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"Bresel is back!", schrieb Booksection, als "Der falsche Orden" rauskam, und Bücherbärchen ergänzte: "Hoffentlich nicht das letzte Bresel- oder Gemke-Buch." Hier kommt "Theater in Bresel"! Baronin Tusneldas ist tot. Doch der Tod der finsteren Baronin weckt neue Begehrlichkeiten. Ihre Tante Sibylle von Oelmütz schließt aus dem Testament von Tusneldas Vater Kuno dem Kühnen, dass sie nichts vom Knittelsteiner Erbe abbekommen soll, bloß weil sie keine Nachkommen hat. Und dass jetzt alles an Tusneldas Witwer Eduard und seine Tochter Jo fallen soll. Und an die Neue auf Knittelstein: Elvira. Außer wenn den dreien etwas zustößt, etwas Endgültiges … Also sitzt Sibylle in ihrer Augsburger Wohnung und schmiedet einen teuflischen Plan (den sie mit ihrer Vogelspinne Rosalinde bespricht …). Ein Plan wie ein Puzzle, zu dem der Zufall, ein von Sibylle geschriebenes Theaterstück und vier Mönchsgräber entscheidende Teile beitragen. Gräber, die übrigens von den Helden der Bresel-Geschichten gefunden werden: Lisa, Jan, Freddie und Jo, das Mädchen von der Burg. Und dann sind da natürlich wieder diese beiden: Ede und Carlo. Eggbert Kniest, Sibylles Lebensabschnittsgefährte, hat sie bei seiner Leiharbeiterfirma Hand und Fuß angestellt. Und da retten sie sich von einer Katastrophe zur nächsten. Doch plötzlich verschwindet Lisa kurz vor der Theateraufführung und taucht nicht wieder auf! Puzzlesteinchen für Puzzlesteinchen bringt Sibylle ihren schrecklichen Plan auf den Weg. Verraten wird nur noch: Natürlich werden vier Menschen am Schluss durch puren Zufall vor dem Tod unter einer dicken Betondecke gerettet. Man könnte auch sagen durch pure Schusseligkeit. Carlos Schusseligkeit.
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Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Gerhard Gemke
Theater in Bresel
Bresel-Krimi 2
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Testament
Mimi
Wirzbald
BPB
Jo
Hefezopf
Brief
Theater
Schöne Bescherungen
Kurt und Knut
Silvester
Gräber
Eggbert
Musical!
Eine Hand wäscht die andere
Wintergarten
Sibylle
Pickelgesicht
Rosalinde
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Elster
Wochenblätter zur Schweizer Geschichte, Ausgabe 7389
Anhang
Impressum neobooks
Ich
Baron Kuno der Kühne vom Breselberg
Herr auf Burg Knittelstein
Landvogt von Bresel
und Ritter vom goldenen Schlangenring
stehe gefasst an der Pforte des Todes.
Und ich verfüge,
daß Burg und Vermögen derer von Knittelstein
auf meine Töchter Tusnelda und Adelgunde
zu gleichen und gerechten Teilen
vererbt werde.
Unter folgender Bedingung:
Jede hat dafür Sorge zu tragen,
daß das Geschlecht derer von Knittelstein
durch reiche Nachkommenschaft
fortbestehe.
Sollte dies einer von ihnen
nicht gelingen,
so fällt die Hälfte des Vermögens
an Fräulein Sibylle von Oelmütz.
Sollten beide ohne Nachkommenschaft bleiben
das gesamte Vermögen.
Dies ist mein fester Wille –
euch zur Warnung!
Knittelstein
Sibylle von Oelmütz hob langsam den Kopf. Das Testament von Kuno dem Kühnen. Eine schlechte Kopie, die sie heimlich gemacht hatte. Damals. Das Original lag in der Knittelsteiner Bibliothek. Kunos Vermächtnis an seine Töchter.
Oder an sie. Je nachdem.
Sibylle legte die Testamentkopie beiseite.
„Sie müssen weg“, flüsterte sie. „Alle drei.“
Sibylle starrte hinaus in das Schneetreiben, das ihren Wintergarten einhüllte. Ein kalter Panzer gegen den Rest der Welt. Vor ihr in dem gläsernen Terrarium hielt Rosalinde eine zappelnde Heuschrecke zwischen den Kiefern. Allmählich wurden die Bewegungen des Insekts langsamer. Das Gift der Vogelspinne tat seine Wirkung.
„Das Beste wäre …“ Sibylle nahm gedankenverloren ein ausgestanztes Pappstückchen und drückte es in das Puzzle, das auf dem Tisch vor dem Terrarium lag. Ihre Lippen bewegten sich im Takt mit Rosalindes Kauwerkzeugen.
„… alle drei wären …“
Die Heuschrecke zuckte ein letztes Mal.
Dann war sie tot.
Montag, 8. Dezember, 7.35 Uhr, Augsburg
Zosch!
Adelgunde zog den Kopf ein. Um Haaresbreite flog ein schwarzweißgefleckter Lederball an ihrer lockengewickelten Frisur vorbei. Der Luftzug ließ ihre Wimpern flattern. Adelgunde kippte beinahe über die Balkonbrüstung und der Ball verabschiedete sich aus dem zweiten Stockwerk in die Tiefe.
Unten standen zwei Weihnachtsbaumverkäufer. Der kleine Dicke hielt einen riesigen Blechtrichter. Der andere, lang und dürr wie seine vertrocknete Ware, suchte gerade ein Tännchen aus, um es durch die Metallröhre in ein Netz schieben. Für eine pelzvermummte Kundin, die schon ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat.
Tschack! steckte das schwarzweiße Leder wie ein Korken in dem Trichter.
Der Dicke sprang zur Seite und quiekte. Der Blecheimer schepperte zu Boden, und der Lange musterte misstrauisch den grauverhangenen Himmel.
Zwei Stockwerke über ihm zuckte Adelgunde herum, wie von einer Tarantel gebissen.
„Kurt!“, keuchte sie. „Kurt und Knut!“
Zwei noch nicht ganz elfjährige Gesichter blickten mit großen Augen an ihrer Mutter empor. Doppeltes Schulterzucken. Dann rannten die Zwillinge an Adelgunde vorbei und lehnten sich über das Balkongeländer.
„Huhu!“, schrie Knut hinunter.
„Er war's!“, schrie Kurt und zeigte auf seinen Bruder.
„Nein, der mit dem Schnee im Gesicht!“, schrie Knut.
„Wer hat denn hier …“ Weiter kam Kurt nicht, denn er kaute bereits eine Ladung schmutzigweißer Eiskristalle. Prustend wischte er sich den Matsch aus Augen, Ohren und Nasenlöchern. „Das kriegst du wieder!“
Aber Adelgunde war schneller. Sie hatte sich wieder gefasst und packte ihre beiden Sprösslinge am Schlafittchen. „Ab in die Schule mit euch, und zwar dalli!“ Schon bugsierte sie die zwei zappelnden Früchtchen durchs Wohnzimmer in den Flur der Breselberg-Rummelpottschen Villa.
„Und falls ihr euren Fußball sucht, fragt die beiden Weihnachtsmänner dort unten.“
„Das kriegst du wieder!“, zischte Kurt, als sie wie begossene Pudel die Treppe hinunter stapften. Fast hätten sie dabei eine absonderliche Gestalt über den Haufen gerannt, die sich schimpfend die Stufen hinaufquälte.
Eine Minute später klingelte es. Adelgunde kniete im Wohnzimmer und wischte gerade die Schneereste weg, die ihre Nachkommen auf den Holzdielen zurückgelassen hatten. Ärgerlich grunzend riss sie die Tür auf.
„Was habt ihr denn nun schon wieder vergess… – ach, hallo Sibylle …“
Draußen stand Sibylle. Sibylle von Oelmütz. Um genau zu sein: Fräulein Sibylle von Oelmütz. In schneebedecktem Lodenmantel und Winterstiefeln.
„Was machst du denn … ähm … ja komm doch rein.“
„Willst du nicht wissen, wie's mir geht?“ Sibylle rauschte ohne den Ansatz einer Begrüßung an Adelgunde vorbei und verteilte den Schneematsch unter ihren Sohlen auf dem Parkett.
„Ja – doch. Wie geht's dir?“
„Schlecht, meine Liebe, ganz schlecht.“
Adelgunde seufzte. Sie wusste, was jetzt kam. Es war immer das Gleiche. Ächzend bückte sie sich mit dem Wischlappen nach den neuen Pfützen.
„Könntest du bitte die Schuhe …“
Unwirsch trat Sibylle die Winterstiefel von den Hacken, warf den Lodenmantel unter die Garderobe und ließ sich auf's Rummelpottsche Sofa fallen. Unter ein riesiges Ölgemälde, das eine Ritterburg zeigte, die von schroffen Felsen herab auf eine Handvoll geduckter Bauernhäuser blickte. Burg Knittelstein.
„Ich halt es nicht mehr aus“, begann Sibylle und zupfte ihre graue Strickjacke zurecht.
Ich auch nicht, dachte Adelgunde, während sie Sibylles Stiefel einsammelte und ins Badezimmer verfrachtete.
Und dann ging es los. Wie üblich. Das dürre Fräulein Sibylle von Oelmütz klagte und klagte.
Der lange Weihnachtsbaumverkäufer stellte den Blechtrichter mit der breiteren Öffnung in den Schnee. Sein Overall war gespickt mit aufgenähten Tannenzweigen, die bei jeder Bewegung raschelten und zwickten. Der Lulatsch kratzte sich am Rücken. Die vermummte Kundin hatte längst das Weite gesucht. Es gab ja genug Weihnachtsbaumverkäufer in Augsburg. Mehr als genug.
„Carlo.“
„Ja Ede?“
Der kleine Dicke, der offensichtlich auf den Namen Carlo hörte, hatte sich seinen Schal bis unter die rote Nase, und die Pudelmütze tief über die vereisten Augenbrauen gezogen. Bibbernd stapfte er zwischen den Weihnachtsbäumen hindurch.
„Gib mal das Teil da rüber!“ Ede winkte in Richtung einer erbärmlich krummen, fast kahlen Fichte.
„Wozu denn?“
Edes eisiger Blick reichte. Carlo zog den Kopf noch tiefer in den Schal und zwängte sich durch die nadelige Ausstellung. Es dauerte, bis er wieder herausfand. Dann überreichte er Ede zitternd das schwindsüchtige Bäumchen. Ede rammte es ohne ein Dankeschön in den Blechkübel. Das Leder-Ei darin löst sich.
Und schon plärrte in Edes Rücken eine noch nicht ganz elfjährige Kinderstimme: „Eh! Das ist mein…“
Matsch! Der Rufer verstummte und spuckte röchelnd Schnee und Streusalz.
„Er war's!“, quäkte Kurt und riss Ede den Fußball aus der Hand.
„Na warte!“, gurgelte Knut.
Kurtchen flüchtete durch den Nadelwald und hinterließ eine Schneise entlaubter Fichten. Knut hinterher, was das Ergebnis nicht schöner machte. Der graue Herr, der auf die Tännchenverkäufer zusteuerte, hob beide Arme, als die Zwillinge rechts und links an ihm vorbeirasten. Eine Weile waren noch die allerliebsten Kosenamen zu hören, die sie sich samt Schneematsch an die Köpfe warfen. Dann wurde es wieder still.
„Na“, sagte der Herr im grauen Pudelfellmantel und schwarzem Hut. „Wie laufen die Geschäfte?“
„Och“, machte Carlo und schniefte, „naja …“
„Schlecht“, sagte Ede und kratzte sich im Nacken. „Um nicht zu sagen: Gar nicht.“
Der graue Herr nickte. Er war jetzt dicht an die beiden Weihnachtsbaumverkäufer herangetreten.
„Es gibt zu viele von euch.“ Er streichelte einer noch ganz ansehnlichen Nordmanntanne über die Zweige.
„Und von euch auch.“ Sein Blick wanderte über Carlos Kugelbauch aufwärts und suchte die blinzelnden Äuglein.
„Ja, Chef“, hustete Carlo. „Zu viele von uns.“
„Augsburg ist voll von Weihnachtsmännern und Tannenbaumverkäufern“, stellte der Mann fest, den Carlo Chef nannte. Er hieß Eggbert Kniest. Er war Besitzer der Firma Hand und Fuß und herrschte über annähernd hundertfünfzig Männer und Frauen, die er weitervermittelte. Als Bauarbeiter, Türsteher, Spargelstecher oder Weihnachtsmänner. Je nach Saison.
„Und nun, Chef?“ Ede kratzte sich unter den Achseln. Dann begann er die Fichtenskelette auszusortieren und auf einen Handwagen zu laden. Carlo schaute ihm trübsinnig zu. Ja, was nun?
Eggbert tippte Carlo auf die Schulter. Carlo sah ihn mit großen fragenden Augen an. Eggbert versenkte seinen väterlichen Blick in Carlos Pupillen.
„Hilf deinem Kollegen bei der Arbeit.“ Carlo nickte. „Und dann kommt ihr beide in mein Büro. Ich habe mit euch zu reden.“
Carlo starrte ihn immer noch an. Eggbert wandte sich zum Gehen. Dann blieb er noch einmal stehen.
„Ach, noch was. Möchte einer von euch mal eine Frau sein?“
Sibylle klagte und klagte. Über alles und jedes, über Gott und die Welt. Einmal in Fahrt war sie nicht mehr zu bremsen. Sie konnte ohne Luft zu holen eine geschlagene Stunde klagen. Zum Beispiel das Wetter. Das war natürlich unerträglich. Genau wie ihre Stützstrümpfe. Und die Qualität der Weihnachtsbäume erst. Der absolute Tiefpunkt. Und keiner kam sie besuchen. Also kein Mensch. Und deshalb starb sie vor Langeweile und besaß noch immer keinen Weihnachtsbaum.
„Und Rosalinde redet auch nicht mit mir“, setzte sie noch einen drauf.
„Rosalinde?“ Adelgundes Blick schweifte über Burg-Knittelstein-in-Öl-auf-Leinwand, als wünschte sie das Fräulein hoch oben auf den Burgturm.
„Nur manchmal“, sagte Sibylle. „Manchmal sieht es so aus.“
„Was?“, fragte Adelgunde verständnislos.
„Als ob sie spricht.“
„Rosalinde?“, hakte Adelgunde noch einmal nach, doch Sibylle versank längst im nächsten Sumpf von Klagen und Jammern. Adelgunde stellte die Ohren auf Durchzug. Sie kannte das alles bis zum Überdruss. Ihre Augen kletterten müde den Burgturm hinauf. Und während Sibylles Redestrom an ihr vorbeirauschte, wurde Adelgundes Herz schwer.
Burg Knittelstein. Wie oft hatte sie dort oben gestanden. Ihre ganze Kindheit über war das ihr Lieblingsplatz gewesen. Sie erinnerte sich an den weiten Blick über das Breselner Land. An klaren Tagen bis zu den Voralpen, den Gipfeln von Großhorn und Rotspitz. Dort oben war der einzige helle und schöne Ort der Burg, hoch über den düsteren Gängen und Sälen, in denen sie mit Schwester Tusnelda ihre Jugend verbrachte. Ach ja, Tusnelda. Adelgunde seufzte tief.
Sie hatte gehört, dass es heute freundlicher sein sollte auf Knittelstein. Heute – nach Tusneldas Tod. Freundlicher jedenfalls, als zu der Zeit, als Kuno der Kühne vom Breselberg noch lebte. Ihr Vater. Und Adelheid, ihre Mutter. Und als Tante Sibylle sie mit strenger Hand unterrichtete. Noch immer klang ihr diese plärrende Stimme in den Ohren.
Adelgunde, Tusnelda, wascht euch die Finger! Macht eure Hausaufgaben!
Und heute? Tusnelda war tot, wie gesagt. Und Burg Knittelstein im Besitz des Witwers. Eduard. Baron Eduard. Und seiner Tochter aus erster Ehe – wie hieß die noch gleich? Josephine oder so. Ein schreckliches Mädchen.
Und dieser Eduard hatte nach Tusneldas Dahinscheiden keinen Monat gebraucht. Ruckzuck hatte er eine Neue. Und schon wohnte die auf die Burg. Und der Gipfel? Es war die Schwester seiner ersten Frau. Ausgerechnet! Und natürlich alles ohne Trauschein. Was für Familienverhältnisse!
Adelgunde starrte auf Burg Knittelstein, während sich auf dem Sofa darunter Sibylles Mund unentwegt öffnete und schloss. Öffnete und schloss.
„Was starrst du so auf das Bild?“
Adelgunde erschrak. Als hätte Sibylle ihre Gedanken gelesen.
„Ich wette, du hast mir nicht eine Sekunde zugehört!“
Adelgunde schluckte und versuchte, statt einer Antwort ein aufmerksames Gesicht zu machen.
„Was hab ich nicht alles für euch getan!“ Sibylles Stimme geriet eine Spur zu schrill. „Für dich! Für deine Schwester Tusnelda! Gott hab sie selig!“ Sibylle schnaufte. „Und Tusneldas Mann. Und sein missratenes Töchterchen!“ Sibylles Wangen liefen rot an. „Und kaum ist Tusnelda unter der Erde, hat der Kerl schon eine Neue. Und schwupps! gehört unsere Burg diesen …“ Sie suchte nach einem passenden Ausdruck für die beiden, fand aber offensichtlich keinen. Damit ihre Wut nicht erlahmte, ergänzte sie: „Und diese Göre!“
Sibylle schlug mit der flachen Hand hinter sich gegen das Ölbild. Das Bild verrutschte um einige Zentimeter und Adelgunde umklammerte schwer atmend die Armlehnen ihres Stuhls.
„Und schwupps! ist keiner der alten Knittelsteiner mehr auf der Burg. Nicht du und nicht ich. Ach, jaja, komm mir jetzt nicht oberschlau und sag, ich sei gar keine echte Knittelsteinerin. Sehr richtig, ich bin dort nicht geboren. Aber ich bin eine Blutsverwandte, und …“, Sibylle rang mit ihrer Bedeutung und reckte ihr Kinn, „… und ich habe viel für Knittelstein getan. Sehr viel! Und deshalb steht auch im Testament deines Vaters …“
(Sibylle prüfte die Wirkung ihrer Worte auf Adelgunde. Die nickte schicksalsergeben)
„… im Testament deines Vaters steht: Wenn Tusnelda keine Nachkommen hat, dann krieg ich die Hälfte. Ich!“
Sibylle war aufgesprungen und bohrte ihren Zeigefinger quer über den Wohnzimmertisch.
„Du hast damals das Geld gewählt, als du die Burg verlassen hast. Und Tusnelda? Starb kinderlos! Also steht die Burg wem zu?“
Sibylles Logik ließ nur eine Antwort zu. Ihr selbst. Wem sonst?
„Mir selbst. Wem sonst?“
Adelgunde ging das jetzt wirklich zu weit.
„Wenn die drei bloß nicht wären …“, fügte Sibylle knurrend hinzu.
Adelgunde versuchte, ihren Griff um die Armlehnen zu lockern und möglichst entspannt in den Sessel zu sinken.
„Aber … du hast doch jetzt ein schönes Häuschen mit einem hübschen Garten und …“, sie suchte nach weiteren Vorzügen von Sibylles Behausung, um die Tante zu beruhigen, „… und einen niegelnagelneuen Wintergarten.“
Den hatte nämlich Humberts Firma kürzlich dem Fräulein ganz nach ihren Wünschen gebaut.
„Hör mir auf!“ Sibylles Augen funkelten böse. „Du musst gerade reden. Du sitzt hier in deiner Villa. Und erfreust dich zweier süßer Kinder.“ Sie lächelte säuerlich. „Mehr noch, dein Humbert ist Geschäftsführer geworden. Bei dieser Firma – wie heißt die noch?“
„Hand und Fuß.“
„Jaja“, grunzte Sibylle, verärgert über ihr zunehmend schlechter werdendes Gedächtnis.
Es stimmte. Humbert hatte einen einträglichen Posten ergattert, in einer Firma, die Arbeitskräfte verlieh. An alle erdenklichen Unternehmen, die für kurze Zeit mehr Personal benötigten. Humberts neuer Chef war sehr zufrieden mit ihm, und Humbert kam bestens mit ihm aus. Auch deshalb wollten die Breselberg-Rummelpotts den Herrn Eggbert Kniest demnächst zum Weihnachtsessen einladen.
„Wir wollen Humberts Chef zum Weihnachtsessen einladen“, sagte Adelgunde, in der Hoffnung, Sibylle endlich auf andere Gedanken zu bringen. „Möchtest du nicht auch kommen?“
Sibylle stand abrupt auf und blickte Adelgunde an, als hätte die sich abgrundtief daneben benommen.
„Selbst-ver-ständ-lich!“, spuckte Sibylle vier Silben auf den Wohnzimmertisch. „Wo hast du meine Stiefel?“
Adelgunde nahm eine Werbebroschüre aus dem Zeitschriftenkorb und wischte die tröpfchenübersäte Tischplatte trocken. „Im Bad.“
Als sie Sibylle in den noch feuchten Lodenmantel half, drückte Adelgunde ihr die Werbebroschüre in die Hand. VOLKSHOCHSCHULE AUGSBURG stand vorne drauf. Sibylle blätterte mit spitzen Fingern die erste Seite um. „Was soll ich damit?“
Wahllos zeigte Adelgunde auf eine Ankündigung. Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett.
„Ich dachte halt …“
„So, dachtest du!“, schnaubte Sibylle.
„Gegen die Langeweile vielleicht.“
Kreatives Schreiben stand da unter der Überschrift. Werden sie Autorin. Packen sie den Krimi ihres Lebens zwischen zwei Buchdeckel.
Sibylle stopfte die Broschüre in die Manteltasche, während sie die Treppe hinunterstieg. Ihr Schimpfen war noch zu hören, als sie die Haustür bereits hinter sich geschlossen hatte.
„Ohne Krimi geht die Mimi … so ein …“, hörte Adelgunde noch, als sie sich endlich gegen den Türrahmen lehnen und tief durchatmen konnte. Hoffentlich war es kein Fehler gewesen, Tante Sibylle zum Weihnachtsessen einzuladen.
Etwa gleichzeitig mit Adelgundes tiefem Seufzer knallte ein schwarzweißgefleckter Fußball gegen die Fensterscheibe eines Büros. Keine drei Meter unterhalb der prachtvollen berühmten Uhr des Ottoniums, jener ebenso berühmten und ehrwürdigen Augsburger Schule. Einerseits also konnte der Schütze des Balls von Glück sagen, dass das Leder nicht drei Meter höher auftraf. Andererseits saß hinter dieser Fensterscheibe Frau Almuth Spitznagel, die Direktorin des Ottoniums. Frau Almuth Spitznagel hob den Kopf und ihre Augen verengten sich. Zudem klopfte es gerade an der Bürotür.
„Herein“, rief Frau Spitznagel und hechtete zum Fenster. So eben noch sah sie einen dieser Zwillinge mit einem schwarzweißgefleckten Fußball hinter dem Flügel für die fünften und sechsten Klassen verschwinden. Die Direktorin riss das Fenster zum Schulhof auf und am anderen Ende des Raumes öffnete sich die Zimmertür. Ein eiskalter Luftzug schoss durch das Büro und riss einen Stapel Notizblätter mit sich. Eggbert Kniest stürzte einen Schritt vor und versuchte, sie aufzufangen.
Frau Spitznagel schrie: „Alexander!“ Ihre Stimme hallte über den winterlichen Hof. Alexander, zwölf Jahre und meistens der Letzte nach dem Klingelzeichen, drehte sich schuldbewusst um.
„Richte Kurt und Knut aus, sie sollen auf der Stelle – hast du verstanden? Auf der Stelle! – in mein Büro kommen!“
Alexander nickte erleichtert. Endlich mal ging's nicht um seine Trödelei. Er nutze die Gelegenheit, der Direktorin zu beweisen, wie schnell er sein konnte, wenn er nur wollte, und wetzte los.
Frau Spitznagel atmete schwergewichtig und schloss mit einem Knall das Fenster. Und staunte den graugekleideten Herrn im Pudelfellmantel an, der mit der Rechten seinen Hut zog und ihr mit der Linken und einer artigen Verbeugung die Notizblätter reichte.
„Und wer sind Sie“, fragte Frau Spitznagel etwas irritiert.
„Bitte sehr“, lächelte Herr Kniest, „mein Name ist Kniest. Eggbert Kniest. Stets zu Diensten mit Hand und Fuß.“
„Aha“, machte die Direktorin. Sie nahm hinter dem ausladenden Schreibtisch Platz und ordnete ihre zerzauste Frisur. Dann senkte sie den Kopf und linste über den Rand ihrer Lesebrille an Eggbert Kniest vorbei. Zwei Schritte hinter dem Pudelfellmantel stand Ede in dunkelblauem Arbeitsanzug wie ein langer dürrer Raumteiler. Nebendran scharrte ein merkwürdiges Wesen mit den Füßen. Pausbäckchen blähten sich um eine gerötete Nase, blonde Locken fielen auf runde Schultern, und eine bunt gemusterte Strickjacke versuchte, den gewaltigen Busen zu bändigen. Der ebenfalls üppige Rest weiter abwärts wurde gnädig von einem knöchellangen Baumwollrock mit Schottenmuster bedeckt, unter dem zwei Quadratlatschen hervorlugten.
„Guten Tag“, piepste das Wesen.
Eggbert Kniest machte eine raumfüllende Handbewegung, als bitte er das ungleiche Paar auf eine Bühne. „Herr und Frau Wirzbald.“
„Aha“, machte die Direktorin wieder und erhob sich. Gemessenen Schrittes umrundete sie die beiden mit argwöhnischen Blicken.
„Sie haben doch inseriert“, bemühte sich Eggbert weiter um eine Erklärung. „Sie suchen ein Hausmeisterpaar?“
Frau Spitznagel nickte. Ganz langsam. „Wie war ihr Name doch gleich?“
„Carl...“, wisperte Carlo. „Äh … Carlotta.“
„Wird kalt?“
Carlo schüttelte den Kopf. Im Gegenteil, ihm lief der Schweiß bis in die Kniekehlen. Eggbert sprang ihm bei. „Wirzbald.“
„Mm-mh.“ Die Direktorin musterte Ede. „Und Sie?“
„Ed...“, stotterte Ede. „Ed. Einfach Ed.“
„Ed Wirzbald.“ Frau Spitznagel sog die Luft geräuschvoll ein, und Eggbert Kniest befürchtete, dass sich das Pärchen nicht gründlich genug gewaschen hatte.
„Sie sind handwerklich begabt?“
Ede beeilte sich zu nicken.
„Und Sie?“
Carlo riss die Augen scheunentorweit auf.
„Sind ein Putzteufelchen?“
„Hihi“, kicherte das Wesen im Schottenmusterrock. Ein Blick des Langen genügte, und es riss sich sofort zusammen. Und piepste: „So hat mich noch nie jemand …“
„Zwei zuverlässige Kräfte“, fuhr Eggbert dazwischen. „Ich denke, Herr und Frau Wirzbald werden zu ihrer vollsten Zufriedenheit …“
In dem Moment klopfte es schon wieder an der Bürotür.
„Herein“, rief Frau Almuth Spitznagel und nahm wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz. Langsam schob sich die Tür auf, und vier Augenpaare senkten sich auf Klinkenhöhe. Dort erschienen ein doppelter Krauskopf, ein doppelter Ringelpullover und eine doppelte Latzhose. Und ein doppeltes Paar Arme versuchte etwas hinter den Rücken zu verstecken.
„Kurt und Knut“, stellte Frau Spitznagel fest. „Kommt ruhig herein. Und gebt gleich den Fußball bei Herrn Wirzbald ab. Aber zackig, wenn ich bitten darf!“
Kurt (oder Knut) schluckte und rollte umständlich einen schwarzweißgefleckten Ball um die Hüfte nach vorn. Fragend blickte Knut (oder Kurt) die Direktorin an. Die machte eine einladende Bewegung in Richtung des blauen Raumteilers. Edes Gesicht probierte daraufhin ein ungeübtes Lächeln. Mit Kindern hatte er seit … seit er vermutlich selbst mal so was war, nichts mehr zu tun gehabt. Und diese beiden Lausebengel – Ede konnte sich nicht dagegen wehren – zauberten ein Lächeln auf sein Raubvogelgesicht. Wie lange mochte das her sein, dass er auch so ein …
„Herr Wirzbald!“ Edes Gesicht zuckte zurück. „Ihre erste Amtshandlung. Nehmen Sie den Ball in Verwahrung. Geben Sie ihn …“, die Direktorin musterte die beiden Übeltäter durch halbgeschlossene Augenlider, „… in zehn Tagen wieder heraus!“
Ede nickte, und Carlo wisperte: „Jawohl, Frau Direktor.“
Frau Spitznagel würdigte Carlotta keines Blickes. Sie spazierte mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf die beiden Würstchen zu. „Nun zu euch.“
Knut (oder Kurt, wer konnte sie schon auseinanderhalten) hob vorsichtig die Augen. „Entschuldigung, Frau Spitznagel“, flüsterte er. Und der andere Bengel bemühte sich, überzeugend zu nicken.
Frau Spitznagel sah sie an, und wer die Direktorin genauer kannte, wusste, dass in diesem Moment ihr Herz zerfloss.
„Aber“, sagte sie und räusperte sich umständlich, „Strafe muss sein. Fußball spielen auf dem Schulhof ist verboten und Bälle gegen das Direktionsfenster zu schießen allemal.“
Zwei Krausköpfe baumelten zerknirscht vor den Ringelpullovern.
„Ihr zwei werdet also …“, Almuth Spitznagel hatte ein Talent für wirkungsvolle Pausen, „… unserem neuen Hausmeisterpaar, Herrn und Frau Wirzbald, die Hausmeisterwohnung zeigen.“
Zwei Krausköpfe schossen hoch und strahlten.
„Und!“ Pause, in der dunkle Schatten der Sorge die beiden Rotznasengesichter trübten. „Und ich werde kontrollieren, ob ihr den Stoff des jetzt versäumten Unterrichts gründlich … “ Pause „… gründlich nachgeholt habt!“
Ernsthaftes doppeltes Nicken.
„Und jetzt: Marschmarsch! Herr und Frau Wirzbald, ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Arbeitsbeginn. Wir sehen uns noch im Laufe des Vormittags. Herr Kniest, mit Ihnen möchte ich noch die Vertragsbedingungen besprechen. Guten Tag, meine Herren!“
Und mit einem undefinierbaren Blick auf Carlo fügte die Direktorin hinzu: „Schönen Tag, meine Dame.“
„Hach!“, seufzte Carlo und ließ sich auf das Bett fallen. Neben ihm schrie Ede und wurde einen halben Meter in die Höhe geschleudert. Knapp verfehlte sein Scheitel die Dachschräge, bevor er wieder zurück krachte. Carlo wippte und gluckste vergnügt. Die Flüssigkeit unter dem Laken gluckste mit. Wie das bei Wasserbetten so ist. Genervt setzte sich Ede aufrecht, wobei sein Scheitel der Holzvertäfelung erneut gefährlich nahe kam.
„Einer von uns ist zuviel in diesem Bett“, knurrte er.
„Och“, machte Carlo und drehte sich schwungvoll auf die andere Seite. Nun, es kam, wie's kommen musste. Ede fluchte und rieb sich den Hinterkopf. Stöhnend stieg er von der Wackelmatratze und machte sich mit schräg gehaltenem Kopf auf den Weg in die Küche.
Die Hausmeisterwohnung lag unter dem Dach des altehrwürdigen Schulgebäudes. In der Mitte, etwa unter dem Giebel, befand sich ein Flur, in dem selbst Ede aufrecht gehen konnte. Zu jeder Seite drückte sich ein Zimmer bis in die tiefsten Dachwinkel. In einem davon stand besagtes Wasserbett.
Am Ende des Flures zwängte Ede sich in eine Art Küche-mit-Bad. Sie war mit einem Herd, einer Waschmaschine, einer engen Dusche und einem klapprigen Esstisch nicht gerade üppig ausgestattet. Auf eine weitere niedrige Tür nach hinten raus hatte ein Witzbold ein rotes Herzchen gemalt. Daneben brummte auf einem bedenklich schrägen Holzregal ein Miniaturkühlschrank.
Ede öffnete die Kühlschranktür. Das Lämpchen drinnen war hinüber. Rechts erspähte Ede eine abgelaufene Tube Senf. Im unteren Fach standen drei Gläser saure Gurken, und darüber lachte ihn eine junge Frau von einem vor langer Zeit geöffneten Joghurtbecher an. Eiswürfel jedenfalls gab es nicht. Eine Hausmeisterwohnung war nun mal kein Hotelzimmer.
Ärgerlich griff sich Ede eins der Gurkengläser und rollte es über die wachsende Beule an seinem Hinterkopf. Dann schlurfte er zurück in den Flur. Dort schob er mit der Fußspitze einen riesigen Rock mit Schottenmuster und einen BH beiseite, aus dem Zeitungspapier quoll. Carlotta Wirzbald hatte sich, nachdem Kurt und Knut sich verdrückt hatten, auf der Stelle wieder in Carlo verwandelt. Auf der Stelle war wörtlich gemeint.
Ede schaufelte die Tür zu dem zweiten Raum frei, der von dem Flur abzweigte. Zu seiner Erleichterung fand er dort ein Sofa. Eine Nacht gemeinsam mit Carlo im Wasserbett hätte mit Mord und Totschlag geendet. Das war mal sicher.
Ede schmiss ein muffiges Kissen auf das Sofa und fand eine fadenscheinige Wolldecke, die, wie er von der Seite erkennen konnte, über einem Aquarium hing. Ede zog die Decke von dem Becken. Eine nicht nennenswerte Wasserpfütze verdunstete darin, und etwas, das wie der Rest eines Guppies aussah, schwamm in der trüben Brühe. Ede warf die Decke über den Behälter zurück. In dem Zimmer mit dem Wasser-Ehebett würde sich auch eine zweite Decke finden, überlegte er messerscharf.
Von drüben drangen jetzt freudige Juchzer herüber. Carlo zumindest hatte seinen Spaß. Über dem schmalen Dachfenster hing der Mond. Eine Krähe oder so was pickte auf das Glas. Vielleicht mag sie ja Fisch, dachte Ede. In diesem Moment quälte sich ein Schnarren durch den Flur. Vermutlich die Türklingel.
Carlotta im Wasserbett quiekte.
„Na, wie gefällt's euch?“, fragte Eggbert Kniest, als sie sich gesetzt hatten. Eggbert und Carlo quetschten sich um den Küchentisch, Ede hockte auf dem Rand des Duschbeckens.
„Prima“, knurrte er und hielt das Gurkenglas an den Kopf. „Weitläufige Wohnung mit komfortablen Betten und Fischzucht. Ein Paradies für Mensch und Filzlaus.“
Carlo sah ihn mit großen Augen an. „Also mein Bett ist wirklich …“
„Ach, halt deinen Sabbel!“ Ede war nicht guter Dinge.
„Na wenigstens friert ihr euch hier nicht den Hintern ab“, versuchte Eggbert die Stimmung zu heben. „Ich werd mich in ein paar Tagen wieder bei euch melden.“ Eggbert hievte sich hoch und öffnete die Flurtür. „Und träumt was Schönes. Ihr wisst ja, was man in der ersten Nacht in einer neuen Wohnung träumt, geht in Erfüllung!“
„Auch das noch“, brummte Ede und rieb sich wieder die Beule.
Inzwischen war es Nacht geworden in Augsburg. Der Mond, der über der Stadt wie in einem schwarzen Samtlaken hing, war fett und rund. Es war an der Zeit abzunehmen. Unter den Dachschrägen des Ottoniums schnarchte Carlo wie eine Betonmischmaschine und träumte vom karibischen Meer. Die Wassermatratze gluckste dazu ihre Geschichten in sein Ohr.
Im Zimmer gegenüber lag Ede und starrte auf den feisten Mond. Als Ede in den frühen Morgenstunden endlich einen unruhigen Schlaf fand, träumte er von einer Betonmischmaschine, die ihren Inhalt ausspie und eine dicke schnarchende Frau unter sich begrub.
Der fette Mond zog unbeirrt seine Bahn durch die klirrend kalte Nacht und spiegelte sich gegen drei Uhr in den acht Augen einer Vogelspinne, die regungslos eine Heuschrecke aussaugte. Nur einmal zitterten ihre Tasthaare, als kaum wahrnehmbare Vibrationen der Luft ihr eine Bewegung anzeigten.
Sibylles Kopf beugte sich über das Terrarium. Ihre Lippen öffneten sich lautlos. Fast lautlos.
„…wären doch alle drei …“
Dann schlossen sie sich wieder.
Rosalinde saugte weiter.
Um drei vor halb vier fror das Räderwerk der Ottonium-Uhr ein. Gleichzeitig knackte 31 Kilometer südwestlich eine Glasscheibe im zweitobersten Stockwerk des Turms von Burg Knittelstein, der hoch über dem Städtchen Bresel in den Nachthimmel stach. Als wollte er den fetten Mond aufspießen.
Jo öffnete die Augen und blinzelte verschlafen durchs Zimmer. Es schimmerte im silbrigen Mondlicht wie eine Schwarzweiß-Fotografie. Nichts rührte sich. Das elfjährige Mädchen drehte sich um und schlief augenblicklich wieder ein. Und träumte von schwarzen Mönchen, die ihre Gräber verließen und durch die eiskalten Höhlen und Stollen unter Burg Knittelstein irrten. Das Mädchen fror im Schlaf.
Irgendwo tief unter der Burg lösten sich im Breselberg ein paar Steine von den Wänden und kullerten einen kohleschwarzen Gang entlang. Als hätte ein Luftzug sie angestoßen. Eine Fledermaus segelte vor ihnen davon bis zum Ende des Stollens unter dem Breselner Rathaus. Dem bleichen Rathausgiebel gegenüber bimmelten müde die Glocken von Sankt Urban ihre vier hohen und vier tiefen Schläge (und träumten vom Ostersonntagskonzert).
Darunter, mitten auf dem Marktplatz, wachte der eiserne Ritter Kunibald über den Schlaf der Breselner. Das Mondlicht glitzerte in seinen Augen, und für einen Moment sah es fast so aus … nein, ein eiserner Ritter träumte nicht mehr.
Wer vermochte zu sagen, welcher dieser Träume in Erfüllung ging?
Bald würde Bresel erwachen. In ein paar Stunden. Und noch ein paar Stunden später, pünktlich um zehn Uhr, würde sich der Stadtrat im großen historischen Rathaussaal versammeln.
Bimmelebimmelebim! Die goldene Rathausglocke in der Hand von Bürgermeister Radolf Müller-Pfuhr läutete die letzte Sitzung des Stadtrats vor der Weihnachtspause ein. Versammelt hatte sich die komplette Bürger-Partei-Bresel.
Die BPB regierte das Städtchen, seit sich König Ludwig II. im Starnberger See ertränkt hatte. Und das war weit länger her, als die meisten Breselner sich erinnern konnten.
Zu Radolfs Linken saß seine rechte Hand Doktor Jorgonson, seines Zeichens Kassenwart und Protokollführer. Zu seiner Rechten zupfte sich Agathe das geblümte Dirndl zurecht. Sie verkörperte den gesamten weiblichen Teil der BPB. Wenn man mal von Martina Dall absah. Was man heute wie so oft auch konnte. Agathe war Radolfs bessere Hälfte, wie man so sagt.
Ebenfalls auf Einladung des Bürgermeisters anwesend eine Fotografin und zwei Reporter vom Breselner Volksblatt, die an der Fensterfront des Saals leise vor sich hin murmelnd Platz genommen hatten.
Bimmelebimmelebim! Der Bürgermeister zielte mit seinem hervorragenden Kinn der Reihe nach auf jeden Anwesenden.
„Wie ich sehe sind wir …“ Die Saaltür wurde aufgerissen. Vierundzwanzig Köpfe drehten sich wie von einem gemeinsamen Faden gezogen. In einer Wolke aus Mehl schnaufte Bäckermeister Blume herein, stapfte einmal halb um den Ratstisch und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Allgemeines Husten.
„Wie ich sehe …“ Fünfundzwanzig Köpfe wanderten zurück, Radolfs Augenbrauen stellten sich steil, „… sind wir inzwischen so gut wie vollzählig und freuen uns, jemanden in unserer Mitte begrüßen zu dürfen, der für unsere geliebte Stadt und besonders für das Historische Museum Bresel Großartiges geleistet hat.“ Radolf erhob sich und machte eine einladende Bewegung etwa in die Richtung von Bäckermeister Blume, der verwirrt durch seine Brezelbrille blinzelte. Neben ihm rückte ein Herr mit mundumkreisenden Bart seinen Stuhl zurück und stand auf. Mit leichtem Kopfnicken dankte er dem Applaus, den die BPB auf die Tische trommelte. Bäckermeister Blume sackte erleichtert in seinen staubigen Stuhl zurück.
„Der ehrenamtliche Vorsitzende des Historischen Museums Bresel, Herr Clemens Zuffhausen!“ Das Trommeln verebbte. „Sie haben das Wort.“ Radolf Müller-Pfuhr setzte sich wieder und gespanntes Schweigen machte die Runde. Sozusagen.
Clemens Zuffhausen wischte etwas Mehl von seinem Ärmel und räusperte sich.
„Meine Herren“, begann er, „meine Dame. Das alte Jahr neigt sich seinem Ende zu, und, wie Sie alle wissen, liegen turbulente Ereignisse hinter uns, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Bis auf eines. Es betrifft unser überregional bekanntes und bedeutendes Kloster Sankt Florian. Vor etwa zwei Monaten verließen die letzten sechs Florian-Mönche – teilweise lebend, teilweise … nun ja – jedenfalls steht seit dem das Kloster Sankt Florian leer.“
Der versammelte Stadtrat nickte sorgenvoll in Erinnerung an die turbulenten Ereignisse des vergangenen Herbstes [die in dem Buch Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel für die Nachwelt überliefert sind].
„Was einerseits bedauerlich ist.“ Clemens Zuffhausens Stirn warf Falten, „andererseits aber auch Chancen für die Zukunft bietet.“
Beim Stichwort Zukunft leuchtete das Gesicht von Bürgermeister Müller-Pfuhr wie eines seiner Wahlplakate, unter dem Dank meiner umsichtigen Politik stand. Die Fotografin ließ ihren Fotoapparat dreimal schnell hintereinander klicken. Clemens nickte Radolf zu und fuhr fort.
„Zum einen schätzen sich die Archäologen des Historischen Museums Bresel glücklich, in den nächsten zwei Monaten die Klosteranlage auf Herz und Nieren untersuchen zu können – dank ihrer freundlichen Unterstützung.“
Clemens blickte in die Runde. Der gesamte Stadtrat nickte unterstützend. Clemens hustete ein wenig Mehl von den Stimmbändern.
„Zum anderen hatten der Herr Bürgermeister …“, strahlendes Lächeln – Klick, „… und meine bescheidene Wenigkeit die Idee, das Klostergebäude zu einem zentralen Treffpunkt für die Bürger unserer geliebten Stadt Bresel umzubauen.“ Clemens nahm einen Schluck aus dem bereitgestellten Wasserglas. „Aus dem Schwimmbad im Keller entstünde eine Erlebnistherme mit Saunabereich. Konzerte, Ausstellungen, Dichterlesungen und Volkshochschulkurse würden das Breselner Leben bereichern. Und nicht zuletzt böten die unterirdischen Stollen bis hinauf ins Knittelsteiner Labyrinth, ja bis zur legendären wiederentdeckten Tropfsteinhöhle im Breselberg – dank der Aufgeschlossenheit der neuen Baronenfamilie – glänzende Attraktionen für den für unsere geliebte Stadt so wichtigen - …“, Herr Zuffhausen holte sichtlich bewegt Luft, „… Tourismus.“
Allgemeines Nicken. Bäcker Blume nieste.
„Die Jugend“, flüsterte Agathe Müller-Pfuhr quer über den Tisch. „Vergessen Sie die Jugend nicht!“
Clemens schluckte und hustete in Agathes Richtung. „Richtig. Wie Sie ja alle wissen, bin ich im Hauptberuf Direktor des hiesigen Gymnasiums. Am vergangenen Freitag fand in der Aula des Adalbertinums eine Konferenz aller Breselner Schulleiter statt. Dort wurde der Wunsch geäußert, die Jugend in das Klosterprojekt einzubeziehen. Der Herr Bürgermeister …“, Klick! Die Fotografin war wieselflink, „… hat schon grünes Licht gegeben. Und so möchte ich die heute freundlicherweise anwesenden Damen und Herren des Breselner Volksblattes bitten, in ihrer Zeitung auf ein besonderes Angebot des Historischen Museums hinzuweisen. Wir suchen interessierte Schüler, die in ihrer Freizeit die Archäologen unterstützen möchten. Als Grabungshelfer. Eine einmalige Gelegenheit, davon bin ich überzeugt. Alles Weitere entnehmen sie bitte dem Faltblatt an ihrem Tisch. Ich danke Ihnen.“
Nachdem der Stadtrat den Sitzungssaal verlassen (und Bäcker Blume seinen Sitzungsstuhl entstaubt) hatte, baten die Reporter den Herrn Bürgermeister und Clemens Zuffhausen zu einem Foto. Am besten – angesichts des strahlenden Wetters – mitten auf dem Marktplatz vor dem Kunibaldbrunnen. Dort standen nun die beiden Herren, lächelnd und händeschüttelnd. Und Doktor Jorgonson umkreiste solange den Brunnen, bis ihn Radolf mit aufs Bild bat.
Die Volksblattjournalisten – besonders die Fotografin – waren zufrieden und zogen ab (und mussten später von den besten Bildern eine Mehlwolke digital entfernen, die vor dem Portal der Sankt-Urban-Kirche auf den Bäckerladen von Bäcker Blume zusteuerte).
Clemens, Radolf und Doktor Jorgonson verabschiedeten sich wortreich und verließen Ritter Kunibald, der eisern die Lippen aufeinander presste. Die Menschen (und speziell die Politiker) hatten sich in den verflossenen eintausend Jahren kein Stück geändert. Was eigentlich auch nicht zu erwarten gewesen war.
Breselner Volksblatt, 10. Dezember
EVENT-CENTER IN GREIFBARER NÄHE
GRABUNGSHELFER GESUCHT
Der schon seit einigen Wochen diskutierte Umbau des baufälligen Sankt-Florian-Klosters zum Event-Center (EC) ist nun beschlossene Sache. In der gestrigen Stadtratssitzung stellte der Leiter des Historischen Museums Bresel (HMB) Clemens Zuffhausen den Stand der Planungen vor. Demzufolge sind eine Erlebnis-Therme mit Sauna, verschiedene kulturelle Events bis hin zu Führungen in die berühmte Breselberger Tropfsteinhöhle vorgesehen.
Außerdem darf man auf die weiteren Ergebnisse der Ausgrabungen in und um das denkmalgeschützte Gebäude gespannt sein, von denen sich die Fachleute Erhellendes zur Geschichte des Klosters, ja der ganzen Stadt erhoffen.
In diesem Zusammenhang wies Herr Zuffhausen auf ein Gemeinschaftsprojekt der Breselner Schulen und des HMB hin. Eine begrenzte Anzahl Schüler darf in den Weihnachtsferien als Grabungshelfer im Kloster den Archäologen zur Hand gehen. Interessenten melden sich bitte bis zum übernächsten Freitag im HMB.
„Scheißname“, sagte Freddie. Jan nickte. Die beiden Jungs standen vor dem schwarzen Brett im Eingangsbereich des Adalbertinums.
„Event-Center.“ Jan drückte schaudernd seinen Zeigefinger auf die Kopie des Zeitungsartikels. „Kommt gleich nach Mehrzweckhalle und Einkaufsparadies.“
„Oder hier: Erlebnis-Therme“, ergänzte Freddie. „Wer denkt sich nur so'n …“ Der neuerliche Gebrauch des Wortes, das irgendwo zwischen Scheibe und Schweiß lag, wurde unterbrochen vom Klingelzeichen, das die große Pause beendete.
„Aber Grabungshelfer klingt nicht übel“, meinte Jan, als sie die Treppe zum Klassenraum der 6b hinaufkeuchten.
„Morgen soll übrigens Radolf den ersten Spatenstich in den Klosterkeller treten, sagt mein Vater.“ Freddie drückte die Klinke der Klassentür runter.
„Das gucken wir uns an!“
Das Adalbertinum war eine hufeisenförmige Renaissance-Anlage, deren Gebäudeflügel einen lauschigen Park umschlossen. Adalbert Stifterstein zu Bresel hatte sie 1556 für den Jesuitenorden errichten lassen. Damals noch vor den Toren der Stadt. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beherbergte sie eine Schule. Ihre Umgebung war heute längst dicht besiedelt. Bresel-Neustadt.