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Im Salzstock Helldor soll Atommüll endgelagert werden! Die Bundesregierung ist froh, nach dem Asse-Desaster endlich eine Lösung für ihr größtes Problem gefunden zu haben, besonders jetzt, wo der Atomausstieg beschlossen ist und nach der Fukushima-Katastrophe die Angst vor dem kontaminierten Abfall wächst. Noch dazu stehen entscheidende Wahlen an. Doch ist bei der Helldor-Genehmigung alles sauber gelaufen, oder wurden gewisse Personen unter Druck gesetzt? Offenbar hat der krumme Graf Kronk seine Finger im Spiel, der auf seiner düsteren Burg Mordent sitzt und auf Rache an den Helldor-Kobolden sinnt, mit denen er eine Jahrhunderte alte Rechnung offen hat. Ela und die WAAMPIRE geraten zwischen die Fronten einer Kobold-Fehde, und Kommissar van der Velde, der eigentlich zwei mysteriöse Salzmorde aufklären soll, glaubt bis zum Schluss nicht an Zauberei. Und an Kobolde schon gar nicht. Ein Fantasy-Krimi um unerklärliche Morde, die Verstrickung einer Kleinstadt in alte Geschichten von Gier und Verrat, zwei verfeindete Kobold-Stämme und den Kampf der Weißenhaller WAAMPIRE für den Erhalt des Helldor-Stollens und der wahren Rolling Stones.
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Seitenzahl: 503
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Gerhard Gemke
Cave Cobaltum
Ein Fantasy-Krimi
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Impressum neobooks
Verborgen liegt das Wort
unter blauer Flut
an rundem gläsernen Ort.
Sag es und alles wird Stein,
dreh es und totes Gebein
wird dein Diener sein.
***
Welchen Tod würde er wählen?
Mit geübten Handgriffen machte der Pilot die Cessna startbereit. In der sengenden Sonne, die die Luft über dem Rollfeld vibrieren ließ, kontrollierte er die Höhen- und Seitenruder, prüfte den Treibstoff und checkte die Geräte. Wollte er als Granitblock enden, oder in einem Feuerball verglühen? Jade tippte auf das zweite. Mit halb geschlossenen Augen betrachtete sie den Schweißflecken auf seinem Rücken, der schnell größer wurde und aussah wie ein Clownsgesicht.
Al Mandin, der Pilot. Ausgerechnet jetzt hatte er sie zu einem Flug eingeladen. Jade fragte nicht nach dem Grund, sie kannte ihn längst. Und was interessierte sie die Antwort eines Todgeweihten? Ihm blieben noch zwei Stunden, vielleicht nur eine einzige. Am Ende dieses Tages würde er Geschichte sein. Endgültig.
„Hi, wie seh ich aus?“
Jade drehte den Kopf möglichst langsam in Richtung der schrillen Stimme. Passagier Nummer drei. Ein sehr offensichtlich weibliches Wesen, das auf hochhackigen Stiefeletten durch das taunasse Gras stakste. Sie hatte sich soeben im Seitenspiegel eines LKW die Lippen nachgezogen, zur Freude der beiden Fahrer, die im Spiegel Beatrix bis zum Bauchnabel inspizieren durften.
Beatrix. Sugarbaby.
Kollateralschaden, sorry, dachte Jade und betrachtete die aufgespritzten grellroten Lippen. Worauf Kerle so standen. LKW-Fahrer. Und Piloten. Vermutlich werden die Dinger beim Aufprall platzen und blutigen Botoxbrei verspritzen. Jade lächelte, weil ihr die Vorstellung gefiel.
„Huhu, meine Liebe.“
Das Botox wurde zu einem Kussmund verformt und Jades Schultern verkrampften sich, als Beatrix ihren verschwitzten Arm darum legte und sie in Als Richtung schob.
„Ich stehe auf arbeitende Männer“, hechelte Sugarbaby.
Jade wand sich aus der Umklammerung. Sollte sie noch ein letztes Mal auf irgendetwas stehen. Auch ihre Zeit war abgelaufen, definitiv. Jade sah sich um. Der Start war für neun Uhr vorgesehen. Die Flugplatzuhr zeigte elf Minuten vor. Es fehlte noch der vierte Passagier. Der hatte sich erst vor wenigen Tagen angemeldet. Ein Bekannter, hatte Al genuschelt, der dringend nach Berlin müsse und wegen des Pilotenstreiks keine Linienmaschine nehmen könne.
Muss ich mitnehmen.
Nun gut. Jade war am Ende ihres Weges angekommen. Sie war nicht mehr bereit, Rücksichten zu nehmen, auf nichts und niemanden. Um Beatrix tat es ihr nicht leid, um den unbekannten vierten Mann ebenfalls nicht. Jade hatte unwiderruflich beschlossen, dass es vorbei war. Und Al durfte seinen Weg ins Jenseits selbst wählen – zumindest in einem begrenzten Rahmen. Einem von ihr begrenzten Rahmen.
Versteinern oder verglühen.
Al schaute auf und lächelte an Beatrix vorbei in ihre Richtung. Jade lächelte zurück. Es war Sonntag, der 10. Juli, der bisher heißeste Tag des Jahres, drei Monate, nachdem alles begann, drei Monate für die Strecke vom Leben zum Tod.
Drei Monate und eine Woche vorher, Sonntag, 3. April, Weißenhall. Eine halbe Stunde vor Mitternacht.
Ela lauschte in die Stille des dunklen Hauses. Hatte sie ein Geräusch gehört? Draußen schlugen die Zweige der Buche gegen die Hauswand. Eine windige Nacht kündigte sich an, viel zu kalt für die Jahreszeit. Ela wandte sich wieder ihrem Laptop zu, sie hatte sich wohl getäuscht. Das Chatfenster der WAAMPIRE-Seite war geöffnet. Niemand war noch on, außer MissVerständnis. Die letzten Einträge zeigten die üblichen Verabschiedungssprüche der anderen. Bis(s) neulich, cu, halt dich grade, keep smiling und so weiter. Gähn.
Ela hatte sich längst ebenfalls ausloggen wollen und das müde Geschwätz heute Abend nur ertragen, weil sie auf Beryll wartete. Die Lösung der dritten Matheaufgabe hatte sie ihm versprochen. Wie kann ein Läufer A einen Läufer B überholen, wenn A doppelt so schnell ist, B aber 100 Meter Vorsprung bekommt? Sobald A den Startpunkt von B erreicht hat, ist B schon 50 Meter weiter. Wenn A diesen neuen Startpunkt erreicht, ist B aber längst 25 Meter voraus. Der Abstand halbiert sich also ständig, aber A kommt nie an B vorbei. Oder doch?
Da war es wieder, ein Knirschen von Schuhsohlen auf Kies. Ela schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Der Bildschirm tauchte das Zimmer in fahles Licht, gerade hell genug um dem Chaos auf dem Boden auszuweichen. Auf Zehenspitzen näherte sie sich dem Fenster und schob den Vorhang zur Seite.
Der Bürgersteig vor dem Haus war menschenleer. Der Wind, der laut Wetterbericht im Laufe der Nacht Sturmstärke erreichen sollte, zerrte an den Buchenästen. Elas Aufmerksamkeit richtete sich auf die Straße, dann auf den Schatten des Rhododendrons bei der Haustür. Die Tür selbst konnte sie nicht erkennen, dafür aber ein helles Rechteck, das sich unruhig auf und ab bewegte. Das Display eines Smartphones. In seinem Widerschein tauchte ein Wolfsgesicht auf, vorstehende Schnauze und tiefe Augenhöhlen. Eine optische Täuschung natürlich.
Gleichzeitig hörte sie Telefonklingeln unten im Haus und Sekunden später die Stimme ihres Vaters. Absätze knallten auf den Steinfußboden und die Haustür wurde geöffnet. Mit einem Sprung hatte der Wolf den Schatten verlassen und war im Haus verschwunden. Für einen Moment hatte Ela in das bärtige Gesicht geblickt, in die Augenkrater. Blitzschnell war sie zurückgewichen, so hastig, dass der Vorhang flatterte. Hatte er die Bewegung bemerkt? Unten im Haus hörte sie Stimmen. Unverständliche Worte, eindeutig wütender als beim ersten Besuch des Wolfs vor drei Wochen.
Ela kannte die Fußbodendielen ihres Zimmer genau genug, um lautlos zur Zimmertür zu gelangen. Ihre Knie knackten, als sie sich hinhockte und das Ohr ans Schlüsselloch presste.
„… Operation beginnen!“, verstand sie. Ihr Vater antwortete, aber zu leise. Es folgte ärgerliches Gemurmel, bis die Stimme des nächtlichen Besuchers wieder lauter wurde. Eine letzte Frist! Und dann das Wort Bergfrieden, das als Echo in ihrem Kopf widerhallte. Oder war es ihrer überdrehten Fantasie entsprungen, die sich in diesem Moment ausmalte, wie sich das Gesicht des Wolfes dem ihres Vaters näherte. Ela glaubte seinen stinkenden Atem riechen zu können, als er Noch eine Woche knurrte.
Sie warf einen schnellen Blick zum Bildschirm. Dort hatte ein kaum hörbares Pling das Eintreffen eine neue Nachricht angekündigt. Beryll war jetzt on. Ela wagte nicht aufzustehen, sie hatte Angst, dass das Knacken ihrer Knie sie verraten würde. Erst als die Haustür ins Schloss gefallen war, erhob sie sich. Mit wenigen Schritten stand sie am Fenster. Von dem bärtigen Besucher war schon nichts mehr zu sehen. Verlassen lag der Asphalt im gelben Licht der Straßenbeleuchtung. Eine Katze huschte über die Fahrbahn, auch sie schwarz wie die Augenhöhlen des Wolfs. Für eine Sekunde spiegelte sich das Laternenlicht in ihren phosphoreszierenden Pupillen, dann hatte sie die Nacht verschluckt. Der Wind hatte mittlerweile weiter zugelegt. Vier hohe und zwölf tiefe Glockentöne wehten in Fetzen vom Kirchturm herüber. Mitternacht.
Als Ela wieder vor dem Bildschirm saß, brauchte sie mehrere Anläufe, bis sie sich auf die Nachrichten konzentrieren konnte. Beryll hatte sich inzwischen entnervt verabschiedet.
blöd dassdu nicht antwortest! anderweitig beschäftigt odre was?
Und direkt darunter: hi noch jemand wach?
Ela hatte den allgemein zugänglichen Teil des WAAMPIRE-Chats geöffnet. Hier war es für jeden möglich sich einzuloggen und zu schreiben. Dem hier war sie noch nie begegnet. kobold nannte er sich. Oder nannte sie sich.
MissVerständnis schrieb: ?
kobold: ist doch die site von wampire
Klar war sie das, stand doch laut und deutlich und mit Doppel-A oben über dem Chatfenster.
MissVerständnis: steht doch da
kobold: bist du eine von denen?
MissVerständnis: jap
kobold: könn wir pvt?
MissVerständnis: y?
kobold: ich will nich das jeder mitlist
Ela hatte den Mauspfeil auf seinen Chatnamen geschoben. kobold hatte kein Bild oder sonst etwas über seine Person angefügt.
MissVerständnis: was wichtiges?
Im selben Moment öffnete sich ein weiteres Fenster, in dem Ela mit dem Unbekannten privat chatten konnte. Falls sie die Einladung annahm. Ela nahm an.
MissVerständnis: also was gibts
kobold: was wollte der kerl?
MissVerständnis: ?
kobold: du weißt wer
Ela zögerte. Konnte kobold den Wolfsbesuch meinen? Was sonst, aber wieso wusste der davon? Und was sollte die Fragerei?
MissVerständnis: keine ahnung
kobold: schonma was von bergfrieden gehört
Ela zögerte. Vorsicht!
MissVerständnis: wer bist du?
kobold: egal
Sollte sie das hier abbrechen? Andererseits …
kobold: du hast also davn gehört – der typ ist gefärlich
MissVerständnis: wieso
kobold: es geht um helldor
MissVerständnis: na und?
kobold: asse 2 klappt nicht also jetz helldor
MissVerständnis: quatsch
kobold: ich meld mich wieder
MissVerständnis: was willst du?
Keine Antwort. kobold hatte sich ausgeloggt.
Draußen schlugen die Zweige der Buche wie Peitschen gegen die Hauswand. Ihr Vater hatte den Baum längst fällen wollen. Ela fuhr den Rechner runter und legte sich aufs Bett. Lange lauschte sie dem heulenden Sturm.
Drei Tage hörte sie nichts mehr von kobold.
Am nächsten Morgen verließ ihr Vater schon früh das Haus. Ela frühstückte allein und machte sich kurz vor neun auf den Weg zur Schule. Als sie die Haustür öffnete, knirschte etwas unter ihren Sohlen. Feine weiße Krümel lagen auf der obersten Stufe. Die Schuhe ihres Vaters hatten schon viel verwischt, trotzdem war die Zeichnung noch zu erkennen, die dort hingestreut war. Eine Art … Gesicht aus Salz.
Sonntag, 10. Juli, 8.57 Uhr. Flugplatz.
Jade hasste sein Grinsen. Jade hasste die Lässigkeit, mit der Al der Cessna einen Klaps gab und Sekunden später auch ihr. Und sie hasste die Vorstellung, dass Beatrix ebenso bedacht wurde, sobald Jade ihnen den Rücken zudrehte, und dass Beatrix dabei quiekte wie ein … egal. Das Schlimmste war, dass sie selbst so gequiekt hatte. Das war nun vorbei. In sehr naher Zukunft hatte es sich ausgequiekt, für alle drei. Oder genauer für alle vier, falls der vierte Passagier endlich kam.
Al Mandin, der Pilot. Der Held. Das Schwein. Sie war ihm freiwillig gefolgt und für kurze Zeit hatte sie geglaubt, ihre Flucht hätte ein Ende, Weißenhall wäre vergessen, die Behörde weit weit weg. Und die Hölle, zu der alles von dem Tag an wurde, als sich die Tür öffnete und diese gebückte Gestalt ihr Büro betrat. Genauer das Büro ihres Chefs, der ihr gegenüber hinter dem größeren Schreibtisch saß. Jade erinnerte sich sogar an das Datum. Montag, 4. April.
„Kronk“, stellte sich die Gestalt vor, „Graf Diopsid Kronk.“
Jade hatte ihn auf der Stelle erkannt. Er steuerte direkt auf Heribert Meier zu, ohne von ihr Notiz zu nehmen. Modriger Altmännergeruch wehte ihm nach. Es ginge um dieses Projekt, die Operation Bergfrieden, Meier wisse ja Bescheid. Warum es so lange dauere. Ob es Probleme gäbe.
Der Graf hatte Jade seinen gekrümmten Rücken zugewandt, während er ihren Chef mit rasselndem Wortschwall überschüttete. Jade spürte, wie die Narbe auf ihrer linken Wange mit jedem seiner Worte dunkler glühte. Da stand er zum Greifen nahe. Diopsid Kronk! Jades linke Hand umklammerten den Brieföffner, ein Geschenk ihrer Urgroßmutter. Den jetzt in diesen Rücken rammen! Jade vernahm Kronks schnarrende Stimme wie aus weiter Ferne, als hallte sie in einem unendlichen Raum.
„… kann die Stadt Weißenhall an den Einnahmen beteiligt werden, wenn die Fässer von einem Firmen-Konsortium unter meiner Führung zum Salzstock transportiert werden.“
Meier stammelte irgendwas von einem Planfeststellungsverfahren, das noch nicht abgeschlossen sei. Jade starrte ihn fassungslos an. Was hatte sie in den letzten zwei Monaten verpasst?
„Ich gehe davon aus, dass Sie recht bald die Eignung der Helldor-Stollen bestätigen werden.“ Kronk klang sehr sicher. „Sie tun damit nicht nur sich selbst einen großen Gefallen, sondern auch dem Herrn Forestier, wenn Sie verstehen.“
Jade sah Meier so eifrig nicken, dass ihm die Lesebrille von der kurzen Nase rutschte, während Kronks Rücken vor Zufriedenheit bebte. Meier schob seine Sehhilfe wieder zurück und warf einen warnenden Blick auf Jades Hand, die sich immer fester um den Brieföffner krallte. Der Graf hatte den Blick bemerkt und drehte sich langsam um. Jade zwang sich ruhiger zu atmen und ihm gerade in die Augen zu schauen.
Falls er sich mit Meier allein geglaubt und jetzt beim Anblick ihres narbigen Gesichts erschrocken hatte, war Kronk das nicht anzumerken. Nur seine Augen rollten, als müssten sie in Sekundenschnelle Jade und die gesamte Umgebung scannen. Seine Lippen bewegten sich unablässig und lautlos und mit ihnen die zerklüftete Nase und der spärliche Bart, der wie Moos an einem modrigen Baumstumpf bis zu seinen erstaunlich spitzen Ohren kroch. Wie bei einem alten Karpfen, der Wasser durch seine Kiemen pumpte.
Schweratmend stützte er sich auf seinen Stock und hob ohne Vorwarnung den linken Arm. Ein gichtgekrümmter Zeigefinger richtete sich auf Jades Hals. Trotz der Entfernung glaubte Jade zu spüren, wie sich der gelbe spitze Nagel in ihre Kehle bohrte.
„Was haben Sie da!“
Die Knöchel von Jades linker Hand traten weiß hervor und der Brieföffner bog sich. Aber sie hielt seinem Blick stand. Ohne zu antworten.
„Die Kugel da.“
Jade war längst klar, dass sich der Finger nicht auf ihr Gesicht, sondern auf ihren Hals richtete, auf die Glaskugel, deren Gewicht sie deutlich auf ihrem Brustbein spürte.
„Wagen Sie es nicht!“
Ein Speichelfaden floss aus Kronks rechtem Mundwinkel.
„Woher haben Sie die?“
Jade schob ihren Stuhl rückwärts bis zur Wand. Sie würde diesem Gnom nicht antworten, und schon gar nicht auf diese Frage.
„Woher?“
Hinter Kronk hatte sich Meier erhoben und kam mit unsicheren Schritten näher.
„Aber Frau von Bronsky, sie können doch dem Herrn Grafen …“
„Fassen Sie mich nicht an!“ Es war genauso scharf herausgekommen, wie Jade es beabsichtigt hatte, und bewirkte, dass Kronk seinen Arm sinken ließ. In seinen Augen stand deutlich Wir sehen uns noch! Jade schüttelte langsam den Kopf. Kronk stieß seinen Stock in den Boden und hinkte zur Tür.
„Narbengesicht.“
Vielleicht hatte Jade sich das Wort nur eingebildet wie vorher den Satz in Kronks Augen. Aber sie zweifelte nicht an ihrem Verstand. Noch nicht.
Sie sah ihn im gelben Licht der Straßenlaterne vor ihrem Haus. Sie hatte die Abendrunde mit Ronja beendet. Ronja knurrte und ihr Nackenfell sträubte sich. Jade hielt die Hündin zurück, beruhigte sie aber nicht.
„Was wollen Sie?“, fragte sie, als sie sich auf Hörweite genähert hatte.
Kronk schien zu lächeln, so weit das mit seinem Gesicht möglich war.
„Eine schöne Kugel haben Sie da.“
Jade sah ihn regungslos an. Man hatte ihm damals nicht nachweisen können, dass er den Unfall verursacht hatte, von dem sie die Narbe als Erinnerung behalten hatte. Daran ist der Graf schuld!, hatte Katarina gesagt. Katarina, ihre Urgroßmutter.
„Ich biete Ihnen eine hübsche Summe, wenn Sie mir …“
„Verschwinden Sie!“, fauchte Jade und in Ronjas Kehle rollte ein drohendes Knurren.
„Halten Sie den Hund fest.“
„Nur so lange ich kann.“ Jade tat, als müsse sie Ronja mit aller Kraft zurückreißen. Sie wartete, bis die gebeugte Gestalt hinter der nächsten Straßenecke verschwand. Dann betrat sie das Haus der Bronskys. Aus dem Zimmer ihres Bruders dröhnte Death Metal, ihr Vater hatte sich wie üblich in seinem Arbeitszimmer verschanzt. Jade füllte Ronjas Futternapf und ging hinauf ins Bad. Vor dem Spiegel nahm sie langsam die Halskette ab, an der die Glaskugel in einem Geflecht aus Silberdraht hing. Diese Kugel hatte sie an einem ganz besonderen Ort gefunden, einem Ort, den Katarina für sie ausgesucht hatte. Und jetzt tauchte der Graf auf und bot ihr Geld dafür. Eine hübsche Summe. Und machte einen Deal mit Meier. Was war geschehen in den zwei Monaten, die sie außer Gefecht war.
Jade beschloss, die Kugel zurück in Katarinas Versteck zu legen. In den Bauch des Bären Bramabas.
Für den nächsten Morgen hatte sie sich vorgenommen, Meier zur Rede zu stellen. Gestern, nach Kronks Auftritt im Büro, hatte es ihr Chef sehr eilig gehabt, aber heute würde er ihr antworten müssen. Doch Meier kam ihr zuvor. Er habe sie schon lange informieren wollen, eröffnete er ihr, als sie gegen neun das Büro betrat, aber aus Rücksicht auf ihre Krankheit … Meier lächelte nachsichtig. Die Operation Bergfrieden sei ein Teilbereich eines umfassenden Projekts namens Helldor 21, dessen Leitung und Organisation man „von höchster Stelle“ in seine Hände gelegt habe. Hierbei streckte Meier seine Hände vor, als ob Jade seinen Ausführungen sonst nicht folgen könne. Es ginge um die Einlagerung spezieller Abfälle in dem seit langem stillgelegten Salzstock.
„Sie kennen den Stollen.“
Sicher kannte Jade den Helldor-Stollen.
„Was hat Kronk damit zu tun?“
Nichts, erklärte Meier. Der Graf habe Helldor lediglich als idealen Ort für die Einlagerung vorgeschlagen. Dankenswerterweise. Und einen Firmen-Verbund gegründet, der alle wichtigen Aufgaben und Arbeiten im Zusammenhang mit Helldor 21 übernehmen könne. Ideal sozusagen. Sicher müsse man ein Projekt dieser Größenordnung europaweit ausschreiben, aber Kronks Konsortium habe beste Aussichten, den Zuschlag zu bekommen. Und jetzt, schloss Meier mit einem wichtigen Blick auf seine Armbanduhr, habe er einen Termin beim Bürgermeister.
Jade blieb hinter ihrem Schreibtisch sitzen. Über ihrem Kopf hing eine vergrößerte Fotografie des schiefen Turms von Pisa, die Meier noch nie hatte leiden können. Eben deshalb mochte Jade sie nicht abnehmen. Lange starrte sie auf die geschlossene Bürotür.
kobold: hi ich bins
Ela hatte fast schon den merkwürdigen Chat vom Sonntag vergessen. Wie beim ersten Mal war es kurz vor Mitternacht, als sich kobold einloggte.
kobold: habt ir schon was unternomen?
Was wollte der Typ?
MissVerständnis: worum gez
kobold: operazion bergfrieden
MissVerständnis: ?
kobold: helldor wird das neue asse
Ela zögerte. Entweder war das ein Spinner, oder …
MissVerständnis: wer sagt das
kobold: ich
Ein Spinner, eigentlich mehr als klar.
MissVerständnis: wer ist ich
Das Fenster wurde geschlossen, kobold hatte sich verpixelt. Aber es gab ein paar Experten bei den WAAMPIREn, die seine IP-Adresse rauskriegen konnten. Falls Ela sich entschließen sollte, kobold so ernst zu nehmen, dass sie die Experten informierte. Danach sah es nicht aus.
Nebenan wurde eine Zimmertür geschlossen, ihr Vater ging zu Bett. Elas Mutter war fort. Sehr weit fort, hatte Papa gesagt, sie wird nicht zurückkommen. Die Erinnerung an Charlotte war beinahe verblasst. Ela machte in einem Jahr Abitur. Solange würde sie in Weißenhall bleiben, bei ihrem Vater. Außerdem hatte Ela hier ihre Leute.
Ela fuhr den Rechner runter und löschte das Licht.
Jasper Reineke war Bürgermeister von Weißenhall Er lag auf seinem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Am Nachmittag hatte er ein längeres Gespräch mit Heribert Meier geführt, dem Projektleiter von Helldor 21. Alles lief reibungslos, niemand hatte Einwände angemeldet. Herzliche Grüße von Forestier. Jasper Reineke war erleichtert. Da konnte der Kerl ruhig wiederkommen. Der mit dem Wolfsgesicht.
Für Jade war es kein Problem, die entsprechenden Unterlagen einzusehen. Als Meiers Sekretärin hatte sie freien Zugang zu den meisten internen Akten, oder sie wusste, wo sie suchen musste. Bis zum nächsten Montag hatte sie herausgefunden, um welche Art „spezieller Abfälle“ es bei Helldor 21 tatsächlich ging. Um schwach und mittelstark strahlenden Atommüll, der in dem 1911 stillgelegten Salzstock Helldor verschwinden sollte. Meier war mit der Koordination und Ausführung beauftragt worden. Jade fand ein Schreiben des Bundesumweltministeriums, in dem man großes Interesse an dem Projekt bekundete. Unterzeichnet war es mit dem charakteristisch unleserlichen Schriftzug von Edouard Forestier, dem seit der letzten Wahl zuständigen Minister. Angeblich war Helldor schon früher im Gespräch gewesen, doch man hatte 1967 den Salzstock Asse bei Braunschweig vorgezogen, den die GSF – Gesellschaft für Strahlenforschung – offiziell als Forschungsbergwerk betrieb, aber jahrzehntelang zur Lagerung von Atommüll missbrauchte. Dumm gelaufen, denn der als so sicher gepriesene Salzstock war undicht. Jetzt stand die Bundesregierung vor dem Problem, die maroden Fässer aus der Asse wieder rauszubekommen und woanders verschwinden zu lassen. Selbstverständlich auf Kosten der Steuerzahler. Doch welch Überraschung, niemand wollte das Zeug vor seiner Haustür haben, erst recht nicht nach dem Schock, den die Reaktorkatastrophe von Fukushima ausgelöst hatte, heute vor genau einem Monat. Damit nicht genug standen in einigen Bundesländern Landtagswahlen an. Schöne Scheiße.
Jade lehnte den Kopf gegen den schiefen Turm von Pisa. Sämtliche Vorbereitungen für Helldor 21 waren in den letzten zwei Monaten durchgezogen worden, die sie in einer Ostseeklinik im letzten Winkel von MeckPomm verbracht hatte. Sogar die öffentliche Auslegung der Pläne, ohne eine einzige Reaktion innerhalb der Widerspruchsfrist. Zumindest bei so etwas konnte man sich auf die Weißenhaller verlassen – in manchen Augen regelrecht ein Standortvorteil.
Jade stöhnte. Wäre sie nur hier geblieben. Und jetzt kam Meier auch noch mit Er habe sie schon lange informieren wollen, aber aus Rücksicht auf ihre Krankheit … Lächerlich! Eine glatte Lüge. Meier konnte nach Kronks Auftritt bloß nicht mehr zurück. Überhaupt Kronk. Als Unternehmer war er nach Jades Kenntnis noch nie in Erscheinung getreten, und plötzlich hieß es, sein Firmen-Konsortium habe die besten Aussichten, sich an dem Projekt eine goldene Nase zu verdienen.
Aber so schnell ging das nicht. Nicht bei dem Giftzeug, an dem man noch in ein paar tausend Jahren Spaß haben würde.
Um so überraschter war Jade, als Meier sie schon tags darauf anwies, einen Vertrag mit AniBehConsort vorzubereiten, über die Durchführung aller Arbeiten im Zusammenhang mit Helldor 21. Betreiber des ABC-Konsortiums war Graf Diopsid Kronk. Jade war fassungslos. Sie wartete den Büroschluss ab, um Heribert Meier darauf anzusprechen.
„Die Sache mit Helldor …“, begann sie.
„Hören Sie, Frau von Bronsky.“ Meier benutzte als Einziger konsequent das von, wenn er Jade ansprach und es klang jedesmal wie eine Narbe auf ihrem Namen. Jade war überzeugt, dass Meier diesen Effekt beabsichtigte.
„Diese Sache, wie Sie es nennen, Frau von Bronsky, hat allerhöchste Priorität. Heute morgen hat sich Bürgermeister Reineke persönlich an mich gewandt und eine schnelle Erledigung des Genehmigungsverfahrens angemahnt.“
„Aber …“, versuchte Jade zu widersprechen. Es müssen doch neue Untersuchungen des Helldor-Stollens vorgenommen werden, wollte sie hinzufügen, aber Meier ließ sie nicht zu Wort kommen.
„Wir können uns auf Gutachten berufen, die Helldor mindestens ebenso gute, wenn nicht in einigen Punkten wesentlich bessere Eigenschaften attestieren als vergleichbaren Standorten. Im übrigen haben wir die volle Unterstützung des Umweltministers der Bundesrepublik Deutschland.“
Heribert Meier atmete schwer, als hätte ihn diese aufgeblasene Feststellung überanstrengt. Jade nutzte die Pause.
„Die Gutachten, von denen Sie sprechen, sind mehr als vierzig Jahre alt. Damals waren die Richtlinien längst nicht so streng wie …“
„Frau von Bronsky.“ Wenn Meier schon die Arme hinter dem Rücken verschränkte und seinen Bauch vorstreckte. „Über diese Gutachten befinden Spezialisten, die in den letzten Wochen großartige Arbeit geleistet haben, und nicht Sie. Das übersteigt, wie Sie sicherlich einsehen werden, ihre Befähigung bei weitem. Und glauben Sie nicht, es sei uns entgangen, dass Sie in den letzten Tagen in den Helldor-Akten herumgeschnüffelt haben. Ich will Ihnen trotzdem entgegenkommen. Helldor 21 bedeutet für Weißenhall einen erheblichen Aufschwung. Das Projekt zieht bedeutende Investitionen in die Infrastruktur unserer Region nach sich, zum Beispiel eine bessere Anbindung an das Schienennetz der Bahn. Ich sage nur: Arbeitsplätze. Zudem handeln wir im ureigenen Interesse der gesamten Republik, wenn Sie mir folgen können.“
Arrogantes Arschloch! Jade hielt Meiers Blick stand, den der wohl für durchdringend hielt. Der Spitzbauch des Amtsleiters hatte sich ihr bis auf wenige Zentimeter genähert. Und was für rosige Aussichten zauberten plötzlich ein solch dämlich-glückliches Lächeln auf sein Gesicht?
„Herr Meier, ich kann nicht akzeptieren …“
„Sie haben mir nicht richtig zugehört, Frau von Bronsky.“ Meier lächelte noch immer. „Es ist nicht Ihre Aufgabe, die Entscheidungen dieser Behörde zu akzeptieren.“
„Aber …“
„Liebe Frau von Bronsky, jetzt beruhigen Sie sich erst mal.“
Jade wusste, dass ihre Narbe glühte und ihr ein furchterregendes Aussehen verlieh. Was bildete sich dieser Kerl ein, sie Liebe Frau von Bronsky zu nennen? Meiers Lächeln wurde mit jedem weiteren Wort unerträglicher.
„Sie sehen einfach zu schnell rot, wie damals bei meiner Afrikareise. Ich sprach noch heute Morgen mit Frau Behrli darüber.“
Was hatte denn die Behrli damit zu tun, diese Schnepfe aus der Rechnungsprüfung? Meier blickte übertrieben deutlich auf seine Rolex.
„Es ist wirklich schon spät. Und Sie wollen uns doch nicht schon wieder Ärger machen? Ich habe hier ein Couvert für Sie mit einem Autoschlüssel und einer Anweisung an die Kollegen in Fleschbeck. Da fahren Sie morgen hin und holen ein paar Unterlagen ab. Der kleine Ausflug wird Ihnen gut tun. Und“, er beugte sich gönnerhaft vor, „nehmen Sie sich den restlichen Tag frei, wir brauchen den Wagen erst am Donnerstag zurück. Einen schönen Abend noch.“ Er war schon halb aus der Tür raus, da drehte er sich noch mal um. „Und belasten Sie ihr zartes Köpfchen nicht mit Dingen, von denen Sie nichts verstehen.“
Jade kochte, als sie dem wippenden Gang ihres Vorgesetzten nachblickte. Wütend stopfte sie den Umschlag in ihre Handtasche. Was Meier soeben vor ihr ausgewalzt hatte, konnte er sich in die Haare schmieren. Sie sehen einfach zu schnell rot, wie damals bei meiner Afrikareise. Ja, da hatte sie sich eingemischt, und wie. Jade grinste schwach. Aber die Atembeschwerden hatten erst begonnen, nachdem sie die Tabletten genommen hatte, die der Amtsarzt ihr verschrieben hatte, ganz sicher. Und dann ging alles sehr schnell. Am nächsten Tag lag das Gutachten vom psychologischen Dienst auf ihrem Schreibtisch mitsamt der Überweisung in die Ostseelinik. Schon war man sie los. Für zwei Monate. Ein abgekartetes Spiel, man wollte sie aus dem Weg haben. Leider konnte sie das nicht beweisen, und dann blies ihr noch dieser kleine dreckige Zweifel in den Nacken und kicherte: Sie haben recht, du bist nicht ganz dicht.
Aber Anita Behrli aus der Rechnungsprüfung konnte sich auf was gefasst machen!
kobold: Neuigkeiten?
Ela schaltete den Computer aus und legte sich aufs Bett. Sie hatte mittlerweile das Gefühl, kobold lauerte jeden Abend darauf, dass MissVerständnis im Chat auftauchte, um sie unverzüglich anzutexten. Es nervte.
Aus der Ortsmitte von Weißenhall hallten die mitternächtlichen Glockenschläge von Sankt Orbit herüber. Bisher hatte Ela mit keinem der WAAMPIRE über den seltsamen Besucher gesprochen, und kobold anscheinend auch mit niemandem der Anderen. Aber wenn das so weiterging, würde sie es tun. Nächste Woche trafen sie sich seit längerem mal wieder in Wolles Keller.
Meier war auf einer Dienstreise in den Kongo gewesen. Und Jade hatte ihrem Chef öffentlich vorgehalten auf Staatskosten Urlaub zu machen. Doch dann hatte Meier nach seiner Rückkehr – o Wunder – eine Anordnung des Außenministeriums vorlegen können, zwecks Inspektion einer kongolesischen Mine. Dort wurde Kobalt gefördert, ein Erz, das hierzulande in keiner nennenswerten Menge vorkam, weshalb keine deutsche Firma damit Geschäfte machte. Mit einer Ausnahme. Die Firma PETRUS, die ihren Hauptsitz in der Nähe von Weißenhall hatte, bot Kongo-Kobalt zu konkurrenzlos niedrigen Preisen an, dass selbst die für ihre Dumpinglöhne berüchtigten Chinesen nicht mithalten konnten. Das sei, hatte Meier mit einem triumphierenden Lächeln erklärt, der Grund seiner Reise gewesen. Im Übrigen, und dabei war er so dicht an Jades Gesicht herangekommen, dass sie die Speichelfäden zwischen seinen Zähnen zählen konnte, solle sich Jade nicht noch einmal erdreisten, den Sinn seiner Handlungen anzuzweifeln, sonst …
Sonst! Jade war auf hundertachtzig und legte nach. Der Weißenhaller Kurier brachte ein Interview mit einer kritischen Angestellten. Darin hieß es, Amtsleiter Heribert Meier habe von dem Kongo-Trip keine einzige brauchbare Erkenntnis mitgebracht, dafür aber einen sehr menschlich aussehenden Kopf. Am nächsten Tag konterte Meier (ebenfalls im Weißenhaller Kurier, der Reporter hieß Jeff Stieneck), der Kopf sei aus Holz, und er hätte ihn als Geschenk von einem Bantu-Häuptling bekommen. Der wäre tödlich beleidigt gewesen, wenn Meier abgelehnt hätte. Im übrigen hätte er sehr wohl Erkenntnisse gewonnen, die er allerdings nicht mit jeder Sekretärin diskutiere.
Jade hatte klein beigeben müssen. Sie musste in den folgenden Wochen mit den Sticheleien der Kollegen leben, besonders denen der Kolleginnen wie Anita Behrli. Bis sie dann nach einem Nervenzusammenbruch im Behandlungszimmer des Amtsarztes landete. Tabletten. Psychologischer Dienst. Ostseeklinik.
Man hatte sie ausgebootet, davon war Jade überzeugt. Rechtzeitig zum Start des Genehmigungsverfahren für Helldor 21. Meier wollte keine undichte Stelle in seiner Behörde und die Berliner Regierung musste zeigen, dass sie die Probleme der Atomenergie im Griff hatte. Im Gegensatz zu den Japanern. Was kam da gelegener als ein sicheres Endlager? Möglichst schnell, möglichst geräuschlos und möglichst vor den nächsten Wahlen.
That's it.
Oder?
Jade sog zischend die Luft durch die Zähne. Der Tee, den sie sich nach dem abendlichen Rundgang mit Ronja aufgebrüht hatte, war verdammt heiß. Sie hatte sich die Zunge verbrannt. Warum blies der kleine dreckige Zweifel wieder in ihren Nacken? Sie lauschte in das nächtliche Haus.
Aus Berylls Zimmer drang die übliche finstere Musik. Jades kleiner Bruder war zwölf Jahre jünger, aber überragte sie um einen Kopf. Manchmal fühlte sie sich mit dreißig schon so verdammt alt. Sie ging ins Bad und betrachtete ihr Spiegelbild. Mit dem rechten Zeigefinger fuhr sie die Narbe entlang, die linke Wange hinauf bis unter das Auge, das seit der Operation leicht schräg stand. Jade hatte sich an den Anblick gewöhnt, sie hatte sich gegen das Tuscheln hinter ihrem Rücken und die mitleidigen Blicke einen Panzer zugelegt. Inzwischen war sie zu der Überzeugung gelangt, dass trotz aller geheuchelter Freundlichkeit neunundneunzig Prozent der Menschen einen Sicherheitsabstand zu ihr hielten. Möglicherweise war das etwas zutiefst Menschliches, ein angeborener Reflex, eine Fluchtreaktion. Vor dem Andersartigen, dem Hässlichen, das sich trotzdem zeigte. Ein Weglaufen vor der Angst, selbst so hässlich sein zu können, wenn ein böses Schicksal es so wollte. Oder ein böser Graf, wie ihre Urgroßmutter gesagt hatte.
Katarina.
Jade verließ das Bad und betrat ihr Zimmer. Auf dem Bett saß Bramabas und starrte sie mit schwarzen Knopfaugen an. Aus einer aufgetrennten Naht am Bauch zog Jade die Kette hervor, die sie seit Kronks Auftritt in Meiers Büro nicht mehr angelegt hatte. Kronk, der auf seine Weise ebenso entstellt war, wie sie.
Jade betrachtete die Glaskugel, die sie im letzten Herbst mit feinen Silberfäden umsponnen und an einer dünnen Kette befestigt hatte. Sie fühlte ihr Gewicht, ihre kühle glatte Oberfläche und sah die filigranen blauen Linien in ihrem Inneren. Wie sehr die Kugel sie an Katarina erinnerte. An ihre Geschichten, über die alle den Kopf geschüttelt hatten. Jade sah das faltige Gesicht ihrer Urgroßmutter vor sich, ihre grauen, fast blinden Augen, hörte ihre leise Stimme.
Es war einmal ein Mann, der böse Bronko, der eine Zauberkugel besaß. Da kam der Bär Bramabas und nahm sie dem bösen Bronko fort. Er sprach das Zauberwort und sofort wurde der böse Bronko zu Stein. Da flogen tausend Schmetterlinge zum Fenster herein und zerschmetterten den bösen Bronko in tausend Krümel. Die verstreuten sie in der weiten Welt. Die Kugel aber versteckte der Bär Bramabas in seinem Bauch. Ich schenke ihn dir, kleine Jade. Hab ihn lieb, dann wird er dich beschützen, wo immer du bist. Aber achte auf die Kobolde. Die kommen nachts aus dem Berg, wenn die Menschen schlafen, denn sie suchen nach der Zauberkugel, die einst der böse Bronko stahl. Doch solange der Bär Bramabas bei dir ist, werden sie dir nichts anhaben können.
Jade blinzelte gegen die Tränen. Sie hielt die Glaskugel vor ihr Gesicht und starrte hinein, bis sich ihr Blick in dem Netz der blauen Fäden verirrte. Und da sah sie es wieder, das Zeichen wie ein Wort in einer unbekannten Schrift, einer fremden Sprache. Und gleichzeitig hörte Jade dieses Wort, ohne dass ein Laut die Stille des Zimmers durchdrang. Jade hob den Kopf und lauschte dem Klang.
Das Schlagen der Eingangstür dröhnte durch das Haus und zerstörte ihn. Jade schloss die Faust fest um die Kugel. Schwere Schritte schleppten sich die knarzende Holztreppe hinauf. Ihr Vater hatte wieder Überstunden gemacht. Jetzt würde er für Stunden in seinem Arbeitszimmer verschwinden. So ging das jede Nacht und Jade wusste warum. Sie schob die Glaskugel in den Bärenbauch zurück. Die Musik aus Berylls Zimmer war verstummt.
Rebell: wer bistn du
kobold: ich?
Rebell: nee du
Beryll alias Rebell verdrehte die Augen. Was für ein Blitzmerker war denn da in den WAAMPIRE-Chat geraten.
kobold: wolte nur schaun
Rebell: und - was interessantes gefundn?
kobold: ihr habt gegne asse gekämpft
Rebell: quatsch
Wolles langhaariger Alter hatte gegen die Asse gekämpft und dafür die Site eingerichtet. Beryll, Ela und die Anderen nutzten sie nur zum chatten.
kobold: und helldor?
Rebell: was is mit helldor
kobold: weiß nich
Beryll schaute auf. Draußen war bereits finsterste Nacht. Kurz vor eins. Helldor? Er tippte wieder.
Rebell: warum fragste dann???
In dem Moment ging noch jemand online. MissVerständnis. Beryll wusste natürlich, wer sich dahinter verbarg.
kobold: hi miss
Ach, daher wehte der Wind. MissVerständnis hatte ein Date mit einem Kobold. Soso. Beryll wollte gerade eine „nette“ Bemerkung schreiben, als MissVerständnis schon wieder verschwunden war.
Rebell: ;-))
Funkstille. Beryll wollte schon nachlegen, dass da wohl nichts zu machen wäre, haha, da hatte sich auch kobold verpisst. Beryll grinste. Damit würde er Ela beim nächsten WAAMPIRE-Treffen in Wolles Keller kommen. Kurz überlegte er, ob er die elektronischen Spuren, die der kobold hinterlassen hatte, weiterverfolgen sollte. Die IP-Adresse war automatisch gespeichert worden, dafür hatte Wolles langhaariger Alter gesorgt, und Beryll wusste, wo sie zu finden war. Er gähnte und schaltete den Rechner und die Children of Bodom aus.
Nebenan fand die Wanderung seiner Schwester mal wieder kein Ende. Jede Nacht lief sie wie eine Gefangene im Zimmer auf und ab, nie ging sie mit Freunden aus. Aber wer wollte schon mit einem solchen Gesicht Arm in Arm gesehen werden? Beryll schämte sich höchstens eine Zehntelsekunde für diesen Gedanken. Plötzlich verstummten Jades Schritte. Beryll lauschte. Auch aus dem Arbeitszimmer seines Vaters drang kein Laut. Über das Haus der Bronskys legte sich die Stille wie ein nasses Tuch. Beryll schloss die Augen.
„Wie willst du sterben?“
Die Stimme des Alten war kaum zu hören und breitete sich in der vollkommenen Dunkelheit wie eine unsichtbare Schwingung aus. Selbst bei Licht war der Alte kaum von der steinernen Umgebung zu unterscheiden und mancher Tourist war schon nichtsahnend an ihm vorbeigeschlichen. Als er sich jetzt nach vorn beugte, schien es, als erwachte der Fels zum Leben.
Bo atmete tief und verzog keine Miene. Seit der Alte ihn zum Lord der Helldor-Kobolde ernannt hatte, war er in unregelmäßigen Abständen sein Gast gewesen, trotzdem hatte er sich nicht an diesen Anblick gewöhnt. Auch nicht an das scharfe Knacken, das die Bewegungen des Alten begleitete. Wie knisterndes Salz, das zu lange in den unbenutzten Gelenken verharrt hatte. Ein betäubender salzgetränkter Geruch ging von ihm aus.
„Der unsichtbare Tod ist schrecklich.“
Bo schwieg. Der Alte war, so wurde erzählt, über sechshundert Jahre alt, und die Gelegenheiten ihm zuzuhören würden seltener werden.
„Ich bin fast blind, aber ich höre besser als ihr alle. Ich höre das Echo, das durch das Salz läuft. Ich weiß, dass der Graf es nicht aufgegeben hat, es nie aufgeben wird. Die alten Geschichten nagen an ihm wie Ratten an einem Kadaver. Er will sich rächen und er versucht es wieder, jetzt in diesem Augenblick. Er hat einen neuen Verbündeten.“
Bo wartete regungslos, während der Alte schweigend in ein fernes Nichts starrte. Der unsichtbare Tod, der mit den strahlenden Fässern in Helldor einziehen würde.
„Er nennt es Operation Bergfrieden.“
Bo nickte. „Ihr seid euch sicher, dass der Graf dahintersteckt?“
Langsam drehte sich der Kopf des Alten, bis seine hinter den schmalen Schlitzen kaum wahrnehmbaren Augen auf Bo gerichtet waren.
„Ich weiß es. Und ich weiß, dass wir uns nicht wehren können. Nicht wie früher.“
Nicht wie früher, ergänzte Bo in Gedanken, als der alte Lord noch lebte und eine mächtige Waffe besaß.
Der Alte deutete ein Nicken an, als hätte Bo seine Gedanken laut ausgesprochen. „Niemand weiß, wo sie jetzt ist. Auch der Graf nicht. Andernfalls hätte er uns längst vernichtet.“
Bo betrachtete die verwitterten Steingestalten ringsum. Ihm war, als bewegten sie sich, als schlichen sie in den Berg hinein, die dreiunddreißig Croggs. Leise flüsterten sie, hielten inne und lauschten. Tief aus dem Fels drangen Schreie, mal lauter, mal weiter entfernt. Dann krachten Schüsse, gefolgt vom Sirren der Querschläger.
Plötzlich tauchte am Stolleneingang ein gebückter Kobold auf und hastete an den Croggs vorbei. Es war Albion, der alte Lord des Helldor-Stamms. Woher er kam? Von der Müllerin, raunten die Croggs, der schönen, und ihr Kind werdet ihr an dem Schmetterling auf ihrer Schulter erkennen, dem Mal, von der Mutter vererbt. Solche Dinge flüsterten die Croggs, während sie dem Lord ängstlich nachblickten, bis er im Dunkel der Stollen verschwunden war, um seinem Volk in der Stunde der größten Gefahr beizustehen.
Vom Weißenhaller Kirchturm wehten zwölf dumpfe Schläge herüber und waren bis hier unten zu hören. Mitternacht. 1941, das zweite Jahr des schrecklichen Krieges brach an. Die Croggs drängten sich eng zusammen und riefen ihre Namen in abgesprochener Reihenfolge in die Dunkelheit. Der letzte fehlte, der kleine Ragadisch, er war dem Lord in den Bauch des Berges gefolgt.
Ragadisch drückte sich in eine Nische, die das unermüdliche Wasser in den Salzstein gewaschen hatte. Fast zum Greifen nah kämpfte Lord Albion, richtete die Faust mit der Zauberkugel auf seine Gegner und schrie das Wort gegen das Getöse der Gewehre an. Wäre der Lord nicht gekommen, keiner seiner Leute hätte das Gemetzel überlebt. So aber stockten immer mehr Angreifer mitten in der Bewegung, versuchten unter namenlosen Schmerzen sich weiterzubewegen, bis sie schließlich zu Stein gefroren, einer nach dem anderen.
Ragadisch riss seine Augen erschrocken auf. Die Versteinerten waren Männer aus Weißenhall, er hatte sie gesehen, vor der Kirche, wenn er um ein Almosen bettelte. Aber da waren noch andere. Kobolde vom Mordent-Stamm. Schon stürmten sie in einer neuen Angriffswelle heran – jedoch ohne ihren Anführer, den sie Graf nannten. Auch sie hatten keine Chance gegen den mächtigen Helldor-Lord.
Da hörte Ragadisch ein anderes Geräusch. Ein leises Knirschen wie Salz unter einer Stiefelsohle. Hinter ihm. Fast gleichzeitig wurde er von einem Schlag auf den Schädel nach vorn geworfen. Im letzten grellen Blitz, den sein Sehnerv ihm vor der unendlichen, alles verschlingenden Finsternis durchs Gehirn jagte, sah er den Pfeil. Einen eisernen Koboldpfeil. Wessen Bogensehne er verlassen hatte, würde für immer unbekannt bleiben. Ragadisch dachte noch, wie schade es war, dass der Pfeil sich ausgerechnet in den Rücken des Lords bohrte. Dann dachte Ragadisch nichts mehr.
Schwarze Stiefel stiegen über Ragadischs leblosen Körper. Ein schwerer Mann näherte sich Albion, dem sterbenden Lord der Helldor-Kobolde.
„Albion“, sagte der Mann, „ich bin dein Freund.“
Albion versuchte mit der Hand den Pfeil in seinem Rücken zu erreichen. Er sackte noch weiter in sich zusammen, aber er klagte nicht, kein Stöhnen verließ seine Lippen. Hatte er ihn erkannt, den Bürgermeister von Weißenhall?
„Ich habe davon nichts gewusst“, flüsterte der Mann und wies mit den Augen auf das Schlachtfeld. „Ich kam, um dem Morden ein Ende zu bereiten. Du kannst mir vertrauen.“
„Hilf mir“, flüsterte Albion und streckte ihm seine blutverschmierte Hand entgegen. Darin glitzerte die Kugel. „Nimm sie und sprich das Heilende Wort.“
Der Mann trat näher und lächelte. „Das ist deine letzte Chance.“
„Ja.“ Albions Stimme war kaum mehr zu verstehen.
Vorsichtig nahm der Mann die Kugel aus den schon kraftlosen Fingern des Lords. „Und wie lautet das Heilende Wort?“
Er beugte sich tief zu Albion hinunter. Als er sich wieder aufrichtete, war das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden. Leise, fast sanft klang seine Stimme. „Hast du nicht eben ein anderes Wort zu meinen Leuten gesagt?“
Albion starrt Bruno Bronsky mit ausdruckslosen Augen an.
Die zweiunddreißig Croggs lauschten den näherkommenden Schritten. Sie klangen nicht nach Ragadisch. Und sie gehörten auch nicht Ragadisch. Panisch versuchten sie zu fliehen, aber Bronskys Stimme dröhnte in ihrem Rücken und das Wort brachte den Steinernen Tod. Bronsky lachte und rief es immer wieder, schrie und lachte. Und rannte an den sterbenden Croggs vorbei zum Ausgang. Lange noch hallte sein Gelächter bis in die dunklen Stollen, in denen die Todesschreie allmählich verstummten.
Als am nächsten Tag eine tief gebeugte Gestalt mit zerfurchtem Gesicht an ihnen vorbeischlich, regte sich keiner mehr. Der Graf tastete sich in den Helldor-Stollen, bis er Lord Albion fand. Und zuerst mit Erstaunen, dann mit Schrecken sah er, dass die Kugel nicht mehr in Albions Hand war. So schnell es seine gebrechlichen Knochen erlaubten, eilte Graf Kronk wieder aus Helldor hinaus. Er hatte einen bösen Verdacht. Er würde Bronsky zur Rede stellen, besser noch, er würde ihn aus dem Weg räumen. Räumen müssen. Er brauchte die Kugel.
Nur ein einziger Zeuge hatte Bronskys Mord und Kronks Besuch beobachtet. Der Zeuge war schon 1941 uralt und nicht mehr von den Salzfelsen zu unterscheiden gewesen. Jetzt schaute dieser Alte den Kobold an, den er nach Albions Tod zum neuen Lord von Helldor bestimmt hatte.
„Was gedenkst du zu tun?“
Bo erwachte wie aus einem Traum. Er starrte den Alten an. Der hatte ihm diese Szenen vor das innere Auge geschickt. Und jetzt stellte er die Frage, die Bo am meisten fürchtete, die schwerste, aber sie musste beantwortet werden. Bo zögerte.
„Warte nicht zu lange.“
Mit kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeit glitt der Alte wieder in seine ursprüngliche Position zwischen den Felsen zurück. Bald war er nicht mehr vom umgebenden Gestein zu unterscheiden. Als seine Bewegung zum Stillstand kam, war auch Bo verschwunden. Nur die regungslosen Croggs harrten in der Dunkelheit, wie eine ewige Anklage, wie eine Armee von Kriegern, die geweckt werden wollte um Rache zu nehmen.
Jade starrte in die Dunkelheit vor ihrem Fenster. Morgen stand in aller Frühe die Fahrt nach Fleschbeck an, die Heribert Meier angeordnet hatte. Der Schlüssel in dem Couvert gehörte ausgerechnet zu dem Dienstwagen, den Jade hasste wie die Pest, bei dem die Kupplung so schlecht eingestellt war, dass sie die Karre garantiert abwürgte, noch ehe sie den Behörden-Parkplatz verlassen hatte, sehr zum Ergötzen der Kollegen. Und Kolleginnen. Angeblich war die Reparatur zu teuer und lohnte sich nicht mehr, doch Jade wurde den Verdacht nicht los, dass man sie mit Absicht unterließ. Warum war klar.
Jades Augen brannten. Sie stellte den Wecker auf halb sechs und warf den Schlüssel in ihre Handtasche. Ein paar Stunden Schlaf mussten jetzt her, dringend. Sankt Orbit schlug eins, Mittwoch vor Ostern.
Sie konnte sich nicht erinnern geschlafen zu haben und war um kurz nach fünf duschen gegangen. Noch vor Morgengrauen hatte sie den Peugeot vom Parkplatz der Behörde abgeholt und war ohne Probleme bis zur Autobahn gekommen. Ausgerechnet wenn das mal klappte, schaute kein Schwein zu. Nicht mal Anita Behrli.
Ihr Auftrag lautete, in Fleschbeck Akten aus dem Stadtarchiv zu besorgen. Normalerweise wurde für so etwas einer der Praktikanten geschickt. Die Frage lag nahe, was Meier heute vorhatte, ohne dass Jade ihm auf die Finger schauen sollte. Unter anderen Umständen wäre ein Tag außerhalb des stickigen Büros und weit weg von Meiers Achselschweiß ein Geschenk gewesen. Und tatsächlich besserte sich ihre Laune mit jedem Kilometer, den sie zwischen sich und Weißenhall brachte.
Die Fahrt verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle, sah man von den üblichen Macken des Peugeots ab. Zum Beispiel dass das Bremspedal erst reagierte, wenn man es fast bis zum Anschlag durchtrat. Aber dann bremste die Karre doch.
Fleschbeck war ein kleines Kaff, etwa 30.000 Einwohner, endlose Reihen von geranienverzierten Fenstern, ein Fußball- und ein Schützenverein, sowie ein Problemviertel mit zwölfgeschossigen Wohneinheiten – die übliche provinzlangweilige Mischung, siebzig Kilometer nördlich von Weißenhall. Jade erreichte ihr Ziel bereits gegen halb zehn und erfuhr, dass man sie nicht so früh erwartet hatte. Der Kurier mit den Akten, so wurde ihr mitgeteilt, träfe erst gegen Mittag ein. Sie könne ja solange das schöne Städtchen besichtigen. Jade war alles recht, sie hatte keine Eile. Meier hatte ja gesagt, sie könne den restlichen Tag freinehmen und den Peugeot erst morgen zurückbringen. Als ob er die Verzögerung in Fleschbeck geahnt hätte.
Jade verbrachte die Mittagsstunden in der Altstadt, die ihre spezielle Freundin Anita Behrli aus der Rechnungsprüfung sicher herzig genannt hätte, die Jade allerdings wie eine Horror-Puppenstube vorkam. Überall Zuckerbäckerstil, besonders die um die Gunst der Touristen bettelnden Restaurants. Trotzdem war der Salat mit den gebratenen Hühnchenstreifen okay und der Nachtisch-Espresso bekämpfte halbwegs Jades Müdigkeit.
Gegen 13 Uhr sagte man ihr in der Stadtverwaltung, dass der Kurier angerufen hätte. Reifenpanne. Jade wagte nicht zu fragen, ob es sich um einen Auto- oder einen Fahrradreifen handelte. Es würde wohl noch mindestens zwei weitere Stunden dauern, so wurde ihr achselzuckend mitgeteilt, bis die gewünschten Akten einträfen. Ob man Jade ein Stück Kuchen anbieten dürfe?
Jade lehnte ab und machte sich erneut auf den Weg. Diesmal nicht in die Zuckerbäckeraltstadt, sondern Richtung Problemviertel. Fast beruhigend, dass auch dieses sauber rausgeputze Städtchen eine Kehrseite besaß. Jenseits eines vierspurigen Straßenrings fanden sich die üblichen Siebzigerjahre-Bausünden, inklusive besprayter Mauern und Gestalten, die alles cool fanden, was aus amerikanischen Trash-Serien via TV in die Wohnzimmer schwappte. Manche grienten ihr offen ins Gesicht oder taxierten ihre Brüste, andere erschraken beim Anblick ihrer Narbe. Meistens hasste Jade so ein Spießrutenlaufen, aber manchmal, und in der letzten Zeit häufiger, suchte sie absichtlich diese Situationen. Sie stärkten ihre Leck-mich-Haltung. Jade genoss es, wenn einige vor ihrem Gesicht zurückwichen. Gerade die Coolen.
Nur einer war ihr unheimlich. Er war lang und dürr, trug schwarze Jeans und schwarze Lederjacke, und lehnte an einer baufälligen Mauer. Das Auffälligste an ihm war sein hervorstehendes unrasiertes Kinn, das ihm etwas Wölfisches verlieh. Seine tiefliegenden Augen starrten Jade ohne zu blinzeln an. Jade versuchte möglichst lange seinem Blick standzuhalten, gab dann aber auf und schaute zu Boden. Und ärgerte sich auf der Stelle über die Unterwerfungsgeste. Fast körperlich spürte sie sein Grinsen, als sie im Abstand von zwei Metern an ihm vorbeiging. Sie beschleunigte ihre Schritte und wagte erst an der nächsten Straßenkreuzung sich umzuschauen. Von dem Wolf war nichts mehr zu sehen.
Dafür stand sie nun vor einem Wohnblock, der sich erstaunlich von der allgemeinen Tristesse abhob. Wie eine Insel in all dem Grau-in-Grau erhob sich ein fünfgeschossiger Bau mit steil aufragendem, von Gauben mit buntbehängten Fenstern unterteiltem Dach. Über die gesamte Fassade zog sich das Bild eines riesigen Regenbogens, und davor befand sich eine Wiese mit zwei Fußballtoren, umsäumt von geschwungenen Blumenrabatten. Als dann noch lachende Kinderrufe zu hören waren und ihr von einem sonneblumenbestandenen Balkon eine Art Hobbitfrau in schottengemusterter Schürze zuwinkte, war es Jade zu viel der heilen Welt / wurde Jade die Überdosis heile Welt zu viel. Hastig drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zurück zur Stadtverwaltung. Der Kurier mit den Akten musste inzwischen eingetroffen sein.
Dem Wolf begegnete sie nicht wieder. Noch nicht.
Jade sang während sie fuhr, was ihr so selten passierte, dass sie sich nicht an das letzte Mal erinnern konnte. Gegen halb fünf war der Kurier endlich angekommen, zu Fuß, wie Jade erstaunt feststellte. Sie hatte drei dünne Mappen in Empfang genommen, quittiert und keinen Blick hineingeworfen. Der Inhalt interessierte sie nicht. Eine Angestellte der Stadtverwaltung hatte ihr einen dünnen Kaffee und ein Stück Nusskuchen aufgeschwatzt und Jade hatte diesmal nicht abgelehnt. Während sie das trockene Zeug mit der Kaffeeplörre hinunter spülte, hatte die Angestellte, eine ungesund dürre Vierzigjährige, hektisch telefoniert und gleichzeitig eine Straßenskizze auf ein A4-Blatt gekritzelt. Hatte sie dabei den Namen Meier genuschelt? Aber warum sollte der hier anrufen?
Die Skizze lag jetzt neben Jade auf dem Beifahrersitz. Wenn sie schon das schöne Fleschbeck besuche, hatte die Dünne nach dem Telefonat gesagt, dann solle sie doch auf dem Rückweg die Südliche Alleenstraße nehmen. Gerade jetzt im Frühling und bei diesem Wetter leuchte das frische Grün an den Straßenrändern einfach bezaubernd.
„Bezaubernd, kann ich Ihnen sagen, meine Liebe!“
Jade hatte es noch nie gemocht, meine Liebe genannt zu werden, nicht von Meier noch von sonstwem. Aber gegen die Routenänderung hatte sie nichts einzuwenden, sie hatte ja mehr als genug Zeit.
Jade schaffte es tatsächlich zum zweiten Mal am heutigen Tag den Peugeot ruckelfrei vom Parkplatz zu bekommen und die Karre erst an der nächsten Ampelkreuzung abzuwürgen, sehr zum Ärger eines eiligen LKW-Fahrers. Eine Viertelstunde später verließ sie die Stadt in südlicher Richtung. Die Wegbeschreibung der Dürren taugte jedenfalls.
Jade sang jetzt aus voller Kehle. Dieser Tag hatte ihr gut getan, er war weit besser verlaufen, als sie nach der durchwachten Nacht befürchtet hatte. Die Sonne strahlte verschwenderisch und tatsächlich schien es, als ob die frischen Farben der Alleebäume das Auto, ihr Gesicht und sogar ihre Seele in Frühlingsgrün tauchten. Einmal kreuzte ein Reh die Fahrbahn, weit genug entfernt, dass Jade problemlos die Geschwindigkeit verringern konnte, auch wenn es ihr dabei wieder merkwürdig vorkam, wie tief sie das Bremspedal herunterdrücken musste.
Weiter, jetzt weiterfahren bis in den Süden, über die Alpen, übers Meer fliegen und tief im Herzen von Afrika landen. Tunesien, Sambia, Nigeria, Kongo. Sehnsuchtsnamen.
Jade sang. Und als es eine Steigung hinaufging, konnte sie sich einbilden, dass dahinter das Meer auftauchte. Jade gab Gas. Sie flog über den Gipfel und riss die Augen weit auf.
Vor ihr fiel die Straße steil bergab, etwa einen Kilometer schnurgerade, und dann, sie konnte es von weitem schon an den Warnschildern erkennen, ging es in eine scharfe Rechtskurve. Jade presste den Fuß mit aller Kraft auf das mittlere Pedal, aber die Bremse fasste nicht. Jade sang nicht mehr, sie schrie. Erst kurz vor der Kurve fiel ihr die Handbremse ein, viel zu spät und jetzt ein tödlicher Fehler. Jade riss den Hebel nach oben und hörte die Reifen quietschen als die Räder blockierten. Sie sah die frühlingsgrüne Wand auf sich zurasen. Im letzten Augenblick glaubte sie inmitten des Grüns ein grinsendes Wolfsgesicht zu sehen. Kurz bevor es im Schwarz versank.
Schwarz.
Formen werden erkennbar, etwas glänzt in der Dunkelheit, rollt auf sie zu. Es ist riesig, gläsern, durchzogen von dunkelblauen Fäden. Jade sieht es mit weitgeöffneten Augen. Die Kugel kommt näher. Jade gleitet ins Innere. Sie atmet nicht. Die blauen Fäden schlingen sich um ihre Arme und Beine, über ihre Hüften, ihre Schultern, den Hals. Und bilden vor ihr einen Tunnel. Sie wird hineingesogen, weiter, tiefer. Plötzlich weiß sie, wo sie ist.
Pass gut auf mein Kind, sagt die Frau, und Jade erkennt die vertraute Stimme. Komm ihnen nicht zu nah, warnt sie. Jade lacht. Achte auf die Unterirdischen. Nachts kriechen sie aus dem Berg, wenn die Menschen schlafen. Schon sind sie unter uns, mehr von ihnen als du glaubst. Und sie schauen in deine Augen, versenken dich in den Schlaf, nehmen dich mit auf die Reise ins Innere der Erde, sie schleppen dich in die Tiefe, wo sich die Menschen verirren, wo niemand dich retten kann. Doch wehe, wenn du fliehen willst. Dann sprechen sie das Wort, das uralte, das in der gläsernen Kugel verschlossen liegt. Dann wirst du zu Stein, wie der Schlafende Jäger, die Steinerne Agnes, der Watzmann und die Heulende Hex! Und wie die Croggs. Also hüte dich vor dem Wort, das verschlossen liegt unter blauer Flut an rundem gläsernen Ort. Sag es und alles wird Stein, dreh es und totes Gebein wird dein Diener sein.
Jade schlug die Augen auf. Es war merkwürdig hell im Zimmer und es dröhnte in ihrem Kopf. Eine grellrote Wolke aus Schmerz flutete ihr Hirn. Und inmitten der Wolke verhallte das Wort und verschwand, bevor Jade es fassen konnte. Wieder hatte sie es gehört, und doch nicht gehört. Jade atmete schnell und starrte in ein verschleiertes Nichts. Lauschte dem verklingenden Echo, bis nur noch die Erinnerung an diese Frauenstimme blieb, an Katarina, ihre Urgroßmutter. Sie hatte zu ihr gesprochen wie damals, als Jade ein kleines Mädchen war. Von den Unterirdischen, den Kobolden im Salzberg, von der Steinernen Agnes und der Heulenden Hex. Von den Croggs. All das, womit man Kinder erschreckte. Und von der Kugel hatte Katarina gesprochen, dem Wort, das verschlossen liegt unter blauer Flut an rundem gläsernen Ort.
Jade richtete sich ruckartig auf. Augenblicklich durchzuckte wieder ein stechender Schmerz ihre Schläfen. Sie schloss die Augen und wartete bis er nachließ. Die Glaskugel! Wo war sie? Im Bauch des Bären Bramabas. Jade holte tief Luft und ließ sich zurück in die Kissen fallen.
Sobald sie die Augen wieder schloss, überfiel sie mit elementarer Wucht eine andere Erinnerung. Eine grüne Wand, die sich in rasendem Tempo näherte. Das vergebliche Treten des Bremspedals von diesem verdammten Peugeot, die Handbremse als letzte Hoffnung, die quietschenden Reifen. Und das Wolfsgesicht. Jade riss die Augen wieder auf. Sie hatte einen Unfall gehabt, sie befand sich in einem Krankenhaus. Welcher Tag war heute? Warum kam denn hier niemand?
Auf dem Tischchen neben ihrem Krankenbett fand Jade eine Fernbedienung. Der Fernseher stand auf einem Bord, das dem Bett gegenüber an der Wand angebracht war. Er funktionierte.
Der Umweltminister nahm beinahe die ganze Breite des Bildschirms ein. Eine Sondersendung aus der Hauptstadt, Dienstag nach Ostern, 8.30 Uhr. Ela setzte Teewasser auf und starrte auf den Fernseher, gleich würde ihr Vater sprechen. Gestern abend war er mit dem Zug nach Berlin gefahren, zu einer wichtigen Besprechung im Umweltministerium, das war alles, was er glaubte, seiner Tochter zur Erklärung sagen zu müssen. Als sei sie mit siebzehn nicht längst erwachsen. Vor Mittwoch käme er nicht zurück, aber Ela sei doch in der Lage, sich zwei Tage selbständig zu versogen. Ela hatte nur gegähnt.
Mit einer dampfenden Tasse Tee hatte sie sich vor die Glotze gesetzt. Die Worthülsen von Edouard Forestier rieselten aus den Lautsprechern. Der Atomminister, wie Wolles langhaariger Alter ihn nannte, war angeblich ein Weggefährte von Daniel Cohn-Bendit gewesen, dem Obergrünen im Europaparlament, der bei der Pariser Mairevolution mitgemischt hatte, damals 1968. Aber Forestier hatte recht bald die Seiten gewechselt, aus Enttäuschung über den inkonsequenten Kurs der Grünen, wie er nicht müde wurde zu betonen. Wer's glaubt. Heute saß er mit seiner geschmacklosen blau-gelb-gestreiften Krawatte für die Liberalen im deutschen Bundestag und fühlte sich Guido Westerwelle eng verbunden. Herzlichen Glückwunsch.
Forestier redete ohne Punkt und Komma und Ela war schon jetzt genervt von seinen geschraubten Sätzen. Der Minister wurde umringt von einer Gruppe Anzugträger, unter denen Ela auch Jasper Reineke entdeckte, den Weißenhaller Bürgermeister. Ihren Vater. Aber plötzlich wurde Ela hellhörig. Forestier hatte einen Begriff verwendet, der erst kürzlich hier im Haus gefallen war. Jetzt wiederholte er ihn.
„Um so mehr freut es mich, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Ihnen hier und heute mitteilen zu können, dass die Operation Bergfrieden erfolgreich verläuft. Nach aufwändiger und verantwortungsvoller Prüfung haben wir den idealen Ort für die Endlagerung von schwach bis mittelstark strahlendem Atommüll gefunden. Der Salzstock Helldor nahe des bezaubernden Städtchens Weißenhall bietet optimale Bedingungen und höchstmögliche Sicherheit auch und gerade für spätere Generationen. Bereits gestern Abend hat mir der Bürgermeister von Weißenhall, mein geschätzter Kollege Reineke, die Nachricht überbracht, dass die zuständige Genehmigungsbehörde sämtliche Hürden aus dem Weg räumen konnte. Meine Damen und Herren, begrüßen wir Jasper Reineke.“
Ela vergaß ihren Tee und starrte auf den Bildschirm. Operation Bergfrieden, sie hatte sich nicht verhört. Nie würde sie die heisere Stimme des Wolfsgesichts vergessen.
Applaus. Die Herren und eine Frau klatschten routiniert und Jasper Reineke trat mit einem Papierstapel bewaffnet und stolzgeschwellter Brust an das Rednerpult.
„Sehr geehrter Herr Minister, meine Damen und Herren. Ich möchte mich zunächst herzlich für die Gelegenheit bedanken hier reden zu dürfen, und für die überaus freundliche Unterstützung des Umweltministeriums bei der Suche nach einer sicheren Lösung für eines der dringensten Probleme unseres Landes, wenn nicht der ganzen Welt.“
Ela verdrehte die Augen. So ein Gesülze war noch schwerer zu ertragen, wenn es vom eigenen Vater kam. Fehlte nur noch, dass er seine daheimgebliebene Verwandtschaft grüßte.
„Wie wir alle wissen, befindet sich die westliche Staatengemeinschaft derzeit in einer prekären Lage, eingekesselt zwischen stetig steigendem Energiehunger einerseits und der fatalen Abhängigkeit vom Öl andererseits. Gerade in dieser Situation sehen wir mit Sorge den neu entflammten Konflikt der Vereinigten Staaten von Amerika mit der Arabischen Welt. Nach der Festnahme des unter Terrorverdacht stehenden Prinzen Feisal Abu Hassan …“
Hier blickte Forestier erschrocken den Weißenhaller Bürgermeister an, der – das wusste selbst Ela – einen garantiert falschen arabischen Prinzennamen benutzt hatte.
„… eskalierte der Streit zunächst auf diplomatischer Ebene. Inzwischen aber drohen die Wüstensöhne …“ Wüstensöhne! „… damit, dem Westen den Ölhahn abzudrehen. Was für Alternativen also bleiben uns noch?“
Jasper Reineke legte eine wie er sicher meinte wirkungsvolle Pause ein und blickte ernst in die umstehenden ausdruckslosen Gesichter. Ela registrierte, dass einer der Anzugträger im Hintergrund bereits unruhig auf die Uhr schaute. Doch Jasper bekam nicht oft die Gelegenheit vor einem Millionenfernsehpublikum aufzutreten.
„Meine Dame, meine Herren, unser leider nicht ganzjährig von der Sonne verwöhntes Land muss auf zusätzliche Energiequellen zurückgreifen. Solarstrom allein, auch in Verbindung mit der unzuverlässigen Windenergie, kann den steigenden Energiebedarf einer modernen Industrienation nicht decken. Auch und gerade weil unsere weltweit hoch angesehene Automobilindustrie vermehrt auf Strom als Antriebsquelle setzt. Auf umweltfreundliche Fahrzeuge …“, Reineke strahlte in Forestiers Richtung, „… deren Batterien …“, hier musste er vom Blatt ablesen, „… mit Lithium-Ionen-Akkumulatoren arbeiten, die als Anodenmaterial Kobalt enthalten, ein Metall, bei dem in Zukunft mit einem starken Anstieg der Nachfrage zu rechnen sein wird. Der globale Bedarf an Kobalt wird bis zum Jahr 2030 um das dreifache steigen, wie ich einem Positionspapier der deutschen Industrie entnehmen kann. Aber auch auf diesem Gebiet sind wir bestens aufgestellt, denn die Weißenhaller Firma PETRUS liefert Kobalt zu unschlagbar günstigen Konditionen, bei denen selbst die Chinesen nicht mithalten können.“
Ela schüttelte den Kopf. Bitte, dachte sie, jetzt fang nicht auch noch mit der Gelben Gefahr an.
„Schon in früheren Zeiten sprach man von der Gelben Gefahr, heute ist sie präsenter denn je. Und damit komme ich zum letzten, aber wichtigsten Punkt meiner Ausführungen.“
Einer der Anzugträger drehte sich um und eilte schnellen Schritts davon.
„Um unsere Spitzenposition gegen die Konkurrenz aus Fernost behaupten zu können, gibt es nach meiner Überzeugung keine Alternative zur Atomkraft und, wie Herr Minister Forestier zuvor schon betonte …“, nichts davon hatte Forestier zuvor betont, „… zur Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke, wie sie im vergangenen Herbst von der Regierung beschlossen wurde. Das müssen, wenn sie ehrlich sind, auch die größten Bedenkenträger der Republik, namentlich die Grünen, einsehen, denn niemand will ernsthaft zurück in die Steinzeit, zu einem Leben ohne Strom. Deshalb dürfen wir nicht die Augen vor den aktuellen Problemen verschließen, getreu dem Motto: Was geht mich das an, bei mir kommt der Strom aus der Steckdose.“
Niemand lachte.
„Nein, ich möchte sogar sagen: Wir sind die wahren Grünen! Wir schaffen die Bedingungen für effiziente und umweltfreundliche Autos. Und wir haben den Immergrünen seit heute ihr schärfstes Argument geraubt. Denn wir halten die Lösung für die Archillesferse der Atomwirtschaft in Händen: Die Endlagerung des strahlenden Abfalls, jawohl! Helldor heißt die Lösung. Helldor, ein ungenutztes Salzbergwerk in meiner Heimatgemeinde Weißenhall, das seit nunmehr einhundert Jahren regelmäßig von Forscherteams untersucht worden ist. Wo sonst, frage ich Sie, haben wir über einen so großen Zeitraum verlässliche Daten über die Sicherheit einer Schachtanlage? Darum haben wir nicht den geringsten Zweifel, dass der gefährliche Abfall in Helldor unbeschadet die Zeiten überdauern kann und zukünftige Generationen sorglos durch blühende Landschaften spazieren werden, wie schon Altkanzler Helmut Kohl vorausgesagt hat. Meine Dame …“, Reineke sah sich um, auch die Dame war inzwischen gegangen, „… meine Herren, ein historischer Moment. Ich danke Ihnen.“
Ela wollte im Boden versinken. Spärlicher Applaus begleitete ihren Vater zurück zu seinem Platz in der zweiten Reihe. Mit jovialem Lächeln trat Edouard Forestier wieder ans Mikrofon.
„Lieber Herr Reineke, wir schätzen Ihre Kenntnis der internationalen Zusammenhänge und wünschen Ihnen noch eine angenehme Heimreise. Das Umweltministerium wird in Kürze zu ersten Beratungen zusammentreffen und die nötigen Schritte für das Projekt Helldor 21, wie zum Beispiel die Anbindung an das Schienennetz der Bahn und die Vorbereitung der Schachtanlage in die Wege leiten. Glück auf!“
Hier endete der Bericht von der Pressekonferenz vor dem Berliner Reichstag. Ein Moderator begann, die Aussagen der Redner mit eigenen Worten zusammenzufassen, konnte aber keine zusätzlichen Informationen über den Zeitplan der Einlagerung oder die angepeilte Menge des Abfalls bringen. Ela schaltete den Fernseher aus.
Jetzt war es also raus, offiziell. Man wollte Atommüll im Salzstock Helldor verschwinden lassen. Ela kannte sich dort bestens aus. Wie viele Weißenhaller Jugendlichen verdiente sie sich in den Sommerferien ein paar Euro mit Führungen durch die Salzstollen, die von HelldorTours organisiert wurden, einer kleinen Klitsche, die auch die Schlüssel zu dem rostigen Tor vor dem Haupteingang zur Unterwelt verwaltete, obwohl es ein offenes Geheimnis war, dass es auch andere Zugänge gab. Diese Führungen waren schaurige Events mit Gruselgarantie, was bereits mit dem Namen begann. Schon das Wort Helldor ließ besonders amerikanischen Touristen wohlige Schauer über den Rücken laufen. Und die Jugendlichen widersprachen natürlich nicht der Übersetzung als Tor zur Hölle. In Wahrheit gingen die meisten Ethymologen davon aus, dass in dem Namen das mittelhochdeutsche hall für Salz steckte. Somit konnte Salztor eine richtige Übersetzung sein. Aber die Touris fühlten sich mindestens wie in der Vorhölle, spätestens wenn sie bei schummrigen Licht etwa fünfzig Meter untertage auf die Steingestalten stießen. Merkwürdig gekrümmte, halbverwitterte Gesteinsformationen, die verblüffend menschenähnlich aussahen. In den Legenden der Gegend wurden sie die Steinernen Krieger genannt, die eines Tages wieder erwachen und Rache für ihr langes bewegungsloses Ausharren nehmen würden.