer Leiharbeiterfirma gewesen, jetzt also von so einem Wohltätigkeitsvereins. Ein Chamäleon könnte über soviel Wandlungsfähigkeit vor Neid erblassen. Lisas Misstrauen war hellwach. Robins Gesicht konnte sie gut verstehen.

„Fass mich nicht an!“

„Schon gut, schon gut.“ Pitbull ließ den Jungen los und lachte. „Wolltest wohl deinen Freund noch mal sehen. Gefällt dir das Plakat?“

„Was ist mit Pjotr?“

Eine widerliche Lache hatte der Wohltäter. Und dann geschah etwas Unerwartetes. Felin stand plötzlich neben Robin, wie aus dem Nichts aufgetaucht. Mit einem entschlossenen Schritt trat sie zwischen ihn und Kniest.

„Lass ihn in Ruhe, du …“ Ihre Stimme war nicht sehr laut, aber klar und scharf.

Pitbulls Miene verfinsterte sich schlagartig. „Pass auf, dass du nicht bald dran bist“, presste er zwischen den Zähnen hervor, wenn Lisa ihren Ohren trauen konnte.

Felins Augen sprühten Hass, blanken Hass.

„Ist okay, Felin. Bis später.“ Robin sah sie an. „Ich hab's vergessen.“

Langsam drehte Kniest sich um und packte Robins Arm. Selbst als sie fort waren, wich die Anspannung nicht aus Felins Körper. Lisa ging einen Schritt auf sie zu.

„Felin?“

„Naseeeee!“, brüllte Ullis Vater über den Platz.

„Alles klar?“ Keine gute Frage, dachte Lisa.

Die fröhlichen Breselner antworteten: „Brelau!“

Plötzlich atmete Felin, als hätte sie für lange Zeit die Luft angehalten. Sie sah an Lisa vorbei auf die schunkelnde und singende Menge, die Robin und den Pitbull geschluckt hatte.

„Woher kennt ihr den?“ Lisa kam noch etwas näher.

Doch Felin schüttelte hastig den Kopf. „Vergiss es“, sagte sie, so leise, dass Lisa nicht sicher war, ob sie richtig verstanden hatte, und rannte davon. So plötzlich, wie sie aufgetaucht war.

Lisa sah ihr nach. Mit einem komischen Gefühl im Magen. Entweder stimmte heute mit ihr selbst etwas nicht, oder der Narrentanz war durchgeknallter als je zuvor. Eine Ordensschwester beichtet einen Mord, ein möglicherweise verkleideter Priester fragt, ob ein Patient noch lebt, der Chef vom Spendenstand droht einem Mädchen, sie könne bald dran sein, und nimmt den blassen Robin mit. Zu seinen Schwestern.

Lisa blickte auf. Waren heute die Farben anders? Hatte sie etwas Falsches gegessen? Sie war ohne es zu bemerken schon am Rathaus vorbei und im Museumsweg gelandet. Links die mächtige Fassade des Historischen Museums, rechts die Häuserlücke, die die abgerissene Volkshochschule hinterlassen hatte. Und davor redete der haarloser Schädel des Pitbulls auf Robin ein. Grob packte er den Arm des Jungen und zog ihn weiter. Lisa folgte ihnen wie ferngesteuert.

Am Augsburger Ring bogen sie nach rechts ab, Richtung Capitol-Kino. Dort wartete ein silbergrauer BMW im Halteverbot. Eggbert Kniest schob den Junge in den Wagen und kletterte auf den Fahrersitz. Mit quietschenden Reifen fuhren sie los. Lisa starrte ihnen bewegungslos hinterher.

Erst als eine Horde Lachweiber ihr Gesichtsfeld bevölkerte, rieb sie ihre Augen und war sich wieder nicht sicher, ob sie geträumt hatte. Was hatte Robin bloß mit diesem schmierigen Typen zu tun?

Wie von selbst fanden ihre Füße zurück zum Marktplatz. Eigentlich ging sie das ja überhaupt nichts an. Kümmer dich um deinen eigenen Kram!, hatte Freddie gesagt. Vielleicht hatte er ja recht.

Als Lisa den Kunibald-Brunnen erreichte, schlug Sankt Urban fünf. Sie schaute am Turm hoch. Der Wetterhahn auf der Spitze schwankte im Wind, aber er hielt. Plötzlich wusste Lisa, dass sie diesen Narrseval-Spaß nicht eine Sekunde länger ertrug. Auf dem Absatz machte sie kehrt. Irgendwo zwischen den Brandkaspern glaubte sie Felins mondscheinbleiches Gesicht zu sehen. Oder auch nicht. Ein paar Buckelsäcke versperrten ihr den Weg. Lisa drängelte an ihnen vorbei. Ihre Schritte beschleunigten sich. Nur weg von diesen Lachmäulern, weg von all den kreischenden Weibern, den grinsenden Hobelitzen, den Schabracken, Hohnepipeln und Forzheimern. Und Pitbulls.

Lisa rannte. Als sie längst die elterliche Eisdiele in der Schulstraße erreicht hatte, hörte sie noch Ullis Vater grölen: „Naseeeee!“ Lisa hielt sich die Ohren zu, um die Antwort draußen zu lassen.

Es reichte. Wirklich.

Miserere nobis

Und wie es reichte!